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Es ist eine Ansicht der Bücher, daß sich die Menschen untereinander soviel um Schicksalsvollzug, um Leben und Sterben gegenseitig bekümmern ... ›Mitleidig folgt ich ihren Särgen – und bis zum Kirchhof ging ich mit – nachher, ich will es nicht verbergen – aß ich des Mittags mit Appetit.‹ Das ist vielleicht noch das Höchste, was man erreichen kann von Menschen, mit denen einen eine sogenannte Freundschaft verband. Oder gar jene seltsame Haßform, die mit dem unklaren Wort »Liebe« bezeichnet wird. Und es ist ebenfalls das Höchste, was sie von uns zu erhoffen haben. Und selbst bei denen, die unlösbar durch Blut und Gemeinsamkeit uns verbunden sind, differiert es nur um Gradunterschiede. Diese Pflanze ist also in allen menschlichen Zonen und Wärmegraden gleichmäßig zu Hause und wechselt nur im Wuchs und in der Üppigkeit. Ja, es ist mir im Augenblick nicht mal ganz klar, ob sie näher nach dem Äquator des Herzens hin trefflicher gedeiht, wie die Pappel, oder mehr nach Norden zu, wie die Tanne. Zum Schluß sind wir ja doch nur dazu da, um registriert zu werden, oder um andere zu registrieren, sind Nummern einer Statistik. Und komme, was mag – das Schwungrad der Welt sieht darum nicht still ... die wirklich-wichtigen Dinge dieses Lebens werden auf anderen Seiten verbucht.
Und deshalb blühten die Kastanien also und verblühten. Weiße, rote und gelbe sogar. Das heißt: die roten sind mir doch die liebsten. Sie haben so schönes, grün-blankes Laub und ihre wachsroten Kirchenkerzen schwimmen darin, scheinen nie still zu stehen in den Fluten der Luft und des Lichts, die sie umspielen. Und die Apfelbäume in den Gärten drüben taten desgleichen: sie blühten. Das war alles, was von ihnen zu sagen war. Alte, noch mit Stützen vom letzten Jahr her, standen, wie mit schweren Luftwurzeln, zwischen den Stachelbeersträuchern. Ohne Zweifel, ein gebogener, verkrümmter alter, blühender Apfelbaum ist eine schöne Sache. Und es ist hübscher, ihm gegenüber zu wohnen und auf ihn herab zu sehen, wie auf einen Stadtbahnwagen und auf eine schwarze Brandmauer mit der Inschrift »Webers Trauermagazin«. Aber den Schönheitspreis bekamen nicht diese alten Apfelbäume, trotzdem sie sich sehr darum bewarben, sondern ein ganz kleines Apfelbäumchen, mit einem Stamm, nicht dicker als einem Spazierstock und einem runden Krönchen, das ganz aus rosig-weißen Blütenzweigen ineinandergeflochten war, und nicht größer dabei war, wie eine Maurerkrone auf einem Neubau. Es stand völlig allein, das Apfelbäumchen, ganz für sich, mitten in einem gelbblühenden Rapsfeld, wie eine erlesene Stickerei in einer gelben, chinesischen Seidenfahne.
Und sogar der Tiergarten war jetzt sehr schön und kühl und grün, mit langen Laubwegen. Und an der Rousseau-Insel hatten die halbzahmen Enten Junge schon und die kugelten nun wie abgerissene Flauschbällchen, die im vorigen Winter an Abendmänteln Mode gewesen waren, im schwarzen, grün-überspielten Wasser dahin, und paddelten von den Sonnenflecken in den Schatten und von den Schatten in die Sonnenflecken, immer hinter der Alten her. Und die, die ein Junges mehr hatte, wie die andere, war besonders stolz, wenn sie auch noch so bescheiden tat. Aber morgen konnte es schon sein, daß sie eines weniger hatte. Denn die Wasserratten kamen so ganz still von unten heran geschwommen, und kaum, daß es die Alte merkte, da hatten sie schon ein Junges an dem breiten Fuß gepackt, sich festgebissen und es heruntergezogen. Das ging ganz schnell und fast lautlos. Es quiekste ein wenig und plantschte kaum mehr, als ob es einmal zu tauchen versuchte. Denn die Natur ist sehr hübsch anzusehen, aber roh.
Und es kann auch nur jedem geraten werden, solche spanischen Kressen, solche Kapuzinerkressen zu pflanzen. Es ist merkwürdig, wie schnell sie wachsen. Selbst in Blumenkästen und auf dem Balkon. Wenn sie nur genug Licht haben.
Doch kehren wir nun wieder zu den Nebensächlichkeiten zurück! Johannes Hansen war ausgeschaltet worden; und um Port Arthur und Mukden und Wladiwostok brüllten weiter die Kanonen. Und die Zeitungen buchten je nach Einstellung die Verluste der Russen oder der Japaner. So also starb Peter Hille. Und man hatte gerade genug Zeit gehabt, die Nekrologe gut vorzubereiten. Drei Tage gab es noch einige Anekdoten. Und dann überließ man sein Andenken wieder seiner Bohème.
Und als Fritz Eisner also das nächstemal zu Wertheim kam, um dem verschrumpelten Butterfräulein zu sagen, daß der billige Käse, den sie ihm so anempfohlen hätte, nicht zu essen gewesen wäre (ebensogut hätte man die Zunge zum Fenster raus hängen können!), sah ihn die kaum an. »Ach Gott«, schluckte sie endlich. »Ihretwegen hab' ick den schlimmsten Ärger gehabt. Sie haben mich ja schön reingelegt. Mein Bräutigam hat durchaus von mir herausbringen wollen, was ich am Sonnabend abend um acht Uhr fünfundvierzig in Friedenau gemacht hätte. Denn ich hätte von da doch einen Rohrpostbrief an ihn aufgegeben. Wissen Sie, mein Bräutigam ist ja so furchtbar eifersüchtig.«
»Na«, meinte Fritz Eisner, um sich seine maßlose Verwunderung über diese seelische Einstellung des Bräutigams des Butterfräuleins nicht anmerken zu lassen. – Denn seines Erachtens hätte der Bräutigam in den Siebenjährigen Krieg ziehen können, ohne daß sich freiwillig ein Stellvertreter für ihn gefunden hätte. Viel eher hätte er für seine Stelle im Siebenjährigen Krieg einen Ersatzmann gefunden. »Naja – er wird wohl Grund dazu haben!«
»Ach Gott!« sagte das Butterfräulein und lächelte schief unter Mundspitzen, daß ein ganzer, eben eingetroffener Posten von dänischer Butter ranzig wurde, »darüber redet man doch nicht!«
Und als Fritz Eisner dann beim Hinausgehen Rosen-Emil begrüßte (sie standen nicht gerade auf Grüßfuß, aber sie nickten einander sehr verständnisinnig zu, und in Rosen-Emils starren Augen mit den graden, messerscharfen Pupillen stand stets dabei zu lesen, wie auf alten Grabsteinen »Ich war, was du auf Erden – und was ich bin, das kannst du werden!«) ... Ja, da unterstützte Rosen-Emil schon nicht mehr den Import ausländischer Blumen, sondern schrie sich die heisere Kehle noch rauher: »Herrlicha Flieda, echt türkischa-chinesischa-spanischa Flieda!! Den janzen jroßen Bund, nur zweenhalb Silberjroschen.« Und er hatte prachtvolle Körbe von mattblauen, rotvioletten, ja sogar noch halbgeschlossenen, fast veilchenfarbenen Fliedertrauben neben sich stehen; und er schlug damit – in Preis, wie Ware – platzauf, platzab jede Konkurrenz.
Man muß nun nicht etwa glauben, daß Rosen-Emil aus vaterländischen Motiven der heimischen Fliederzucht vor den langstieligen Rosen, Nelken, Mimosen und Tazetten der Riviera den Vorzug gegeben hatte. Als smarter Geschäftsmann kannte er derartige Erwägungen nicht. Er hatte sich vor allem deswegen dem heimischen Flieder zugewandt, weil er im Gestehungspreis billiger war. Der hier, zum Beispiel, stammte aus den Friedhöfen in und um Britz, und hatte ihn (ein ganzer großer Kinderwagen voll, solcher für Zeitungen) nicht mehr als eine Mark und eine Lage Patzenhofer gekostet. Eigentlich war es ja unter seiner Würde, bei so etwas nur draußen an der Mauer Schmiere zu stehen ... aber, was soll man denn sonst tun, wenn man nicht mehr rüber klettern kann, weil einem die Karbolfritzen einfach die halben Zehen weggeknipst haben?! Da ist man ja froh, wenn man gerade noch dazu zu brauchen ist.
Auf der Zeitung aber gab es eine Menge zu tun. Denn endlich war es ja nicht nur ein Blatt, das da sproß, sondern eine ganze Plantage, die da emporschoß, gedüngt und gegossen wurde, eine mit vielen Blättern, die täglich oder wöchentlich von da aus in die Welt flatterten. Und jedes von ihnen traf auf eine Menschenschicht, die ihm adäquat war. Jedes Blatt hatte sein Gepräge. Und doch gab es manches, was allen gemeinsam sein konnte. So zum Beispiel: daß Begas dem Kaiser eine Marmorstatuette der Kaiserin in Überlebensgröße zeigte, die dem Leben, wie es hieß, abgelauscht war, und deren Aufstellung der Kaiser, wie es weiter hieß, für den neuen Privatgarten in Potsdam befahl. Was man doch alles in Deutschland so einfach und schlichtweg befehlen konnte! Bei manchen von den Blättern gab man dann nur die Nachricht. Bei anderen konnte man sie auch glossieren. Oder Begas formte die Hände der Kleinen Exzellenz ab. Oder das Gußmodell des Kaisers Friedrich bei Uphues in doppelter Lebensgröße – das ist ja überhaupt so ein Problem mit der Größe: größer oder kleiner muß man schon bleiben; es ist ganz rätselhaft: es gibt Kleinplastiken, die riesig wirken, und große Marmorklötze, die immer kleinlich, mickrig und unbedeutend bleiben ... das Gußmodell also wurde gleichfalls vom Kaiser gesehen und genehmigt. In St. Louis wurde die Weltausstellung eröffnet, trotz Krieg und Morden in Asien; und Anton von Werner schrieb deshalb eine Broschüre gegen die Sezession. Aber der alte Kardorff trat im Reichstag für sie ein. In der Philharmonie jedoch gab es erfreulich-schöne Blumen zu sehen, eine sehr herrliche Sache. Und wenn Franz von Lenbach gestorben war, so tat er das in hundertfünfzig – hundert – fünfzig – dreißig – zwanzig Zeilen, je nach dem Blatt, für das er gestorben war. Und wenn Liliencron Sechzig war, so tat er das dito auf fünfzig, zwanzig oder dreißig Zeilen. Und über Zeppelin, der noch vor seinem endgültigen Gelingen stand, aber schon als »größter Deutscher« in den Brennpunkt des Interesses gerückt war, ließen sich fabelhafte Prophezeiungen und Zukunftsträume bauen. Ein Schiller-Theater, das jetzt auch in Charlottenburg erstehen sollte, eröffnete der Volkserziehung durch die Kunst ungeahnte Perspektiven. Javanische Batiks, mit Indigo, Menkudurot und dem Chantik gemacht – das heißt mit dem gebogenen Röhrchen, mit dem man das heiße Wachs auf den Stoff trug – besagte Batiks sind sehr schön und zu propagieren. Wenn das Licht durch sie fällt, leuchten sie wie Kirchenfenster. Über all solche Sachen und noch mehr – (auch lustige oder spöttische Miniaturen von der Straße) – konnte man mit der linken Hand schreiben. Und das mußte man auch tun. Sie wurden dann am besten, wenn man es tat. Weil sie eigentlich auch nur mit dem linken Auge gelesen wurden. Natürlich durfte man aber dazu nicht zwei linke Hände haben. Das war Vorbedingung.
Und nun kam noch das wichtigste. Plötzlich hatte jene Zeitung von dem Roman geschrieben: sie möchte umrangieren. Sie wollte eigentlich erst noch eine längere Novelle von Holländer bringen, aber die hätte sie jetzt zurückgestellt, aus »redaktionellen Erwägungen« (welcher Art ließen sie ungeklärt). Und sie möchten doch jetzt, vor Pfingsten noch, mit dem Roman beginnen. Fritz Eisner möchte versuchen, es fertig, oder so gut wie fertig zu stellen. Kleine Umarbeitungen könne er ja dann noch vornehmen. Sie rechneten damit, daß es ginge, da sie sonst den Roman auf ein Jahr und so fort zurückstellen müßten ... Das hieß: Daumenschrauben. »Gewiß«, schrieb Fritz Eisner. Und eigentlich kam ihm das ganz zu Paß. Denn es verkürzte ihm die Übergangszeit und zwang ihn noch ein halbes Dutzend oder mehr Nächte an den Schreibtisch. Und es ist eigentümlich, wieviel so ein paar Nachtstunden hergeben können.
Zweifel und Bedenken gab es ja nicht mehr. Es war nur zu machen. Es war alles angedreht: die Räder liefen: es hieß nur darauf achten, daß sie auch richtig abschnurrten, sich tragen lassen vom Strom ...
Oh – diese Nachtstunden, wenn alles um einem abgestellt ist; einzig durch das offene Fenster das melancholische Gluckern in der Regenröhre hin und wieder seine traurigen und nachdenksamen Melodien hereinschickt; oder dann einmal das Sausen einer letzten Bahn herauftönt von wer weiß wo ... nach halben Stunden ein Autosignal wieder vorübergellt auf der Hauptstraße ... oder ein geheimnisvoller, wilder, sehnsüchtiger, langgezogener Ton, wie ein Rohrdommelschrei, von ganz drüben von der Eisenbahn kommt, und, gleichsam formhaft, über den Dächern steht, um langsam zu vergehen, hinzuschmelzen, und die Stille doppelt still zu machen ... ein Mahnruf der Welt an die Schläfer der Nacht ...
Man weiß nicht mehr, wie spät es ist, ob man eine oder drei Stunden schon schreibt ... Draußen in den Bäumen vorn lebt es jetzt. Der Duft der kreisenden Säfte wird hereingetragen ... Vielleicht zwitschern die jungen Schwalben drüben unter dem Dachfirst. Das könnten sie sein ... Ein Nachtschmetterling, eine kleine Eule ... was ist es?! Ah, so irgendeine Agrotis oder eine Hadena. Früher hätte man es der Species nach genau gewußt. Doch in fünfzehn Jahren verschleift sich so etwas. Aber man sollte wieder Schmetterlinge sammeln. Mag man sie ruhig dann fliegen lassen. Mögen sich des Lichts freuen. Es bringt einen dem Draußen so nah. Wenn ich in der lichten Dämmerung einen Wolfsmilchschwärmer über einer Brombeerblüte stehen sehe – taumelnd vor Gier, den langen Rüssel eingetaucht in den Honiggrund – sehe ich ja auch die Blüte, den Busch, trinke ihn ganz ein, wie sonst nie. Und die Raupe des Zickzackspinners auf dem herbstlichen Birkenblatt ist mehr als das: sie ist der ganze Busch mit jeder Astbiegung, und mit dem Zittern im letzten Zweiglein, und mit der schwanken Grazie in der Spitze des gezahnten Blattes ... mit den weißen Rindenflecken, und mit der Biegung, mit der der Stamm sich aus dem Sandboden ringsum hebt! ... Ein Nachtschmetterling, solch ein kleiner bepelzter Bursche, findet von den Feldern drüben seinen Weg über das Dach fort, senkt sich wie eine Schneeflocke ins Zimmer hinein, setzt sich einen Augenblick auf den grünen Lampenschirm, stößt gegen die Glühbirne vor, hat selbst ein rotes Feuerglimmen in den runden Kugeln seiner Augen – gerade so wie Hunde in der Dunkelheit – tut sehr nervös mit den spitzen Angelruten seiner Fühler ... Und man starrt ihn einen Moment an – denkt an ganz etwas anderes, eingekapselt in den Kreis seiner Vorstellungen – tippt leise mit dem Halter nach ihm; und er läßt den bräunlichen, marmorierten Teppich seiner Flügel von neuem im Fluge spielen, verschleiert sich und treibt nun wieder, ein grauer, dämmeriger Schatten, wieder hinaus in feuchte Dunkelheit vor dem Fenster da draußen. Und die Gedanken wandern, die Gefühle entzünden sich, und in ihrem Kielwasser hastet die Feder ihnen nach. Nie sonst hat man so stark die Empfindung, daß man eingebettet ist in dieses Weltall, ein lebender Teil mit ihm, den Sternen verwandt, dem Baum, dem Menschen, der Luft, dem leisen Regen draußen, wie in diesen stillen Nachtstunden am Schreibtisch.
Und, wenn dann silbern und grau in den Frühlingsnächten über den Dächern eine gleichmäßige, matte und doch durchdringende Helligkeit hochkommt, die erste Schwarzdrossel drüben, wie ein berußtes Teufelchen über den Dachfirst hüpft, um mit einem Satz auf den Rand des Schornsteins sich zu schwingen, und, kaum erst sichtbar, in halbem Dämmer noch, mit einem ersten, langen Flötenton seine geschmeidige Kehle wieder zu stimmen ... dann, ja dann plötzlich sich aufreißen vom Stuhl, und die Manuskriptblätter zuklappen, und hintertappen durch die schlafende Wohnung, in der es seltsam knistert ... Und sich ins Bett werfen, während die Gedanken noch weiterlaufen, bis sie in des Tages neuer Helligkeit ertrinken, und man selbst untergeht in den weißen Wogen der Müdigkeit ... Oh, das ist schon irgend etwas, das man nicht missen möchte, wenn man noch einmal später wieder zufällig gerade auf diese Erde herabschneien sollte.
Auf der Redaktion war es auch aufgekommen, daß Fritz Eisners Roman demnächst erscheinen würde. Und man war nicht gerade glücklich darüber, daß es an anderer Stelle geschah. Vor allem, da noch durchsickerte, daß man sich ungewöhnlich viel versprach. Endlich hatte man den Mann doch lange genug durchgefüttert. Aber Fritz Eisner sagte sich, daß man das doch auch nicht aus Mitleid getan hatte, sondern, weil er einen leidlich-lesbaren Satz Deutsch schreiben konnte, und immer zu einer lustigen Glosse bereit war, oder einem Stimmungsbild, das ein wenig die Nüchternheit der Zeitungsberichte unterbrach. Und endlich, weil er für Künstler, an denen er Freude hatte, eine gewisse Wärme aufbrachte. – Also war man schon ziemlich quitt.
Aber noch eines war Fritz Eisner seltsam und erstaunlich. Es lag plötzlich so etwas wie eine beginnende Fremdheit zwischen ihm und den Leuten da auf der Redaktion. Er stand doch nicht mit ihnen im Wettbewerb, pfuschte ihnen doch nie ins Handwerk, strebte auch nach keinem Redaktionsstuhl – den hätte er zehnmal haben können! – nach keinem öffentlichen Einfluß – das lag ihm ganz fern! – hatte lieber gehungert und war mit zerfransten Hosenbeinen gegangen als unterzukriechen ... aber jene fühlten plötzlich, daß er sich von ihnen entfernen würde, daß er sie von vornherein nur als Zwischenstation, als Übergang genommen hatte, und wurden im Ton um so viel freundlicher, wie sie innerlich peinlich kühler wurden. Fast jeder von ihnen hatte mal das gleiche gewollt, und jeder hatte es aufgegeben, nur der nicht.
Fritz Eisner verstand das nicht ganz: Er hatte doch nie verhehlt, daß er Outsider war ... daß er nur mit dem Leben spielte, wie der Krebs mit der See bei Kipling ... daß er das, was jene ernst nahmen, nicht so blutig-ernst nehmen konnte – so gut, wie jene es taten mit dem, was für ihn wichtig war. Also – was hatte sich da denn plötzlich etwa geändert?! Doch gar nichts! Und warum nun mit einemmal diese Fremdheit?!
Und jetzt würde er vielleicht das Rennen machen. Das merkte er aus ihren Reden, noch mehr aus ihrem Schweigen. Er verstand selbst nicht, wie das kam: aber die Gerüchte verdichteten sich mehr und mehr, daß es eine große Sache sei, die ihn mit einem Schlage hochwerfen müsse. Man zweifelte. Man ging ihn plötzlich an, ob er ihnen einen Schreibmaschinenabzug vielleicht mal zu lesen geben könne. Vordem wäre jeder weggelaufen, wenn er ihm auch nur mit einer Seite seines neuen Romans hätte kommen wollen. Gott, man mißgönnte es ihm ja eigentlich nicht gerade; aber man sah es ebensowenig mit besonderer Freude. Endlich war es ja auch für die Blätter hier ganz gut, ihn sich dann zu halten. Aber das Hin und Her von Beziehungen zwischen ihm und ihnen war mit einem Schlag anders geworden. Er gehörte nicht mehr recht hinein. Früher hatte man ihm freundlich auf die Schulter geklopft, wörtlich und bildlich; das tat man plötzlich nicht mehr. Immerhin – hoffentlich würde er nicht vergessen, daß man ihn gehalten hätte, wie er noch nichts war ... ohne sie wäre er eigentlich nie zu etwas gekommen.
Merkwürdig! Und auch der Abend neulich – die Bowle, die Einweihung der Destille – mit all den verschiedenartigen Menschen, die durch seine Wohnung getobt waren, hatten ihm dort auch nicht das mindeste genützt. Man hatte plötzlich um ihn den Stil einer alten gesicherten Bürgerlichkeit gesehen, die den anderen Zeitungsleuten, die mehr als mittlere Beamte lebten – Kneipe und Sommerreise nach außen, sonst Kleinbürger fremd war. Und auch das machte sie innerlich von ihm abrücken.
Und all das fühlte Fritz Eisner, ohne daß es irgendwelche Anhaltspunkte dafür gab. Und die Empfindung, nirgends verwurzelt zu sein – nicht in seinem Hause, nicht zwischen den Menschen seiner Berufsschicht, nicht bei den paar Freunden, die ihm geblieben – auch bei seiner Mutter gab es doch nur Viertelstunden, da er dort ganz durchwärmt wurde ... nachher gab man sich die Hand, rief auf Wiedersehen, und ging fort, zu sich selbst zurück – dieses Gefühl, das er schon immer gekannt hatte, das jetzt bald zwanzig Jahre in ihm als Grundton schwang, verstärkte sich von Tag zu Tag. Er war doch eigentlich in nichts anders, bedeutsamer, tiefer, klüger als die anderen ... ja, sie bewegten sich alle mit einer sicheren Selbstverständlichkeit durch das Dasein, die ihm nicht gegeben war ... und doch entfernten sie sich jetzt von ihm in einer feinen Witterung, noch ehe er der Menge gehörte. Fritz Eisner verstimmte das, mehr als er sich eingestehen wollte. Er war ja verhältnismäßig wohl damals noch ziemlich jung, gehörte überhaupt zu denen, die sich spät und schwer entwickeln, und so hatte er sich noch keineswegs zu der naheliegenden Erkenntnis durchgerungen, daß, wenn eine Entfremdung zwischen uns und unseren alten Bekannten eingetreten ist, man alles tun muß, um diese Entfremdung zu unterstützen, – und daß man nur dadurch vielen Ungelegenheiten aus dem Weg geht. Bisher übte er diese Taktik nur seinen Anverwandten gegenüber, die man sich ja bekanntlich nicht aussuchen kann.
