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(1909 – 1910)
Nach den »glücklichen Inseln« wollte ich fahren. Glückliche Inseln? Ich mußte lächeln, suchte ich sie doch schon lange nicht mehr auf dieser Erde. Nein, ich wollte nur einen Winter lang im Sonnenschein hinleben, frei und sorgenlos auf den Kanarischen Inseln. – Von Triest aus ging die Fahrt in der zweiten Novemberwoche. Als ein glückverheißender Reisegruß berührte mich der Zufall, der mir hier im Hafen drei bekannte Schiffe zusammengeführt hatte: die beiden königlichen Lloydschiffe »Semiramis« und »Kleopatra«, deren eines mich vor zehn Jahren nach Alexandrien, deren anderes sodann von Patras nach Brindisi getragen hatte und die kleine bleigraue »Adria«, mit der ich vor einem Jahre die Fahrt nach Tunis wagte.
In tiefer Nacht rasselten die Ankerketten des losgehenden Schiffes in meinem Halbbewußtsein, in die erwachenden Augen fiel durch die Schiffsluken morgenhell ein felsiger Küstenstrich und weiße Möven schossen über die blaue Flut. Fort aus der dumpfen Kabine, dem ölig riechenden Schiffsbauch, der von den Stößen der Maschine zittert, hinan aufs Deck und tief durch alle Poren gesogen die Luft der See und der Freiheit! Das Schiff, dem ich mich anvertraue, ist mein Schicksal; daher meine Neugier und gruselnde Erwartung. Die »Sophie Hohenberg« der Austro-Americana war stattlich, wohl 9000 Tonnen im Raum, behaglich mit bequemen Sitzwinkeln, wenn es stürmte, die Reisegesellschaft klein und annehmbar, die Schiffsoffiziere wie wohl auf allen österreichischen Schiffen, freundlich, die Verpflegung gut wienerisch. Dazu kam ein mir Neues: im Zwischendeck viele hundert Auswanderer, die in Argentinien eine neue Heimat suchten, vornehmlich Russen, kräftige junge Militärflüchtlinge, polnische Juden, dann Griechen, die wir in Patras einnahmen, zuletzt Spanier, so daß die gesamte Besatzung auf 1074 stieg.
Wenn ich so von meinem Herrenplatz auf dem Oberdeck hinuntersah auf den Knäuel der Auswanderer und ihr mannigfaltiges Schicksal, verschuldetes und unverschuldetes, in ihrem Gesicht und Gebaren zu lesen versuchte, durfte ich mich des meinigen freuen. Der liebenswürdige Schiffsarzt, Dr. M. aus Graz, führte mich durch sein Reich, in die Schlaf-, Speise- und Krankenräume und gab mir jegliche Aufklärung. Die unruhigsten Fahrgäste sind immer die Juden, die nach Möglichkeit rituell verpflegt, doch immer auch von der Kost der andern begehren und bis Buenos Aires mit ihren ewigen Beschwerden ihn und den Kapitän überlaufen. Als ich sie eines Abends ihr Gebet verrichten sah, in leidenschaftlicher Inbrunst wie vor einer Schlacht um Sieg und Rache flehend, da ward ich überzeugt von der Unverwüstlichkeit dieser Rasse und Dr. M., selbst Jude, pflichtete mir bei.
Mein liebstes Plätzchen ist immer die äußerste Vorderspitze des Schiffes, wo ich dem Element am nächsten, nur durch die Schiffswand von ihm geschieden, wahrlich ins Blaue hineinfahre, der Möve gleich. Mir entgegen ziehen, an mir vorüber gleiten die Küsten und Inseln und Schiffe, jetzt wie weiße Schwäne mit geblähten Flügeln die Segler, jetzt, die Rauchfahne hinter sich herschleifend, die Dampfer. Das Auge lernt immer weiter, immer schärfer schauen, ihre Namen an der Bordwand lesen, ihre Flaggen erkennen und ihre Zeichensprache verstehen, die Phantasie fragt woher und wohin und wandert mit ihnen. Anders träumt es sich hier wie im Walde, wo die Stämme ringsum eine Wand bauen, die Äste ihre Vorhänge senken, die Sonnenstrahlen goldene Saiten zum Moosboden spannen. Da träumt das Stillleben, die Idylle, und ladet das Wunder der Welt in ihr Dämmerlicht herein. Auf der unbeschränkt freien, rauschenden, schimmernden See aber dringt der Gedanke mit dem Schiffe vorwärts, ihm voran sucht er das Neue, nie Geschaute, und weckt den Willen und dichtet das schicksalsreiche Epos des Völkerlebens.
Nur dem Mutigen unterwirft sich das Meer. Mit steigender Hochachtung sah ich den streng geordneten Dienst des Seemannes, seine Pflicht der Ein- und Unterordnung und war jeder Stunde dankbar, die ich auf der Kommandobrücke mit den Offizieren daselbst zubringen durfte. Zuletzt erschien mir das Schiff selbst als ein eigen entschlossenes Lebewesen, die Menschen und Maschinen seine Organe. Und begegnete eines dem anderen, so war es, als ob Menschen aneinander vorüberglitten, grüßend, sich erinnernd, vergessend.
Auch das rückwärtige Schiffsende liebe ich, wo von der Stange die Flagge des Heimatlandes weht und durch Herabgehen auf Halbmast dem begegnenden Schiffe den Gruß entbietet. Da wird das von der Schraube aufgewühlte Kielwasser zur langen weißen Schleppe, da flattern die Möven und haschen niedertauchend schwimmende Speisereste, da hebt auch oft der Delphin den pechschwarz glänzenden Leib halb aus der Flut und jagt um die Wette mit seinesgleichen und dem Schiffe daher. Die weißen Möven, wie Wasserrosen schwimmen sie manchmal schaukelnd auf den blaugrünen Wellen, um des Abends zum Schlafe nach der Küste oder einer Felsenklippe zu ziehen. Auch nächtigt zuweilen ein verspäteter Zugvogel im Takelwerk oder Taugewinde, um sich des Morgens aufzuschwingen, zum warmen Afrika hin.
Und sank der Tag glühend ins Meer, und war ich müde vom Sehen und Schauen, so brachte mir der Abend manch anregende Plauderei im Speisesaal oder auf Deck, denn das Wetter war mild und die Gesellschaft, ob auch recht verschiedenartig, sie war aus dem gesprächigen Wien. Für Heiterkeit sorgte wider Willen eine alternde, gezierte, sehr selbstbewußte Dame, eine Marchesa aus polnischem Blut mit einem langen spanischen Namen. Deren Herz brannte für den wortkargen Kapitano, mit dem sie, um ihm nahe zu sein, immer wieder die Fahrt hin und her machte, als sie zum erstenmal den Äquator überschritt, die »Perle« getauft. Das gesamte Schiffsvolk wußte es und lachte darüber. Und als ich im folgenden Jahr auf dem Lloydschiff »Euterpe« von Konstantinopel heimfuhr, da erzählten mir die Offiziere, der Kapitän habe sie unwirsch abgeschüttelt und sich zum Dienst auf einem andern Schiffe, einem Warendampfer, gemeldet. Als aber dieses im Hafen von Almeria landete, wer kletterte die steile Schiffstreppe herauf, um mitzufahren? Eben wieder unsere Marchesa, die Perle!
So waren wir immer tiefer in lichtere, wärmere Luft hinein durch die Adria geschwommen, durch die Straße von Otranto, Korfu vorüber in den Golf von Patras, wieder zurück, Sizilien entgegen; da kündigte die Verdichtung des Schiffsverkehres die Straße von Messina an, und mit Rauch und Wolken spielend ließ sich eine Weile der majestätische Ätna sehen. Von ferne verriet nichts, daß kaum ein Jahr zuvor der träumende Feuerriese durch eine leise Bewegung im Schlaf die blühende Stadt Messina und ihr gegenüber Reggio in Kalabrien und viele kleine Ortschaften der Küste in Trümmer geworfen hatte; aber näher gekommen, sah das Auge durch stolze Häuserfronten oft in die blaue Luft und in klaffende Risse der Mauern und hüben und drüben die Barackensiedlungen der überlebenden Bewohner.
