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Es ist Religionsstunde.
Klein-Elsbeth sitzt still auf ihrem Platz in der Schulbank. Alles Leben in Aug und Ohr. Und das kleine Kinderherz so weiches, offenes Land, daß jedes Samenkorn, kaum gesät, schon mit zarten Wurzeln um sich greift und zu treiben und knospen beginnt.
Wie wächst da der Baum der Gotteserkenntnis so froh und leicht und schlank empor!
Aber heute? Nein – heute stockt alles. Nichts will vorwärts gehen.
Das sechste Gebot wird behandelt.
Klein-Elsbeth hört von dem Bund zwischen Mann und Frau und sie denkt an Adam und Eva und dann an Vater und Mutter.
Bis jetzt ist alles in guter Ordnung.
Aber nun kommt plötzlich das Neue, das die kleine, dumme Kinderseele nicht fassen kann. Daß die Eltern beisammen bleiben immer und immer, weil sie sich lieb haben, da ist ja weiter nichts dabei.
Das Wort »Scheidung« dringt an ihr Ohr. Vorerst ist's nur ein leeres Wort, aber bald füllt es sich mit lebendigem Inhalt. Eine Sünde soll es sein, wenn zwei Menschen wieder auseinandergehen – und Gott wird diese Sünde streng, sehr streng bestrafen. Da muß Klein-Elsbeth an die Nachbarsleute denken, die Tag für Tag in lautem Streit und bitterm Hader leben, die sich gar nichts zulieb, aber alles zuleid tun.
Ein Kind hat scharfe Augen und feine Ohren und zarte Fühlfäden der Seele.
Neulich hat er sogar seinem Weib mit dem Messer gedroht.
In Klein-Elsbeths Herz steigen bange Fragen auf und nieder.
»Die Nachbarin kann ihren Mann doch nicht mögen. Und wenn ich sie wäre, ich liefe ihm spornstreichs davon.«
Aber da kommt schon die Antwort auf die stille Widerrede. Und sie ist starr und streng und unerbittlich, wie jeglicher Buchstabe des alten Testamentes. Kein Hauch vom Geist der Liebe, der den neuen Bund so lebenswarm durchleuchtet.
Klein-Elsbeth kann mit ihren dummen Kindergedanken nicht fertig werden und sie wird irre an ihrem selbsterschaffenen Gott. Wie ein Vöglein, das plötzlich im Flug erlahmt, flattert ihr Herz hin und her und kann nicht Ruhe finden.
Aber die Angst wird größer und drängt zum befreienden Wort:
»Darf ich mich auch von einem Mörder nicht scheiden lassen?«
Das achtjährige Kind stellt in Gewissensnot diese bange Frage.
Man beruhigt Klein-Elsbeth. Sie werde einmal nicht an solchen schlimmen Menschen geraten und wie sie denn überhaupt zu solch merkwürdigen Gedanken käme und dergleichen mehr. Aber – wenn wirklich eine Frau das Unglück hätte, so müßte sie es ertragen und trotzdem und alledem bei dem Manne ausharren.
Klein-Elsbeth schweigt.
Sie sitzt ganz ruhig auf ihrem Platz. Aber in dem erblaßten Gesichtlein zuckt es und im kleinen Herz und Kopf arbeiten die Gedanken rastlos fort.
Und daheim gehts gleich zur Mutter.
»Du, Mutter, weißt Du's schon, daß Du Dich nicht vom Vater scheiden lassen darfst?«
Die Mutter nimmt Elsbeths bitterernste Frage offenbar nicht tragisch. Übers ganze Gesicht lacht sie und sagt:
»Mädel, was hast Du nur immer für rappelköpfisches Zeug in Dir stecken? Kannst übrigens ohne Sorgen sein! Fällt mir nicht im Traum ein, von Euch davonzulaufen.«
Und noch laut lachend arbeitet sie an Brüderleins Wäsche weiter.
Klein-Elsbeth muß die ernste Sache auch beim Vater in Ordnung bringen.
»Vater! Wenn man verheiratet ist, darf man sich nie – hörst Du! nie – gar nie scheiden lassen, auch wenn man einen Mörder geheiratet hat?«
Der Vater macht ein erstauntes Gesicht und meint:
»Kind! Wie kommst Du nur grad auf solchen Gedanken?«
Klein-Elsbeth gibt keine Antwort. Aus großen Augen schaut sie ins Leere. Sie leuchten nur nach innen; denn sie ist wieder mitten in schwerer Denkarbeit.
Und nicht eher wird sie davon los, bis sie sich zu einem frischen, festen Entschluß durchgerungen hat.
Doch nicht allzulange dauert es! Und weil der Vater immer der Nächste in ihrem Kinderleben ist, wird dem auch zuerst das wichtige Ereignis mit entsprechender Feierlichkeit verkündet.
»Du, Vater, jetzt weiß ich, wie ich's mach! Ich heirat nicht – nie – nie! Denn wenn ich einen Mörder heirat und ich darf mich nicht scheiden lassen, so tät ich vor lauter Angst schier sterben.«
Der Vater hat gegen diesen Entschluß Klein-Elsbeths jedenfalls nichts Ernstes einzuwenden. Leise streicht er übers Blondhaar der kleinen Person und überläßt diese ihren weiteren Zukunftsplänen.
Klein-Elsbeth ist all der Qual und Sorge los und springt wie ein mutwilliges Füllen durch Haus und Hof und Garten.
Und der alte Karo und die brummige Mieze und jeder, der es hören will, wird von dem glückseligen Kind angejubelt:
»Ich heirat nicht! Ich heirat nicht!«