Aber auch Annchen sogar – und das tat ihm wirklich weh – fand nicht mehr so ganz zu ihm. Sie benutzte ihn zwar als Aushängeschild, aber sie traf den Ton nicht mehr. Sie hatte das uneingestandene Gefühl, daß er ihr nun bald in der Welt verloren gehen müsse, wie Egi Hannchen verloren gegangen war. Nur auf dem Verlag war man plötzlich anders zu ihm. Das ging bis zum Hausdiener, der meldete. Man war zwar früher nie unfreundlich gewesen, hatte ihn nie antichambrieren lassen, hatte seine Bücher dort gedruckt, seit bald zehn Jahren, und so gut verkauft, wie sie eben gingen, ohne daß ein Gewinn erzielt worden wäre. Und trotzdem hatte man Fritz Eisner nie Schwierigkeiten gemacht, etwa abgelehnt, oder sich dahinter verschanzt, daß die alten Bücher von ihm nicht gingen, wenn er ein neues Manuskript brachte ... viermal hintereinander. Aber jetzt schien doch mit jedem neuen Hundert Schreibmaschinenblätter, das da eintraf, sich der Ton wieder ein wenig zu verändern. Zuerst hatte man ihn noch im Sprechzimmer abgefertigt, soviel man gerade für ihn Zeit hatte, und nun hieß es mit einemmal: »Kommen Sie in mein Privatkontor, lieber Freund, ich habe zwar zu tun, aber leisten Sie mir ein paar Minuten Gesellschaft – Zigarre?! Wie ist's – geht's gut weiter? Übereilen Sie's nur nicht. Haben Sie noch Vorschuß nötig? Wenn Sie schon soviel haben, geht's jetzt auf ein paar Hundert auch nicht mehr zusammen. Lesen Sie bitte doch mal das Buch hier – wenn Sie mal Zeit haben (es eilt nicht) – und sagen Sie uns, was Sie davon halten ... Wir möchten vielleicht den Autor ganz übernehmen.«
Kurz: Fritz Eisner brauchte gar kein firmer Meteorologe zu sein, um zu erfassen, daß dort mit einemmal das Barometer auf ›Schön Wetter‹ stand.
Aber im Café, wenn Fritz Eisner mal hinkam und sich ganz unbefangen an den Tisch des Alten mit der Sammetjacke setzte, war wiederum plötzlich so eine Art von Leere um ihn. Die Debatte, der Sturmlauf gegen die literarische Alleinherrschaft der rosenfarbigen Lyrik hatte ihm zweifellos geschadet hier. Wer sitzt denn gern am Tisch mit jemand, der ihm so ungefähr gesagt hat, daß er altes Eisen wäre, nur nutz, um auf den Kehrricht geworfen und eingeschmolzen zu werden ... vielleicht könne er dann noch zu etwas zu brauchen sein.
Nur der ältere, zynische Arzt, das Gummischweinchen von der manchmal so gesteigerten Vitalität, war ihm näher gekommen. So wie ein älterer, zynischer Arzt einem Literaten nahekommen konnte. Er hätte Fritz Eisner sicher mit Freuden und aller kühlen Zartheit, deren er fähig war, den gleichen Liebesdienst erwiesen, wie letzthin Johannes Hansen, wenn es irgendwie notwendig gewesen wäre.
»Sagen Sie, Doktor, wie geht es eigentlich Johannes Hansen. Haben Sie mal nach ihm gefragt? wird er gesund?«
»Sehen Sie, Jüngling«, sagte der Doktor, und sah Fritz Eisner lange an – »det sind so laienhafte Ansichten. Wer hat Ihnen denn verraten, daß er krank ist?«
»Na, es schien mir doch neulich so!« meinte Fritz Eisner. »Und wird man ihn denn überhaupt gesund machen können?«
»Was Sie so gesund nennen?! Nee!! – Wer soll 'n det tun?!«
»Ich meine: die Ärzte! ...«
»Sehen Sie, det sind wieder so laienhafte Ansichten!« sagte der Doktor langsam. »Wat die moderne Psychiatrie ist: die stellt Diagnosen – vastehen Sie! Aber det macht se fabelhaft. Det haben die Leute früher ja nicht so raus gehabt. Friher, da haben se solche Heiligen, wie unser alter Freund Johannes Hansen einer ist, einfach eingesperrt. Und sie haben ihm auch mal ne Zwangsjacke angezogen und zu Ader gelassen und geschröpft und kalt jeduscht. Und denn haben sie'n wieder warm jeduscht. Und in ne Jummizelle zum Schluß jesperrt. Und wat so Freundlichkeiten mehr sind. Aber Diagnosen stellen – wat so ne richtige, handfeste, ausgewachsene Diagnose ist! – davon haben die Ärzte alter Schule keinen blassen Dunst damals gehabt!«
»Ja nun« – meinte Fritz Eisner – »nützt denn das was?«
»Nützen! – natürlich nützt es! Ach so – Sie meinten den sogenannten Patienten?! – Nee – die haben nischt von. Aber denken Sie doch – wie das die Wissenschaft fördert!«
»Und Sie glauben, daß Johannes Hansen nie wieder gesund ...«
»Also mit Leuten wie Sie«, sagte der zynische Doktor, »kann man sich jar nicht ruhig mal unterhalten. – Sie reden immer von jesund und solche Sachchen. – Der Mann ist jesund – dem fehlt jarnischt. Ick wünschte, ick wäre so jesund, wie er. Von ihm aus sind wir krank. Und woher wissen Sie denn, daß der Gott Merkur nicht recht haben soll. Weil wir mehr sind? Der Einzelne kriegt unrecht; aber deswegen hat er es doch nicht. Und Götter wissen doch die Dinge immer besser als wir Menschen. Schon Homer sagt: δέῶν ἔν γούνασι ϰείται ... es ruht im Schoße der Götter.«
»Und wie fühlt er sich – leidet er nun da?«
»Jut fühlt er sich! Vorzüglich fühlt er sich!! Ick hab ihn neulich besucht im Olymp. Nur die anderen Götter gefallen ihm da nicht recht. Und warum soll er denn leiden? Die Außenwelt ist ihm doch vollkommen schnurz und pimpe. Er lebt doch nur in seinen Vorstellungen, die er an ihre Stelle gesetzt hat. Und die sind ihm viel wirklicher, wie mir der Tisch hier, oder der Olle mit der Sammetjacke da drüben. Und viel sympathischer.«
Der zynische Doktor war aufgestanden und gähnte plötzlich tief und herzhaft. Es fehlte nur, daß er quieksend und verschrumpelt zusammensank, wie das Gummischweinchen auf dem Weihnachtsmarkt. »Sehen Se«, sagte er plötzlich leicht verlegen (er hatte sich noch immer nicht an seine eigenen Lügen gewöhnt), »so ist es. Lassen Se sich nie mit de Weiber in! Schon der Würdenknabe aus Weimar sagt ›Man wird von ihnen abgesponnen wie ein Wocken‹. Vorgestern nacht wollte se kommen – is nich jekommen. Nu muß ick nur mal nachsehen zu Hause, ob jetzt vielleicht ein Rohrpostbrief von ihr da ist. Wie ick wegging, war noch nischt da.«
Und damit gab er Fritz Eisner die Hand, die ganz feucht war und nur so flog vor innerer Erregung.
Aber auch im engsten Kreise – endlich war Fritz Eisner doch nur ein angeheirateter Fremdling, und nur Kurzsichtigkeit und Dünkelhaftigkeit können behaupten, daß das Matriarchat in Europa nicht mehr herrsche – auch da, wo Johannes Hansen einst ein treuer Begleiter verschwiegen-zärtlicher Jugendjahre gewesen war, war man keineswegs so erstaunt oder ergriffen über den geistigen Zusammenbruch dieses alten Freundes und Jugendgenossen, wie das Fritz Eisner geglaubt hatte. Mit einem Male wollte es jeder schon lange gewußt haben; und Hannchen, der es nebenbei wieder besser ging, wie sie sagte ... sie hätte sich nur nicht wohl gefühlt, weil sie nichts zu tun gehabt hätte – jetzt aber, wo sie Nacht für Nacht ihrem Jungen bei den Vorarbeiten zu seinem Werk behilflich wäre, fühle sie sich unerhört wohl. Geistige Arbeit sei eben das Element ihres Lebens ... Hannchen also verstieg sich sogar darin, zu behaupten, daß die seelische Störung von Johannes Hansen sicher von damals herrühre, noch von Potsdam her, wo sie in harter Entscheidungssuche – Hannchen sprach manchmal wie der Roman aus dem »Prenzlauer Generalanzeiger« – in der Wahl zwischen Johannes Hansen und Egi, Egi den Vorzug gegeben hätte. Und sie wäre jetzt froh und glücklich, daß sie es getan hätte; denn endlich wäre ›ihr großer Junge‹ doch gar nicht in einem Atem zu nennen gewesen mit Johannes Hansen, der ihr immer nur wegen der Verständnislosigkeit seiner Mutter leid getan hätte, und sich naturgemäß zu ihr, als einem geistigen Menschen, geflüchtet hätte ... das hätte sie damals gleich gefühlt, trotzdem sie doch wirklich als halbes Kind, wie sie war, noch gar keine echte Menschenkenntnis, wie heute, besessen hätte. Aber, daß es bei ihm so tief ginge, hätte sie nie geahnt.
Und Hannchen, die gern alle Dinge und Geschehnisse auf sich bezog, kam sich seit dem Logiswechsel von Johannes Hansen furchtbar interessant vor, gleichsam im Preise gestiegen. Denn, daß jemand jemands wegen »Selbstmord nimmt« (wie sie sagte), wäre eigentlich nicht so etwas allzu besonderes. Sie hätte leider schon mehrere solcher Fälle im Kreise ihrer Freundinnen miterlebt. Aber, daß jemand jemandes wegen den Verstand verliert, und zwar sogar noch sechs Jahre später – das wäre eine sehr erschütternde Angelegenheit. Gott, sie hätte ja manchmal auch noch an Johannes Hansen gedacht; aber nicht so. Und die Wirklichkeit hätte doch eben sehr reale Bilder vor ihn und vor die Erinnerung an ihn geschoben – was wohl bei Johannes Hansen nicht der Fall gewesen wäre. Nein, sie wäre schon glücklich, daß es damals nichts geworden wäre; denn, wie sich jetzt herausstellte, hätte Johannes Hansen zu Hause in seinem Schlafzimmer sich sogar Hühner im Kleiderschrank seiner verstorbenen Mutter, wie er durch einen merkwürdigen Zettel an der Schranktür kundtat, als ›Heilige Vögel‹ gehalten. Und – ›wenn ich meinen Mann auch noch so sehr lieben würde: solche Schmutzereien hätte ich nie geduldet!‹
Auch Frau Luise Lindenberg, die schneller als sie beabsichtigt hatte, Melsungen den Rücken gekehrt hatte, aber dafür bei einer Kasseler Cousine das Reisegeld voll ausgenützt hatte, bis diese behauptete, daß sie selbst eine solche in Frankfurt aufsuchen müßte ... tauchte nun wieder auf, um Annchen, Fritz Eisner und L. D. Bericht zu erstatten. Sie hatte ihre neue schwarze Kapotte von Wertheim wieder umgebaut – sie könne sich nicht darin sehen! – und ihr mit einer kurzen, aber violetten Straußenfeder und einem Tuff von lila Aurikeln ein immerhin noch ernstes, aber doch farbenfreudigeres Gepräge gegeben ... Selbst Frau Luise Lindenberg war also weder besonders ergriffen von Johannes Hansens letzter Phase, noch beschäftigte es sie länger. Sie hätte ehedem diese Spielerei ihrer Tochter – wenn es überhaupt eine solche war – nur ruhig mit angesehen, weil sie gewußt hätte, daß es nie ernst werden könnte. Von Melsungen sagte sie: es hätte sie seit dem Tode von Tante Trautchen nichts mehr mit diesem entsetzlichen Orte verbunden, und sie hätte sich ihre Gedanken an Einst nicht durch eine häßliche Gegenwart trüben lassen wollen (wenn man älter wird, das werdet ihr auch noch erfahren, lebt man ja überhaupt mehr und mehr in der Vergangenheit!).
Und um der Wahrheit die Ehre zu geben – die Sache in Melsungen war außerdem eine schwere Enttäuschung für sie gewesen. Zwar war Melsungen selbst in seiner Frühlingspracht wundervoll wie stets gewesen und die Krumme Brücke in Melsungen wäre ja ein Weltwunder ... »also Fritz, stelle dir eine Brücke vor, eine große, steinerne Brücke, die nicht gerade über das Wasser läuft, sondern in einem Winkel ... die in der Mitte einen Knick hat ... das gibt es überhaupt nicht nochmal. Und die Leute kommen von weither, sich das anzusehen.«
Aber diese Brücke einmal wiederzusehen, wäre sozusagen auch der einzige Lichtpunkt in dieser Reise gewesen. Man wäre zwar sehr freundlich gewesen, äußerlich, hätte sie auch gut aufgenommen, ihr selbstverständlich das beste Zimmer gegeben, ihr noch die Handtasche bis obenran mit Eiern vollgestopft; aber die Tochter hätte ihr doch nicht die Stelle eingeräumt, die sie, als die der Toten am nächsten Stehende, zu beanspruchen gehabt hätte ... »ich habe ihr aber zu verstehen gegeben, wie oft ihre Mutter mir gegenüber gerade über sie ihr Herz ausgeschüttet hat, und sich zu mir geflüchtet hat. Ja, sogar auf meine ganz bescheidene Anfrage wegen der Kanevasdecke, die ich ihr doch gestickt habe, und wegen der Porzellane – ich glaube nebenbei nicht, daß viel damit los ist – hat sie nur gemeint, daß ihr jetzt in ihrem ersten Schmerz – so hat die falsche Canaille gesagt! – leider nicht der Kopf danach steht, sie herauszusuchen, aber sie wird sich freuen, mir später etwas davon als Andenken an ihre ... arme ... gute ... Mutter senden zu können, Jetzt aber, da sie kaum unter der Erde liegt, sei es ihr unmöglich, hier auch nur ein Stück zu berühren oder vom Platz zu rücken. Und das muß diese Person mir sagen, während mein Schmerz um Tante doch sicher tiefer und echter gewesen ist, wie die paar mühseligen Krokodilstränen, die sie sich bei der Beerdigung abgepreßt hat. Aber dann ist noch das Allerschönste gekommen ...«
Fritz Eisner unterbrach und meinte (vielleicht in Assoziation auf das Wort ›Krokodilstränen‹), daß der Schmerz zweier Menschen eigentlich doch sehr schwer aneinander meßbar sei, und daß man sich doch nicht wie Hamlet und Laertes am offenen Grabe zanken könne, wer Ophelia mehr beweine, und daß selbst Hamlet, wenn er, wie er androhte, Essig söffe und Krokodile fräße, nur schwer Laertes davon überzeugen könnte, daß sein Schmerz den von hundert Brüdern aufwöge.
Annchen aber wies ihn mit einem »Ach erzähl doch weiter, Muttchen!« in seine Schranken zurück. Und Muttchen erzählte weiter. »Das mit der Erbschaft gibt sicher noch einen Prozeß, denn ich glaube nicht, daß diese Person die Legate nicht anfechten wird. Sie ist zu allem fähig, geht über Leichen. Ich habe überhaupt nie begriffen, wie eine solche Mutter eine solche Tochter haben könne.«
Fritz Eisner wollte wieder einwerfen, daß er die Tochter zwar nur einmal gesehen hätte, aber daß sie ihm doch von beiden als der menschlich-einwandsfreiere Teil erschienen wäre; aber er überlegte sich, daß er mit dieser Ansicht hier ziemlich allein stehen würde und behielt sie deshalb für sich.
»Ich freue mich, daß ich bei der Testamentseröffnung nicht dabei sein werde; denn die wird ja da sicher toben wie eine Furie. Eigentlich hat doch niemand vermutet, daß Tante Trautchen so wohlhabend gewesen ist, wie es jetzt den Anschein hat; denn sie hat doch (das müssen wir ruhig zugeben!) jahrzehntelang in der Familie herumgebettelt ... aber das ist wohl auch nur solche Alterserscheinung von ihr gewesen ... alte Leute werden ja oft geizig.«
»Hör mal«, meinte Fritz Eisner bescheiden, »bist du denn schon so ganz sicher, daß ihr von Tante Trautchen was geerbt habt?!«
Frau Luise Lindenberg sah ihren Schwiegersohn groß und strafend an, aus ihren blaugrauen Augen, die sich sonst meist hinter den Gläsern ihres Kneifers, der ihr mit den Jahren viel zu schwach geworden war, klein und blinzelnd zusammenzogen. »Hast du mich schon einmal auf einer Lüge ertappt?!« sagte sie mit dem Pathos, der ihr angeboren war; – sonst nichts.
Ja – und dann hatte in Melsungen (das erfuhr Fritz Eisner nur so andeutungsweise später durch Annchen) Frau Luise Lindenberg noch eine geheimnisvolle Aussprache gehabt mit einem entzückenden, ja ganz bedeutenden Menschen ... Fritz hätte sicher auch schon von ihm gehört ... der sie noch heute, wie vor dreißig Jahren vom Fleck weg ... aber, da er auch schon große Kinder jetzt hätte ... seine Frau wäre sein Ruin ... doch sie hätte sich eben auch dieses Mal ... hätte sich eben unsertwegen doch immer noch nicht entschließen können. Und auch deswegen wäre sie wohl schon eher abgereist, als sie eigentlich beabsichtigt hatte, hätte sich seinen stürmischen Werbungen durch die Flucht entzogen! Wie weit dieses den Tatsachen entsprach, ja überhaupt auf irgendwelche realen Geschehnisse etwa in Form einer harmlosen Begrüßung mit einem Jugendbekannten bei der Beerdigung zurückging, war schwer zu eruieren; denn Frau Lindenberg lebte gern in dem goldenen Käfig ihrer Vorstellungen.
Auf die Nachricht, daß der Roman nun angenommen wäre, daß »sie« jede Nachtjetzt durchschrieben, und daß er nun fast fertig sei ... denn Annchen sorgte jetzt für Verbreitung dieser Nachricht in ihren Kreisen wie die Wildenten mit ihren Schwimmhäuten nach Darwins Versuchen für die der Wasserpflanzen: wo sie einfallen, im fernsten und armseligsten Tümpel lassen sie ein paar Samenkörner zurück ... darauf meinte Frau Luise Lindenberg nur, es wäre Zeit, daß es anfinge, ihnen besser zu gehen; so ungefähr wie ein Bauer von einer Kuh seines Stalles sagt, sie hätte lange genug trocken gestanden. »Aber wenn dein Mann dreißigtausend Mark statt dreitausend Mark verdienen wird, werdet ihr auch nie etwas haben!« Für die ästhetische Seite des Falles schien sie wenig übrig zu haben. Als durchaus vernünftig gesonnene Mutter sagte sie sich: ›Künstlertum – warum nicht? Wenn's ihm Spaß macht – ich werde ihn nicht hindern. Aber das Pfund Suppenfleisch kommt zuerst.‹ Und man kann nur schwer entscheiden, ob diese Anschauung nicht ebenso gesund ist und die Welt ebensosehr weitergebracht hat, wie die entgegengesetzte.
Ja, sie hätte inzwischen gehört, leider, mit Hannchen! Aber das wäre wohl nur vom Tanzen gekommen. Es wäre sicher nichts von Bedeutung. Es ginge ihr auch schon wieder sehr gut. Sie wäre immer nur so unvernünftig, und man könne reden, was man wolle: sie zöge sich nicht warm genug an, aus reiner Eitelkeit, weil sie schlank bleiben will. Und dann wundert sie sich nachher, wenn sie immer erkältet ist. Über Egi äußerte sie sich wenig liebenswürdig: er käme jetzt überhaupt keine Nacht mehr vor Drei nach Hause ... sie mische sich zwar aus Grundsatz nicht in die Ehen ihrer Töchter – oder ob das jemand von ihr behaupten könne?! – aber sie begriffe nicht, wie Hannchen damit einverstanden sein könne. Sie würde es lieber heute als morgen sehen, daß sie von ihm wegginge; sie möchte nur einmal herausbringen, was er eigentlich triebe. Er sagte: er arbeite in der Lesehalle der Königlichen, weil er nicht alle Bücher nach Hause schleppen kann. Aber die ist doch nur bis zehn Uhr abends geöffnet. Ich glaube das einfach nicht. Und wie Hannchen Donnerstag hingegangen ist, um ihn abzuholen, weil sie gerade ein Freibillet für die Singakademie gehabt hat (Gott, die Ärmste will doch auch mal was vom Leben haben!), da ist er gar nicht dagewesen. Und dann scheint es auch, als ob er sich irgendeiner Kur unterzieht, denn neulich hat Hannchen in seinem Rock beim Ausbürsten ... es ist immer eine Komödie, bis er ihm entrissen ist, sie steht dazu ganz früh auf, damit er es nicht merkt ... also da hat sie ganz versteckt im Futter ein Schächtelchen mit ›Brechweinstein‹ gefunden, und auf dem stand wirklich ›Herrn Doktor Egi Meyer nach Vorschrift‹! Was das nun wieder zu bedeuten hat, wissen die Götter! Man kommt wahrhaftig aus den Sorgen und den Aufregungen nicht mehr heraus.«
»Weißt du«, meinte Fritz Eisner, »es ist aber auch ziemlich publik jetzt in letzter Zeit geworden, daß die Eltern von Egi völlig kaputt sein sollen!«
Frau Luise Lindenberg legte die Hand flach und quer – sie liebte diese Beteuerungsformen – über die Ebene ihres Busens, »glaubst du etwa«, sagte sie mit großem Hohn, »daß ich gemeint habe, daß Hannchen oder Lulu jemals auch nur einen roten Heller von dieser Seite zu erwarten haben werden?! – Das war ja vorauszusehen!«
Fritz Eisner wollte bemerken, daß sie doch eigentlich bis zur Stunde fast nur aus dieser Schüssel gegessen hätten ... aber er unterdrückte das; denn, wenn man alles sagen wollte, was man sagen müßte, käme man ja nie aus den Streitereien heraus. »Ja«, meinte er. »Aber Hannchen hätte doch wenigstens ihre paar Kröten da nicht mit hereingeben sollen!«
»Die paar Kröten!« quittierte Frau Luise Lindenberg mit einem giftigen Blick. »Verdiene sie erst mal, dann wirst du sehen, wieviel es ist!«
»Gerade deshalb hätte sie es nicht tun sollen«, rief Fritz Eisner.
Aber Frau Luise Lindenberg überhörte es, wie die meisten Einwendungen. »Mein armer Mann hat es sich schwer genug werden lassen!« schluckte sie ...
Auch hier hätte eigentlich Fritz Eisner widersprechen müssen, denn seines Wissens hatte der vor bald einem Vierteljahrhundert Verblichene es mit Geschick und Börsenspiel verstanden, ein wirklich schönes, ererbtes Vermögen, einen anständigen, überkommenen Reichtum bis auf einige notdürftigste Krümel zu zerbröckeln (aber das gehörte ja im Augenblick keineswegs zum Thema).
