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Unten im Erdgeschoß lag also das Geschäft. Der ganze Flügel linker Hand, wenn man durch die breite Tür kam.

Rechts drüben lag nur der kleine blaue Saal und der neue Anbau mit den hohen Türen und Fenstern, die in den Garten hinausführten. Den ganzen Flügel sonst bis auf den letzten Winkel nahmen die Geschäftsräume ein.

Sie waren sehr schlicht, hatten weiße Türen und hell gestrichene Wände, die von Streifen umzogen waren, und dazu sandbestreute, splittrige Dielen – eine kahle, nüchterne, unfreundliche Welt.

Vorn kamen da ein paar Lagerräume, eingeengt und durchzogen von Regalen, die mit Stapeln von Tüchern und Coupons bunt gefüllt waren. Ein Zimmer für die Ablieferung folgte, mit dem langen, breiten Tisch zum Aufrollen der Stücke. Ein kleiner Raum schloß sich an für zwei Buchhalter, die Rücken zu Rücken an zwei Pulten wie an zwei Krippen standen. Und dann gelangte man erst in das Zimmer, in dem Eduard und Heinrich Schön und Müllner residierten. Nur hier lag ein alter, abgetretener Blumenteppich; nur hier hingen an der Wand alte Landkarten, die längst nicht mehr stimmten, was die Farben der Staaten anbetraf, sogar niemals gestimmt hatten. Nur hier standen große Schränke mit knarrenden Türen, mächtig, rostbraun und alt. Eduard und Heinrich Schön saßen hier bequem in niederen Sesseln vor breiten Schreibtischen, während der alte Müllner sich nicht von seinem Stehpult fortdenken konnte.

Dann aber war noch oben im Haus, unter dem Dach, der Boden zu Lagerräumen umgewandelt: Wilhelms halbdunkles, staubgraues, uraltes Reich.

Und ein paar Häuser weiter am Kanal hatten sogar Schöns irgendwo in einem Hinterflügel eine kleine Fabrik eingerichtet, mit acht bis zehn Webstühlen. Und später wollten sie auch hier zur Probe einen englischen Dampfwebstuhl aufstellen, wie der jetzt im Zeughaus in der Gewerbeschau vorgeführt wurde.

Schöns hielten diesen kleinen Betrieb vor allem deshalb, damit sie ihre neuen Muster nicht außer Haus geben brauchten, wo sie andere sehen und gleich nachmachen konnten. Das geschah schon früh genug, wenn sie erst draußen waren. Und da, in der Fabrik, war auch immer dieser und jener drüben. Kurz: Arbeit gab es eher zuviel als zuwenig. Eduard Schön hätte nämlich geglaubt, vor dem Bankrott zu stehen, wenn er einmal eine halbe Stunde früher aufgehört hätte. Heinrich aber mußte mittun, wenn er nicht seinen Alten Herrn damit kränken wollte, trotzdem er ganz genau aus England her wußte, daß es auf die Arbeits leistung und nicht auf die Arbeits zeit ankommt.

Wirklich! Zu tun gab es mehr als genug jetzt für Heinrich Schön. Und da der Vater nun gern bei seiner jungen Frau zu Haus blieb, wenigstens in ihrer Nähe sein wollte, so mußte Heinrich zudem noch zwei-, dreimal in der Woche nach Berlin hinüber. Früher, mit der Journalière, wäre das eine ziemliche Quälerei gewesen, aber jetzt mit der Eisenbahn machte das nichts.

Die Abende jedoch gehörten Hannchen – alle! Offiziell auch wirklich alle (eigentlich und in Wahrheit nicht alle). Und am Sonnabendnachmittag belegten ihn die »Unmöglichen« auf ein, zwei Stunden mit Beschlag.

Aber das stellte Heinrich auch bald ein. Ihm gefiel das Spiel nicht mehr, wenn irgend jemand plötzlich – alle hatten sie jetzt Schiller studiert – fragte: »Wo ist Don Carlos, mein Infant?« oder ohne jeden Anlaß beim Hereintreten: »Wo bin ich? Rasender Betrug! – Ich hab' das rechte Kabinett verfehlt!« bedeutungsvoll in die Tür brüllte. Heinrich Schön gefiel das Spiel nicht mehr, dessen Anführer er doch vor kurzem noch selbst gewesen war.