Im westlichen Becken des Mittelmeeres mochte mein Dampfer, nachdem er an Sardinien vorüber war, jetzt irgendwo die Linie schneiden, auf der mich im Frühjahr ein spanisches Schiff von Algier nach Palma de Mallorka getragen hatte; dämmerten ja auch links und rechts die Küsten von beiden. Sobald wir die Balearen hinter uns hatten, fuhr von dem immer unruhigen Golf von Lion auch uns die Unruhe in die Flanke, und unser Schiff tanzte auf der schäumenden Flut, bis es auf einmal stille glitt und hielt im sicheren Hafen von Almeria in Andalusien, dereinst der Ausfuhrhafen des königlichen Granada, mit der trümmernden Mauerkrone der alten Maurenburg. Gern fühlt der Seefahrende wieder festen Grund unter den Füßen, und so nutzte auch ich die Frist zu einem Wandel durch die südliche Stadt.
Schon auf dem Schiffe hatte mir der Burghügel an seinem rechtsseitigen Hange viele dunkle Flecken gewiesen, die Eingänge zu Höhlenwohnungen, wie in den Kindertagen der Menschheit. Ich besuchte ihrer einige und fand sie behaglich eingerichtet und von freundlichen Menschen belebt und erfuhr, daß sie weder im Sommer zu warm, noch im Winter zu kalt seien.
Zum Schiffe kehrend brachte ich mir ein frischblühendes Rosensträußlein mit und stellte es in ein Wasserglas meines Waschtisches. Und als die Wellen wieder rauschten und wie kalte, gierige Haifische dem Schiff entgegenstürzten, war mir wohl und warm und heimisch zu Mute. Daher schmückt wohl auch der Elbeschiffer sein Häuschen am Steuer der langen, schmalen »Zille« mit Blumen und baut eine Laube für rankende Bohnen und Winden, darin im Bauer ein Zeisig oder Stieglitz singt; so sucht der Mensch den Hafen seiner Seele.
Von Almeria zog das Schiff zwischen Spanien und Marokko westwärts, der schneeglänzenden Sierra Nevada entlang, in der Nacht am Felsen von Gibraltar vorüber.
Und als ich am folgenden Morgen nach der Gegend hinsah, wo vor dem Kap Trafalgar Nelson in siegreicher Seeschlacht den damals gefährlichsten Gegner der Vorherrschaft Englands, das napoleonische Frankreich, lähmte, da war mir klar: Napoleon stürzte auf dem Wege zur Weltherrschaft, weil er sich das Meer nicht unterwerfen konnte. Und auf diesem Wege trug ihn das Schiff nach St. Helena, und auf ebendemselben Wege war vor 400 Jahren der kühne Abenteurer aus Genua gezogen, dem unerwartet die Entdeckung der neuen Welt gelang.
Wie sanft war unser Schiff im Mittelmeer gegangen, so sehr zuletzt auch die Wogen rauschten, die es stampfend leicht überwand; hier aber im Atlantischen Ozean war es seltsam, es legte sich von einer Seite zur andern, es schlingerte, und war doch kein Sturm und sprangen keine Wellen, aber langsam und schwer schwankten die ungeheuren Flutmassen wie von tiefer Leidenschaft bewegt. Dünung nennen es die Seeleute, hohle See, und zum erstenmal waren alle Spuren des festen Landes verschwunden in der Unendlichkeit des Weltmeeres. Als wir uns dann den Kanarischen Inseln näherten, als Lanzarote, Fuerteventura auftauchten, da wurden einzelne fliegende Fische sichtbar. Mit breiten Flossen, die in der Sonne blitzten, schnellten sie sich in das leichtere Element der Luft, um nach einer Weile scheinbaren Fluges von der Schwere gezogen, wieder ins Wasser hinabzugleiten, wie menschliche Träumer und Toren.
Am zwölften Tage der Seefahrt fiel um die heiße Mittagsstunde der Anker in Puerto de la Luz, dem Hafen von Las Palmas auf Gran Canaria, der zweitgrößten der zwölf Inseln. Finstere Lavafelsen der Isleta, des Halbinselchens, das die Signalstation trägt, melden das Reich Vulkans an; wie ich aber auf der Tartana, dem landesüblichen zweirädrigen Karren, aus dem Hafen zur entfernten Stadt will, ist es, als ob ich durch die Wüste zöge, denn gelber Sand, darin Dattelpalmen um ihr Dasein kämpfen, wogt in Dünen und rollt von den Hängen einer Hügelfläche herab und kündet die Nachbarschaft der nur hundert Kilometer entfernten Sahara an.
In Las Palmas blieb ich zehn Tage, mich zu akklimatisieren. Vor allem lieh ich mir ein Pferd und ritt mich, zehn Stunden lang die neuartige Landschaft durchstreifend, müde, um der zwölftägigen Trägheit und Überernährung des Körpers entgegenzuwirken. Dann begann ich mich der Lebensweise in dem nach englischen Zuschnitt geführten Hotel Metropol anzupassen. Reinlichkeit und Behaglichkeit überall; des Morgens nach einem Bad ein einfaches erstes Frühstück, bald aber ein zweites, mit Fisch und Fleisch, eingeleitet mit Hafergrütze, um die Mittagszeit ein »Lunch«, – das häßliche Lieblingswort unserer Auslandsaffen – noch reichlicher, nachmittags ein Tee mit Imbiß, des Abends sodann die Hauptmahlzeit: das war des Guten wahrlich zu viel, zudem ja sehr bald das feuchtwarme Klima die Verdauung erschlafft.
Staunend sah ich die mächtigen englischen Gebisse diese Überfülle verarbeiten, mit guter Sitte, muß ich zugeben, ohne Geräusch und Zahnstocher, aber den Gedanken konnte ich nicht los werden, daß nach amtlichem britischen Eingeständnis 40 Millionen Inder von der Geburt bis zum Tode niemals die volle Sättigung erleben, daß ihrer jährlich Millionen vor Hunger sterben, den Gedanken, daß dieses Volk seine Gegner und Behinderer am liebsten durch Hunger martert und niederzwingt, mit guter Sitte, zugegeben, und mit frommem Augenaufschlag zum Himmel. Kaum war der letzte Bissen verzehrt, so verschwanden die Herren, die bei Tisch wenig Wein getrunken, in der Bar, die Damen in ihren Zimmern, um sich alle später in den Gesellschaftsräumen wieder zusammenzufinden. Mehr als die Natur, die mich auf meinem ersten Ausfluge ein wenig enttäuscht hatte und mir nur als Vorkost für Teneriffa erschien, gab mir vorläufig die manchmal wunderliche Sitte des weltbeherrschenden Inselvolks zu denken.
Ein liebenswürdiger Süddeutscher, Gast des Hotels wie ich, der seit zwanzig Jahren in London ansässig, sein treu bewahrtes Volkstum nicht verleugnete, half mir dazu durch mancherlei Aufklärung. Es scheint nichts zu bedeuten, kommt ein Gentleman die Hände in den Hosentaschen, pfeifend und den Hut auf dem Kopfe, durch das Patio, den hohen, luftigen Mittelraum des Hauses, und setzt sich in verstaubten Schuhen und offenen Halses, denn er kommt vom Sportplatz, im Speisesaal zum »Lunch«. Welcher Mangel deiner Erziehung aber, du deutscher Barbar, wenn du etwa bei Tisch das Fischmesser übersiehst oder deine Banane mit den Fingern haltend schälst und nicht an die Gabel gespießt, und ewige Schande dir, wenn du zum »Dinner« nicht im Smoking erscheinst, wenn auch mit reiner Wäsche im neuesten Reiseanzug. In seines Nichts »durchbohrendem Gefühl« beeilt sich dann auch so mancher deutsche Schwächling, statt des Smoking gar den feierlichen Frack anzutun, um sich für diese Schwäche die Verachtung des Herrn Vetters überm Kanal einzuholen.