»Ja!« sagte er. »Doktor Spanier ist, glaube ich ... ohne daß er Hannchen bisher untersucht hat – ich begreife nebenbei nicht, warum sie noch nicht zu ihm gegangen ist. Ich habe leider in den letzten vierzehn Tagen keine Zeit gehabt, sie zu begleiten – ist doch sehr dafür, daß Hannchen mal auf längere Zeit von Hause fort, vielleicht nach der Schweiz geht. Und so etwas kostet doch ziemlich viel. Und muß von irgendeiner Seite aufgebracht werden. Und wer das bezahlen soll – wenn Egis Eltern nichts mehr geben können – ist mir ziemlich rätselhaft. Denn Egi mag ja ein ganz guter Mensch sein und ich bin der letzte, der gegen ihn hier etwas sagen will – aber wir müssen uns doch von vornherein eingestehen: daß wir auf ihn hierbei wohl kaum rechnen können.«
»Nun«, sagte Frau Luise Lindenberg bestimmt, als griffe sie jetzt schon in die Tasche, »ich hätte es zwar gerne für Lulu und Little Dorrit gelassen, aber dann wird man es eben von Tante Trautchens Erbschaft nehmen, wenn es wirklich sein muß ... was ich nebenbei sehr bezweifle. Tante Trautchen wäre sicher glücklich, wenn sie wüßte, daß ihr Geld eine so gute Verwendung findet; denn sie hat ja geradezu rührend an Hannchen gehangen ...«
Das war selbst für Annchen, die doch sonst ein gutes Tier war und seit bald achtundzwanzig Jahren ihrer Mutter gegenüber nie eine eigene Meinung gehabt hatte, denn mit den Entsagungsphrasen der Witwe hatte Frau Luise Lindenberg von früh an, schon von der Steinmetzstraße her, ihre Kinder niedergeknüppelt ... wie es ja eine alte Wahrheit ist: wenn du zum Beispiel deine Kinder täglich ohrfeigst, wirst du gar nichts bei ihnen erreichen, außer, daß sie dir selbst, wenn sie dazu groß genug sind, eines schönen Tages eines hinter die Ohren geben ... aber, wenn du ihnen täglich zwanzigmal mit tränenumflorter Stimme einpeitschst, daß du dich und dein ganzes Leben für sie opferst, werden sie zum Schluß, nur aus Angst schon, du könntest dich wieder mal opfern, alles tun, was du nur willst ... Also selbst Annchen war es diesmal zu viel und sie rief: »Aber höre mal: Tante Trautchen hat doch in ganz Berlin gerade über Hannchen damals die ekelhaftesten Klatschereien in Umlauf gebracht!«
Aber Frau Luise Lindenberg meinte, sich ins Grab legend, daß kein Mensch frei von Fehlern sei, und daß es doch traurig wäre, wenn man selbst vor einer Toten nicht Halt mache mit übler Nachrede.
Worauf Annchen ihrer Mutter vorschlug, einmal zu Little Dorrit hinein zu gehen, die von Tag zu Tag klüger und süßer würde, eine Feststellung, gegen die kein Mensch, nicht einmal Fritz Eisner, Widerspruch zu erheben wagte, und ein Gedanke, der allgemeinen Beifall fand – denn das Gespräch stand auf dem Punkt, wo es, wenigstens von Frau Luise Lindenberg aus, in endlose Lamentationen überzugehen pflegte, die die anderen keineswegs herbeisehnten.
»Ja«, meinte Fritz Eisner, während er sich erhob, »hast du nebenbei in den letzten Tagen die Zeitung verfolgt? Nein?! ... Du hättest eine große Freude gehabt. Da war doch wieder in Potsdam ein herrlicher Skandal; und der Beschreibung, der Straße und den Anfangsbuchstaben nach, die man uns verriet, ist jene liebe Dame, die diesem Zirkel vorstand, diese höchst raffinierte Orchideenzüchterin – Beirut in Marienfelde könnte nach den Andeutungen, die ich auf der Zeitung erfuhr, noch manches von ihr profitieren – ist doch sicher niemand anderes, als unsere treffliche Wirtin von damals aus Wildpark, deine noch heute von dir hochverehrte Kapitänswitwe. Sie muß sich aber noch sehr vervollkommnet haben, seit ehedem ... da sich der gute Doktor Fischer ihren fortgesetzten Lebenswandel so zu Herzen nahm, daß er es vorzog, diese Welt, die mit ihr eine Selbsterniedrigung und ohne sie eine Hölle wohl für ihn war, fürder zu meiden.«
»Das halte ich für völlig unmöglich«, rief Frau Luise Lindenberg ... »Das ist ausgeschlossen! Sie war doch erst vor acht Wochen bei mir zum Kaffee; und ich versichere dich, sie ist noch genau solche vollendete Dame, wie früher.«
»Gott ja«, meinte Fritz Eisner. »Ich mache ihr ja durchaus gar keine Vorwürfe. Ich kann es nur sittlich nicht ganz billigen, daß sie auch ihre Töchter als Betriebskapital ansieht. Wenn man so an ihr Lieschen, den Südseetyp, und an Lottchen mit der mongoloiden Augenfalte denkt, die einem ehedem immer auf den Schoß hüpfte, und der ich dreimal den Aufsatz machen mußte, ›Friedrich der Große und der Müller von Sanssouci‹ (einmal für sie und zweimal für ihre besten Freundinnen), so will es einem doch gar nicht behagen ... Während an der Ältesten, an der Mittelmeerrasse – da magst du recht haben – ihrer ganzen Anlage nach die seelischen Beschädigungen ja nur geringer Natur sein können. Aber auch in ihrem Fall wäre von der Mutter zu sagen: eine vollendete Dame ist das nicht! ... Du brauchst dich aber um sie nicht zu ängstigen. Es wird ihr gar nichts passieren. Die Kriminalpolizei wird sogar einen schweren Rüffel bekommen – wegen Verletzung der Staatsinteressen. Oder meinst du etwa: es ist oben angenehm, wenn die Hälfte unseres Potsdamer Offizierchors als Zeugen benannt werden müßte?! Nein – paß auf, in acht Wochen trinkt deine Kapitänswitwe wieder bei dir Kaffee. – Aber dann wünsche ich auch zugezogen zu werden.«
Frau Lindenberg schüttelte den Kopf, während sie leise die Tür aufklinkte – denn man wußte ja nicht, ob L. D. noch schliefe, und da wollte man sie keinesfalls so brüsk wecken – und sagte: »Wirklich, ich sehe das mehr und mehr ein: ich bin altmodisch. Die heutige Generation ist wohl anders, wie die unsere war. Mein Mann wenigstens hätte so etwas nie gesagt.«
Und damit winkte sie vorsichtig Annchen hinter sich her ins Schlafzimmer. Fritz Eisner aber beschloß, doch lieber an dem Huldigungsfest für Little Dorrit nicht teilzunehmen, und in seine Stube zu gehen. Denn er war schon den ganzen Nachmittag in dieser schwirrenden, fiebrigen Erregung, die jeden packt ... die jeden packt, wenn so eine größere Arbeit von ihm sich ihrem allerletzten Schlußpunkt nähert, und sich ganz von seinem Schöpfer loslösen will. Während er hier sprach, hatte es schon immerfort in ihm weitergebaut mit Rede und Gegenrede, mit Bildern und Visionen, und mit der tiefen Ergriffenheit über das Schicksal seiner Figuren ... Gewiß – es war alles unwahr: so waren diese verschollenen Ahnen niemals über das holprige Pflaster ihrer engen Straßen gegangen. Und doch hatten sie für ihn im Laufe eines Jahres eine Überwirklichkeit bekommen, gegen die jegliches Leben und Erleben ringsum, selbst sein eigenes, verblaßte und unwichtig und unwahrscheinlich wurde.
Zugegeben: er hatte sich diese Welt selbst gebaut, und die Fäden der Puppen hatten zuerst von seinen Fingern herabgespielt; aber langsam war diese Welt selbstherrlich geworden, und er saß in ihr wie unter der Luftpumpe, wie in einer großen Glasglocke, Tag und Nacht, wo immer er hinblickte, stellte sie sich vor ihn, und die Figuren kümmerten sich auch nicht viel mehr darum, wie seine Finger mit den Fäden spielen wollten. Was unterschied diese, seine gezimmerte Welt eigentlich von der des Johannes Hansen?! ... Doch nicht viel mehr als ein paar Grade der Illusion, die kaum in Betracht kamen. Ja, die Figuren gingen nun manchmal anders, als er wollte, hatten ihr Eigenleben bekommen, sich losgelöst von ihm, folgten instinktsicher ihrem ihnen innewohnenden Lebenssinn ... sprachen ihre persönliche Sprache; und er hatte nur eigentlich dabei zu stehen und darauf zu hören und mit der Feder dem nachzueilen. Ihr Schicksal trieb zum Gipfel, wollte sich vollenden. Sie waren gleichsam voller Angst und voll Tränen.
Wo waren nun all die Hefte, angefüllt von Studien, Vorarbeiten, Notizen, die da noch hineingeweht werden sollten?! Lagen zugeklappt im Winkel, gaben nichts her. Die Figuren schüttelten sie nun wie lästiges Geziefer von ihrem Rock, und schritten mit großen, aufgerissenen Augen, wie hypnotisiert von ihrem eigenen Leib, ohne einen Blick nach rechts oder links, weiter. Sie flammten jetzt noch einmal auf, bevor sie von ihm Abschied nehmen wollten, in seltsam-verschleierter Rührung. Vielleicht, daß sie einmal wiederkamen, wieder zu ihm sich wandten, aber jetzt strebten sie von ihm fort ... in einer schmerzlichen Ungeduld ... wollten nicht länger, als höchstens eine Nacht noch bei ihm sein, und ihn dann wieder einmal ganz allein lassen, auf unbestimmte Dauer. So lange hatte er sich noch einreden können, daß er ihr Herr wäre, aber jetzt hatten sie ihn bei den Händen gepackt, und rissen ihn in ihren eigenen, ihm fremden Lebens- und Leidensrhythmus hinein.
»Annchen, ist eigentlich deine Mutter noch da?« rief Fritz Eisner nach hinten. Aber nein – sie würde wohl schon gegangen sein, denn die Lampe brannte ja (er hatte sie sicher nicht angeknipst) und draußen vor dem Fenster hing auch schon, wie ein Sammetvorhang bei Maeterlincks Puppenspielen, eine wallende, feuchte Schwärze ... aber es kam keine Antwort, und so stand Fritz Eisner auf, tappte durch die finstere Wohnung, horchte einen Augenblick an der Schlafzimmertür (da war man schon zur Ruhe gegangen) und schlich dann wieder an den Schreibtisch, in den Lichtkreis der Lampe. Wie spät war es nur? Herrgott, schon halb Zwei! Aber in gleicher Sekunde stülpte die Glaskugel ihre bunt-bemalten Wände von neuem über ihn, und die Figuren schritten wieder ihren hastigen und doch melancholischen Reigen, sprachen mit gehetzten und angstvollen Stimmen, wie Kinder aus dem Schlaf. Die Feder konnte kaum folgen, und die Tränen würgten ihn, und die Augen schwammen ... er war nur noch eine elektrische Station, deren Leitungen durcheinander gewirrt waren und jeden Moment schmelzen konnten. Seine sonst so winzigen, huschenden Schriftzüge wurden von Blatt zu Blatt größer, hatten endlich all ihre alte Form und Regel verloren.
Und wieder zog drüben über den Dächern die Dämmerung hoch, ganz matt und silbergrau. Und wieder hüpfte die Drossel wie ein schwarzes Teufelchen über den Dachfirst und schwang sich auf die Kante des Schornsteins, um seinen ersten Flötenton anzustimmen ... als Fritz Eisner die Feder hinlegte. Und im Augenblick sprangen die Wände der Glasglocke, zwischen denen er fast ein Jahr gelebt hatte ... knallten auseinander, und es schien ihm, als ob zugleich, wie in einem Schemenzug, die Gestalten, die ihn eben noch umschritten hatten, durch das Fenster in die Dämmerung hinausglitten und ihn ganz allein und in tiefer, plötzlicher Furcht wie in einem kalten Fieberschweiß zurückließen. Er war gar nichts mehr ... ganz leer ... ausgehöhlt ... nur ein Nichts noch, mit Menschenhaut umgeben ... ein ausgedroschenes Stroh ... ohne Hoffnung, ohne Aussicht ... ohne Heute und Morgen ... Er schaltete das Licht aus. Richtig – da waren ja wieder Wände mit einer scheußlichen Tapete in dem Halblicht, waren Bücher, ein paar Radierungen in Eichenleisten, alles nüchtern und ekelhaft-wirklich. Er fühlte sich wie durchsichtig, als ob er keine Knochen mehr hätte, und wie L. D.s Puppe, vielleicht nur mit Gummischnüren zusammengehalten würde. Er hatte die Empfindung, als ob sein ganzes, bisheriges Leben zu einem toten Stoß beschriebener Blätter geworden wäre, und daß nun nichts, gar nichts mehr davon in ihm vorhanden wäre.
Seit Monaten hatte er sich nach dieser Stunde gesehnt, und nun war er so jammervoll- und sinnlos-traurig, daß es ihn fast vor Tränen schüttelte. Man vergleicht immer, sagte er sich, diesen Vorgang mit einer Geburt: Die Krämpfe der Wehen, die letzten, schweren Schläge, als ob die ganze alte Form zertrümmert werden soll beim Durchtritt des Kopfes, das Abnabeln dann, und endlich die müde-lächelnde Wöchnerin, der man das Kind in den Arm gelegt hat, und die nun vor Glück und Freude und dem warmen neuen Gefühl von Mutterschaft, das sie durchrieselt, es kaum zu berühren wagt. Die immer wieder, ganz heimlich, die Fingerchen zählt, auf den Atem lauscht, die Gliederchen betastet, sagt: das habe ich nun alles in mir so lange getragen ... und es hat plötzlich einen richtigen Kopf und richtige Augen und richtige Haare und richtige Zehen, wenn auch sehr kleine. Und es lebt! Lebt! Lebt! Schreit! Quäkt! Greint! Lächelt! – Ist da!
Gott, wie albern ist das! Und wie trivial! Ganz im Gegenteil, so ungefähr stelle ich es mir vor, wenn einem ein Kind stirbt. Wie hat man noch gerungen, es zu behalten! Und endlich entgleitet es uns doch ... entschwebt uns in die Nacht hinaus, und wir stehen da, allein, wie betäubt. Nicht, daß es tot ist, ist so grausig; aber daß es nie mehr leben, nie mehr um unsere Füße herumspielen wird; und daß wir nun nichts mehr sind, ganz ausgepumpt, betrogen um alles, was wir ersehnt haben, nur noch ein Stück leeres Leben. Wir werden das nie mehr lallen und schreien hören, es ist von uns abgebrochen; wir können wieder hingehen, wohin wir wollen, tun, was wir wollen ... kein Leim bindet uns mehr daran ... es ist ein Stück Erinnerung, aber jetzt auch das nicht mal mehr ... es ist nur Einsamkeit unseres Herzens ... wir sind wieder ganz auf unser armes Selbst zurückgeworfen worden.
Und Fritz Eisner tappte schwankend und mit einem faden Geschmack im Mund durch die Wohnung hin, stieß sich an der grönländischen Frühgotik des Sessels im Eßzimmer die Knie braun und blau – er achtete kaum darauf – nur schlafen ... schlafen! Morgen vormittag würde der Schluß noch in die Maschine diktiert, und dann kann es gleich aus dem Haus. Er konnte nichts mehr davon hören und sehen ... nur keine Leiche in der Wohnung behalten! Vielleicht war es gut ... vielleicht würde er nie etwas Besseres machen. Nein, er würde den Schlußteil, den zweiten Band, den er eigentlich noch schreiben wollte, nie mehr schreiben. Es sind ja auch wichtigere Dinge Torsi geblieben. Denk nur an die Karamasoffs. Und jedenfalls war das jetzt fertig! Erledigt! Gar! Aus! Und wenn er nicht an Händen und Füßen gebunden wäre, würde er sich morgen einen Schiffsplatz besorgen und nach Amerika gehen. Was ist denn Ehe? Ich habe noch keine gesehen, wo die beiden auch, selbst nach zwanzig Jahren, den Bodensatz von letzter Fremdheit überwunden hätten. Sie können eine Stunde glauben, daß sie es getan hätten, aber die nächsten dreiundzwanzig wissen sie dann wieder, daß es nicht der Fall ist.
Und zufällig warf Fritz Eisner, wie er nach seinem Bett hinüber tastete, noch einen Blick in L. D.s Körbchen. Da lag sie, der kleine Racker, schwarz und rosig, und nuckelte selbst im Schlaf, zufrieden und glücklich, an den beiden Mittelfingern. Und während er sich schon hinlegte, dachte er: wo er das nur schon gelesen ... richtig, das schreibt, wenn ich nicht irre, Freiligrath an Keller: »Den Kindern geht es gut. Zum Schluß sind es ja doch unsere besten und einzigen Werke. Das andere ist Bruch.« Na ja, so steht es wohl nicht ganz da ... aber dem Sinn nach.
»Du! Es ist neun Uhr!« rief Annchen. »Bist du gestern fertig geworden? Ja?! – Ich habe Muttchen noch begleitet. Ich finde aber, Hannchen ist wie 'ne Bohnenstange geworden seit neulich. Da muß wirklich mal was geschehen, 'ne Mastkur oder so etwas Ähnliches. Und dann hat L. D. geschrien, und da bin ich gleich zu ihr hereingegangen. In letzter Zeit hast du mir doch eigentlich gar nichts mehr vorgelesen. Meinst du, ob's einschlagen wird? Bist du denn selbst mit dem Schluß zufrieden? Na ... aber da bist du wohl jetzt recht froh und stolz, daß du glücklich fertig bist?!«
»Gewiß, mein Kind!« sagte Fritz Eisner. Und innerlich dachte er: wie ist es möglich, daß zwei Menschen bald sieben Jahre nebeneinander hergehen, und jeder von ihnen so wenig ahnt, was im anderen eigentlich vorgeht!
»Aber denke dir, wie wir – Muttchen und ich – gestern hereinkommen, wo sitzt Little Dorrit und lacht uns an? ... das rätst du sicher nicht! Unterm Waschtisch! Pauline hat sie auf ihre Matratze vor die Box gelegt, und da muß sie doch aufgewacht und durchs ganze Zimmer gerutscht sein. Anders ist das gar nicht zu erklären. Plötzlich, von gestern auf heute hat sie sich's beigebracht, ohne daß ein Mensch etwas davon geahnt hat.«
»Oh«, meinte Fritz Eisner, »da muß ich für L. D. nächstens eine Pferdeleine stricken! Kannst du das nicht? Das habe ich als Kind immer gemacht. Ob ich es aber noch fertig bringen werde, weiß ich nicht. Die Hauptsache aber: man muß dazu einen langen Weinkorken haben, und Stecknadeln und bunte Wollfäden. Dann wird der Korken durchbohrt, und die Stecknadeln oben herumgesteckt, und die Wollfäden durchgezogen ... Ich weiß zwar nicht mehr genau, wie das gemacht wird, doch meine Mutter wird es mir schon zeigen. Die hat eine große Übung darin gehabt! Aber jetzt muß ich gehen, ich komme schon eine Viertelstunde zu spät ins Schreibmaschinenbureau. Mittag? – na ja, ich denke, ich habe dann eigentlich nur noch zwei Wege.«
Im Schreibmaschinenbureau, zwischen den Wänden mit den paar Lithographien und Reklamen – gerade Tisch und Stuhl und Maschine und Raum, einmal einen Gedanken lang hin und her zu gehen, drei Schritte hin und drei Schritte zurück – war alles entgöttert, nüchtern. Und Fritz Eisner kam sich jämmerlich vor, wie er jetzt so kühl und ruhig Silbe für Silbe, mit fader Tinte gleichsam, das Blut seiner Schriftzüge von gestern nacht noch einmal nachzog, noch hier ein Wort besserte, zwei Epitheta umschaltete, aus einem langen Satz drei machte ... denn jetzt vertrug die innere Architektur keine langen Satzblöcke mehr, jetzt mußte, gleichmäßig und gehämmert, Stein auf Stein gelegt werden, fast unvermörtelt, mußten einander tragen durch ihr eigenes Gewicht ... Bei den letzten Seiten zuckte es ihm in den Mundwinkeln. Es packte ihn doch wieder. Und die Schreiberin, die schon Monate und Monate mit ihm gegangen hier war, bekam einen roten Kopf und blickte nicht von der Maschine auf. Sie war ein kluger Mensch und sehr abgebrüht und sehr ironisch durch jahrelanges Tippen von Literatur aller Art. Sie war nicht leicht zu zwingen – aber sie ging mit ... das spürte er. Und er spürte zugleich das Wort »Publikum« und das, woran er immer noch doch gezweifelt hat: Erfolg! Ganz kalt und mit starren Nerven, so wie ein alter Roulettespieler, der sieht, wie die Kugel auf sein Feld zurollt. Und es war ihm widerlich, und er begriff nicht, was diese zwei Dinge plötzlich miteinander gemein haben sollten ... was seine letzten Träume und Verschwiegenheiten, sein Spott, sein Lieben und seine Beseligungen, all diese seine Ergüsse aus maßlosen Einsamkeiten, nun mit Beifall, Geld oder Berühmtheit vielleicht zu tun haben sollten.
Aber diese Stimmung blieb ihm nicht lange. Und wie er nun die drei Packen mit Durchschlägen, fein säuberlich eingewickelt unter dem Arm hatte, da war ihm das wieder ganz etwas Fremdes geworden.
Auf der Zeitung – auf der anderen, draußen im alten Schloßviertel, beim Begas-Brunnen – empfing ihn der Redakteur. »Nett, daß wir's haben! Ich habe schon Todesangst ausgestanden – viel mehr als Sie! – Ihnen könnte noch ein Dachziegel auf den Kopf fallen!«
Ein sehr blasser, alter, grauhaariger Metteur, mit der Farbe der chronischen Bleivergiftung, solch einer, bei dem unter Lokales steht »unser Herr Soundso feierte am achtzehnten ...« und der einen schöneren Nachruf bekommt vom Herrn Doktor selbst als Ibsen oder Georg Ebers, der war plötzlich eingetreten und wischte die Druckerschwärze von den Händen an die grüne Schürze. »Hatten Sie denn jeklingelt, Herr Doktor?« sagte er sehr tief und sah mit fragenden Augen über seine umwickelte Brille zu Fritz Eisner herüber.
»Herr Eisner – Herr Sachse, unser Obermetteur!«
»Ach, Herr Sachse!« Noch nie hatte so viel Ehrfurcht in der Stimme des Redakteurs gelegen, wie diesem Alten gegenüber, der scheinbar ganz unterwürfig und untergeordnet tat und doch genau wußte, daß er viel wichtiger war als zehn Hilfsredakteure, ob sie nun Jura, Nationalökonomie oder Germanistik studiert hatten. »Hier ist der Schluß vom Roman zum Absetzen. Geben Sie ihn aber bald hinter! Wie weit sind Sie denn?«
Der Alte kratzte sich mit den schwarzen Nägeln seine grauumrandete Glatze, ganz oben am höchsten Punkte seines Scheitels.
»Na«, sagte er, »es werden so meiner Schätzung nach zirkum zirka an die siebentausenddreihundert Zeilen doch schonst sinn!«
»Wollen Sie nicht den Schluß erst lesen?« fragte Fritz Eisner sehr kleinlaut.
»Wozu?!« meinte der Redakteur, »das lese ich ja nachher noch! Ich habe das Zutrauen zu Ihnen, daß es nicht schlechter als das andere ist.« Und damit drückte er Fritz Eisner die Hand, denn das Abendblatt wollte schon mit dem Umbruch beginnen.
»Soll ich denn Korrekturen lesen?« meinte Fritz Eisner, schon in der Tür.
»Ach nee, das machen wir lieber hier. Und ungefähr am nächsten Donnerstag beginnen wir doch schon mit dem Abdruck. Ich kenne das: wenn die Herren Autoren selbst Korrekturen lesen, gibt's immer nur Anstände und Verzögerungen. Und das schätzt Herr Sachse auch nicht besonders.«
Und Fritz Eisner trottete ab.