Antonie aber, seine neue kleine Mutter, sah Heinrich Schön wenig. Sie machte keinen Lärm, störte niemand, war und blieb ganz für sich und in ihrer Welt, undurchdringlich. Und auch die Potsdamer, die sich auf ein Schauspiel gefreut, kamen nicht auf ihre Kosten. Man sah Frau Antonie selten, sehr selten auf der Straße. Zu Haus kam sie mal durchs Kontor, stand einen Augenblick hinter Heinrich oder ihrem Mann, sah zu, wie sie schrieben, ließ sich mal ein paar Muster zeigen, war manchmal morgens im grünen Gartenzimmer beim Kaffee (aber nicht immer), brachte selbst manchmal das Frühstück für sie herein (aber selten), saß mit ihrem interessierten Lächeln beim Mittagbrot und hörte scheinbar aufmerksam zu, wie von Lieferterminen und Tratten, von fälligen und abgehenden Schiffen gesprochen wurde, und stand nach dem letzten Bissen auf, um in ihr Zimmer zu gehen.

Sie war keineswegs so freimütig und unbefangen mehr wie erst. Ihre Augen waren noch größer und erstaunter geworden, hatten ewig eine Frage auf ihrem Grunde. Alles an ihr war noch eine Nuance zierlicher, morbider und betörender geworden. Ihr Lächeln noch ein wenig feiner und schwingender. Sie war seltsam scheu geworden, so daß Heinrich sie schon immer einmal fragen wollte, ob er mit irgend etwas ihr Mißfallen erregt hätte. Denn das fühlte er: etwas Unausgesprochenes lag zwischen ihnen. Aber er fragte sie nicht. Er sprach überhaupt wenig mit ihr, richtete bei Tisch kaum das Wort an sie – höchstens wenn er über etwas für seine Einrichtung von ihr Rat haben wollte. Denn daran mußte man ja nun auch denken.

Die Abende aber verbrachte Heinrich bei Mühlensiefens. Und da gab es immer viel zu besprechen. Erstens wegen der Wohnung. Heinrich hätte eine schon frei machen können. Oben in der Burgstraße. In einem stillen Haus aus dem Anfang des Jahrhunderts. Eine Wohnung mit breiten Korridoren, hohen Fenstern, großen Räumen, sehr hell, sehr vornehm. Eine Wohnung, in der die Witwe eines Majors hauste, die gerne dafür eine andere oben im Dachgeschoß genommen hätte, da ihr die jetzt eigentlich zu teuer war.

Nun hätte wirklich niemand etwas gegen diese Wohnung einwenden können, und alle, die es anging und nicht anging – Hannchen mit ihren Freundinnen, Frau Rat mit ihrer Schwester (selbst den Geheimrat hatte man mitgeschleppt) –, alle hatten schon zu jeder Tages- und Nachtzeit die arme Frau Majorin mit vielen Entschuldigungen überfallen und ihre Nasen bis in den letzten Winkel der Besenkammer gesteckt. Jedoch – die Frau Geheimrat war dagegen! Gegen die Wohnung als solche wäre ja nichts einzuwenden, aber sie könnte sich an diesen Gedanken nicht gewöhnen, und es würde sie tief schmerzen, wenn ihre Tochter dorthin zöge, weil sie dort in den Sprengel des Pastor Langer von der Heiligen-Geist-Kirche käme, mit dessen kirchlichen Ansichten sie – die Frau Rätin – keineswegs sympathisiere und von dessen Einfluß sie fürchten müsse, daß er ihr ihre Tochter entfremden würde. Dem Pastor Langer war alles zuzutrauen – er ginge über Leichen!

Aber wenn Heinrich einwarf, daß sie die Wohnung ja nicht für immer nähmen und daß sie aller Voraussicht nach ja doch in kurzer Zeit nach Berlin ziehen müßten – des Geschäfts wegen –, so sagte die Frau Rätin mit leichtem Schlucken der Rührung, daß sie nachher tun könnten, was sie wollten – nachher, wenn sie und ihr Wilhelm ihre alten Augen für immer geschlossen hätten. Also, die Wohnungsfrage war und blieb noch unentschieden. (Hannchen aber flüsterte ihm zu, sie würde ihre Mutter schon 'rum bekommen. Und Heinrich fragte sich im geheimen ganz erstaunt, womit man sich es eigentlich erkauft hätte oder erkaufen wolle, ihm da hineinzureden.)