Auch das verstößt nicht gegen den guten Ton, wenn des Abends im Patio sich neben einer dekolettierten, beschleppten Lady ein Gentleman, so lang er ist, auf ein Ruhebett streckt, daß die Strümpfe über den Lackschuhen sichtbar werden. Wenn ich des Abends durch die sommerschwülen, südlich unreinlichen Straßen schritt, fiel mir, besonders zwischen den flachbedachten Häuschen der Vorstadt, eine Sitte auf, die ich vom Hörensagen aus Tirol kannte. Da standen junge Männer vor den Fenstern ihrer Verehrten und fensterlten. Selbst der Bräutigam soll es nicht besser haben. Das heiße, südliche Blut! Hier aber im Hotel, auf dämmeriger Terrasse, dem Meere zu, saßen in knisternden, zweisitzigen Rohrsesseln, die eigens dazu erdacht schienen, junge Paare, Schulter an Schulter, Auge in Auge, Hauch in Hauch, und »flirteten.«
Wenn das Blut aufwallt, ei nun, so kann man ja lächelnd abbrechen! Dort Natur, hier Überkultur. Und da fiel mir ein, was ich in Ägypten und Algier flüstern gehört und sogar selbst gesehen, der Kultus des blonden Whisky und des dunkelhäutigen Eros durch die vestalischen Töchter Albions. Und woher nehmen die vielen jungen Männer die Zeit für Sport und Flirt, wo in diesem Alter die deutsche Jugend in den Schulen sitzt? Ziemlich alle drei Wochen brachte ein Schiff der Linie Elder Dempster eine volle Ladung englischer Gäste und tauschte sie nach derselben Zeit gegen neue um. Alles dient diesem Volk, das rücksichtslos mit Herrenschritt durch die Welt geht, als wäre sie sein Garten, über die Völker weg wie über Unkraut im Namen der Zivilisation. Deutsche führen das Hotel, Einheimische bedienen, englische Münze gilt, wie englische Sprache und Sitte, überall sind ihre Spielplätze, ihre Klubs, ihre Kirchen, und alle Bettler rufen: Penny!
Schmerzlich empfand ich da die Wahrheit von Goethes Wort: »Wissenschaft und Kunst gehören der Welt und vor ihnen verschwinden die Schranken der Nationalität; aber der Trost, den sie gewähren, ist doch nur ein leidiger Trost und ersetzt das stolze Bewußtsein nicht, einem großen, starken, geachteten, gefürchteten Volke anzugehören.« Auch der Deutsche hatte es einst, dieses Bewußtsein, und durfte es wieder hoffen, nun für lange nicht mehr. Aber wirken und erwarten wir, daß es wiederkehrt, geläutert durch das namenlose Unglück!
Ein reichhaltiges Museum in der Stadt entwirft ein Bild des Naturlebens dieser Inseln und des wahrscheinlich berberischen Urvolkes, der Guanchen (sprich: Guantschen), die einst jahrhundertelang weltabgeschieden in Tuff- und Lavahöhlen wohnten und nach dem Zeugnis ihrer Überreste, aber auch ihrer Entdecker und Erben eine achtenswerte Eigenkultur geschaffen hatten, bis sie von diesen, den Spaniern und Normannen, um ihre Seelen für den Himmel zu retten, im Namen des Christentums erschlagen und ausgerottet wurden.
Sich von Krankheiten des Kopfes zu befreien und vielleicht aus Aberglauben übten sie eine wunderliche Art der Heilkunst, indem sie mit scharfem Stein die Schädel anbohrten und ausmeißelten, eine Art, die noch heute bei den Kabylen des Dschebel Aures im Atlasgebirge üblich sein soll, über deren Sinn oder Unsinn sich die Fachleute ihre Köpfe zerbrechen mögen, dachte ich erleichtert, als ich die schwülen Räume des Museums verließ und in Sonnenschein und Seeluft hinaustrat.
Wie rollten von den Mauern und Wänden herab die grün-rot-violetten Teppiche der Geranien und Bougainvillaneen zu den Füßen flammender Sonnenblumen! Es war ein festlicher Tag; in Scharen strömte das Volk, besonders die Frauen in weißen und bunten Mantillas nach der Kathedrale, dem stolzen Renaissancebau, allwo ein neuer Bischof sein Amt antrat. Es war ein Schauspiel wie in St. Peter in Rom zur Osterzeit.
Wie hingen die feurigen Augen der Schönen an der goldschimmernden stattlichen Gestalt des erst vierzigjährigen Kirchenfürsten, der, seine beringte Hand ausstreckend, darauf den Kuß des Priesters entgegennahm, der nun die Kanzel bestieg und seine Predigt mit schmetternder Stimme wie ein Heldenspieler einleitete: Tierra y cielo passeranno, mi palabra no passera! Erde und Himmel werden vergehen, mein Wort wird nicht vergehen! Ja, ein Schauspiel für den Deutschen, der sein Christentum im Gemüte hegt. So hatte ich ja die Mächte des alten Europa gleich wiedergefunden auf der ersten der »glücklichen« Inseln, kaum daß ich einige Tage hier verweilte!
Am 3. Dezember nachmittags bestieg ich das Schiff »Alexandra Woermann« der gleichnamigen Unternehmung zur Fahrt nach Teneriffa. Eine Nacht brachte mich nach Santa Cruz, der Hauptstadt der Insel; von Schiffen belebt war der Hafen, diesmal besonders von norwegischen und dänischen, die das hier fehlende Bauholz brachten, hell und heiter legte sich die weiße Stadt vor die dunklen, schroffen, zerfurchten Wände des Anagagebirges, darüber schimmernd und blitzend die Sonnenflut rann. Auf ihrem vornehmsten Platze erhebt sich auf der einen Seite in Marmor das heilige Kreuz, das ihr den Namen gab, auf der andern ebenso eine hohe Mariensäule, umgeben von den vier zuerst »bekehrten« letzten Königen der Guanchen.
Auf seinem wie ein Tanzsaal glatten Steinpflaster im Korso der Spaziergänger wandelnd, genoß ich beim Spiel der Militärmusik am 4. Dezember einen Sommerabend wie auf dem Markusplatze in Venedig. Von Santa Cruz aus fuhr ich auf der Hauptstraße der Insel über den Sattel von Laguna durch Takoronte nach meinem Ziel Orotava an der Nordküste, wo infolge der hier unter dem Einfluß des Nordostpassates und des Golfstromes unablässig stürmenden Brandung kein größeres Fahrzeug landen kann. In dem stillen, feuchtkühlen Laguna, der Sommerfrische von Santa Cruz, sah ich den ersten Drachenbaum, in seiner Art einen Zeitgenossen jener Vorweltriesen des Tierreiches, deren bleiche Gebeine wir heute staunend messen, nur selten mehr auf der Insel hier und zurzeit überhaupt nur noch in Abessinien und auf Sokotra übrig. Dieser stämmige Einsame da, obwohl ein Jüngling noch, hat wohl in seiner frühen Jugend das Urvolk gekannt und die fremden Eroberer einziehen gesehen um die Zeit, da sie auch Amerika fanden. Sein roter Blutsaft soll Wunden heilen, ich wagte es aber nicht, den Ehrwürdigen zu verletzen, wogegen ich kein Bedenken trug, den Stachel meines Stockes in die fettfleischigen, übermannshohen, gesellig stehenden Säulenschäfte der kanarischen Wolfsmilch zu bohren und ihren dicken weißen Saft fließen zu lassen. In Takoronte, 537 Meter über dem Meere, erblickte ich zum erstenmal den Pik de Teyde, den Berg der Hölle, nicht entschlossen aus dem Meer auftauchend wie der Ätna, von Taormina aus gesehen, sondern von mir weg zurückgelehnt wie ein Schläfer, mit dem weißen, in der Ferne kleinen Haupt, von der wolligen Binde der Passatwolken umschlungen, über ungeheure dunkle Gebirgswälle zu mir herüberwinkend.