Der Verleger aber empfing Fritz Eisner freundlich, fast weich. »Na, nun endlich fertig, lieber Freund? Nischt verhauen! Geben Se man her, wird schon gut sein. Lese ich dann später. Zigarre? Jedenfalls gratuliere ich Ihnen.«
Und schon kam ein wunderhübsches junges Mädchen hinein, mit einem Madonnenscheitel und Madonnenhänden und lächelte zu Fritz Eisner herüber. Und Fritz Eisner hatte das Gefühl, als ob ihm, hier wie im Himmel der Moslems vielleicht dem Gläubigen, sofort ein herrlicher Lohn winken sollte.
Aber im gleichen Moment begann der Verleger: »Einschreiben!« Und der Madonnenscheitel neigte sich über einen Block, und die Madonnenhände flogen in stenographischen Krikelkrakel über ihn hin. »Also: Einschreiben! Anbei sende ich Ihnen den Schluß des Manuskriptes Eisner und bitte Sie, den Satz sofort jetzt in Angriff zu nehmen. Eventuell können Sie ›Rosalinde‹ etwas zurückstellen. Da wir eingetretener Umstände halber mit dem Buche schon Anfang Oktober auf den Markt müssen, so ersuche ich Sie ebenso höflich wie dringend, den Druck möglichst zu beschleunigen, so daß wir spätestens im ersten Drittel des Juli ... von den uns eingesandten Papierproben würde uns Probe sieben zwar in der Qualität zusagen, doch müssen wir den Preis als unangemessen hoch bezeichnen. Ich rechne damit, daß Sie mir hierin als einem guten Kunden entgegenkommen werden ... und so weiter.«
Jetzt rollte der Stein. »Das Buch als Ware«, sagte sich Fritz Eisner.
Zu Hause war die Wohnung merkwürdig leer, weit und hell, für Fritz Eisner, als ob man die Wände auseinandergerückt, oder die Möbel ausgeräumt hatte; es fehlte ihm irgend etwas, was sie ihm bisher zusammengehalten hatte. Und das erste, was Fritz Eisner tat, war, daß er seinen dritten Packen von Schreibmaschinenblättern auf die anderen schichtete und dann das Fach seines Schreibtisches zweimal fest abschloß; und wenn es nicht Narrheit gewesen wäre, hätte er den Schlüssel im Bogen zum Fenster auf den Hof hinausgeworfen. Er war seltsam leicht, hatte so gar nichts mehr in sich, war ein weißes Blatt Papier wieder, und wußte durchaus nicht, was er mit sich und seiner Zeit anfangen sollte ... es war ihm so, als ob er bei sich selbst zu Besuch wäre. Es durchströmte ihn aber doch jetzt ein Behagen, nach dem Kaffee und der Zigarre. Vom Essen hatte er, wie stets, wenn er abgehetzt und lärmverprügelt, in Hast durch Diktieren, Schreiben, Sprechen und lange Straßenbahn-, Stadtbahn- und Untergrundbahnfahrten und überrege nach Hause kam, nicht viel gehabt. Er wußte eigentlich kaum, was ihm Pauline dann vorsetzte. Aber jetzt fühlte er doch so ein schnurrendes Behagen, wie in den ersten Tagen einer Sommerfrische, wenn man selbst zum Lesen zu faul ist. Er schlenderte durch seine Zimmer, ging auf den Balkon, sah in die nun schon blaugrünen Kronen der langen Ulmenreihen – ›wie schnell doch die Spinatfarbe aus den Blättern der Bäume schwindet ... Kurz ist der Frühling!‹ – und freute sich an seinen Kressen. Oh, die waren ja prachtvoll weiter gekommen, voller Knospen! Ein paar blühten schon. Eigelbe, rote und veilfarbene mit ihrem Sammet und ihrem langen Sporn. Und eine Hummel brummte unwillig von Blüte zu Blüte, kroch ganz hinein in die Farbentrichter, wirtschaftete darin herum, und kam voll gelben Puder um den Kopf und den Pelz seiner Brust und seines Leibes – sie ist doch wie ein kleiner, zottiger Bär unter den Insekten – wie ein Müller kam sie – so bestaubt wieder heraus, und brummte weiter. Es hat noch nie jemand eine Hummel gesehen, die guter Laune gewesen wäre. Schade, daß heute eigentlich kein ganz blauer Tag war ... das Wetter war sich selbst noch nicht klar darüber, wem es recht geben sollte: den Wolken oder der Sonne. Denn, wenn man dann so sitzen würde, daß man nur den Himmel sähe, und die Lichtfülle, und so die Blüten davor hätte, die von der Sonne transparent gemacht sind, in ihrem bunten Feuer ... das wäre köstlich und schätzenswert. Da wäre man stundenlang befriedigt. Aber so wird's einem doch schnell über.
»Was machst du eigentlich heute nachmittag, Annchen?« rief Fritz Eisner herein. Denn Annchen ließ drin ihre Finger gerade in der Pathetique über den alten eisernen Kasten des Flügels hintanzen. Und das genoß Fritz Eisner, so angenehm ihm auch Annchen spielte – und endlich hat ja der kleinste Fetzen Beethoven noch eine unsterbliche Seele, der nichts geschehen kann – lieber aus der Ferne. Nicht des Spiels wegen, das ihm genügte, und das er auch rückhaltlos bewunderte, sondern des Instrumentes wegen, das, wie ein großer Konzertsänger, sich durchaus nicht daran gewöhnen konnte ... daß Musik eigentlich eine Hauskunst sein soll. Aber Fritz Eisner kam deswegen auch mit seiner Frage nicht zur Geltung. Und so wartete er geschickt das nächste Pianissimo ab, und rief dann nochmal: »Was machst du denn eigentlich heute nachmittag?«
Annchen liebte wohl mit Recht – weil sie Musik liebte – solche Unterbrechungen nicht. Und sie hörte auch nicht auf. Und, während sie weiter die hellen Töne mit kitzelnden Fingern aus der schwarzweißen Tastatur schabte, wandte sie nur halb den niedlichen Kopf mit den Gazellenaugen und den gedrehten Stirnlöckchen – sie sah nebenbei sehr hübsch am Flügel aus, der Flügel kleidete sie vorzüglich – und sagte dabei tief vorwurfsvoll: »Gott, du weißt es ja doch!«
Also er konnte beschwören, daß er es nicht wußte! Und was konnte er denn dafür?! Sie müsse sich doch mal dran gewöhnen, daß man im Leben nur so läge, wie man sich gebettet hat. Sie wußte doch vorher, als sie mit ihm aufs Standesamt ging, daß ihre Menage nur bescheiden sein könnte. Und er täte doch, was in seiner Macht stände. Wenn sie nur nicht ewig unzufrieden und neidisch auf das Los anderer Frauen wäre, die es gut hätten nach ihrer Meinung, und die nichts zu tun brauchten. Es ist doch immer so in der Welt gewesen, von Babylon an, daß die einen Auto fahren, und die anderen zu Fuß laufen müssen. Und man kann es sich doch nicht wählen. Und mehr als arbeiten könne er doch auch nicht. Und außerdem sähe es doch jetzt wirklich aus, als ob es endlich besser mit ihnen würde. Ein anständiger Mensch versucht weiter zu kommen; aber er drämmelt nicht immer ... Aber das Merkwürdigste und Unverständlichste für Fritz Eisner war: Annchen hatte diesen Neid auch auf solche, die gesellschaftlich noch unter ihr standen, und es wirklich schwer hatten, ohne Mädchen auskommen mußten, wie Selma oder Paula ... und die sich in den wenigen Jahren schon schwer verarbeitet hatten und zu verblühen begannen. Auch von ihnen rühmte sie immer, wie gut sie es hätten, während sie von morgens bis abends aus der Tretmühle nie herauskäme. Ja, sie erzählte Fritz Eisner ostentativ, sie hätte ihre Reinemachefrau Sonntag gesehen. Und der müsse es doch ausgezeichnet gehen, denn solche Schuhe, was die angehabt hätte, könne sie sich nie leisten. Und ... was dergleichen Dinge mehr sind. In Wahrheit jedoch war sie ja durchaus nicht der Lenker des Gefährts, der nicht vom Bock kam ... noch weniger der Gaul, der es unter Peitschenhieben zog, sondern sie war eigentlich doch nur hier das fünfte Rad am Wagen.
»Na«, meinte Fritz Eisner etwas schuldbewußt, »das ist ja alles gar nicht so schlimm, mein Kindchen! Vielleicht könnten dann wir beide etwas heute nachmittag unterneh...«
Aber weiter kam er nicht. »Aber ich bin doch um vier bei M'chen Gumpert zum Kaffee eingeladen! Weißt du denn das nicht mehr? Gott – wenn man nicht einmal das mehr haben soll?! Ich muß aber wirklich auch nächstens einen Damenkaffee geben, Hundchen. Ich kann mich nicht immer bloß einladen lassen. Wir kommen da nicht herum. Es kostet ja auch nicht so viel. Du kannst mich vielleicht nachher da abholen, wenn du in der Nähe bist. – Ach, du liebe Zeit! Halb vier? – Ich müßte überhaupt schon eine halbe Stunde weg sein. Denn bis man nach der Cornelius-Brücke raufkommt – du hättest mir auch ruhig sagen können, wie spät es ist ... wenn ich am Klavier sitze, vergesse ich immer ganz die Zeit. Aber endlich ist es die einzige Stunde, wo ich zum aufatmen komme.«
»Aber Pauline ist doch sehr tüchtig und umsichtig!«
»Gott, Pauline – gewiß! Aber zum Schluß muß man, als Hausfrau, doch alles selbst machen und an alles denken! Und ich bin dem nun mal eben nicht gewachsen. Da hätte man mich anders erziehen sollen.«
Annchen stand schon vor dem Spiegel und rückte ihren Hut zurecht, den neuen, an dem sie neulich ganz unmotiviert die Schleifen versetzt hatte, und der nun reichlich unglücklich geworden war. »Wirklich, ich kann mit diesem alten Hut kaum noch über die Straße gehen«, sagte sie; »die Leute lachen mich ja aus. Und ich kann's auch als deine Frau jetzt nicht mehr tun ... jetzt, wo du doch so viel Geld verdienst. Das spricht sich schnell herum. Du wirst mir schon einen neuen Hut spendieren müssen.«
Fritz Eisner wollte sagen, daß gut die Hälfte davon ja vorgegessenes Brot war. Aber, während er sich noch überlegte, ob es nicht besser wäre, Erörterungen darüber zu vermeiden, klang es schon vom Flur aus sehr hell und vergnügt: »Also, Hundchen, ich komme nicht sehr spät. Und, wenn du kannst, telephoniere doch vorher, damit ich nicht zu lange umsonst warte. Denn weißt du, so etwas ist gräßlich mopsig. Da ist man um jede Minute froh, die man eher fortkommt.«
Und Fritz Eisner wandte sich zu seinen Kapuzinerkressen zurück. Die Hummel brummte da immer noch drin, die schwarz-weiß-gelbe. Oder es konnte auch eine Schwester von ihr sein, die besonders ärgerlich war, weil die andere ihr schon alles weggegessen, und ihr kaum etwas übrig gelassen hatte – denn so böse war die vorhin gar nicht gewesen. Er beugte sich über die Brüstung und sah herunter. Unten lief Annchen, einen Schirm schwingend, mit zu hohen Hacken, aber fix wie ein Wiesel, einer Straßenbahn nach, die schon eben angeruckt hatte, jedoch die Tendenz zeigte, noch einmal für sie halten zu wollen. ›Merkwürdig‹, dachte er, ›welche überraschende Vitalität doch Annchen aufbringen kann – in solchen Fällen!‹
Und damit tappte er zurück in die Wohnung, lief bis in die Speisekammer – niemand! Pauline und L. D. hatten jetzt auch Ausgang, kamen wohl erst in ein paar Stunden. Gräßlich, wie leer und einsam doch solche Wohnung ist. Wenn man nur mit sich allein ist, und alles um einen mit einemmal tot geworden ist. Bis zu dieser Stunde war das ja Fritz Eisner hier nie zum Bewußtsein gekommen, weil es immer irgendein Heute gegeben hatte, das in ein Morgen hinüberrankte. Denn man muß doch nun mal versuchen, dem Dasein einen Sinn zu geben. Gerade dann am ehesten, wenn man genau weiß, daß es den eigentlich nicht hat. Plötzlich verstand Fritz Eisner auch diese halbe Flucht von Annchen jetzt und immer wieder: es gibt doch Menschen, bei denen man nie begreift, wie sie dreißig Jahre und länger eine so belanglose Gesellschaft, wie sich selbst, überhaupt ausgehalten haben. Eigentlich hätte er ja noch etwas schreiben müssen ... so irgendeinen Text für lustige Bilder. Aber er war nicht darauf eingestellt, tat es ungern. Zum Schluß machte es immer allen Leuten mehr Spaß, als ihm selbst. Und außerdem mußte es ja erst spätestens am Montag früh auf der Redaktion sein. Und die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß es besser war, es im letzten Augenblick hinzubringen ... dann konnte nichts mehr daran geändert werden. Und ändern hieß einfach: die Laune solch einer Sache nehmen. Und ohne die war es ja doch nur eine tote Henne. Lesen! Ah – bah! Da hatte zwar jemand ihm ein Buch mitgegeben: »Die Herzogin von Assy« – er hatte es nur so angeschnüffelt, aber es schien sehr gut zu sein. Voll ganz neuer Farben. Und wundervoll-sinnlich und nervös dabei. Für einen Deutschen sehr seltsame Kunst, von einer Linie, die man hier nicht kannte, seit Kürnbergers »Schloß der Frevel« nie wieder gesehen hatte. Aber endlich roch es doch auch nur nach Druckerschwärze. Und er hatte im Augenblick ein Grauen vor Druckerschwärze.
Aber ganz so allein war er ja doch nicht. Noch vor zwanzig Jahren wäre man das in this situation gewesen. Doch da war jetzt ja zum Beispiel das Telephon. Griechen hätten den armen Herrn Reis sicher unter die Halbgötter versetzt wie Herkules und Ikarus ... Eine wundervolle Sache – der Fernsprecher! Sieht so harmlos aus – aber hat's in sich ... Rrrrrrr. »Ja, Fräulein gerade dieses Amt wünsche ich, 2303 ... 2 ... 3 ... 0 ... 3.« »Hallo, Hannchen, Schwägerin meines Herzens, Freundin meiner Seele, wie geht es dir? Ludwig das Kind? Wieder mit der Großmutter im Zoo? – der Junge wird noch zum Affen werden. Passe auf, eines schönen Tages sperren sie ihn in den Käfig, und schicken dir dafür Jumbo nach Hause. Egi – furchtbar fleißig? Auf der Königlichen Bibliothek? Arbeitet durch? Ißt Mittag nicht zu Hause – kommt also mit seiner Sache gut weiter? Natürlich ... wie ... stets! Heute Ruhepause. Mal verschnaufen. Sehr schön! Ich?! Gott sei getrommelt und gepfiffen, alles fertig seit heute früh um viere ... schon alles erledigt, schwimmt schon. Nächsten Donnerstag beginnt's. Und das Buch wird auch schon gesetzt. Annchen?! Fortgestürzt ... großer Kaffeeklatsch bei M'chen Gumpert, ehedem Liebmann! Ach so, zieht dich nicht zu, von wegen ihrem Mann als Heinrich Heine redivivus, potsdamiensis! Hast du nebenbei von unserer ehrenwerten Kapitänswitwe gelesen? Deine Mutter ist zu köstlich! Wenn nicht Hartleben schon lange den »Gastfreien Pastor« geschrieben hätte, und man der guten Frau nicht weh tun wollte ... das dürfte man sich eigentlich nicht entgehen lassen. Das schreit geradezu danach! Begreifst du eigentlich, warum man nicht immer mit seiner Schwägerin verheiratet und mit seiner Frau verschwägert ist? Das wäre vielleicht eine ideale Lösung. Unter der Bedingung, daß die Frau die Schwägerin bleibt, aber nicht die Frau wird! Aber was hast du heute nachmittag vor? Mußt zu Hause bleiben?! Wirtschaftliches? Dich, als Bewahrerin des Vorhandenen, betätigen? Also auf deutsch: Egis Strümpfe stopfen! Nein?! Hat welche von seinem ach so vornehmen Bruder geerbt?! Sogar seidene! Aber du kannst doch sonst nicht alles verkommen lassen! – Geliebtes Hannchen, wirbele doch nicht ständig alles durcheinander! Dadurch wird ja alles nur zehnmal so schnell ramponiert, als wenn man die Möbel auch nur acht Tage lang einmal in Ruhe auf ihrem Platz läßt! Wie würde dir denn das gefallen, wenn sich jeden Nachmittag um viere einer mit aufgekrempelten Ärmeln auf dich stürze, und dich von Kopf bis Fuß mit Öl und Zitrone abrubbelte! Laß das mal heute sein. Und melden wir uns bei Frau Doktor Spanier zum Tee an. Sie hat mich schon zehnmal wieder aufgefordert inzwischen. Und er wollte uns doch seine Röntgen-Sachen mal zeigen. Es soll das beste Privatinstitut Berlins sein. Ist's recht?! Also paß auf: ich rufe jetzt dort an und du klingelst dann in fünf Minuten wieder bei mir an, und wir treffen uns nachher beide auf der mittleren Linie, das heißt: am Bahnhof Nollendorfplatz.«
Und schon hing drüben Lucie, Frau Doktor Spanier, am Telephon. »Das nennt man Freundschaft!« sagte sie, und faszinierte im Augenblick Fritz Eisner wieder durch den liebenswürdig klagenden Ton ihrer Stimme. »Zehnmal versprechen Sie einem, zu kommen und zum Schluß sitze ich hier wie Ariadne. Und unsere Salons? Ich glaube, die Ausstellung von Pissaro ist schon wieder geschlossen!«
»Ach«, meinte Fritz Eisner, »ich finde, das Telephon wird vielfach falsch angewandt. Man benutzt es doch meist nur, um dem anderen Grobheiten zu sagen, die man ihm nie sagen würde, wenn man ihm gegenüberstünde. Man sollte es vielmehr dazu benützen, um dem anderen Liebeserklärungen zu machen. Es bietet dafür außerordentliche Vorteile. Und sie fallen meist amüsanter und abgerundeter in der Form aus, als wenn man durch das Objekt selbst irritiert wird!«
»Sie dürfen Ihre Erfahrungen doch nicht so verallgemeinern«, kam es lachend – und welche Kaskade von Gelächter! – zurück!
»Ja, aber fragen wollte ich eigentlich nur, ob Sie immer noch etwas von Ihrem vorzüglichen echten Ceylontee auf Lager haben?«
»Jawohl, mein Herr!« – sie ahmte eine Geschäftsfrau im Ton nach. »Es ist unnötig, daß Sie mir vorerst neue Muster offerieren, mein Bedarf ist noch auf Monate hinaus gedeckt.«
»Und wann pflegen Sie den Tee zu nehmen (Tee nimmt man)?«
»So gegen sechs, eher kann Dju nicht. Da ist er mit der Praxis fertig; oder er macht eine Pause, wenn noch Patienten da sind. Haben Sie von Johannes Hansen gehört? Gerade wie wir damals weggingen. – Es ist doch erschütternd. Und er war wirklich im Kern ein guter Junge. Ich habe ihn doch besser gekannt, wie alle anderen.«
›Seltsam, daß gerade sie darauf zu sprechen kommt‹, dachte Fritz Eisner.
»Sie finden das vielleicht etwas freimütig, daß ich das sage? Sie haben ganz recht: es ist wohl nur das Telephon, daß ich es tue. Und da wir gerade am Telephon sind, möchte ich Sie fragen, was würden Sie vorziehen: ›Erinnerungen haben oder keine Erinnerungen haben?‹ Und meinen Sie etwa, daß uns Frauen nicht dasselbe Recht zustehen soll, wenigstens einigen von ihnen, die menschlich hoch genug stehen, daß sie zum Schluß davon weder schlechter noch besser – nur reifer werden?!«
»A qui le dites vous – meine Gute! Immerhin empfehle ich Ihnen, Frau Doktor, dieses Thema für die Zeitschrift von der Helene Lange ›Die Frau‹ auszuarbeiten. Da liebt man so etwas. Und es mit diversen Stellen, die ich Ihnen gern nachweisen will, aus der Ellen Key zu belegen. Aber jetzt zur Sache! Würden Sie, liebe Frau Doktor, um sechs Uhr noch zwei Tassen mehr auf den Tisch stellen?! Denn es sieht doch nicht vornehm aus, wenn wir beide aus einer Tasse trinken würden, und es ist mir nicht ganz sicher, ob das den vollen Beifall Ihres Mannes haben würde.«
»Sie sind doch so aufgekratzt, mein Freund. – Was macht der Roman?«
»Roman? Ich habe so eine dunkle Erinnerung, als ob ich einmal einen solchen schreiben wollte oder geschrieben habe. Genau weiß ich es nicht mehr!«
»Also fertig? – Und wann fängt er an, zu erscheinen? Donnerstag? Da freu ich mich schon! Sie kommen doch mit Hannchen. Mein Mann hat täglich gefragt, warum eigentlich sie noch nicht bei ihm war. Er sagt, solch ein sträflicher Leichtsinn wäre ihm selbst bei den schlimmsten Proletariern noch nicht vorgekommen!«
»Liebe, gute Frau Doktor, man sieht, daß Sie sehr wenig vom wahren Leben doch kennen gelernt haben. Wenn ich einmal unter die Philosophen ginge, würde ich ein Buch schreiben, das noch niemand geschrieben hat, weder Kant noch Plato; und das hieße ›Vom gesicherten und ungesicherten Leben!‹ Sie sind vom gesicherten, und Sie werden das ungesicherte nie verstehen. Leichtsinn? Nein! Der Ganz-Arme kann krank sein. Und er wird zum Arzt gehen, oder in ein Krankenhaus gehen. Oder in eine Lungenheilstätte. Denn es kostet ihn nichts. Und es ist gleich, wo er ist. Er ist wie ein Stück Holz, das die Spree herunterschwimmt: mit nichts verbunden. Er kann hier in einer Ecke sich mal festlegen, oder da an einem Brückenbogen eine Zeitlang hängen bleiben. Und auch der Reiche kann krank sein. Denn ob er sein Geld zu den Ärzten trägt, ob er in ein Sanatorium geht, ob er vier Wochen seinem Beruf fernbleibt, oder beschließt, aus Gesundheitsgründen mal ein Jahr in Italien zu leben, ist gleich, trifft ihn nicht. Aber der, der sich so von Tag zu Tag, von Monat zu Monat durchfrettet, der ärmer eigentlich als der Arme ist, weil er immer anderen seiner Bildungsschicht, mit denen er lebt, denen er gleichberechtigt ist, Sand in die Augen streuen muß, der kann es sich nicht leisten. Der darf nicht krank sein. Was soll denn aus dem Kind werden ... bei Hannchen? Und was aus dem Mann? Der doch – wir wollen es uns mal ganz ruhig eingestehen – eigentlich sehr wenig Halt hat. Man kann das wirklich nicht als Leichtsinn von Hannchen bezeichnen!«
»Sie sollten das für die ›Sozialistischen Monatshefte‹ mal schreiben, lieber Freund«, kam es zurück. »Die sind revisionistisch und suchen so etwas ... Aber Ihrem Schwager geht es doch sehr gut – menschlich. Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen getroffen. Ich war erstaunt: wie umgewechselt ... nicht nur der Kragen ... Die Lena Block ist doch ein Kerl. In vierzehn Tagen hat sie das fertig gebracht, was Hannchen nicht in sieben Jahren gelungen ist. Wenn ich eine um ihre Linie beneide, so ist es die. Und der ganze Unterschied liegt vielleicht nur darin, daß Hannchen redet und sie schweigt!«
»Vielleicht! Aber haben Sie mal einen gestrichenen Schrank gesehen? Erst sieht er sehr schön aus. Dann gibt es Blasen. Dann plastert es ab. Und dann kommt das alte, wurmstichige Holz wieder vor. Und zum Schluß sieht er nur scheußlicher aus als vorher, wo er doch wenigstens ein olles, ehrwürdiges Möbel war. Wenn ich ein Philosoph wäre, würde ich noch ein Buch schreiben, das beweist, daß Menschen keine Anzüge sind und sich nicht ändern lassen. Und daß alles, was man mit ihnen erreichen kann, das ist, daß man sie dahin bringt, daß sie sich eine Zeitlang verstellen. Aber – – –«
»Das stimmt nicht ganz! Ich kenne Ausnahmen! Und wenn Sie sich's genau überlegen, werden Sie eine vielleicht auch kennen?«
»Erstens, Frau Doktor, ist die Ausnahme ja nur der Beweis für die Regel. Und zweitens sind Anwesende ja immer ...«
»Also dann um Sechs kommen wir«, rief Fritz Eisner und legte den Hörer nieder; denn das Fräulein vom Amt hatte schon dreimal unterbrechen wollen.