Der Möbel wegen, meinte Hannchen, wäre das nicht so wichtig. Die finden schon immer ihren Platz. Die könnte man auch so bestellen. Den Teppich wohl auch. Aber man könnte doch nicht eher an die Gardinen denken, ehe man nicht die Breite der Fenster wüßte. Heinrich sollte ihre Mutter ruhig reden lassen, nachher täten sie doch, was sie wollten!

Hannchen von Mühlensiefen war überhaupt sehr obenauf, hielt das Heft fest in der Hand. Man sagt, daß Brautstand schlecht bekommt, unruhig macht und ungewiß, gesundheitlich herunterbringt. Na, da hätte man Hannchen von Mühlensiefen sehen sollen! Sie wurde von Tag zu Tag rosiger, blonder und blühender. Sie erzählte allen Leuten, wieviel sie mit der Aussteuer zu tun hätte, und wußte jeden Satz – und wenn jemand über Fliegenpapier gesprochen hätte – so zu drehen, daß mindestens einmal das Wort Bräutigam vorkam. Denn als Heinrich am nächsten Abend ganz treu und gut erzogen zu ihr zurückgekehrt war und alles – wie es ihr schien – genau wie einst war, ja ihrem Erachten nach besser als vorher; da hatte Hannchen schnell eingesehen, daß diese Frau Antonie doch keine ernst zu nehmende Rivalin war. (Bildung allein macht es eben bei den Männern auch nicht; man muß schon etwas vorstellen!) Und Hannchen von Mühlensiefen hatte gleich begonnen, für Heinrich eine höchst raffinierte Serviettentasche in Perlenstickerei zu machen, ganz kleine Perlen, grausames Augenpulver! Rechts und links je ein Adler, die beide in kluger Arbeitsteilung eine Fahne im Schnabel hielten oder richtiger eine Art Standarte, auf der in Goldperlen verschnörkelt H.S. stand.

Und dann wollte sie noch eine Messertasche sticken. Sie hätte ja lieber einen Kaffeewärmer gemacht. Aber den machte schon Mutters Schwester, Tante Mechthildis, die in einem adligen Altjungfernstift sich von frühester Kindheit an in so etwas geübt hatte und gerade in Kaffeewärmern unübertroffene Spezialistin war. Zwei Kaffeewärmer aber wären zuviel gewesen. Immerhin, man hätte vielleicht einen für Sonntag und einen für Alltag nehmen können.

Von Heinrich aber konnte niemand sagen, daß er von Tag zu Tag rosiger und blühender wurde. Er war sonst das gewesen, was man einen guten Jungen nennt: liebenswürdig, sorglos, etwas sarkastisch und überlegen, interessiert; kein Flachkopf – dazu war er zuviel herumgekommen in Deutschland, Frankreich und England, dazu lastete zuviel Verantwortung auf ihm, dazu hatte er sich zu lange an der Universität umgesehen und von der Schule manches mitgenommen. Nicht gerade blendend geistreich war er, aber energisch und von ruhiger Klugheit und gleichmäßigem Naturell, wohlhabend und gut erzogen. All das war er. Aber sehr problematisch war er nicht. Er fühlte sich in seiner Haut recht wohl. Und warum auch nicht? Er kannte seine Grenzen, hatte keine Leidenschaften, hatte keinen Ehrgeiz, wußte, die Welt würde nie von ihm reden, und er würde nie mit den andern sich im Straßenschmutz um den Taler balgen. Und all das hatte ihm eine lächelnde Überlegenheit, eine freundliche Selbstbewußtheit gegeben.

Das Leben war für Heinrich Schön bisher ein netter alter Weihnachtsmann gewesen, der ihm gesagt hatte, daß die Rute nur für die Kinder ist, die zwischen karierten Bettüchern zur Welt gekommen sind, oder für jene, die nicht brav sind, und der ihm Äpfel, Nüsse und Pfefferkuchen gegeben hatte, soviel er mochte. Und auch ein paar hübsche Puppen dazu, damit er doch außerdem noch etwas zu spielen hätte. Und der ihm immer wieder eine neue in die Hand gegeben hatte, wenn er der einen überdrüssig geworden war.