Sofort empfand auch ich den Zauber und Zug dieses Berges, dem keiner entgeht, und gönnte mir, bevor ich ihm entgegeneilte, nur noch einige Stunden für die unfern vom Dorf und um 300 Meter höher gelegenen Agua Garcia. Das ist ein Wäldchen, der Rest des Urwaldes, der einst die kühleren, mittleren Höhen der Insel bedeckte, und den das Feuer der Isleños gedankenlos verwüstet hat und heute noch verwüstet. Auch hier »steht hoch der Lorbeer«, viel höher als in Italien, und manchen seiner Stämme umspannen nicht zwei Männer.
Wetteifernd mit ihm treibt die Baumheide, unser liebes kleines Heidekraut, das uns unterm Fuße stäubt, ihre zarten Blütenrispen bis zur dritten, vierten Mannshöhe. Träumerisches Dämmerlicht webt über dem üppig grünenden, blühenden Grunde, den zahlreiche Quellbächlein durchrieseln. Hier sah ich über Riesenfarnwedeln zuerst den wilden Kanarienvogel, an Farbe und Flug unserm Erlenzeisig ähnlich, und freute mich seines natürlichen Gesanges mehr als des gekünstelten unserer gedrillten gelben Zimmerhäftlinge. – Nun aber rollte ich abwärts in das ersehnte Tal von Orotava, in einfachen, großen Linien eine meilenweite, meilenbreite Frucht- und Blumenmulde, mit dem unteren, nördlichen Rande vom Schaumbande der Brandung gesäumt ins blaue Meer versinkend, immer grüner südwärts aufsteigend, von den dunklen Mauern der Feldterrassen durchzogen und weiß übersprenkelt, wie von Blumen und Blumenvölkern, von Gehöften und Ortschaften, endlich zusammenfließend mit dem oberen Rande, der Cumbre, dem Gebirgsrückgrat der Insel, während von Abend her über gewaltige, finstere Wälle der schneebedeckte Pik herübersah, immer tiefer versinkend, je tiefer die Straße hinabführte; jetzt durch Matanza, das ist Gemetzel, wo die in ihrem Heimatrechte bedrohten Guanchen das letztemal die Spanier abwehrten, bis diese ihnen weiter abwärts in Viktoria grausam blutig vergalten, jetzt auf der von mächtigen, blaugrün belaubten Eukalypten und Pfefferbäumen gesäumten Straße nach St. Ursula.
Hier unter hohen, kanarischen Königspalmen rastend, feierte ich nach deutscher Art mit einem Trunk des hier gewachsenen feurigen Weines meinen Einzug. Aber nun muß ich Alexander v. Humboldt das Wort überlassen: »Ich habe im heißen Erdgürtel Landschaften gesehen, wo die Natur großartiger ist, reicher in der Entwicklung organischer Formen, aber nachdem ich die Ufer des Orinoko, die Kordilleren von Peru und die schönen Täler von Mexiko durchwandert, muß ich gestehen, nirgends ein so mannigfaltiges, so anziehendes, durch die Verteilung von Grün und Felsenmassen so harmonisches Gemälde vor mir gehabt zu haben. Das Meerufer schmücken Dattelpalmen und Kokosnußbäume, weiter oben stechen Bananengebüsche von jungen Drachenbäumen ab, deren Stamm man ganz richtig mit einem Schlangenleib vergleicht, die Abhänge sind mit Reben bepflanzt, die sich um sehr hohe Spaliere ranken.
Mit Blüten bedeckte Orangenbäume, Myrten und Zypressen umgeben Kapellen, welche die Andacht auf freistehenden Hügeln errichtet hat. Überall sind die Grundstücke durch Agave und Kaktus eingefriedet. Unzählige kryptogamische Gewächse, zumal Farne, bekleiden die Mauern, die von kleinen, klaren Wasserquellen feucht erhalten werden. Im Winter, während der Pik mit Eis und Schnee bedeckt ist, genießt man in diesem Landstrich eines ewigen Frühlings. Sommers, wenn der Tag sich neigt, bringt der Seewind angenehme Kühlung. Die Bevölkerung der Küste ist sehr stark; sie erscheint noch größer, weil Häuser und Gärten zerstreut liegen, was den Reiz der Landschaft noch erhöht, kein Ort der Welt scheint mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem schmerzlich ergriffenen Gemüt den Frieden wiederzugeben, als Teneriffa«. Und so langte ich endlich im Puerto Orotava an, wo ich einen Winter verleben wollte.
In einer Zeit, die noch in keines Menschen Haupt und Herz ihre Spuren drückte, wogte hier das freie Meer und spielte und scherzte mit einigen Klippen, die aus ihm hervorsahen, aus demselben Gestein gewachsen wie drüben auf dem Festlande der Atlas. Da gärte es im Erdinnern, glühende Lava brach dampfend und zischend und donnernd empor und ergoß sich über die Klippen, so daß sie kleine Gebirge wurden, die im Dreieck standen, und warf einen Gebirgskamm empor als die Mitte des Dreiecks, die Cumbre, und wieder nach ungezählten Jahren brach dort, wo gegen Westen hin die Cumbre sich verliert, ein ungeheurer flacher Kegel zum Licht, der heutige Teydezirkus mit den Cañadas, und wieder nach Jahrtausenden erhob sich auf diesem der eigentliche Pik und setzte sich, so wie der Maulwurf den Hügel aufschüttet, aus Bimsstein und Asche den zierlichen Piton auf, wie einen Zuckerhut.
Der jüngste Sohn des Aufruhrs, wurde er der Herr, die Insel sein Reich, in das er von Zeit zu Zeit in den tiefen Rissen der Barrankos Lavaströme zum Meere hinabsandte. Das aber, in zähem Kampfe wühlend, höhlend, an der Nordküste unablässig anstürmend, will es wieder zerstören und schickt die feuchten Regenwolken, das Gestein zu zersetzen, bis hinauf zum Usurpator, der des Kampfes müde, einzuschlafen scheint. Nur die Sahara drüben hilft ihm mit ihren heißen Lüften, die das Riesenrund des Teydezirkus mit den Cañadas in eine Wüste verwandeln. Durch die Luft kam das organische Leben auf die ungeheuren Klippen, Pflanzensamen im Wind und Vögel im Flug und Insekten und Fledermäuse und endlich der Mensch vom benachbarten Festland und in seinem Fahrzeug seine Haustiere. Und Pflanzen und Tiere und Menschen paßten sich den neuen Lebensbedingungen an und gewannen eigenen, von der alten Heimat vielfach abweichenden Charakter auf dieser dreieckigen Insel, die hierin Sizilien gleicht, nur daß die Scheitel sich auf der Karte entgegenschauen und der Schwerpunkt Siziliens, der Ätna, im Osten, der Schwerpunkt Teneriffas, der Pik, im Westen liegt.
Soviel etwa wußte ich aus Büchern; nun ging ich daran, selbst einiges im Buch der Insel zu lesen. Am 16. und 17. Dezember bestieg ich den Pik. Es ist kein Wagestück, ihn zu besteigen, wohl aber ein Wagestück, ihn zu beschreiben, wo so viele gelehrte Forscher und berufene Schilderer mir voran waren.