Doch schon schnurrte es, und drüben war wieder Hannchen da. »Na«, sagte sie, »du mußt ja Lucie viel erzählt haben! Immerfort war es bei dir besetzt.«
›Hoffentlich‹, dachte Fritz Eisner, ›hat man uns nicht zusammengeschaltet – das wäre eine Freude!‹
»Also treffen wir uns dann Punkt halb sechs vor dem Aufgang zur Hochbahn am Nollendorfplatz, da unter den Pfeilern.«
Und wieder war die Wohnung ganz leer um ihn, ohne jede Brücke zu einer Außenwelt. Draußen war es jetzt schön geworden. Ein seltener Fall in diesen Tagen. Denn es hatte ziemlich viel geregnet in den letzten Wochen. Aber auch die Sonne, die nun durch alle Fenster kam, machte die Wohnung für Fritz Eisner nur leerer und unheimlicher. Keine Seele. Und noch nicht vier Uhr. Und plötzlich packte ihn die Budenangst – ein Gefühl, das ihm aus seiner Studentenzeit wohl bekannt war, die sehr einsam, sehr zweck- und sehr inhaltslos gewesen war ... Die Universität hatte den werdenden Literaten nicht durchgebacken ... wozu auch? Was wäre es ihm von Nutzen gewesen? ... Hatte ihn nur so leicht mit Wissenschaftlichkeit außen auf beiden Seiten etwas angebräunt ... war für ihn doch zum Schluß nichts Halbes und nichts Ganzes gewesen. Und das hatte ihm damals eine schwere und nervöse Ruhelosigkeit gegeben und er war froh, als sie endlich wieder aus seinem Leben gewichen war. Und jetzt war nun von neuem plötzlich diese längst vergessene Budenangst wieder da, nach Jahren. Und, um ihr nicht zu verfallen, sah er schnell, ob sein Kragen noch standhielt, ob der geleimte Schlips etwa durch ein vornehmeres Exemplar der Spezies »Binder« etwa zu ersetzen sei (entschied sich für: ja), nahm seinen Hut und Stock und machte, daß er an den Glasgemälden des Treppenhauses vorbei und ins Freie kam.
Wie er aber unten stand, wußte er das erstemal seit langem nicht, nach welcher Seite er eigentlich gehen sollte. Ganz automatisch setzte er einen Fuß vor den anderen in den langen Linien, zwischen den Ulmenstämmen, die ihre Schatten über den nassen, noch blinkenden Fahrweg, wie schmale lange Stege über einen Bach, werfen. Und plötzlich fiel es ihm auf, daß er eigentlich ohne Sinn und Ziel langsam vor sich hinstromerte. Das hatte er wer weiß wie lange nicht mehr getan. Immer, wenn er das Haus verließ, hatte er irgendeinen Zweck dabei gehabt. Und der hing direkt oder indirekt mit seinem Beruf zusammen. Und eben jetzt: oh, Gott – Mensch, du gehst ja spazieren ... richtig spazieren! Einfach bummeln, Luft schnappen, dich umgucken; seit sieben Jahren, seit dem Sommer lang mit seinem Sich-treiben-lassen da in Potsdam, seit der Verlobungszeit habe ich das eigentlich nicht mehr getan. Es ist doch etwas Hübsches. Man ist so völlig offen, und kann alle Dinge auf sich zukommen lassen: Da kriecht zum Beispiel eine Raupe den Baum hinauf, war wohl von Regen und Wind heruntergeschlagen; hat einen langen Weg, bis sie wieder nach oben kommt und gewiß gräßlichen Hunger. Andere ringsum sind tot, verrottet, verkommen, sind zertreten; aber sie will nicht sterben, will weiter, einmal fliegen, die Rasse fortpflanzen, ihr Dasein in die Ewigkeit hinauftragen ... wer weiß, wohin? Vielleicht ist sie der Ahne eines neuen Geschlechts von Erdbeherrschern, wenn der Mensch längst fossil geworden ist, nur noch ein Schauobjekt im Glaskasten eines Museums darstellt oder einen Abschnitt auf der Seite eines Lehrbuches der ausgestorbenen Tierarten.
Oh, sie hat es sehr eilig, löst sich, saugt sich fest, mit Beinwarzen, löst sich wieder und saugt sich wieder empor, tastet mit dem Kopf nach allen Seiten, ob nicht wenigstens schon ein Blättchen aus dem Stamm kommt, das ihr als Wegzehrung dienen kann.
Da gehen ein paar Backfische untergefaßt und schnabbern, daß die Zöpfe nur so tanzen. Furchtbar-wichtiges: ›Ja wirklich – das hat er mir gesagt!‹ hörte Fritz Eisner. ›Findest du das nicht himmlisch-frech von dem Süßen?!‹ ... Liebe Jugend das!
Sogar Kinderwagen betrachtet Fritz Eisner und zieht Parallelen zwischen den Inhalten untereinander, und außerdem noch mit jenem, der ihm zugefallen war. Die anderen schneiden dabei sehr, sehr schlecht ab. Kinderwagen sind sonst etwas sehr Gleichgültiges. Und Männer pflegen im allgemeinen wenig auf Kinderwagen zu achten. Aber Fritz Eisner stellt fest, es gibt davon sehr verschiedene Sorten: lautlose auf Gummirädern, und andere mit breiten Eisenreifen wie Bierwagen; solche mit rosa Decken und solche mit blauen; es gibt plumpe und schwere, ächzende und knarrende mit viel Weidengeflecht; und dann wieder gibt es ganz elegante und flache, geschwungene aus Lack, wie Kaleschen, solche, die auf hohen Federn wippen wie Schiffsschaukeln. Aber die sind wohl mehr im Westen oder nach dem Grunewald hin zu Hause. Hier sind sie eine seltenere Varietät. Und sie leben meist in Gemeinschaft mit einer englischen Nurse, die ältlich, aber unfehlbar ist, und eine Tracht hat, die die Mitte hält zwischen einem Dominikanerpater und einer Heilsarmeeschwester. Es gibt nebenbei auch unechte aus Hamburg. Hier draußen sind die Kinderwagen einfacher. Warenhaus ... nicht Spezialgeschäft: sechshundert Modelle! Auch die Begleitung ist weniger stilvoll in der Verpackung. Dafür meist draller, hübscher, lachender, rosig-verlangweilt, mit bunten Kattunblusen und weißen, gestärkten Schürzen. Dahinten drüben kommt zum Beispiel gleich wieder solch ein Wagen an! Einfach, sehr mäßig, sogar plump. Ohne jede sympathische, modernere Linie. Aber was es so langsam vor sich herschiebt, ist dafür ... ›ach, L. D. und Pauline! Um Himmelswillen, nicht über den Damm kommen. Nein, nein, ich komme schon lieber!!‹
Little Dorrit saß in ihrer Kutsche und sah sich die Welt an, und begleitete die verschiedenen wichtigen Erscheinungen, wie Hund und Pferd eine Weile mit den schwarzen, sehr großen und runden Augen, und ermunterte sie mit freundlichen, wenn auch für den Fremdsprachlichen schwer zu deutenden Ausrufen, doch in ihrer sie belustigenden Wesenheit fortzufahren. Phantasiebegabte Wesen, wie Pauline, hörten dabei Hottho und Wauwau heraus; aber man hätte es mit der gleichen Berechtigung als Ketschewajo und Kalakaua deuten können. Doch als Pauline nun rief, wo ist denn Pappa? – (sie leitete das Wort von Pappe ab) suchte L. D. zuerst unbefriedigt nach ihm unter ihrem vierfüßigen Klientel, aber blieb dann mit wachsendem Erstaunen auf der Gestalt dieses komischen Angestellten ihres Hauses haften und begann laut über ihn zu lachen und in höchsten Tönen zu gakeln und mit aufgerissenem Mund, in dem zwei einsame Zähnchen wie kleine Perlen auf rosa Sammet lagen, ihre freudige Verwunderung kund zu tun, daß er mit einemmal gerade hier wäre, statt in dem Zimmer, wo er sich doch nach Kontrakt und Übereinkunft zu befinden hätte.
Und sie zog diesen Angestellten, der ihrer Meinung nach viel dummer, plumper und gutmütiger als die anderen war, und deswegen wohl zu ihrem näheren Dienst nicht zugelassen wurde, höchstens mal einen Augenblick aufpassen durfte, daß sie nicht vom Wickeltisch fiele, und einmal stubeauf stubeab sie tragen durfte, wenn sie schlechter Laune war und mit ihrer Umgebung schimpfte (was er nebenbei nur unter ängstlichen Gebärden und ziemlich ungeschickt tat) – den zog sie, wie um ihre Macht zu beweisen, zur Begrüßung, als er sich über den Wagen beugte, an den Ohren und riß ihn an den Haaren, war aber dann doch ganz zufrieden, als sie seine Hand bekam, und mit einer ihrer kleinen Patschhände den Zeigefinger, und mit der anderen den kleinen Finger umkrallen konnte, und so die ganze Hand auf und nieder schlenkern konnte und damit auf die rosa Decke klopfen durfte ... während sie Pauline ganz langsam und fast unmerklich weiterkarrte ... und während die höchst amüsante Welt mit Hotthos, Wauwaus und Puffpuffs ebenso langsam vorüberzog.
Pauline liebte L. D. sehr, weil sie wohl geschaffen war, Mutter zu sein, aber es bisher zufällig noch nicht geworden war. Und das ließ sie mütterlicher sein, als eine Mutter je sein kann, wie sie so rosig, lächelnd und glücklich, besorgt und zugleich schamhaft zu Little D. herunterblickte ... Vielleicht ist das überhaupt das letzte Madonnengeheimnis: Die zukünftige Mutter, die ihre Sehnsucht in ein fremdes Kind hineinträumt. Nachher, wenn sie selbst erst welche hat, fehlt meist die Beseelung des unerfüllten Wunsches.
Pauline bog in einen der seitlichen Lindenwege ein, er war anders als die Rüsternwege, war breiter, laubüberdacht, sammetiger im Grün oben und unten mit fast verwachsenen Fußsteigen, trotz der Pflasterung auf den Dämmen.
Grundstücke, Schuppen, Ketten von Buschwerk, Teufelszwirn und Ligusterhecken ... ein Hügel von tausend ausgequetschten Zitronenschalen und Abfällen ... Hühner marschierten ernsthaft an Drahtzäunen, suchten nach dem Durchschlupf ... Bretterbuden waren mit Eimerböden benagelt ... grüne Plätze von Fußballmannschaften hart wie eine Tenne gestampft ... Ein Stukkateur zeigte seltsame Bauteile und alte, halbzerschlagene Karyatiden. Auf einer Pyramide von verbeulten Blechfässern und einem Berg verrosteter Sprungfedern kletterten Kinder – also Fritz Eisners Kinder dürften das nie tun (das gibt nur Lokalnotizen!) – und gerade davor schlief auf der Seegrasfüllung einer einstmaligen Matratze ein schwarzer Kater zusammengerollt in der Sonne. Eine Baustelle daneben war ganz verlassen, nie weiter gediehen. Es hätte nicht einmal den Arbeitslohn getragen, wenn man die Klamotten wieder abgefahren hätte. Es kriselte schon lange im Baugewerbe (es war zu viel gemacht worden, es gab ja bald mehr leere Wohnungen als volle hier draußen). Und die ausgeschnittenen Gruben waren nun nie mehr gefüllt worden, Fundamente lagen bloß, einzelne Mauern standen, ein paar Wände sogar waren schon weit über Manneshöhe aufgeführt, mit den Einschnitten für Fenster und Türen ... es sah aus, wie ein Übungsfeld für angehende Archäologen. – ›Unter dem ehemaligen Hera-Tempel hat man jetzt die Reste eines Heiligtums bloßgelegt, das voraussichtlich der Astarte geweiht war!‹ – viel anders präsentiert sich dann solche Sache auch nicht. Und mitten in diesem Wirrwarr, aus diesem Kehrichthaufen der Großstadt wuchs plötzlich, spitzwinklig wie ein Plätteisen, ein ganz einsam stehendes quer geschnittenes Eckhaus heraus, das wie ein Schiffsschnabel einem entgegenstampfte. Wer mochte in den Wohnungen mit den Tortenstücken von Zimmern wohl hausen? Ein Kornfeld schnitt mit seinem Grün fast bis an den Straßenrand. Schon recht hoch das grüne Korn! Man muß mit ihm leben, um das zu wissen. Eigentlich ist man doch jedesmal erstaunt, wenn's plötzlich zu gilben anfängt ... ist es denn schon so weit? also muß doch auch wahrhaftig Sommer gewesen sein! ... Schmale Wege sind hineingetreten in das Halmgewirr ... für nächtliches Glück.
Aber plötzlich bog Pauline ab, und da war man schon in der Gärtnerei.
»Hier kann ich L. D.«, Pauline sagte das auch schon, trotzdem ihr eigentlich, als einem Dienstmädchen, solche Vertraulichkeiten nicht zukamen (Distanz muß sein!) »nämlich ruhig ein bißchen ins Gras setzen. Es sind keine anderen Kinder da, wie auf dem Spielplatz, und sie kann sich nicht anstecken. Und Herr Leonhard freut sich so mit ihr; er will sie immer gar nicht fortlassen.«
Fritz Eisner meinte, ob das nicht eher Pauline gelte. Aber da kam schon Herr Leonhard, wieder in hohen gelben Stulpen und in einem Arbeitsdreß, wie der Gärtner seiner Lordschaft nicht einmal in Wahrheit es trägt, sondern nur in »The Illustration« auf dem Leibe hat, allwo auch Arbeit der elegante Sport eines Gentlemans ist, und weder schwielige Hände noch schmutzige Kleider macht. Und Herr Leonhard begrüßte Fritz Eisner mit jener weltmännischen Geste, die ihm eigentümlich war. Ein hübscher, schlanker Mensch, aber doch blaß dabei, eigentlich wenig verbrannt und nervös; ständig mit einem leichten Zucken des Mundes, während er sprach, und sogar während er schwieg. Bei Tage hatte ihn ja Fritz Eisner noch nie recht gesehen. L. D. aber war ganz außer sich vor Freude und strampelte ihm mit Armen und Beinen entgegen, warf sich ordentlich im Wagen hoch, daß sie um ein Haar über Bord gekegelt wäre.
Was war hier im Sand, zwischen Baustellen, verwahrlosten Feldern und Gerümpel gemacht worden! Ein kleines, schwedisches Holzhaus, mit Teppichbeeten davor und ganz von den Ranken frühblühender Rosen umzogen; ein riesiger Bernhardiner daneben vor seiner Hütte, solch einer, der es unter seiner Würde hält, zu bellen, und der nur japsend seine Zähne zeigt ... lange Treibhäuser dann, ein Gemüsefeld, sauber abgesteckt und saftig grün, in dem zwei alte Frauchen mit großen weißen Leinenhauben schafften, und ein Gärtnerbursche ganz in blauem Drillich mit Holzschuhen, wie auf Gemälden von Liebermann, wie in Holland fast. Und dann auf schwarzem Boden, in großen Arealen alles, was nur blühen konnte: Tulpen, farbige Anemonen, sogar Hyazinthen, Muskari, Schachblumen, Tazetten, Levkoien und früher Sommerflor schon, alles in einzelnen Feldern und genau nach Farben in Streifen geteilt, so wie ein ängstlich penibler Miniaturmaler sich die Farben nebeneinander auf die Palette streicht. Und alles das in der hellen, weißen Nachmittagssonne. Dahinter aber die Weite eines blaugefegten Himmels, der mit hundert Augen durch Bäume und hohes Buschwerk sah. Das Merkwürdigste jedoch war ein breiter Streifen richtiger Wiese mit Margeriten, Ampfer, sogar blauer Salbei, der das ganze Grundstück umzog. Wie das alles hierhin geweht war, verstand Fritz Eisner nicht. Es war ihm, als wäre er plötzlich, wie der kleine Kare in der »Schneekönigin«, zu der alten Frau mit dem schönen Garten gekommen, der das ganze Jahr blühte ... zu jener, die zwar etwas zaubern konnte, aber die es nur zu ihrem Vergnügen tat.
Herr Leonhard führte herum (auch den Keller mit der Champignonzucht unterschlug er ihm nicht); aus Belgien, aus Holland, aus Frankreich war fast alles gekommen hier; neueste Züchtungen dabei. Mit manchen mache er erst nur Versuche, ob sie hier fortkämen, hätte sie nur probeweise jetzt aus dem Kalthaus ins Freiland gesetzt. Er führte durch die Häuser, die schön besetzt waren, und von Glastür zu Glastür wärmer, dumpfer, feuchter wurden, bis endlich mit dem Ton von Silberschellen von den Blatträndern der Palmen und Araceen die Wassertropfen kluckerten, fast wie in einem botanischen Garten. Kateleyen, Zypripedien, Odontoglossum blühten wie Blumen gewordene Tropenfalter, ganz sinnlich und ganz porzellanen-kalt dabei, viel zu vornehm für den Norden. Und endlich führte er Fritz Eisner in das Holzhaus, in eine Hall mit Bibliothek, amerikanischen Eichenmöbeln, auf denen Lederkissen lagen, Toulouse Lautrecs in schmalen Leisten an den Holzwänden, ... und mit Hebraschen Kleinbronzen auf den niederen Bücherregalen. »Keinen Tee?« sagte er – »dann nehmen Sie wenigstens einen Kognak und eine Zigarette. Ich kann Ihnen beides empfehlen; denn es ist beides nur für meine Gäste.«
»Hören Sie, Herr Leonhard«, sagte Fritz Eisner (bei dem Wort Leonhard ging ein leises Lächeln über das Gesicht des anderen, aber er war viel zu gut erzogen, um etwa die Illusion zu stören und zu sagen, daß nur Pauline das Recht hatte, ihn so zu nennen). »Sie sind doch kein Gärtner!« Das war sehr plump, aber es entfuhr ihm so.
»Oh«, sagte Herr Leonhard, »ich bin es doch! Oder meinen Sie, daß ein Nichtfachmann diese Gärtnerei hier aus dem Nichts – selbst mit großen Mitteln! – hätte schaffen können? Aber Sie mögen recht haben, wenn Sie meinen, daß ich nicht immer Gärtner war. Ich bin's erst seit fünf Jahren, seit meinem ersten Anfall. Was ich früher war, ist gleichgültig. Sicher ist nur, daß ich das nicht mehr sein kann. Ich muß ständig in freier Luft leben. Und Sie sehen auch, das, was ich jetzt mache, ist ja ebenfalls ganz hübsch. Und man weiß da wenigstens zum Schluß, was man geschaffen hat. Man kann solche Arbeit genau so lieben, wie jede andere!«
Fritz Eisner war aufgestanden, betrachtete stumm die Bücher, Grabbe, Lenz, Büchner, Leuthold, viel Franzosen, Huysmans, Mallarmés, Verlaines, Namen, die Fritz Eisner nie gehört hatte, wie Rimbaud, Philippe, Remys de Gourmand ... herrliche Ausgabe von Napoleons Werken, Dostojewski in langen Reihen ... und so fort. Er war im Bilde: das war mehr als eine Visitenkarte.
»Sehen Sie«, sagte Herr Leonhard, »da ich keine Werke schaffen kann wie dieser Leidensgenosse hier«, – er wies auf die Dostojewskireihe – »und kein Europa erobern will, wie der da« – er zeigte auf die stolzen Einbände mit den goldgepreßten Adlern im roten Saffian – »so halte ich es eben, solange ich noch mir selbst und anderen nicht gefährlich werde« (er deutete auf ein altes ledernes Bändchen von Voltaires ›Candide‹) ... »mit dem da: il faut cultiver son jardin ... und es geht auch.«
»Das Wort«, sagte Fritz Eisner, »habe ich schon einmal von einem anderen Amateurgärtner gehört – von einem Doktor Fischer.«
»Doktor Fischer!« meinte der andere nachdenklich – »War das etwa der bekannte Potsdamer Züchter? ... Ja?! Ist er nicht schon tot ...?«
»Gewiß ... wohl sechs, sieben Jahre etwa schon.«
»Also – genug ... für die Welt und Pauline bin ich jetzt eben Herr Leonhard und der Gärtner. Ich bin glücklich dabei, soweit ich das eben sein kann. Und zum Schluß ist es eine Spielerei, die für den Sohn eines Bremer Reeders sogar billig ist. Ich habe Freunden von mir früher viel mehr Geld für viel größere Dummheiten durch die Finger gleiten sehen. Aber sagen Sie, Herr Eisner – ich weiß natürlich viel mehr über Sie, als Sie über mich – nur eine Frage: wie kommen Sie zu dieser Pauline? Die Erde hat anderthalb Milliarden Einwohner, aber sehr wenige Menschen, Sie haben Glück gehabt, daß Sie für L. D. – verzeihen Sie doch nur, daß ich so vertraulich bin – eines der wenigen reinen Exemplare dieser fast ausgestorbenen Gattung noch erwischt haben. Aber kommen Sie: wir wollen mal sehen, ob sie sich es da wieder auf der Wiese bequem gemacht haben. Es ist immer, wenn ich nicht von meinen Kopfschmerzen gepeinigt bin, meine glücklichste Stunde am Tag. Warum kann man nicht Kinder ebenso in Beeten züchten wie Tulpen!«
Richtig, draußen ... draußen auf dem Wiesenstreifen unter den herüberfallenden Schatten von den Linden der Straße und halb in der Sonne ... draußen saßen schon Pauline und L. D. Es war doch unvernünftig, das Kind so auf den Boden zu setzen ... aber nein, man hatte ihm eine große japanische Matte untergelegt, und auf deren Mitte wieder eine Wolldecke ausgebreitet. Und darauf kugelte sich, selig kakelnd, das Kind herum und schrie nach dem Bernhardiner herüber, der seiner Pflicht bewußt, einige Schritte davon Wache hielt, groß, braunrot und weiß und unbeweglich, mit dem mächtigen Kopf, wie aus dem Schokoladenplakat. Also daher L. D. rege Anteilnahme an allem Vierfüßigen! Und was L. D. vorgestern gelernt hatte, zu krabbeln, zu rutschen mehr, sich irgendwie rätselhaft zu bewegen – endlich tut das ein Regenwurm zwar auch, ohne daß wir genau sagen können, wie – das nützte sie nun reichlich aus. Und Herr Leonhard warf sich neben sie ins Gras ... auf der einen Seite der Matte und Fritz Eisner auf der anderen. Pauline aber hielt oben die Tete, saß schweigend da in ihrem weiten, buntbeblümten Faltenrock, selbst wie ein Stück Wiese, L. D. aber rutschte hin und her zwischen ihnen. Und wenn der eine sie umgeworfen hatte und mit ihr genug gealbert hatte, dann kroch sie zu dem anderen und verteilte unparteiisch ihre Freundlichkeit und das sonnenhelle Gequiekse ihres Gelächters, das deutlich sagte: ›Ich begreife gar nicht, wie ihr dazu kommt, euch über das Dasein immer so zu beklagen. Es ist doch eine sehr sympathische Angelegenheit. Da sind zum Beispiel so große grüne Dinger an den Bäumen, sehr viele, wie Fächer, die stehen gar nicht still, gehen ganz langsam hin und her. Und das Gelbe, warme Kuckeding da hinten, das sich gar nicht recht ansehen läßt, das spielt mit ihnen, macht hinter ihnen Mumm-mumm-Kiek-kiek. Siehste – jetzt versteckt es sich wieder, und jetzt ist es wieder da. Und nu ist's schon wieder weg. Und nun blinzelt's von neuem durch sie hindurch. Und darüber soll man etwa nicht lachen?‹ Und dann hat sie hier unten gleich lauter kleine Brüder, nicht größer als ein Schokoladentaler, ganz golden innen, und mit weißen Strahlen ringsum, und die kann man zum Beispiel auch in den Mund stecken, und dann schreit Pauline ›Pfui Baba, das Kind soll doch nicht ...‹ Und so etwas soll etwa nicht lustig sein? Was beschwert ihr euch eigentlich?‹
»Schade«, sagte Herr Leonhard plötzlich, »daß all unsere besten Freunde schon tot sind!«
»Wie?« fragte Fritz Eisner.