So war das Leben für ihn gewesen.

Und nun war es mit einmal voll Verborgenheiten und voll von Ängsten und Lügen geworden. Nun lag er die Nächte mit offenen Augen und starrte in die Dämmerung – und wollte nicht wissen, weswegen er es tat. Und er schlief erst ein, wenn der Himmel milchfarben wurde und die Vögel im Garten begannen ..., so laut und sorglos, als ob ihnen die ganze Welt gehörte. Nun zitterte er, wenn er bei der Arbeit saß und die Tür ging auf: wer da käme. Nun hielt er sich länger in Berlin auf, als es für ihn zu tun gab, fuhr mit dem letzten Zug zurück und verbrachte doch die Zwischenstunden bis dahin in namenloser Sehnsucht, nach dem einen Augenblick zu Hause, wo er seinem Vater Bericht gab und vielleicht noch irgendein Wort mit Frau Antonie wechselte – ein ganz gleichgültiges: daß ihre Eltern grüßten oder daß Jagor den Wein zuerst schicken würde.

Im Geschäft selbst war Heinrich Schön zerstreut geworden, fing eine Sache an, legte sie wieder hin und begann eine andere, so daß Eduard Schön sich häufig über ihn lustig machte, daß er gar so verliebt wäre. Nun, er habe keine Angst um ihn; das würde sich schon geben, wenn Heinrich erst einige Zeit verheiratet wäre.

Die ein, zwei Stunden bei Hannchen jedoch verbrachte Heinrich still und fast apathisch. Er brauchte aber auch da gar nicht zu reden. Das besorgten die andern. Es fiel gar nicht auf, daß er schwieg ... Hannchen am wenigsten. Heinrich ließ ruhig den Disput von Mutter und Tochter über sich ergehen, ob man Nachttische in Säulenform nehmen sollte oder vierkantige mit Zwischensatz, gedrehten Stäben und Kästen. Und er wußte zum Schlusse nie, wer eigentlich für das eine und wer für das andere war. Er überraschte sich oft dabei, wie er während dieses familiären Wortgefechts Hannchens Gesicht betrachtete, jeden Zug mit den Augen entlangtastete, von allem losgelöst, angstvoll wie ein Hund, der die Spur seines Herrn nicht mehr findet. Und er ging meist früher fort, als er es sonst getan hatte, die alten Herrschaften wollten auch schlafen gehen; sie gähnten schon, höflich aber bestimmt, hinter den Patiencekarten – und er, Gott ja, er hatte ja auch das Recht dazu, denn er war, wie er sagte, ziemlich abgeschlagen von der Arbeit. Wenn aber dann Hannchen – unten im Hausgang – sich an ihn preßte und ihn küßte, dann hätte er umfallen mögen vor Müdigkeit, und ihm schwindelte fast. Sobald er jedoch draußen war auf der nächtlich-stillen Straße, unter den hohen Bäumen, in der Kühle der Nacht, dann war er wieder völlig munter, hell, durchsichtig, überrege, ganz von jenem Schwingen und Zittern erfüllt, das ihn nie schlafen ließ, weil es dahinten, ganz hinten irgendwo in seinem Hirn arbeitete, ohne Worte, ohne Gedanken – Tag und Nacht.

Und es trieb ihn immer wieder in die Fischerstraße, in der gerade vor dem Haus mit dem goldenen Karpfen über dem Eingang – unter den hohen Bäumen, an der alten Stadtmauer mit den Wassertüren, die zur Havel gingen – Abend für Abend eine weiße Schürze auf ihn wartete, ihn bei der Hand nahm, kein Wort sprach, einen von Vaters Kähnen losmachte und mit Heinrich hinausruderte über die schwarzen, gurgelnden Flächen hin, an Schilfketten und Binsen vorüber, die den Bootsrand streiften, an Weidengebüsch vorbei, das gleich Schemen gegen die Nacht stand – bis zu jenem Uferversteck drüben, um ihn dann dort in die Arme zu nehmen.