Ich kann nur als Naturfreund einfach berichten, was ich erlebt habe. Vor Tagesanbruch erwartete mich mein Führer, der weit bekannte Jose Bethencourt aus Villa Orotova mit zwei Maultieren vor dem Hotel Martianez, wo ich wohnte. »Castaño«, der Kastanienbraune, trug mich, »Moreno«, der Mohr, Decken, Mundvorrat und Kochgeschirre. Der Mann mit dem normannischen Namen, ein Sechziger, machte den Weg hin und her stramm zu Fuß, einen langen Stab, seine »Lanza«, in der Hand.
Südwärts ging es, vorüber an Weinhalden, Bananenpflanzungen und Fruchtfeldern aller Art, bis 1800 Meter ging der Weizen, noch weiter hinauf der Roggen mit. Nur Weinstock, Platane, Pappel, Feigen- und Kastanienbaum hatten dem astronomischen Winter zuliebe die Blätter abgetan. Dann, oberhalb des Dorfes Santa Cruz, schlängelte sich der steinige Weg durch Buschwald, den Rest eines verwüsteten Pinien- und Lorbeerwaldes, darin sich in die blühende Baumheide zwei echt kanarische Gewächse mischten, die ginsterartigen blattlosen Kodeso- und Eskobonsträucher. Dann durch das Portillo (Iljo), das Törlein in der Fortalezza, der »Festung« unter dem südlichen Absturze der Ladera, der Wand von Tigaiga, und hinaus in die Cañadas, in den ungeheuren hochumwallten Teydezirkus, daraus, scheinbar ganz nahe in der durchsichtigen Höhenluft, aber doch noch stundenweit, wie ein mächtiger Helmhut mit kurzer Spitze der Pik aufstieg, weißgefleckt von Schneefeldern. Hochsommerlich lag die stille Luft über dem gelben Bimssteinboden auf Lavagrund, darin sich der letzte Vertreter der Pflanzenwelt hier oben sein Dasein erzwingt: der in lockeren Gruppen stehende Retamabaum und -strauch, blattlos, einem großen buschigen Besen ähnlich. Wohl war auch er im Frühjahr belaubt und blühte und duftete, von Bienen umschwärmt, aber eilig warf er seine kleinen Blätter wieder ab, um nicht von der steigenden Sonne grausam ausgezehrt zu werden; eben darum streben auch seine graugrünen Zweige senkrecht von den Ästen auf. Er allein von den unten zurückgebliebenen Verwandten besteht den Kampf mit der Wüste und dringt, ob auch verkümmernd, hoch auf den Berg hinauf. In seinem kargen Schatten hielten wir Mittagsrast, von einem Steinschmätzerpaar neugierig umflogen und aus der Luft von einem Schwarme Kolkraben belauert, die unser Mahl witterten.
Weiter geht es von der Montana nera mit ihren schwarzen Lavablöcken hinan zur bimssteinhellen Montaña blanca in der toten schweigenden Öde, durch die nur zwei Menschen, zwei Tiere und ihre Schatten gleiten, darin kein Laut, als das Knirschen des Sandes unter den Hufen und ab und zu ein aneifernder Ruf des Führers. Jetzt windet sich immer steiler, entlang an starren, hohen, tiefschwarzen Obsidianströmen, Volkanes genannt, unser Weg empor, es geht zum Pik hinan, und in später Nachmittagsstunde ist das Ziel des Tages erreicht: die Unterkunftshütte Alta vista, 3270 Meter über dem Meere, zwischen Felsen und Schnee, so daß mich mein prächtiges Reittier an einem Tage vom Frühling in den Winter, aus der subtropischen Zone des Klimas und der Pflanzen in die arktische getragen hatte.
Ein längliches niederes Steinhaus mit mehreren gesonderten Häusern: Für die Herrschaft, für die Führer, ein offener Stall für die Tiere, in seiner inneren Einrichtung nicht entfernt mit unseren wohnlichen Alpenschutzhäusern zu vergleichen. Die Nacht war kalt, das Thermometer stand auf dem Gefrierpunkte, ich kam zu keinem rechten Schlaf. Lange vor Sonnenaufgang wollte ich aufbrechen und Jose weckte mich pünktlich, aber in seine weiße wollige Manta bis ans Kinn verkrochen, stand er zaghaft in der Tür: »Es frio, es frio; es ist kalt.« Und um die Hütte lag Neuschnee. Leider ließ ich mich bestimmen, eine Stunde zu warten, und diese eine verlorene Stunde brachte mich um den Erfolg des Tages.
So stiegen wir endlich in der Dämmerung bergan auf beschneiten, gefrorenen Wegen, und da sah ich erstaunt meinen sonst so tapferen Führer das tun, was noch jeder Pikbesteiger an ihm bemerkt hatte: er mied ängstlich Schnee und Eis und kletterte lieber nebenher über die harten, scharfen Klippen. Nach einer Stunde etwa auf der Rambletta angelangt, einer ansteigenden Felsfläche, die zum Piton, der Gipfelpyramide, dem »Zuckerhut« überleitet, ging die Sonne auf, für mich eine Stunde zu früh. Denn vom Gipfel hätte ich den Schattenkegel des Pik meilenweit westwärts übers Meer bis auf die Insel Gomera fallen gesehen, sowie er am Abend meilenweit ostwärts bis nach Gran Canaria fällt. Doch erblickte ich unter rot entflammten streifigen Wolken tief unten das dämmernde Tal von Orotava und über der Cumbre drüben die Gestadelinien von Santa Cruz. Und verheißend sah der Piton herab im reinen Morgenlichte.
Die Helle nahm zu, ich glaubte in den Himmel zu sehen, und es war doch, so hoch wie mein ausgestreckter Arm, das mit ihm zusammenfließende Meer: so hoch war der Gesichtskreis gestiegen. Voll froher Hoffnung weiter! Da zogen Florwolken um das Haupt des Pik, nicht lange, und sie hatten es umwickelt, nicht lange, durch Nachschub verstärkt, es eingemummt, die Luft verfinsterte sich, Wind fuhr herab, Schneeflocken schlugen uns ins Gesicht und an diesem Tage sah ich den Pik nicht mehr. Nun ging es den »Zuckerhut« hinan, sauer genug, denn in Bimsstein und Asche, daraus er ja besteht, sank jeder Schritt zurück.
Und immer dichter sausten die Flocken und bereiften mir Bart und Gewand. Endlich zum Gipfel durchgekämpft, warf mich der Sturm zweimal, dreimal vom Rande des Kraters zurück, kaum daß ich durch einen Wolkenriß einen Blick in seine dunkelnde Tiefe erhaschte. So blieb nichts übrig als wieder abzusteigen zur Freude Joses, der sich in den Fumarolen, Dampflöchern, vom Winde geschützt seine Zigaretten anzündete. Etwa so hoch wie unser Großglockner, ist der Pik, mit diesem verglichen, unschwer zu bezwingen. In der Alta vista warteten die Maultiere, ich zog es vor auf dem gestrigen bösen Wege hinter ihnen in den Kessel der Cañadas hinabzusteigen, darüber wie gestern die durchsonnte Luft brodelte und flirrte. Herrlich schlang sich das silberne Band der Brandung um die lange Nordküste. Unten aber im Erikabuschwald blühten die Blauveilchen. Wohl konnte ich zufrieden sein und war's doch nicht ganz. So hängt das Menschenherz an Wunsch und Wahn.
Ich wollte die Besteigung wiederholen, mit einem Freunde, den ich im Frühjahr erwartete. Aber er konnte nicht kommen, auch lag da der Schnee hoch um den Gipfel, und hier gibt es keinen Bergführer, der sich damit auskennt. So unterblieb es und tut mir heute noch leid wie ein ungetrunkener Rest köstlichen Weines. Dafür suchte ich durch wiederholte Ausflüge meine Kraft wach zu halten, die in diesem Treibhausklima einzuschlafen drohte. Zuerst besuchte ich den allerjüngsten Vulkan der Insel, der oberhalb von Ikod de los Vinos zur Zeit da ich eben das Schiff bestiegen hatte, ausgebrochen war, ein Ereignis, das in den Zeitungen Europas die abenteuerlichsten Befürchtungen um den Bestand der Insel geweckt hatte.