»Ja, wie habe ich als kleines Kind die Pferde, die Hunde, die Kaninchen, die Truthühner auf unserem Gut geliebt – leider gingen meine Eltern nur in den Ferien mit uns heraus – viel mehr, als ich heute irgend etwas zu lieben noch fähig wäre. Und davon ist doch nun nicht eines mehr vorhanden. Und die Blumen! Es gab da ganze Beete mit Verbenen und Lavendel, und die dufteten wie tausend alte Wäscheschränke. Neulich wollte ich Samen von dort mir kommen lassen, gerade von da, eben den, zwischen dem ich zuerst herumgestapft bin und die damals, wie die Bäume mich hoch überragten ... und da hieß es: man zöge es längst nicht mehr. Selbst unser Stolz, die tausendjährige Eiche, um die ich immer in den Ferien herumging – und jedes Jahr brauchte ich weniger Schritte dazu – die ist 1897 bei einer Sturmflut umgebrochen; gerade mich hat sie sich ausgesucht, um mir den Glauben an die Ewigkeit zu zerstören.«
Fritz Eisner, über den sich soeben L. D. hingestürzt hatte und ihm die Nase abzudrehen versuchte, da ein solches Ding erstens unschön und zweitens unnötig wäre, richtete sich hoch, um etwas einzuwenden, aber Herr Leonhard fühlte schon, was er sagen wollte.
»Gewiß!« meinte er und zuckte mit den Lippen, »Sie haben ja recht: die ewige Wiederkehr, oder sagen wir besser alles Leben, das in diesem Augenblick auf der Welt ist, ist gleich alt! Besteht von Urzeiten her. Es gibt für das Leben kein Heut und kein Gestern. Die Einzelerscheinung verweht wie der sprühende Funke bei der Rakete, spritzt ab; aber sie selbst steigt immer höher in den Himmel hinauf. Und doch: auch dieser kleine, verwehende Funke sollte ewig bleiben!«
Fritz Eisner ließ ihn sprechen, denn er fühlte, daß es ihn nur mehr erregt hätte, wenn er eingegriffen hätte, und daß jenem Erregung nur schaden könnte. Und auch Pauline, die wohl um seine Krankheit wußte, sah sehr weich und angstvoll zu ihm herüber.
» Eine Pflanze möchte ich nur noch einmal wieder sehen«, meinte Herr Leonhard ablenkend. »Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, daß man nach so etwas Sehnsucht haben kann. Es muß irgendeine Alpenpflanze sein ... es ist eine Sache, die mir bis heute nachgeht. Man erzählt so Geschichten ohne Pointe. In Paris gingen sie vor ein paar Jahren durch die Blätter. Und das ist auch vielleicht bloß so eine Geschichte ohne Pointe: ich fuhr einmal, das mag zehn, zwölf Jahre her sein, in der Bahn, ganz früh im Jahr, so zur Zeit der Anemonen und Primeln, kaum später. Und ich stand sehr gelangweilt am Fenster, der einzige im Abteil. Es war in Süddeutschland, unweit der Alpen im Jura, der Zug rutschte von Tunnel zu Tunnel. Ein Wässerchen, ein Stückchen Fels, Waldkuppen, noch tote Wiesen, ein paar Primeln, eine Staude grüner Nieswurz, ein Gelbling zwischen den ersten Weidenkätzchen, sonst noch kaum irgendwelches Leben. Plötzlich kam eine Schlucht, eine Verengung des Tals, mit steilen Felsplatten, die fast bis in die Fenster hereinhingen. Die Lokomotive schrie schon unangenehm auf, warnte vor dem Tunnel. Und da war es mit einemmal, hängend an der Kalkwand, wie ein großer Tuff, ein Rasen von dunklen, ganz dunkel-violetten Blüten, von einer Farbe zwischen Blau und Rot, so leuchtend, so tief, wie ich es nie wieder an einer Pflanze gefunden habe. Und ehe ich noch mein Erstaunen überwunden und genauer hingesehen hatte, war es dunkel um mich, und der Zug polterte durch die Nacht des Tunnels hin. Ich habe in Dutzenden von Pflanzenbüchern nachgeschaut, ob ich sie antreffe ... Es konnte das oder jenes sein ... Aber es ist es nicht. Und heute noch wenn ich nicht schlafen kann, habe ich stets diesen leuchtenden Tuff, der da auf der Steinplatte klebte, vor mir, und grübele darüber nach, ob ich es überhaupt wirklich gesehen habe ... oder ob ich es nur geträumt habe ... oder ob es meine erste Vision war.«
Fritz Eisner sah nach der Uhr. Es war höchste Zeit, wenn er Hannchen nicht warten lassen wollte. »Pauline«, sagte er, »gehen Sie aber mit dem Kind dann bald, ehe es zu kühl wird.« Und er zog ein letztes Mal L. D., die gerade wieder auf ihrer Rutschreise den für sie so langen Weg zu ihm herüber nahm, zu sich heran und schmiegte seinen Kopf an den ihren, freute sich, wie sie, wie ein Bärenjunges über ihn sich hinwarf, und ihm in die Haare und ins Gesicht patschte. So nah wie in dieser halben Stunde hatte er sich L. D. noch nie gefühlt. Erst jetzt hatte er die Empfindung, als ob sie ihm ganz gehöre, vorher – bis heute – war er von anderen Dingen zu okkupiert gewesen. Gewiß, es war stets etwas sehr Köstliches und sehr Weiches und sehr Erstaunliches gewesen, aber es war immer noch etwas Fremdes, was draußen stand, und an dem er draußen vorbeigegangen war.
Auch Herr Leonhard war aufgestanden. Und der Bursche in dem blauen Leinenkittel und den Holzschuhen war mit einer breiten, amerikanischen Bürste, so einem Strohbesen, wie ihn die Stiefelputzer haben, herzugelaufen, kehrte, ohne aufgefordert zu sein, an ihnen herum.
»Ihre Gärtnerei wäre früher der Traum meiner Nächte gewesen ... Herr Leonhard«, meinte er. »Nicht nur der Pflanzen wegen: aber hier an den Blüten müßte man herrlich Nachtfalter fangen können. Mit Schmetterlingssammeln habe ich meine besten Jahre vertrödelt.«
»Würde es Ihnen noch Spaß machen?« fragte Herr Leonhard, und suchte, sich bückend, mit den Augen ganz langsam, den Rand eines Mohrrübenbeetes ab. »Hier sehen Sie, das können Sie sich als Andenken mitnehmen!« Und damit riß er ein Blatt fort, an dessen zerschlissenen Fasern eine ganz große Raupe kaute, grün, dick und wie bucklig, und mit schwarzen Streifen überzogen, wie von Tonnenreifen, und mit gelben und roten Punkten gesprenkelt.
»Ach, das ist ja ein Machaon, ein Schwalbenschwanz! Warum haben die Zoologen gerade diesem Tier den Namen des Arztes aus der Ilias beigelegt!? Und völlig erwachsen – muß sich vielleicht schon morgen verpuppen. Eigentlich sehr frühzeitig. Aber wie soll ich sie denn mitnehmen?«
»Ich werde sie für Sie in ein Schächtelchen tun und sie Ihrer Pauline mitgeben, und sie soll auf dem Balkon ein Glas darüber stülpen, damit Sie dann das ewige Wunder der Psyche, der befreiten Seele, an ihr erleben können.«
Und an der Tür reichte Herr Leonhard Fritz Eisner die Hand. »Hören Sie«, meinte Fritz Eisner, »schicken Sie aber L. D. bald nach Hause. Und ich bin Ihnen dankbar, erstens, daß Sie sich des Kindes so annehmen ...«
»Dafür, daß Sie nichts dagegen haben, bin ich es, viel mehr als Sie ahnen können!«
»... zweitens, weil wir, was wir ja auch hätten tun können, kein Wort über Literatur und so gesprochen haben. Sie ist zwar ein wundervolles Surrogat, wenn man das Leben nicht hat. Aber man schämt sich dabei vor L. D., Pauline und der alten Sonne da oben doch etwas!«
An dem Nollendorfplatz wartete Hannchen schon, hell und rosig getönt in den halbschrägen Strahlen der Nachmittagssonne, die von der Kleiststraße in breiten Bündeln herüber kam. Hannchen hatte sich sehr jung, und sehr ... viel zu sommerlich schön gemacht mit einem hauchzarten, geblümten Battistkleid – die anderen hielten noch bei Halbwolle – und fast freien Schultern. Von den Abendstrahlen ließ sie sich die braungoldenen Haare durchwühlen, und von einer großen Strohwippe mit Blumen ließ sie ihre Augen beschatten, und spielte wieder mal englischen Farbenkupfer, das Blatt nicht unter zwanzig Pounds. Und sie schien sehr geeilt zu haben, denn sie war lieblich echauffiert, hübsch gerötet, und Fritz Eisner freute sich, sie zu sehen. Denn wenn es auch nur eine Schwägerin ist! – es ist doch immer nett, wenn eine Frau an der Hochbahn auf uns wartet. Und außerdem hatte Fritz Eisner wirklich für Hannchen bei all ihren Absonderlichkeiten und Unmöglichkeiten und Unzulänglichkeiten etwas übrig; nicht nur, weil sie ganz hübsch war, sondern weil sie zu dreiunddreißig Prozent sogar ›Wer‹ war, unverwechselbar mit anderen. Dieses ›Übrighaben‹ hat ja mit unserer Erkenntnis gar nichts zu tun, es ist mit ihm oft das gleiche, wie mit einem Schulaufsatz, unter den der Lehrer schreibt: Orthographie ungenügend, Thema nicht nach Vorschrift, Stil mittelmäßig, trotzdem: im ganzen gut! Und das letzte ist dann genau so unbestreitbar, wie das erste.
»Also, Hannchen, entschuldige mich, wenn ich dich habe warten lassen. Ich habe da noch einen sehr merkwürdigen Gärtner entdeckt, einen Gärtner aus Liebe, Sohn eines Reeders aus Bremen. Epileptiker von Beruf und deshalb Gärtner, wohl um sinngemäß leben zu können. Aber das erzähl ich dir alles ein anderes Mal. Jedenfalls spielt er immer in seiner Gärtnerei, das heißt auf Matten und Decken, die man über den Rasen legt, mit Little Dorrit, und scheint außerdem Pauline zu verehren, was seinem Geschmack ein gutes Zeugnis ausstellt. Und dann hatte er da eine kleine Bibliothek in seinem Häuschen, wie ein Halbgott. Also entschuldige, wenn ich zu spät gekommen sein sollte (passé indéfini).«
Und mit diesen Worten pendelten sie langsam unter die Unterführung in den Bogenbau hinein, um – es war ein ziemliches Geströme, wie stets um diese Nachmittagsstunden – sich an die Billettschalter zu kämpfen. »Ach, sieh mal«, rief Fritz Eisner, denn eben kam von drüben aus der Maaßenstraße ein gelbes Auto herausgeschossen, aber hier, wo die Sache nicht ungefährlich war, und die Schutzleute scharf aufpaßten, weil von allen Seiten die Wagen sich kreuzten, und alle Nase lang was passierte, mäßigte es das Tempo, und begann langsam weiter zu schieben ... denn wer kriegt gern einen Strafzettel? – »Oh, sieh mal, da kommt ja gerade dein vornehmer Herr Schwager! Vielleicht kann er uns mitnehmen, wenn er in die gleiche Gegend fährt, und wir sparen Geld und fühlen uns in unserem Ansehen gehoben.«
Aber das erste, was Fritz Eisner von dem Insassen erblickte, war eine Hand auf dem Rand des Wagens, über dem Schlag, wie sie die Familie Meyer seit siebenunddreißig Generationen nicht besessen hatte noch besessen haben konnte: Jeder Finger eine Dauerwurst, in der Mitte ein Blasenschinken, mit Ringen wie Armbänder. Sechs Hände hätte man gut daraus zuschneiden können. – Und alles, was dann kam, wie der Wagen etwas drehte, paßte dazu! Früher hatte der Wagen als Viersitzer gegolten, jetzt war er kaum noch als ein Zweisitzer zu bezeichnen. Man kann sagen, daß der Mann, der die Polster unter sich zu Papierblattdicke zusammenquetschte, zugleich rechts und links aus dem Wagen guckte, mit dem Gesicht einer Bulldogge. Es gibt für Kinder solche Ausschneidebogen, die doppelseitig sind. Aus solch einem Ausschneidebogen war er. Im Gotha standen seine Ahnen sicher nicht, höchstens im Gotha der Müllerstraße.
Fritz Eisner lachte. »Ich habe gar nicht gewußt, Hannchen, daß es zwei solche zitronengelbe Benz's in Berlin gibt«, meinte er.
»Das wird es wohl auch nicht geben! Aber ich glaube, mein Schwager hat sein Auto vorige Woche wieder abgeschafft.«
Fritz Eisner pfiff.
»Das heißt, er hat es wo mit in Zahlung geben müssen ... soweit ich davon etwas verstehe.«
»Ach so!« rief Fritz Eisner lachend, »also ein Kaiserliches Auto!«
Hannchen sah ihn entgeistert an.
»Na ja, ich meine, wenn wir es genau untersuchen würden, wäre sicher noch irgendwo ein Piepmatz darauf. Ach, und deswegen kam mir auch der Chauffeur vorn so bekannt vor! Das war ja der Gerichtsvollzieher Schmidt III vom Amtsgericht Mitte. Er hat sich nur den Vollbart abnehmen lassen. Bei mir ist er auch schon öfters gewesen.«
»Du, weißt du, mir ist die Sache gar nicht so komisch!«
»Nun, sage mal Hannchen, dein Herr Schwager und dein Herr Schwiegervater können ja tun und lassen, was sie wollen ... das war Sache von Egi, sich darum zu kümmern, wenn er glaubte, daß er geschädigt ...«
»Gott ja, es sah ja gar nicht so aus«, meinte Hannchen kleinlaut. »Es ging doch scheinbar sehr gut bis jetzt! Es hieß, es sollte noch bei Lebzeiten des Vaters jedem dreimalhunderttausend Mark ausgezahlt werden ... und er könnte sie im Geschäft lassen oder herausziehen, wie wir wollten. Ich sage immer nur das, was ich von meinem Jungen weiß. Wie es aber jetzt plötzlich kommt, daß Liebenthal alle, aber auch alle Wechsel, Akzepte, Forderungen und zweifelhafte Forderungen, von denen sie überhaupt nie etwas wußten, Konventionalstrafen, und was sonst noch für Fußangeln einen Bauunternehmer umlauern, mit einem Male in der Hand hat, das kann sich niemand erklären. Jedenfalls hat er sie und ist mit allem auf einmal da. Und die Technik, mit der er selber hochgekommen ist, das, was du immer das Defizitsystem nennst – ein Loch aufreißen, um ein anderes zu verstopfen – versagt plötzlich vollkommen ... vor zehn Tagen haben sie sich noch in eine G.m.b.H. umgewandelt, aber ob ...«
Sie waren nach oben gelangt, sich im Gewühle langsam die breiten Holzstufen emporschiebend, und immer wieder heruntergestoßen, von jenen die heim wollten. Da stand noch der Zug mit den letzten der Menschenknäule vor den Türen, und mit Allerletzten, die wild nachdrängten. Und Hannchen wollte auch zustürzen – das lag in ihrem Charakter ›ach sie käme immer mit, für so eine dünne Person wie sie‹ und so weiter ... Aber Fritz Eisner – das lag in seinem Charakter – hielt sie zurück: ... wozu drängen? Sie können auch mit dem nächsten Zug fahren. Und außerdem, wenn sie schon mal eine Fahrkarte zweiter hätten, könnten sie auch die zweite Klasse benützen. Hannchen könne sich ja dann einreden, sie säße im verstorbenen Auto ihres Schwagers. Denn es wäre da ebenso schön weich, ebenso schönes Leder, und ginge ebenso schnell. Also – man sollte warten! In spätestens sechs Minuten käme der nächste Zug heraufgekrabbelt.
Und damit nahm Fritz Eisner Hannchen unter den Arm und pendelte mit ihr den Bahnsteig entlang, an den hohen, mit bunten Plakaten beklebten, mit Schaukästen behangenen Holzwänden vorbei; sah mal die Bülowstraße herunter, wo sich von weither aus der Helle des anderen Bahnhofes lange, gelbrote Züge heranschoben, erst klein, langsam, ganz leise, dann schneller, polternder, rauschender ... und wenn sie nahe waren, hatte man das Gefühl, sie wollten sich auf einen stürzen und einen fressen ... und wo hinten eine jener erschütternd-schönen Backsteinkirchen den Blick abschließt, die sicher sehr stilecht ist ... doch dafür so gleichgültig ist, daß man nicht mal ihren Namen behält; aber Weine und Kirchen sind eben selten gut, wenn sie neu sind ... und er drehte dann wieder nach der anderen Seite, der Sonne entgegen, die von der breiten Schlucht der Kleiststraße her mit himbeerfarbigen Strahlen langhin durch die Halle fiel ... es war lustig zu sehen, wenn dann unten aus dem Mauseloch der Zug heraufkam und seine Augen schon glühten, eine Weile bevor er selbst aus der Höhle gekrochen kam; und wie er sie dann ganz plötzlich – gleichsam mit einem Ruck – vor dem Tageslicht schloß.
»Höre mal, Hannchen, verzeihe, wenn ich immer noch lache. Es ist brutal; aber ich muß bei so etwas lachen, instinktiv, sowie man lacht, wenn man jemand stolpern oder hinfallen sieht: Aber das wird ihnen beim Signore Liebenthal gegenüber ungefähr ebensoviel nützen, wie es dem Igel nützt, wenn er sich vor dem Fuchs zusammenrollt ... er stupft ihn mit der Pfote ins nächste Wässerchen, und frißt ihn dann auf. Oder er macht sogar noch ganz was anderes: er improvisiert das Wässerchen, wenn gerade keins in der Nähe ist. Aber dein Herr Schwager hat ja ein wunderschönes Andenken an Herrn Liebenthal, eine weiche lederne Zigarrentasche mit goldenem Monogramm – nach den Berichten deiner Mutter. Hoffentlich geht die nicht auch den Weg über den Gerichtsvollzieher Schmidt III vom Landgericht Mitte. Aber soweit ich davon Kenntnis habe, braucht er beim Manifestieren nur zu beschwören, daß er nichts besitzt, als das, was er bei sich trägt, und solch Zigarrenetui trägt er doch bei sich ... aber das Juristische wird dein Egi dir viel besser sagen können.«
»Hör mal, Fritz, du bist roh«, rief Hannchen. Aber sie mußte auch lachen. »Trotzdem – du hast recht! Weißt du, Egi hat auch schon gesagt, die soll er nur hoch in Ehren halten. Es wird das teuerste Andenken seines Lebens werden. Dafür hätte er sich und uns: zehn Automobile, fünf silberne Tafelaufsätze und ein hübsches Landhaus mit Einrichtung kaufen können. Und für den Rest hätten wir noch alle zehn Jahre angenehm und ohne Sorgen leben können.«
»Ja, aber Hannchen, habt ihr denn wenigstens dein Geld wieder herausgezogen, oder ist das irgendwie gesichert?«
»Gott!« meinte Hannchen, »ich als Frau verstehe ja von solchen Dingen nichts; aber Egi wird das schon sichergestellt haben. Wozu ist er denn Jurist?«
»Na, habt ihr es denn wenigstens als Hypothek wo eintragen lassen, oder habt ihr mindestens eine Quittung?«
»Aber hör mal – man kann doch bei den Eltern wirklich nicht so nach Schema F verfahren. Und endlich ist er doch Egis Bruder, und anständig ist er auch!«
»Das wird gewiß nicht bezweifelt, geliebtes Hannchen! Aber weißt du, eigentlich habe ich über Brüder nur einmal ein richtiges Urteil gehört! Da war ein kleiner Junge, damals bei meiner Zimmerwirtin in Friedenau, vor zehn Jahren. Und die Wirtin erwartete das zweite Kind. Und da fragte ich den Kleinen, er war eben zwei Jahre geworden, ob er denn noch ein Schwesterchen oder ein Brüderchen haben wolle – und da sah er mich groß und tief erstaunt über meine Dummheit an, und sagte weiter nichts wie: Bruders hauen!«
Hannchen lachte. »Das könnte mein Lulu auch gesagt haben.« Aber in Wahrheit gab Lulu gar nicht solche tiefen Lebenswahrheiten zum besten.
Indes waren sie wieder an dem Bahnhofsende nach der Kleiststraße in ihrem Auf und Ab angelangt. Und sahen nun beide ziemlich interessiert nach dem großen Mauseloch da unten, aus dem dieser Tatzelwurm hochklettern sollte, als plötzlich Fritz Eisner ein Schreck durch alle Glieder zuckte, als ob ihm von jemand, wie bei Conan Doyle, die Hand auf die Schulter gelegt würde: »Sie sind verhaftet!« Und es ging ihn doch eigentlich gar nichts an. Aber es war sehr peinlich. Drüben, auf der anderen Seite nämlich, waren in diesem Augenblick, langsam und lachend, Egi und Lena Block hochgestiegen. Sie gingen nebeneinander, sogar ein Stück entfernt voneinander, hielten sich nicht angefaßt; aber sie berührten sich heimlich, das sah man, das fühlte man, mit den Spitzen der kleinen Finger ihrer seitlich-weggereckten Hände, stellten einen elektrischen Kontakt mit überspringenden Funken dar. – Wenn sie nur Hannchen nicht bemerkte!