Sie hatte eine wundervolle Art, die Wulkow, einen Mann in die Arme, an ihre breite Brust zu nehmen – genau so, wie sie ein Boot festband, daß keine Welle und keine Strömung es losreißen konnten –, blond wie ein Weizenfeld, breit, ungeschlacht wie sie war, kaum neunzehn, mit dem Körper einer Dreißigjährigen, mit Augen wie die eines treuen Hundes, der alles sieht und alles fühlt und alles weiß, aber dem die Sprache fehlt. Sie stammte von Menschen, die nicht viel zu sprechen gewohnt sind, die Wulkow, von Menschen, die seit Generationen Tag und Nächte lang allein draußen auf dem Wasser gewesen waren und die nun ebenso langsam und träge, schweigend und breit sich hingebend, wie das Wasser selbst geworden waren.

Und sie liebte Heinrich Schön – die Wulkow –, so ungefähr, wie eine Amme ihr vornehmes Kind lieber hat als ihr eigenes. Sie wollte gar nichts von ihm, die Wulkow, sie verlangte gar nichts. Sie nahm kaum ein Umschlagetuch von ihm an oder Stoff für eine Schürze. Sie wußte, daß er verlobt war. Sie wußte, daß er bald – in vier bis fünf Wochen schon – heiraten sollte. Sie wußte noch viel mehr, hundertmal soviel wie Hannchen von Mühlensiefen. Sie wußte, weshalb er jetzt immer zu ihr kam. Sie hatte auch Frau Antonie auf der Straße gesehen. Und ihr Herz fühlte jedes Zittern seines Herzens und jeden geheimsten Gedanken seines Herzens, wenn sie ihre festen Arme um ihn legte.

Und sie schloß die Arme nur noch fester um ihn, wortlos, wie eine Amme ihr Herrschaftskind nimmt und streichelt und an sich drückt, damit es nicht weint.

Aber einmal wollte es der Zufall – aber das war schon viel später! –, wollte es der Zufall doch, daß Heinrich Schön nicht mehr Herr seiner selbst war und plötzlich scheinbar grundlos und voraussetzungslos – in der Dunkelheit zu schluchzen begann. Er wußte nicht, wie das kam, und er schämte sich sehr, wollte es niederkämpfen und schluchzte nur immer stärker in die Dunkelheit hinein. Er konnte kaum die Augen sehen, die über ihm waren. Und wenn er nicht den Druck der Arme und die warmen Züge des Atems halb über sich gespürt hätte, hätte er glauben können, er läge ganz allein tief unter der Erde. Aber die Wulkow schien nichts davon zu merken; nur nachher, wie sie den Kahn anband, sagte sie halblaut: »Ick würde mal aus de Quelle von Templin trinken.«

Heinrich verstand. Richtig, die heilt ja von Liebessorgen!

»Aber bevor die Sonne hoch ist, und du derfst nich dabei sprechen!«

Das aber war das letzte Mal, daß Heinrich Schön die Wulkow sah.

Draußen jedoch zog der Frühling vorüber. Wie ein Bettler, der über die Straße geht und auf den keiner achtet und der doch ein heimlicher König ist, ging er dieses Mal vorbei. Und keiner von den allen sah eigentlich recht etwas davon. Denn die paar Blumen im Garten, die Kastanien in der Plantage, am Kanal, am Bassin und um die Gloriette, die zählten ja kaum für ihn.