Diesmal begleitete mich der Sohn des wackeren Jose, dem ich aber weder die Geduld noch die Pünktlichkeit seines Vaters nachrühmen kann. Aber ich ritt wieder meinen braven Castaño, diesmal westwärts über Realejo (cho) alto, vorüber an Rizinusbäumen, die einem Haus in die oberen Fenster hätten sehen können, vorüber an dem schlanken, hohen Drachenbaum, älter als sein Bruder in Laguna, auf schmalen, steinigen Bergwegen durch das Dorf Guancha, das allein auf der Insel nach dem alten Volke so heißt, oberhalb des Dorfes Tigaiga, das der Ladera den Namen gegeben, nach Ikod, das heute eher de las Bananas heißen sollte. Hier erblickte ich am Morgen des folgenden Tages zum erstenmal den Pik in seiner ganzen Größe vom Fuß bis zum Haupt. Am höchsten und ältesten der Drachenbäume vorüber – mißt er doch 60 Meter und zählt wohl 2000 Jahre – ritt ich durch mannshohes, gelbblühendes Ginstergebüsch, durch Erika- und Pinienwald, wo ich den blauen Teydefinken aufscheuchte, und über groben, schwarzen Lavasand, bis die letzten Pinien rauchgeschwärzt und verbrannt standen, weil versengt vom Gluthauch des neugeborenen Hügelzuges, der überall noch dampfte und in grüngelben Schwefelflächen und Bimssteinen glühte, zwischen mir und dem Pik sein älterer Bruder, der Piko viejo (viecho), der ihm einst die Herrschaft abtreten mußte, wie die Somma dem Vesuv.
Köstlich war der Rückweg, zuerst der aussichtsreiche Abstieg nach dem Städtchen Garachiko, (Garatchiko), das 1708 durch einen Lavastrom verschüttet ward, dann auf der Straße zwischen Berg und Meer über Rambla, einer Straße, die ich mit der von Rapallo nach Porto fino an der östlichen Riviera vergleichen möchte.
Wiederholt aber führt sie über erstarrte Lavaströme und durch Barrankos in ernster, drohender Schönheit, ob auch die dunklen Felsen in jeder Ritze grünen und unten die Palmen wehen und die Bananenblätter blitzen.
Nein, ich wollte nicht immer, wie die vielen lungenkranken Engländer, die mir endlich dadurch lästig wurden, im Strandsessel auf schwarzem Lavasand oder auf den Ruhebetten im Martianezgarten faullenzen, so reizend es war, einschläfernder Narkose gleich, dort der ewigen Brandung zuzusehen und hier dem Vogelgezwitscher zu lauschen. Viel lieber zog ich durch das Land zu Fuß, zu Esel, zu Roß. Oft und am liebsten war ich droben in Villa (Villja) Orotava, dem Hauptorte des Tales, der, zwar nur 300 bis 400 Meter über dem Puerto, durch seine ungleich frischere Luft erquickt und mir immer die sinkende Eßlust weckte. Ein einsames Städtchen, wenn ich so auf seinem holperigen Pflaster, darüber Gras wuchs, zu ihm hinanschritt oder ritt, zwischen blumenüberhangenen Mauern, dann zwischen stattlichen geschlossenen Häusern mit Wappen und Galerien, so war mir's immer, als müßte ich leise sein, das Dornröschen nicht zu wecken. Schien es doch von besseren Tagen zu träumen, wo diese Edelsitze aus offenen Fenstern sahen, Damen die zierlichen Balkone schmückten und die Männer auf Straßen und Plätzen ihr goldbringendes Geschäft des Anbaues der Cochenille besprachen, die heute, wo man das schöne Rot auf chemischem Wege herzustellen weiß, nur noch da und dort wie ein Unkraut stehen geblieben ist.
Oft sah ich vom Hauptplatz vor der Kirche oder der Azotea, dem flachen Dache des Hotels Suizo, wo ich zu speisen pflegte, zum Pik hinauf und zum Meer hinab und konnte des Schauens nicht müde werden. Da sah ich auch hinein in manchen halb verwilderten Garten. Einer von ihnen, der schönste, der dem Besuche frei steht, gab mir zu denken, der der Marquesa Quinta. Da trägt ein Pavillon die lateinische Inschrift dieses Sinnes:
Dem Don Diego del Ponte Castillo, dem letzten Markgrafen von Villa Rubra, weiht seine Mutter, Donna Sebastiana del Castillo dieses Denkmal, zu Trost und Genugtuung für das Unrecht, das ihm, dem Christen, dem Gütigen, hochbegabten, Edlen, nach dem Tode noch religiöse Unduldsamkeit angetan hat.
Ein Freidenker war dieser Sohn gewesen, die Priesterschaft hatte ihm das Begräbnis versagt, daher die Mutier ihn hier bestattete. Auf der »glücklichen« Insel, wo zwar keine Schlangen hausen, aber Menschen. – Mehrmals noch zog es mich nach Takoronte, um dann eintauchend in das Tal, jenen ersten Eindruck zu vertiefen. Gern auch ging ich westwärts durch ein Tamariskenwäldchen am Meere hin zum kleinen Hafen; zur Flutzeit, wenn die aufspringende Brandung die weit draußen verankerten Bananenschiffe mir bis zu den Masten hinauf unsichtbar machte; zur Ebbezeit, wenn tausende schwarze Klumpen zwischen Wassertümpeln auftauchten, darin sich manchmal ein Fischlein oder ein Taschenkrebs verspätet hatte.
Da konnte ich, in Zeitfernen schauend, den Lavastrom sich zum Meere wälzen sehen, in den Puerto Orotava sich eingenistet hat zwischen zwei neben ihm herablaufenden Barrankos, die durch die zersetzende Wirkung von Wasser und Luft allmählich ein Heimatboden für Pflanzen wurden, denselben Lavastrom, der sich von der Montañeta de la Horka, dem vereinzelten Hügel dort oben, ergossen, dessen nun begrünte Kuppe mir ein lieber Luginsland war. Oder ich ging weiter westwärts hinter dem Städtchen nach dem »Burgado«. Da ist die Küste jäh ins Meer hinabgebrochen, doch einige schwarze Felsen hat sie unweit stehen lassen, an denen nun die Brandung tobt, wie keine Feder es beschreiben kann, besonders um den einen, in den sie ein Tor genagt hat, aus dem wie aus einem Drachenschlund ihr geifernder Schaum fährt. Dante hätte diesen Ort kennen sollen, darum nannte ich ihn el Infierno. Oder ich ritt ostwärts durch Zuckerrohr- und Bananenfelder, Lupinen- und Weizenäcker, zwischen Opuntien und Agaven bis dorthin, wo auf einem berasten Felsen, umfangen von den dunklen Wänden der hier ins Meer stürzenden Ladera de Santa Ursula, der mittleren Rippe der großen Talmulde, ein einsames verlassenes Haus stand, am vormittag im kühlen Schatten, el Rinkon im Munde der Eingeborenen. In dieser ungeheuren, schwermütigen Einsamkeit, deren einziger Laut das Rauschen der Brandung war, mußte ich Lenaus gedenken, und in seinem Namen nannte ich den auch mir lieben Ort »Trosteinsamkeit«, mir froh bewußt, daß ich sie überall fand. So manche Stunde auch verträumte ich im botanischen Garten bei vordem niegeschauten Kindern der Tropenzone, von den pflanzenkundigen zwar eine wenig gepflegte Wildnis genannt, weil die vom spanischen Staat für seine pflege erfließenden Summen auf dem langen Wege von Madrid nach Orotava bis auf wenige Tropfen in mancherlei Taschen versickern sollen.