Lena Block hatte ein maulwurfsvolles Seidenkleid an, und Egi trug dazu ihr lichtes, breit gestreiftes Seldencape, von der bunten Kühnheit eines Markisenstoffes aus dem Kurhaus von Biarritz über dem Arm (›wie der Kritiker von Whistlers‹ dachte Fritz Eisner). Und beide lachten. Egi hatte es ihr wohl eben erst mit Mühe entrissen. Er war ganz losgebunden jetzt, er schlug ein Pfauenrad, alles, was er an Geist und Witz hatte, zuckte über sein Gesicht.
Hannchen sah gerade unverwandt nach dem Schacht der Untergrundbahn hinüber ... hatte sie sie wirklich nicht bemerkt, oder wollte sie sie nicht sehen? ... und Fritz Eisner wandte sich ganz kurz um und zog Hannchen, die an seinem Arm hing, mit sich, schlenkerte sie einfach so herum, wie das Kinder tun, wenn sie ›untergefaßt‹ spielen, und wies auf die Holzwand. »Hast du das letzte Morgenpostplakat von Edmund Edel gesehen, Hannchen? Ich finde, es ist sehr großzügig und lustig. Die sollte man eigentlich sammeln.« Und er begann Hannchen an Hand dieses Plakates einen Vortrag über die »Kunst der Straße« oder die »Straße für die Kunst« zu halten, denn er glaubte noch an das Plakat ... jonglierte mit Namen, wie Cheret, Grasset, Steinlen, Metivet, Nicholson, Toulouse-Lautrec, erklärte Technisches, und war doch selig, als er plötzlich hinter sich den Zug rauschen hörte, und als er dann neben Hannchen wirklich auf den roten Ledersitzen saß.
»Siehst du, oben das Fenster, das vierte im zweiten Stock? Fällt dir an dem etwas auf? Gott, es ist auch nichts besonderes ... hinter dem ist mein Vater und eine Schwester von mir gestorben. Aber das Leben ist wohl dazu da, bringt es mit sich, daß die nächsten Menschen von uns weggehen.«
Schon tat es Fritz Eisner leid, daß er das gesagt hatte, denn er empfand, daß Hannchen ernst wurde. »Gott«, sagte sie und hustete plötzlich kurz und tief auf: »mir geht es doch jetzt wahrhaftig schlecht; und jedem, dem ich das sage – ob meine Mutter oder Egi – der erzählt mir, daß es ihm noch viel miserabler geht, und verlangt, daß ich ihn bemitleide. Und da spreche ich nun schon lieber gar nicht mehr davon. Weißt du, Fritz, Gott sei Dank, daß mein Junge heute in der Bibliothek ist, denn, wenn der uns vorhin auf dem Bahnhof gesehen hätte, wie wir da untergefaßt auf und ab gegangen sind, der hätte mir wieder mal gründlich die Hölle heiß gemacht. Erinnerst du dich noch an das Konzert von der Lili Lehmann? Wie wir da nach Hause marschierten, und du mit mir untergefaßt gingst? Da hat er mir noch wochenlang nachher eine Szene über die andere gemacht!«
»Na«, meinte Fritz Eisner, »das ist ja nun schon eine ganze Weile her!«
»Ach!« rief Hannchen, »das ist noch genau so, wie früher! ... Aber ich darf ja eigentlich nicht darüber sprechen: ... es gehen große Sachen vor! Es ist noch höchstes Geheimnis. Aber eher ›ja‹ als ›nein‹. Eine sehr gute Angelegenheit. Man muß aber noch ganz still davon sein. Denn, wenn's aufkommt, ehe es fertig und abgeschlossen schwarz auf weiß steht, dann machen die Gegner von meinem Jungen sicher etwas, um es zu verhindern. Es scheint sogar, als ob sie schon Konterminen gelegt haben!«
Fritz Eisner sah einen Augenblick vor sich hin. »Ach so«, sagte er dann, »ich verstehe: Professor Toxeira. Egi soll nach Cordoba eine Berufung bekommen? Na, vielleicht sehr gut für ihn! ... sogar vorzüglich!! ... das beste, was man ihm und euch nur wünschen kann!!! Da wird er dann später wenigstens für euch mal sorgen können!«
Hannchen war wie erschlagen, atonitus – vom Donner gerührt. »Woher weißt du denn das schon wieder?«
»Ach Gott, das war doch nicht so schwer zu erraten. Ganz einfach: weil, weil, weil dieser Rasta mir neulich auf der Straße von Egi vorgestellt worden ist. Und was soll er denn sonst von Egi wollen, oder Egi von ihm?«
»Siehst du«, sagte Fritz Eisner, als er ausstieg. Er fühlte, daß er etwas reden müsse, um Hannchen über die nächsten Minuten hinwegzuhelfen, denn so dumm war ja doch wohl Hannchen keineswegs, daß sie nicht empfinden sollte, daß sie nicht zum Tee, sondern zum Arzt gingen. Und zwar in einer bitterernsten Angelegenheit. »Siehst du, ich habe recht. Berlin ist gar keine Stadt, sondern ein Katalog von Städten. Du brauchst dir nur dieses fremde Gewühl und diese fremden, gehetzten Gesichter hier zu betrachten – das ist zum Beispiel zweites Geschäftsviertel einer mittleren amerikanischen Großstadt. Das erste ist eleganter. Ich habe eigentlich nie begriffen, woran die Leute hier merken, in welcher Jahreszeit sie leben. Gott, ja, wenn Schnee auf dem Asphalt liegt, wird es Winter sein, und wenn die Stiefelsohlen am Asphalt hängen bleiben, Hochsommer. Aber erstens ist das doch nur ein paar Dutzend Tage im Jahr. Und wie es sonst festzustellen ist – das möchte ich gern wissen. Ich meinte immer, man könnte es nach dem Inhalt der Blumenkörbe der Frauen an der Ecke bestimmen. Aber das ist auch seit dem Gotthardtunnel und dem Simplon sehr unsicher geworden. Und dann – das sind ja auch meist nur Treibhausrosen oder Rivieraveilchen, und höchstens mal getriebene Maiglöckchen aus den Kühlhäusern. Damit kann man für den Kalender gar nichts anfangen. Oder wenn etwa ›Fr... Maibow...le!‹ oder ›Riesen-Oder-Krebse‹ dransteht – gewiß: das sind immer die Monate ohne R. Trotzdem auch das ist doch noch eine ziemlich ungenaue Zeitbestimmung.«
»Ich hab's! An den Schaufenstern sieht man's!« rief Hannchen.
»Das stimmt auch nicht. Wenn man gerade zu Puppenlappen friert, ist sicher das Fenster mit den neuesten Frühjahrshüten dekoriert. Und wenn man sich stückweise auflöst, wie ein Butterschaf bei Reichelt in der Auslage, steht ebenso sicher halb Sibirien und Alaska als Pelzgarnituren im Fenster. Oh, sieh mal, ich glaube, dort drüben wohnt schon Lucie! Ganz nett – aber ich habe bei solchen Häusern immer das Gefühl, im ersten Stock muß jetzt ein Vegetarisches Restaurant sein!«
Aber es gab durchaus kein Vegetarisches Restaurant. Es war ein Riesenbau, ein stolzes Gebäude geradezu. Ich bin der Überzeugung, der Erbauer hatte es dem Stil nach für Barock ausgegeben. Und es war gewiß einst für große, vornehme Zehn- bis Zwölfzimmerwohnungen mit Speisesaal gedacht. Vor fünfzehn Jahren, da es aufgeführt wurde, und über und über mit Karyatiden, mit Eisenbalkons und tubablasenden Mädchen in Schurzfellen (immer paarweise und bilateral-symmetrisch gruppiert) benagelt worden war ... und da es zwischendurch mit Putten behangen worden war, die auf Tüchern die Fensterbekrönungen herabrutschten, wie nach Tacitus die alten Germanen auf ihren Schilden die Schneeberge. Und da es außerdem mit einer Sammlung nautischer Instrumente und anderer leichtverständlicher Symbole beworfen worden war – womit beiläufig eine Kuppel wie eine Sternwarte (denn es war ein Eckhaus) trefflich harmonierte. So damals!
Jetzt aber war es in gleichem Maße, wie es als »Objekt« wertvoller geworden war, eigentlich vernachlässigt. Und während es erst über den Läden, nur für große und sehr reiche Mieter gedacht war, hatte einen Stock nach dem anderen der Merkantilismus in jedweder, auch der freiesten Form sich zu eigen gemacht.
Es hätte zum Schluß genügt, daß unten ein Kunstladen – auch echte orientalische Teppiche und Elfenbeinschnitzereien – wie behauptet wurde, eine »Moderne Gemäldegalerie« war, mit stürmischen bleigrauen Fjorden, spinatgrünen Buchenwäldern und neckischen Begegnungen zwischen freundlichen Postboten und freundlicheren Schnitterinnen. Und mit Dackeln, wie mit Foxhunden – damit jeder, auch der verwöhnteste Geschmack zufriedengestellt würde ... ein Kunstsalon, vor dessen Auslage man tief bedauerte, daß die Erfindung der Malfarben uralt ist und nicht erst der Zukunft vorbehalten bleiben sollte. Es hätte ferner genügt, daß daneben ein »Automat« die synthetische Ernährung des Menschen vorweg nahm, und daß rechts davon in einem anderen Schaufenster, das schwarz wie eine Grabkapelle ausgeschlagen war, sich bei geheimnisvoller Unter- und Seitenbeleuchtung kleine Karussells mit überwältigenden Schmuckstücken (ich zahle dem tausend Mark, der sie von echten Steinen unterscheidet!) Tag und Nacht wie blödsinnig sich drehten. Es hätte gar nicht im ersten Stock noch ein Institut für Schönheitspflege (so sah ich aus – so sehe ich jetzt aus!) sein müssen, und auf dem gleichen Flur ein Detektivbureau, Spezialität: Ehescheidungen, und darüber das juristische Warenhaus von siebenzehn Rechtsanwälten, die ihr Machtbereich über ganz Berlin verteilten. Von den Wohnungen waren eigentlich nur zwei übrig geblieben. Die eine galt als »Vornehmes Fremdenheim«. Doch schien die Polizei manchmal anderer Ansicht zu sein. Und in der anderen wohnte Doktor Spanier. Doch auch ihm hatten schon die »Vereinigten Nordschlesischen Syenitwerke G.m.b.H.« ein Rittergut als Abstandssumme geboten.
Der Aufgang hatte gewiß auch mal als sehr vornehm bestehen wollen. Rot und Gold. Aber jetzt war er heruntergekommen, wie eine polnische Gräfin.
Eine breite Tür, eine ganze Holzwand von Türen. Und ein Diener öffnete. Frage, »Sind Sie bestellt?« Und als Fritz Eisner lächelnd abwinkte, wollte er ihnen eine Art Garderobennummer aushändigen ... »Nein, wir möchten zu Frau Doktor.«
»Oh«, sagte er, »ich wußte nicht, daß Sie die Herrschaften sind, die zum Tee erwartet werden.« Und dann steckte am anderen Ende des Korridors Lucie ihr schmales Köpfchen samt Augen und Löckchen durch die Tür und fragte sehr leise »Paul, sind noch Patienten da?« und dann leiser: »Sagen Sie es unauffällig dem Herrn Doktor!«
Wirklich – Lucie hatte es schon sehr nett sich gemacht! An Geschmack fehlte es ihr ja nicht. Große Zierschränke, helle Hölzer, tiefe Sessel, kleine Tische, Teewagen, Blumen, ein Ispahan Rotfond, zwar neu, aber doch nach gutem Vorbild, ein paar große weiße Porzellantiere – Hochzeitsgeschenke waren vermieden oder schon ausgemerzt. Ein paar Studien von leidlicher Frische an den Wänden. So war man eingerichtet, wenn man soundsoviel Geld in die Ehe brachte, sich einer gewissen Modernität befleißigte, nicht extrem gerade war, und sich sagte: später will ich das ausbauen! Nehmen wir es einmal als Grundstock. Und wenn es mir nicht gefällt, oder etwas anderes modern wird, schaffe ich es ab und nehme das andere. Vielleicht kann man auch einmal einen Empiresalon oder gar einen Louis-seize-Salon kriegen. Ich hätte ihn ja gleich genommen, aber die Schwiegermutter hat gesagt: man kauft nicht alte Möbel, wer weiß, wer mal drin gewohnt hat! Also es war ganz hübsch, auch sicher sehr teuer, wohnlich, warm, bequem; gerade nicht Massenware ... aber doch etwas provisorisch. Und Lucie war inmitten ihrer Dinge wundervoll aufgemacht. Fast zu gut für einen simplen Nachmittag en petit comité. Ein raffinierter, meergrüner Foulard, kleines Schleppkleid und dazu große Jadeplatten auf dem Oliv der Haut und Jadeperlen im Haar. Wirklich, sie war reizend und überraschend, noch mehr Gepard, noch mehr Ginsterkatze, als sonst. Es war, als ob sie Kleid und Schmuck nur nach den Augen gestimmt hatte.
»Ho!« sagte Fritz Eisner, »hätte ich gewußt, daß Sie uns so feierlich nehmen ...«
»So hätten Sie mich schon jeden Nachmittag gesehen, den Sie eher gekommen wären!« sagte Lucie, während sie sich am Teewagen zu schaffen machte und den Kocher einschaltete. »Aber glauben Sie nur nicht, daß ich mich allein Ihnen zu Ehren in die grüne Fahne des Propheten, wie Dju das Kleid nennt, gehüllt habe! Mein Mann hat das gern, wenn ich auch beim Tee die zwanzig Minuten, die er sich ausruht, gutangezogen bin. Und ich bin ebenso der Meinung, daß es nötig ist. Es ist zum Schluß auch nur das gleiche, ob ich ein Damasttuch aufdecke und ein Sèvresgeschirr hinstelle, oder ob ich etwa eine angeschlagene Tasse aus der Bahnhofswirtschaft in Bitterfeld auf ein Stück Wachstuch stelle. Gewiß, es hängt nicht gerade Leib und Leben davon ab, aber es ist eine Sache der Diätetik (Lucie liebte solche Fremdworte), es macht den Tee etwas schmackhafter und bekömmlicher.«
»Siehst du, das freut mich, daß du das auch sagst«, rief Hannchen entzückt. »Mich lachen sie immer damit aus. Ich und Egi machen es auch nie anders – seit vier Jahren. Diese Teestunde ist ja doch unsere netteste Mahlzeit am Tag. Und weißt du, Lu, man muß sich auch hin und wieder ein bißchen neu vorkommen, sonst wird man sich in der Ehe zu leicht altbacken.«
Fritz Eisner brach, ohne aufgefordert zu sein, ein Eckchen von einer Mandelstange ab, um wenigstens etwas im Mund zu haben und deshalb nicht antworten zu können. Auch Lucie beugte sich über den Nickelkessel und beschwor das Wasser, sich doch zu sputen und aufzuwellen, denn der Tee müsse sechsundeinehalbe Minute noch ziehen. Nachher schmeckt er nicht. Und vorher auch nicht. (Teekochen hat so seine Geheimnisse.) Und Lucies Gesicht sagte dabei deutlich: Nicht, daß du das sagst, nehme ich dir übel; sondern, daß du mich für geistig so minderwertig nimmst, zu meinen: ich könnte es glauben. Aber da du hier der Gast bist, übersehe ich es mit Wohlwollen.
Aber in dieser etwas peinlichen Lage klinkte die Tür und Doktor Spanier erschien und reichte, noch halb draußen, mit der einen Hand dem Diener den weißen Arbeitsmantel zurück, während er sich mit der anderen noch an seiner Krawatte zupfte und, ganz eintretend, dann mit beiden flachen Händen sich den Cut glatt strich. Er war in Dreß, sogar Lackschuhe, und benahm sich auch, als ob er zu Besuch bei sich wäre. Sehr zuvorkommend, ein ganz klein wenig förmlich, mit der unterstrichenen Absicht, zu unterhalten, liebenswürdig zu sein, mit den Manieren eines Menschen, dem man anmerkte, daß seine Eltern und schon seine Großeltern ein Haus gemacht hatten. Und für den das Gesellschaftliche die einzig mögliche Umgangsform war.
»Na, Dju, noch viele Patienten?« fragte Lu.
»Ach, ein Viertelstündchen nachher noch – dann bin ich für Sie frei. Und zeig Ihnen alles vorn. Ich habe gesagt, daß niemand mehr angenommen werden soll, heute.« Und dabei hatte er unmerklich nach Hannchens Hand gegriffen, eine sehr schöne, ausdrucksvolle, beäderte und sehr schlanke Hand, mit schmalen, ganz rosigen, ganz leicht gekrümmten Nägeln. »Na«, sagte er unvermittelt, »es geht Ihnen, liebe Frau Doktor, jedenfalls besser, als es Ihnen neulich ging. Und das ist immer angenehmer als das Gegenteil!« Und dann sprang er auf ein anderes Thema über, lobte den Tee, die Süßigkeiten. Hierfür wäre Lu Spezialistin, und sie wechsele mit den Geschäften, wie ehedem die Jenny Groß mit den Liebhabern. Sie habe die Theorie, daß es in jedem Geschäft nur eine einzige Sache gäbe, die genießbar sei, seine Vollendung – die müsse man herausfinden. Sie betrachte überhaupt den Tee als heilige Handlung, ungefähr wie früher die Japaner die Teezeremonien. »Nebenbei hat sie mir jeden Tag erzählt, daß sie eigentlich mit Ihnen zu Cassirer oder Schulte gehen wollte. Und jeden Tag haben Sie sie sitzen lassen. Sie war schon ganz unglücklich. Nicht allein ihretwegen. Aber im Vertrauen: Lu behauptet, daß wir noch verschiedene leere Flecken an den Wänden hätten, die verschwinden müßten. Mir gefallen sie zwar ganz gut, aber Lu stören sie. Sie hat den horror vacui. Und wir wollen Sie mißbrauchen. Sie sollen uns was suchen helfen.«
»Gewiß«, sagte Fritz Eisner, »sehr gern!« und er hatte doch geglaubt, daß er das schlichtweg nur der Unwiderstehlichkeit seines Geistes und seiner schönen Seele zu danken hätte. »Finden tut man schon etwas, es fragt sich nur, was man ausgeben kann. Vielleicht kann man mal etwas pour le bon prix erwischen; aber zum Schluß gilt auch bei der Kunst und bei den Gemälden das Wort, das immer die Teppichhändler zitieren: ›Ein Teppich ist wie das Leben: man kann ihn billig haben und man kann ihn teuer haben. Aber der billige taugt meist nichts!‹ Und dann wissen Sie, Herr Doktor, ich bin ein Quartalsarbeiter, so wie es Quartalssäufer gibt. Lange Zeit bin ich sehr mäßig im arbeiten, geradezu puritanisch. Ich kann bei einem Minimum von Arbeit mich unerhört wohlfühlen, tue nicht einen Federstrich mehr als unbedingt notwendig, um nicht gerade zu verhungern. Und dann, gleichsam ohne Warnung, mit einemmal packt es mich, wie solch einen Quartalssäufer, der acht Tage, vierzehn Tage lang hintereinander Tag und Nacht von Kneipe zu Kneipe zieht. Und solche Periode habe ich eben hinter mir. Das heißt, ich mußte es diesmal schon, weil der Roman angenommen war und fertig werden sollte. Ich konnte beim besten Willen nicht anders ... Wer ist der Knüppel und wer ist der Hund?«
»Oh«, rief Lucie, »haben Sie schon gesehen – das wollte ich Ihnen doch gleich zeigen. Der ist ja heute im Abendblatt groß angekündigt. Ich glaube, Donnerstag soll er schon beginnen.«
»Ich lese es erst, wenn es fertig ist. Ich bin Allöopath und bin als Arzt gegen homöopathische Dosierungen«, sagte Doktor Spanier. »Steht eigentlich was Neues von Port Arthur drin? Nein! Man wird doch diesen Gedanken nicht mehr los!«
Und von dem Roman kam man auf das Drama. Sie hätten die Eysold als Fräulein Julie im Kleinen Theater gesehen. Es wäre krankhaft, aber erschütternd gewesen. Was dieses winzige Persönchen da alles herausholt! Und dabei wäre sie vielleicht gar kein Genie, sondern nur von so unerhörter Klugheit ... mache es rein damit. Aber gehe sicherer, wie mit ihrem Instinkt. Wie sie nach der großen Szene seelisch zusammenfiel, in sich einstürzte, wie ein Kartenhaus, das wäre überwältigend ... Ja, Hille! Ob man zur Feier ins Architektenhaus gehen solle?
»Wozu?« meinte Fritz Eisner, »für wen sind denn solche Feiern? Nie für den Mann, sondern immer nur für ein paar Leute, die sich dabei aufspielen wollen. Lesen Sie den Schluß vom ›Sohn des Platonikers‹, und Sie werden mehr davon haben.«
Aber an Hannchen zerrte irgend etwas. Man merkte es. »Hören Sie, Herr Doktor!« rief sie plötzlich ganz unvermittelt, platzte direkt mitten hinein zwischen die Hille -Feier und die Vorbereitung zu Liliencrons sechzigstem Geburtstag ... »wozu nimmt man eigentlich Brechweinstein?«
Doktor Spanier sah Hannchen groß und nachdenklich an. »Na, bei Vergiftungen!« sagte er langsam. »Wenn man im Augenblick keine Magensonde hat! Oder – ja richtig, und dann haben sie in letzter Zeit auch Versuche bei leichten Potatoren damit gemacht. Eigentlich mehr psychischer Natur. Aber ob sie etwas damit erreicht haben ... ach, wissen Sie, unterhalten wir uns von anderen Dingen. Ich rede nicht gern außerhalb meiner Sprechstunde von Medizin. Also – was macht nebenbei Ihr Mann? Kommt er mit seiner Redaktion da, die er übernommen hat, gut weiter? Hat er die Mitarbeiter schon alle zusammenbekommen? In welchen Sprachen muß er da eigentlich korrespondieren? Er hat doch mit aller Welt bis Liberia und Honduras Fühlung zu nehmen, genügt da Englisch allein, oder braucht er nicht noch zum mindesten Portugiesisch für Südamerika?«
Es ist gar nicht so schwer, einen Wasserhahn aufzudrehen, aber es ist oft furchtbar schwer, ihn wieder zuzudrehen, wenn die Wanne schon am Überlaufen ist. Je mehr man dreht, um so mehr dreht man ihn auf, und es planscht und pladdert wie toll. Und man verliert fast den Kopf ... bis man es endlich doch packt. Und das gab es im bildlichen Sinne ungefähr hier, denn das war ja gerade die Stelle, an der man Hannchen nur aufdrehen brauchte. Man bekam zum Schluß die Überzeugung, daß Egi überhaupt ohne ihre Hilfe ratlos und verloren wäre. Sie aber habe sofort alle die reichlich verwirrten Fäden, die, wie das Kabelnetz, über die ganze Welt hinausspielen ... aber jetzt wären noch ganz andere Dinge im Gange! Eine fabelhafte Berufung im Ausland. Sie dürfe nicht darüber reden ... aber »wenn alle versprächen, daß sie ...so wolle sie doch soviel verraten, daß es sich um die Umorganisation einer ganz großen südamerikanischen Universität nach deutschem Muster ... «
Lu und Dju wechselten den Eheleuteblick. »Ach so, wie merkwürdig!« sagte Lu. Und als Hannchen plötzlich verstummte, sprang Lu sofort in die Bresche des Gesprächs. »Hör mal, Dju, mein Freund, hast du heute eigentlich etwas Neues gehört ... von uns? Wenn's nichts wird, bin ich gar nicht böse drüber! Da miete ich morgen das Häuschen im Westend, und von der Abstandssumme, selbst nur für die hinteren sechs Bäume, würden wir an vier Jahre ganz gut mietsfrei da draußen wohnen können. Billiger sind grüne Bäume und gute Luft in der ganzen Welt nicht zu kaufen.«
»Ich meine, es muß doch werden! Endlich hat man mir doch gewinkt, und ich nicht ihnen. Und Bonn ist mindestens so schön wie Westend. Der andere, der jetzt da aufgetaucht ist, das ist ja doch zum Schluß einfach lächerlich! Woraufhin denn? Der hat doch überhaupt bisher noch nichts Nennenswertes veröffentlicht. Er war mal vier Wochen in der Charité Unterassistent bei mir, und ich habe nie begriffen, warum er nicht Offizier geblieben ist, wie alle anderen Herren von Vanseloh. Gott, es ist vielleicht doch ein Unterschied: wir haben es eben im Blut. Seine Vorfahren haben gewiß schon vor dreihundert Jahren nur Wunden geschlagen, und meine haben schon vor dreihundert Jahren nur Wunden geheilt. «
Fritz Eisner sah Doktor Spanier fragend an.