Heinrich merkte eigentlich nur an den Nuthewiesen, wie es sich draußen von Tag zu Tag änderte, von Woche zu Woche änderte. Denn jedesmal, wenn er mit der Bahn daran vorüberfuhr, hatten sie ein neues Gesicht. Erst waren sie weithin überschwemmt gewesen: ein einziges, blankes, unbewegliches Glänzen, in dem die paar einsamen Weidenbüsche, rund und kugelig – mit ihrem Spiegelbild zu einer seltsamen großen Acht vereint –, wie im Wesenlosen zu schweben schienen. Dann aber waren überall Dotterblumen durchgedrungen, gelb, leuchtend, sich verdoppelnd, goldene Funken in und über dem Wasser, so weit das Auge reichte. Und langsam war auch das Gras herausgekommen mit Spitzen, feiner als Florettklingen. Und danach erst der Hahnenfuß. Und endlich hatten die Pflanzen ganz und gar die Oberhand bekommen. Alles war braun geworden von Bachnelkenwuchs und weiß von Schaumkraut. Und jetzt, jetzt begann sogar schon der Ampfer hie und da seine roten Rostflecken über die spatgrüne Patina zu verbreiten. Und auch jene Buschketten an der Havel wurden gemach dichter. Denn zuerst hatten noch die Sterne hindurchgeblinzelt wie durch Flortücher, wenn Heinrich des Abends da entlangtrieb. Und nun stand das in schwarzen, zackigen Massen gegen die Dämmerung. Das Schilf aber, das vordem nur die Kahnwände gestreift hatte, schlug jetzt oft mit einem mutwilligen Halm herüber und berührte sein Haar; ja Heinrich sah selbst schon manchmal eine schwanke Rispe über sich im Halblicht schweben. Dann jedoch mußte es draußen schon ziemlich weit sein!

Eduard Schön aber nahm sich einmal des Nachmittags einen Wagen, ließ ihn an dem Tor halten und ging mit Frau Antonie ein paar Minuten durch den Park, um ihr den Flieder zu zeigen, spanischen und chinesischen – und die Maiglöckchenfelder bei Charlottenhof. Und dann winkte er den Wagen wieder heran. Heinrich hatte eigentlich mitkommen sollen, aber er hatte in Berlin zu tun. Und so kam er in den Wochen nicht ein einziges Mal heraus in die Gärten, und nur des Nachts, im Kahn, auf dem Wasser, da spürte er manchmal so eine Wolke vom Duft des Flieders, der von weit her herüberschlug und ihn mit seinem Parfüm an jemand erinnerte, an den er wirklich nicht mehr erinnert zu werden brauchte. Aber schnell genug wurde doch der Fliederduft jedesmal übertäubt von dem scharfen Geruch der Weiden, Pappeln und Erlen am Uferrand.

Und doch blühte der Flieder, wie er es noch nie getan hatte – sicherlich noch nie –, in Sanssouci, in Charlottenhof und im Neuen Garten. Blaurot, mattblau, tiefviolett, in tausend Tönungen. Der fing dunkel an und wurde heller, und der schien an anderer Stelle von Tag zu Tag tiefer zu werden. Der hatte in seiner Dunkelheit helle Lichter wie Flecke reinen Blaus inmitten violetter Gewitterwolken. Und der hatte in seinem siegenden Lichtblau tiefe Schatten, als ob Tag- und Nachthimmel sich vermischt hätten. Hier standen die Büsche einzeln, versprengt; dort in Reihen und niederen Hecken. Und dort – mitten auf grünem Rasenplatz – schlossen sie sich eng und rund zusammen wie Kinder, die Kreis spielen. Der Busch hatte nur wenige Dolden, großsternig, stolz, schwer... Blütenballen, jede seiner selbst bewußt; und der war ganz und gar überschäumt von Licht, eingehüllt in kleine kokette Rispen, die allein gar nichts waren, aber die, zu hundert und hundert, jeden Zweig herunterzogen, daß es schien, als wolle der ganze Busch in tausend blauen Tropfen langsam herabtröpfeln, bis er alle seine kleinen Blumenkreuze einzeln verstreut hätte.

Und Kastanien und Rotdorn und Schneeball und Weißdorn hielten Schritt, waren kaum einen Tag später auf dem Plan und schienen miteinander gewettet zu haben, wer seine Blüten länger halten könne. Aber allgemach träufelten sie doch ab und verschwanden im Grünen.

Auch der Goldregen eilte sich nachzukommen. Er wußte, er würde ein wenig später am Ziele sein und seine gelben, chinesischen Seidenflaggen entrollen. Er wußte das von vielen Jahren her. Und doch gab er die Hoffnung nicht auf, wenigstens noch ein paar Tage seine Seidenwimpel neben dem Blau der Syringen flattern lassen zu können.

Aber dafür blieb der Goldregen auch Sieger – weil er doch zuletzt gekommen war. Doch allzulange freute er sich seiner Herrlichkeit auch nicht.


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