Oder ich stieg zu der meinem Hotel ganz nahe gelegenen Villa La Paz hinan, die einst Alexander von Humboldt beherbergt hatte, und wandelte der Gartenmauer entlang auf dem steilen Küstenfelsen, und über mir sangen die Kanarienvögel und unter mir die Brandung. Oder ich schlenderte ziellos hie und da an Kaffeesträuchern und starren Cochenillekaktusgruppen vorüber und zwischen den Bananenfeldern, die jetzt weiten Strecken ihren eigenartigen Zug verleihen, von weitem blitzen die breiten schwertförmigen Blätter, die sich aber bald von selbst in viele Streifen zerschlitzen; schwere Fruchtkolben hängen aus dem Laube herab, der stämmige Schaft braucht feuchten Boden und überall läuft deshalb Wasser in gemauerten Rinnen von der Cumbre herunter und aus großen Sammelbecken des Regenwassers. Gut bewässert treibt die Pflanze den zweiten Schaft, sobald der erste seine Frucht getragen hat. Diese oft aus 200 und mehr Einzelfrüchten bestehend, wird im eigenen Laube in Lattenkisten verpackt und so zu Schiff gebracht. Köstlich war mir die Frucht auf meinen Ausflügen, gleicherweise für Hunger und Durst.
Das Haus Martianez' war ein behaglicher Aufenthalt. Ein alter spanischer Edelsitz unfern dem Meere, umfing es von drei Seiten ein lauschiges Gärtchen mit Säulengängen, Schlinggewächsen und einem Springbrunnen, das sich nach der vierten Seite in einen geräumigen Baumgarten öffnete. Deutsch geführt, war es aber doch wieder ein englisches Haus, denn alles war diesem Volke zu Gefallen, und die Deutschen, zudem in der Minderzahl, waren nur ein Anhängsel. Wenn zuweilen die kleine deutsche, vielleicht auch nur deutschsprechende Gruppe in einer Ecke des nicht allzu geräumigen Speisesaales etwas laut wurde, da konnte ich als Einsiedler bemerken, wie sich einige Paare englischer Augen dorthin richteten mit dem Ausdruck, der da spricht: O Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie jene dort. Und es schien mir, als ob sie jetzt geflissentlich noch mehr die stimmen dämpften und die Finger spitzten.
Ein geselliger Klub vereinigte sie alle, Ansässige und Reisende, wehte vom Klubhause die Fahne, so sagte sie Spiel an, wehte sie nicht, dann einen Ausflug, ein Picknick und dergleichen. Alles wurde in Scharen unternommen, wo der Deutsche so gerne allein oder zu wenigen gesellt wandert und schaut und genießt. Am Sonntag gegen 11 Uhr strömten sie alle zur Kirche oben im Park des ehemaligen Humboldt-Hotels, jetzt Grandhotel genannt, zu Zug, zu Esel, Damen zuweilen in der landesüblichen Sänfte, in deren Tragkorb ich nicht hätte liegen mögen, da er fast die staubige übelduftende Straße berührt, wenn ich sie singen hörte, mußte ich mich fragen: Rann das Christentum, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, in Wahrheit die machtsüchtige, goldgierige englische Seele erfüllen, wie es die deutsche Seele erfüllt? Und ich habe doch Innigkeit in ihrem Gesänge gefühlt und Inbrunst in manchem Gesicht gelesen, vielleicht hat sich dieses nicht mehr germanische Volk sein Christentum zu einem Vertrage mit Gott umgewandelt, der ihm den erflehten Erfolg gewährt, wenn es ihm dient, so daß sein entschlossenster Diener sein frömmster ist. Ihretwegen war an diesem Tage die Speisezeit immer um eine halbe Stunde hinausgeschoben, es geschah eben alles ihretwegen. Ihr selbstsüchtiger Herrscherwille wird ergeben, wie eine elementare Macht entgegengenommen, anerkannt und erfüllt, weil ihn eben jeder ohne Ausnahme als selbstverständlich so oder so fühlen läßt. Als einmal ein englischer Admiral im Martianez abstieg, verlor der sonst so aufmerksame deutsche Kellner, der mich bediente, derart den Kopf und vernachlässigte mich derart, daß ich ihn zurechtweisen mußte. Ihren Hochmut trugen sie offen, ihren lauernden Haß gegen alles Deutsche heimlich.
Da war ihnen das Humboldt-Hotel, weil deutscher Besitz, ein Dorn im Fleische, da sie sich schon als die Herren der Insel fühlten. Mit hämischer Schadenfreude besprachen sie seine durch frühere Leiter verursachte Verschuldung und wohnten doch scharenweis in dem eleganten, modern eingerichteten Hause und hielten ihre Feste und Bälle darin ab, mit den zahlreichen Deutschen wie Wasser und Öl. Englische Damen tanzten lieber eine mit der andern, bevor sie einem deutschen Herrn die Gnade erwiesen. Ich kam oft hinauf zu einem dort wohnenden Berliner Ehepaar, mit dem ich 20 Jahr zuvor in Florenz zusammen gewesen war, häufig auch trank ich den Tee in einem halb englisch, halb österreichischen Hause, dessen weibliche Bewohner ich von der Schiffsreise her kannte, mied es aber zuletzt, da mir die immer häufigeren, taktlosen Ausfälle gegen alles Deutschtum unerträglich wurden.
Es war eine heimliche Kriegsstimmung, die zuweilen vulkanisch ausbrach. So bei dem alljährlich stattfindenden altspanischen Reiterspiel Sortija (Sorticha). Da war über einen breiten Parkweg ein Querholz gezogen, daran an Ringen zusammengerollte Fähnchen hingen. Darunter weg sprengte im Galopp der Reiter und stieß mit einer kurzen Lanze nach dem Ringe. Traf er hinein, so rollte sich das farbige Band, die Flagge eines Landes, ab und legte sich dem dahinstürmenden Reiter als Schärpe um die Brust. Am geschicktesten und erfolgreichsten ritten die Eingeborenen, am wenigsten geschickt und glücklich die Deutschen, weil schulgemäß wie in der Reitbahn. Unschicklicher, überlauter Beifall erhob sich auf englischer Seite, als es einer ihrer Damen gelang, die deutsche Fahne herabzuholen.
Zur Faschingszeit war es fraglich, ob die Engländer an dem üblichen Umzuge teilnehmen sollten, worüber sie eine halbe Nacht berieten. Wollten doch die Deutschen auf einem Wagen einen Zeppelin einherfahren, der den Engländern damals schon auf die Nerven fiel. Endlich entschieden sie sich und zogen mit, dem Zeppelin voran mit einem sinnreichen, von Ochsen gezogenen wagen. Darauf stand vierschrötig und protzig John Bull im roten Frack, die gespreizten feisten Beine in prallen weißen Hosen und gelben Stulpstiefeln, von den Erdteilen allen als Dienerinnen umgeben, und neben ihm stand jene Dame, die beim Reiterspiel die deutsche Flagge herabgestochen hatte, mit dem meerbeherrschenden Dreizack.
Der deutsche Wirt des Martianez hatte das große englische Banner mit den springenden Leoparden aufgezogen, von einem deutschen sah ich keinen Zipfel. Ein Kapitel deutscher Schande! Da verließ ich das Haus. Ich machte keinen schlechten Tausch, indem ich nun um hundert Meter höher in einer durchaus deutschen Pension El Cipres, einem alten spanischen Landhause mit herrlicher Aussicht, recht behaglich wohnte. Mehrere Deutsche aus Nord und Süd, gebildete, liebenswürdige Menschen, mit denen ich abends manch deutsches Lied sang, machten mir die letzten Wochen meines Aufenthaltes angenehm. Nur schade, daß im Garten draußen in dem großen gemauerten Wasserbecken hartnäckig, als müßten sie uns niederstimmen, immer die Frösche mitsangen. So war auch dieses Glück nicht vollkommen, vielleicht dachten die Frösche für sich ebenso!
Was die Eingeborenen betrifft, so fielen sie mir, vom Bettel der Kinder abgesehen, nicht lästig, wie ein Jahr früher die spießigen, aufgeblasenen Franzosen der Algerie. Ich fand sie, soweit ich mit ihnen in Berührung kam, freundlich und entgegenkommend, und wenn mir hie und da aus meinen Streifzügen ein Bauer einen Trunk Wein reichte und die Zahlung zurückwies, so war ich herzlich erfreut wie gleichfalls ein Jahr früher unter den gastfreundlichen Bewohnern Mallorkas. Gern sah ich die Frauen und Mädchen gleich denen im Appenzeller Land vor den kleinen Häusern sitzen und die weitbekannten Stickereien schaffen, die nach der Insel heißen, und freute mich ihres Fleißes, genährt und gefördert von deutscher Unternehmungslust.
Ein kleiner König könnte der Teneriffabauer sein in dieser maßlos freigebigen Natur; aber er ist zumeist wie der ägyptische Fellach nur Pächter eines geistlichen oder weltlichen Herrn, der fern von ihm die Früchte seiner Arbeit genießt, hatte ich in Las Palmas die Macht der spanischen Kirche geschaut, so empfing ich in Orotava einen kleinen Beweis von der Ohnmacht des spanischen Staates. Ich erwartete einen Sammelbrief aus der Heimat, aber er kam nicht und kam nicht. Da öffnete mir der Postbeamte höflich die Tür zu einem rückwärtigen Amtsraum: »haben Sie die Güte einzutreten und selbst zu suchen« und ließ mich allein vor einem Berge von Sendungen, auf einem Tische aufgeschüttet. Und richtig, da lag mein erwarteter Brief mitten darin. Ich begehrte Marken zu kaufen, das Postamt verkaufte keine. Nein Wirt erklärte mir: »Wenn man den erbärmlich bezahlten Beamten die Marken zum Verkauf überließe, so würden sie damit Handel treiben.« So kaufte ich sie beim Krämer. O glückliche Insel! – Auch der spanische Stierkampf ist hier Volkssitte – in Santa Cruz sah ich die Arena – ebenso der Hahnenkampf. Der Zufall führte mich zu einem solchen, eigentlich nur einer Probe und Vorbereitung. Da stand mit gespreizten Leinen und Armen ein Mann vor einer länglichen offenen Kiste und hielt darüber in jeder Hand einen Kampfhahn am Schweif. So brachte er die beiden einander nahe, daß sie wütend mit Schnabel und Sporn nach einander hackten, zog sie aber immer wieder zurück, sie zu reizen, unter dem fürchterlichen Krähen aller andern, die in Gitterkörben ihr Auftreten erwarteten. Ich bemerkte, daß den Tieren die roten Kopflappen abgeschnitten und die Sporen mit Leinwand umwickelt waren, und erfuhr, daß sie so im Ernstfälle einander geradezu auf die Köpfe hacken müßten, wobei die Sporen spitze Stahlhülsen trügen. Stierkämpfe hatte ich in Barcelona nicht ohne Interesse gesehen, weil ja in ihnen der Mann kühn und flink sein Leben wagt, aber eine derart abgeschmackte, erbärmliche Tierquälerei ekelte mich an.
Das Frühjahr war da, der Februar zu Ende, schon hatte das Korn geblüht. War es mir vergönnt gewesen, den Winter im Sonnenschein zu wandeln? Ja, und in Sommerwärme dazu, denn von neunzig Tagen war nur einer ganz sonnenlos und die tiefste Morgentemperatur wies zehn Grad Reaumur, ungeachtet der häufigen Regenschauer seit Mitte Jänner. Nicht leicht war der Abschied und ließ mich fühlen: der große Magnet der Insel war mir der Pik. Überall und zu jeder Zeit suchte ihn mein andächtiges Auge; sah ich ihn im Sonnenlicht, so freute ich mich und war traurig, wenn er sich in Wolken verbarg. Die Alpenberge alle, zu denen ich hinauf und von denen ich hinabgesehen, sie erschienen mir neben ihm als Nachkommen alter Geschlechter, ohne eigenes Verdienst zur Herrschaft berufen, er aber ist keiner Dynastie entwachsen, vom Meeresgründe ist er aufgestiegen über unansehnliche Vorfahren durch eigenen Feuers Kraft, wie nur die Größten der Menschheit. Atmete er heute noch Feuer aus, er wäre dem nächtlichen Schiffer der höchste Leuchtturm der Erde.
Kein Wunder, wenn die Seefahrer des Mittelalters ihn den Berg der Hölle nannten und die Geographen durch ihn als den vermeintlichen Gipfel des Planeten den ersten Meridian zogen. In ein traulich-brüderliches Verhältnis zu ihm träumte ich mich, wenn ich irgendwo behaglich rauchend ruhte und auch er gerade ein goldgelbes Wölkchen ausblies. Da neckte ich ihn, der schläfrige Meine den schläfrigen Großen, und hauchte ihm mein Ringlein entgegen und freute mich kindlich, wenn es in armlanger Entfernung sich zum Ringe erweiterte und sich um den winzigen Kopf des entfernten Riesen spielend zu legen schien. Schwer trennte ich mich von ihm, der mir ein Symbol geworden, lange noch hing mein Auge an ihm auf der Rückfahrt bis Takoronte hinauf und dann auf der Seefahrt von Santa Cruz nach Las Palmas. Zu dem langen Wellenbrecher von Puerto de la Luz herüber entbot er mir halb geschaut und halb geahnt den Geistergruß, hier nahm ich den letzten Abschied von ihm.
In diesem Hafen spürte ich wieder das wogen des Völkerlebens, denn wohl ein Dutzend und mehr Schiffe aller seefahrenden Nationen liefen täglich hier ein, um sich mit Kohlen zu versorgen. Wie viele von ihnen mögen heute vom Weltkrieg im tiefen Bette des Meeres ausruhen, und die damals stolz die schwarz-weiß-rote Flagge führten, welche Flaggen mögen heute von ihnen wehen? Es war einmal! Von hier trug mich einer der schönsten Dampfer der Austro-Americana – jetzt auch ein Name nur – die »Laura« nach Europa zurück, wieder nach Almeria. Und wenn ich mir nur die Namen vorhalte: Malaga, Gibraltar, Algesiras, Cadix, Xeres de la frontera, Sevilla, Cordova, Granada, so lebe ich höher im Nachgefühl jener geistigen Freuden.
Und als ich zu Beginn des Mai auf der »Columbia« derselben Schiffahrtsgesellschaft abermals von Almeria nach Triest zurück und heimkehrte und durchs Mittelmeer auf der Straße der Erinnerung fuhr, da mußte ich mich wohl fragen, ob ich etwa wiederkehrte wie die vielen hundert enttäuschten Rückwanderer, oder ob ich die glücklichen Inseln gefunden, und ich durfte mir antworten: Die glücklichen Inseln, nein, aber am Ende doch die Insel des Glückes. Nach der Erfüllung einer Lebenspflicht ein Menschenalter lang, frei und sorgenlos, gesund, in der großen, schönen Gotteswelt empfänglich und nachdenklich, unbeirrt von störenden Menschen mein inneres Wachstum spürend: so war ich glücklich, so habe ich sie gefunden. Wie früher so oft schon: im sandigen Föhrenwald meiner Jugendheimat die Zukunft träumend, und dahin zurückgekehrt, in zufriedener Erinnerung bestandenen Lebenskampfes, bei der lieben Abendlampe nach sauerer Arbeit, nach Selbstüberwindung und Entsagung, schaffend in gottesnaher Einsamkeit. Die Insel des Glückes, wir finden sie doch alle zuletzt nur in uns selbst, ein jeder nach seiner Art.