»Naja«, sagte der entschuldigend, »es gibt doch bei uns Juden so Familienlegenden. Sie haben gewiß auch welche. Sie brauchen ja nicht immer zu stimmen. Aber man redet sich ein, sie könnten es. Und jedenfalls hat mein verstorbener Vater immer behauptet, daß der Efraim Bonus, den schon Rembrandt radiert hat, wissen Sie den Arzt, das bekannte Blatt, daß der ein Vorfahre von uns gewesen ist. Aber ich glaube, ich muß wieder in die Sprechstunde. Ach, nebenbei Sprechstunde. Lu sieh nur, da bringt mir vorhin ein Patient, der die Vertretung für Berlin davon hat, solchen neuen amerikanischen Rasierapparat. Ich sollte ihn doch nehmen. Ich denke, sie heißen Gilette. Es ist doch eigentlich fabelhaft, so ganz winzig und harmlos und sauber, wie ein Stück Präzisionsmechanik, echt amerikanisch – ein ganz kleines Dingelchen ...« und Doktor Spanier zog ein kleines Juchtenetui aus der Tasche, nahm den Apparat heraus und begann ihn dann, erklärend – er war doch eine Dozentennatur – in seine einzelnen, silberblinkenden Stücke zu zerlegen. »Das wichtigste ist, daß man die Klingen nicht abzieht. Man wirft sie weg, nimmt eine neue, wenn sie stumpf ist. Es ist ein ganz dünnes Stahlblättchen nur! Das ist doch sicher sehr angenehm und sehr sanitär. Und das Abziehen ist schwierig, wenn man es nicht gut kann, und frißt meist mehr Zeit als das Rasieren selbst ... und schneiden kann man sich damit überhaupt nicht! Entschuldigen Sie, Frau Doktor, diese intimen männlichen Toilettengeheimnisse!«
Aber so leicht es auseinanderzuschrauben war, so wenig leicht war es für Doktor Spanier im Augenblick, die einzelnen Teile wieder zusammenzufügen. Möglich auch, daß er schon unruhig war, weil er die Patienten nicht warten lassen wollte. Kurz, er kam nicht gleich wieder damit zurecht. Und auch Fritz Eisner, den es interessierte, denn das Rasieren bereitete ihm immer eine ziemliche Pein ... war ein ungelöstes Problem in seinem Dasein ... stand ebenso rat- und hilflos da: wie gehörte das denn eigentlich wieder ineinander?
»Ach, ihr seid beide ungeschickt!« rief Lucie rot und lachend. »Zeig mal her. So – so, so, so! Da haben wir es wieder: – gebrauchsfertig!«
Doktor Spanier lachte gleichfalls. »Also ich sage es zwanzigmal am Tag: wenn ich diese Frau nicht hätte, wäre ich überhaupt verloren in unserer so überaus komplizierten Welt! Und wie ich mich zweiunddreißig Jahre ohne sie beholfen und leidlich zurechtgefunden habe ...!«
Fritz Eisner aber hatte die gleiche peinliche Empfindung, als ob er versehentlich eine Tür aufgemacht hätte, die in eine fremde Wohnung führte, und die er nun ganz schnell und lautlos wieder schließen müsse ... aber ehe er sie noch schloß, kam es ihm plötzlich vor, als sähe er einen graugelbvioletten Anzug, mit grünen Tupfen wie Heusprenksel vor sich und dazu ein breites, blankrasiertes Gesicht unter dem Panama – als ob es aus der Gilette-Annonce des »Punch« gestohlen wäre.
»Ach, wissen Sie was«, rief Doktor Spanier, sich besinnend. »Kommen Sie gleich mit herüber. Ich werde sagen lassen, man soll mich noch etwas entschuldigen. Und wer nicht warten kann, soll die Nummern behalten. Er kommt dann morgen zuerst dran. Das mache ich öfters so. Bei den Fällen, die ich hauptsächlich habe, kommt es ja leider meistens auf vierundzwanzig Stunden wirklich nicht an!«
Fritz Eisner begriff von den Einrichtungen sehr wenig, nur das eine erstaunte ihn: nichts mehr von dem alten Sprechzimmer des Arztes – kein Karbol-, Jodoform- oder Formalingeruch. Keine Instrumente, kaum Möbel. Das war ein kleiner Physiksaal und ein Chemisches Laboratorium, in dem zufällig ein paar Untersuchungsstühle, ein paar geschlossene Schränke, ein Schreibtisch, einige sehr geheimnisvolle und ausgeklügelt verstellbare Sessel waren, zwischendurch erinnerte es auch an ein photographisches Atelier oder an einen Maschinensaal. Oder an den Raum eines Kraftwerkes, wo die Hebelgriffe geschehen. Man hatte das Gefühl, daß überall in Drähten, Glasgefäßen, Glaskugeln, ähnlich denen, die Schuster vor ihrem Dreifuß hängen haben, in Metallspulen und Messingröhren gebändigte Naturkräfte eingesperrt waren, wie wilde Tiere in Käfige. Und auf einen Druck konnte man sie heraus- und in einen anderen Käfig hinüberspringen lassen. Aber nur ihr Herr und Wärter durfte das ungestraft tun. Einen Unbefugten zerrissen sie in Atome. An alles erinnerte es, nur nicht an den Arbeitsraum eines Arztes, wie man ihn von Jugend an gewohnt war, wo ein Ledersofa stand und die Sonden und Zangen und Scheren und Messer, die Wattebäusche und Charpiegläser einen peinlich angrinsten. Nein, hier waren Schaltbretter, und Schnüre liefen über die Decken. Mit einem Knopfdruck war alles zu verdunkeln – mit einem Knopfdruck war alles wieder hell. Man konnte an Glaskugeln unter dem Geknatter eines fernen Gewehrfeuers Fluoreszenzen spielen sehen, und man konnte Starkströme in ungeheuren Spannungen unter Glasplatten entlang schießen sehen, wie grünblaue zischende Schlangen von Stichflammen. Hier gab es Brutschränke in Reihen, unter denen eine leise Wärme glimmte, warmes Wasser wechselte mit eiskaltem; im chemischen Labor nebenan wirtschaftete vor Zäunen von Reagenzgläsern eine weißblonde Laborantin in weißer Schürze, hielt gerade ein Gläschen ans Licht und lächelte lieblich, weil das Ergebnis ihres Befundes, wie der Herr Doktor ja vorausgesetzt hatte (denn sie liebte ihn heimlich), die Diagnose bestätigte.
»So«, sagte Doktor Spanier und winkte Lu, »nun laßt ihr mich mal mit dieser reizenden jungen Frau ein bißchen allein. Wir werden gleich nachkommen. Wie geht es Ihnen eigentlich so in den letzten Wochen, Frau Doktor – hat sich das wiederholt von neulich? Der Puls war ja nicht sehr beschleunigt vorhin. Haben Sie sich vielleicht mal zufällig gemessen, ob Sie höheres Fieber des abends haben, so über achtunddreißig, oder nur immer solch bißchen ... na, sagen wir: nett angeregt, Champagnerstimmung?«
Lucie und Fritz Eisner waren wieder am Teewagen gelandet. Und Fritz Eisner empfand es doch als ein Geschenk, nun ganz allein diesem aparten, meergrünen Etwas da gegenüber zu sitzen; es war ihm, als ob ein Stahl ständig an den Stein seines Wesens schlug, damit er Funken gäbe. Der Tee selbst war verschwunden; aber der Teewagen hatte sich inzwischen, wie von allein, mit neuen Platten gefüllt und jetzt standen Liköre darauf, Zigaretten und Importen, wie sie Fritz Eisner immer nur in den Auslagen von Bönike & Eichner bewundert hatte, und von denen er glaubte, daß sie eben nur dort wüchsen, und nie über die Ladenschwelle kämen. Auch belegte Brötchen hatten sich eingefunden, die sicher eine andere Provenienz hatten, als seine bei der Einweihung der Destille. Solche, bei denen man zugreifen mußte, ganz gleich, ob man wollte oder nicht ... solche, die einen so lange anblinzelten, bis man doch hinlangte, und die witzig und amüsant, wie ein alter Lebemann, und ebenso unbefriedigt zum Schluß waren.
»Es ist gar nicht so unangenehm, beim Arzt zu sein«, meinte Fritz Eisner, »es ist viel häßlicher draußen zu warten, wenn irgendjemand, der einem nahe steht, bei ihm ist.«
»Ja«, sagte Lucie und ihr kleines, süßes, lockenumwogtes Gesichtchen über dem schlanken Hals verzog sich zu einem einzigen Seufzer, und ihre großen, grünlichen, stets feucht schimmernden Augen wurden wirklich feucht durch den Glanz von aufsteigenden Tränen. »Ich denke manchmal, wenn ich hier so sitze: ›nun sitzt du hier so ruhig und liest. Und da nebenan, drei Zimmer von dir, werden Todesurteile unterschrieben‹ ... ich versichere Sie – oft in einem Monat mehr, als mancher Mensch es in seinem ganzen Leben tut. Und es sind vielfach so schöne, junge Menschen! Ich habe hier in diesem Zimmer schon manche Mutter getröstet, die geweint hat. Na, hoffentlich ist es bei Hannchen nicht so schlimm. Es wäre doch zu traurig! – Sagen Sie mal, warum sind Sie eigentlich nicht gekommen?! Ich habe täglich damit gerechnet, daß Sie mich abholen, oder wir hätten uns ja an Ort und Stelle treffen können. Ich hätte Sie schon nicht so viel Zeit gekostet.«
»Ach Gott, Frau Doktor!« meinte Fritz Eisner leicht verärgert, »so reißt man sich ja heute in Berlin gar nicht um die Bilder. Wir werden immer noch etwas sehr Nettes finden. Ich weiß sogar einen sehr schönen Luce, ganz billig; wenn ich Geld hätte, würde ich ihn selbst kaufen.«
»Ich nehme an, daß Sie ein sehr schönes Buch geschrieben haben. Ich habe schon so etwas läuten hören ... ja, ja, man hat so seine Beziehungen! ... und es soll auch eine sehr delikate Frauenfigur in der Mitte stehen ... wie machen Sie das eigentlich, wenn Sie selber so gar keine Ahnung haben, was mit den Frauen um Sie herum und in ihnen ... sagen wir einmal, weil wir kein anderes Wort dafür haben ... seelisch vorgeht? Sie sind wohl die umgekehrte Eysold?! Die schafft alles mit dem Verstand, und Sie mit dem Instinkt.«
Fritz Eisner fühlte sich rot werden, während er an der Zigarre zog. »Hören Sie, liebe Frau Doktor«, sagte er nach einer kleinen Pause, »darf ich ehrlich sein? – ja?: Wenn ich einen silbernen Löffel auf der Straße finde, und es sieht gerade keiner, und er ist sehr schön, und er blinkt mich so lustig an – na ja, dann stecke ich ihn mir vielleicht auch in die Tasche. Aber, wenn ich wo zum Abendessen eingeladen bin, den Wirt gut kenne, schätze, auch etwas bewundere ... da stecke ich mir keine silbernen Löffel ein, das liegt mir nicht! Das überlasse ich neidlos anderen!«
»Das weiß ich ja, lieber Freund, und deswegen komme ich ja gerade zu Ihnen. War das nicht neulich lustig, am Sonntag, als wir beide das gleiche Buch lasen ... ›es war ihr bestimmt im Bürgerlichen zu enden!‹ Gott, verstehen Sie mich denn nicht? Wenn ich eine Romanfigur wäre, würden Sie mich ja schon längst begriffen haben ... ich kämpfe doch gerade darum, daß es mir bestimmt sein soll, im Bürgerlichen zu enden! Und ich brauche einen Halt jetzt, eine Hilfe ... irgend etwas, das mich da wieder heraus reißt« ... (ohne Zweifel, Lucie spielte nicht nur, sie war in Wahrheit sehr erregt).
»Ja, aber warum tun Sie denn das?!« sagte Fritz Eisner und dachte dabei: der Mensch ändert sich doch nicht. ›Sie geht also immer noch jedes Halbjahr an einem anderen Mann seelisch zugrunde!‹ »Warum denn? Ihr Mann ist doch im kleinen Finger mehr wert, als Mensch von Tradition und Rasse und gesellschaftlicher Kultur, als dieser Esel es je im Kopf sein kann.«
Lucie sah ganz kindlich und mutlos, so als ob sie sich in ein Verhängnis doch eben ergeben müßte, zu Fritz Eisner herüber.
»Psychologie«, sagte sie, leicht schluchzend, »war nie meine starke Seite!« Und dann reichte sie Fritz Eisner ihre winzige Hand, die an dem geschmeidigen Arm einer Tänzerin saß, herüber, brachte sie fast in die Nähe seines Mundes. »Ich bin in sehr schwerer seelischer Bedrängnis«, sagte sie, »helfen Sie mir etwas, daß ich da herauskomme!«
»Gewiß, meine kleine Ginsterkatze«, sagte Fritz Eisner und griff nach dem Händchen mit dem grünen Smaragdring. – Lucie stilisierte sich ganz durch, bis auf die Ringe – um es zu küssen, als hinter ihnen die Tür ging und Lucie mit einer wundervoll leichten Geste die Hand nach einem Brotscheibchen mit Lachs hinuntergleiten ließ.
Doktor Spanier und Hannchen setzten sich an ihre alten Plätze.
»Na, essen Sie, Frau Doktor«, sagte Doktor Spanier im sehr veränderten Ton, gegen vorhin, jetzt ganz Arzt. »Greifen Sie ruhig zu, Untersuchungen machen hungrig! – Also, darf ich reden, Frau Doktor? wir müssen über die Sache doch bald klar werden! Links oben! – Vielleicht? Zu hören ist etwas, aber zu sehen ... man kann es sich einreden; man müßte eben doch eine Aufnahme machen. Aber rechts oben ist eine ganz deutliche Dämpfung, und eine gut zwei- bis dreimarkstückgroße infiltrierte Stelle zu erkennen. Es gibt nur eines, was Sinn hat: Das heißt – Davos. Ich habe Ihnen hier gleich einen Brief geschrieben, eine Empfehlung an einen mir befreundeten Arzt gegeben, wir haben früher zusammen gearbeitet. In bessere Hände können Sie nicht kommen. Noch vor fünf Jahren hätte man gesagt: Süden! Hochgebirge nur im Winter! Das ist natürlich ein Unsinn. Jede Jahreszeit! Den Verlauf beeinflussen tut es immer, oder doch fast immer. So nach dem Gesamtbefund sonst scheint es mir – ich sage aus Grundsatz das, was ich selber denke soweit man ohne Kulturen urteilen kann – noch nicht gerade aussichtslos. Aber Sie müssen eben weg. Nicht heute und morgen. Sondern bis spätestens in zehn, vierzehn Tagen. Zwei Jahre kann es dauern, bis sie wieder ganz gesund sind, auch drei. Und wie Sie sich bis dahin zu Hause zu verhalten haben, das steht alles haarklein auf dem Merkblatt.«
Hannchen sah Doktor Spanier groß an. »Entschuldigen Sie«, sagte sie lachend, »aber ich finde es so lustig, wie Sie sich das vorstellen! Erstens habe ich ein Kind und zweitens habe ich meinen großen Jungen. Die brauchen mich, selbst wenn es sich sonst möglich machen ließe ... was bestritten werden muß.«
»Und Sie beabsichtigen, beide noch längere Zeit zu behalten?! Ja? Dann kenne ich aber keinen anderen Weg, der für Sie gangbar wäre. Es fällt Ihnen natürlich schwer zuerst, jetzt mit einemmal zu glauben, daß Sie krank sind, weil Sie sich noch nicht krank fühlen, Frau Doktor. Ich weiß das. Aber Sie werden es sonst in zwei Monaten sehr genau wissen, daß Sie krank sind: und es hat gar keinen Zweck, noch so lange zu warten. Wir haben genug Zeit versäumt. Ich freue mich, daß Sie das, was ich Ihnen sage, mit so viel Anstand hinnehmen!«
»Lieber Doktor«, sagte Hannchen mit einer größeren Linie, als Fritz Eisner, der sie doch zu kennen glaubte, von ihr erwartet hätte (sie trug jegliches Menschliche mit vorbildlichem Anstand), »alles, was Sie, als Arzt, mir zu sagen haben, weiß ich, als Laie, schon seit bald einem Jahr. Aber ich hatte weder Zeit, noch Stimmung, noch Hoffnung, es wissen zu dürfen. Es geht, so lange es geht ... länger kann uns niemand verantwortlich machen, und wir uns selbst auch nicht.«
»Oh«, sagte der Doktor. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten! Wovor?« Und das war nicht er, Doktor Spanier mehr, das war plötzlich der zeitlose Efraim Bonus, der das sagte. Es war, als ob es ihm überkommen wäre, von Generationen her, das uralte Mitfühlen mit dem Leiden der Kreatur, eine herbe, tränenumflorte Weisheit, die zu viel von der Welt erfahren hat, um zu bejahen, und zu klug und zu männlich ist, um zu verneinen. »Es ist da oben sehr schön und gar nicht traurig. Und die Menschen sind sogar alle ganz guter Dinge da. Die, die leben wollen, die leben werden, und selbst die, die ahnen, daß sie nicht mehr leben können. Sehen Sie, es gibt häßliche Krankheiten, und es gibt schöne Krankheiten, so unmöglich das klingt ... ich will Ihnen viele häßliche Krankheiten nennen, die nicht nur den Menschen entstellen, sondern mehr noch seine Seele verwüsten. Aber Sie haben ja Glück gehabt. Sie haben sich gerade eine hübsche Krankheit ausgesucht. Gewiß, der Strom des Lebens wird draußen vorbeitreiben für Sie, einige Jahre, vielleicht viele Jahre lang. Sie müssen sich damit abfinden, daß Sie nicht mehr in ihm schwimmen können, daß Sie vielleicht nur kaum einmal sich ins Wasser wagen dürfen, und daß Sie immer wieder nur am Ufer stehen werden. Aber es wird uns im Leben nichts genommen, wofür uns nicht auch wieder was geschenkt wird. Das ist so die ausgleichende Gerechtigkeit. Drüben gibt's keine. Und so werden Sie dadurch, das habe ich hundertfach bestätigt gefunden, vielleicht körperlich ärmer werden, aber seelisch und menschlich zehnmal reicher und reifer werden, als Sie vordem waren. Und wer von uns könnte das eigentlich nicht brauchen?! Kennen Sie Jean Paul? Kennen Sie das ›Schulmeisterlein Wutz‹? Sehen Sie, Jean Paul hat etwas davon schon geahnt.«
... »Wissen Sie nun, woran Sie sind, liebe Frau Doktor? Ja? Dann wollen wir von anderen Dingen mal sprechen, zum Beispiel von Sardinenbrötchen! Vorzüglich! Wo Lu sie wieder aufgetrieben hat, wissen die Götter: sie verrät ihre Quellen nicht. Aber sowie sie betrocknet sind, sind sie nicht mehr zu essen. Also, greifen Sie zu, denn sonst habe ich es nur morgen Nachmittag abzubüßen. Und das habe ich doch nicht um Sie verdient! Auch Alkohol« – er sagte das mit einer ganz geheimen Betonung, während er eine Flasche herüberzog – »kann Ihnen keineswegs schädlich sein! Wenigstens in kleineren Dosen.«
»Muß man eigentlich in die Ausstellung an der Lehrter Bahn gehen?« fragte Lucie krampfhaft, »wie ist sie?«
»Wie Sodom und Gomorrha!« sagte Fritz Eisner. »Und wenn ein Gerechter dabei ist, so will ich diese Städte verschonen. Und ein Gerechter ist ja immer dabei, sogar mehrere sehr Gerechte. Im Gegensatz zu diesen prähistorischen, großstädtischen Lasterpfuhlen. Nur muß man sich die Gerechten stets in den letzten Nebensälen zusammensuchen, wo sonst sogar die Diener vor langer Weile Selbstmordversuche unternehmen. Ich verstehe die Pflicht nicht, schlechte Bilder nur deshalb gut zu hängen, weil sie patriotisch sind.«
Hannchen griff nach den Zigaretten.
»Rauchen?« – meinte Doktor Spanier – »rauchen Sie lieber nicht. Sie müssen sich doch nun langsam daran gewöhnen, daß das Leben ein Fragezeichen hinter ihren Namen gemacht hat, so wie wir es in Quarta in unseren Schülerlisten machten, wenn jemand bei der Versetzung etwas wackelig stand.« Aber Doktor Spanier fühlte selbst, daß er sich mit diesem Vergleich vergriffen hatte und daß er schmerzte. »Ach«, rief er, »Frau Doktor, seien Sie doch nicht so dumm, immer auf diese Kamele von Ärzten zu hören, und sich alles verbieten zu lassen, was Ihnen Spaß macht. Hier nehmen Sie, nein! Die ist besser. Und die nächsten acht Tage fehlt Ihnen überhaupt nichts. Haben Sie noch die Tropfen? Ich schreib Ihnen noch etwas auf, oder laß es Ihnen mit geben. Wozu soll man die Apotheker noch reicher machen? Acht Tage gebe ich Ihnen vollkommene Ferien. Da wissen Sie von gar nichts. Und ich will mich auch blind und taub stellen. Unter einer Bedingung: Am neunten Tag sitzen Sie im D-Zug Berlin-Zürich und zwar zweiter Klasse; wenn's geht erster; wenn's geht: Schlafwagen. Den Brief, den Sie von mir haben, schicken Sie ein, und ich diktiere heute noch selbst einen genaueren Bericht über den Befund, und bevor wir fortgehen, sehen wir uns noch.«
»Wollen Sie nochmal mit meinem Mann sprechen?«
»Warum« sagte Doktor Spanier, »ich weiß, daß er eine sehr reizende Frau hat, das genügt mir. Er scheint ja auch augenblicklich zu beschäftigt zu sein ...«
»Soll ich dann nochmal in die Sprechstunde kommen?«
Doktor Spanier lachte. »Sprechstunde? Nee, was wollen Sie denn da? Da hab ich zu tun und bin auch unausstehlich. Und außerdem habe ich Ihnen doch Ferien bewilligt. Acht Tage lang sind Sie noch ganz gesund. Sie halten sich nur ein wenig ruhig. Lassen Ihre Mutter und Ihre Schwester die Besorgungen zur Reise machen.«
... »Ich könnte ja sagen: kommen Sie des abends doch alle zu uns. Aber – was sollen Sie hier noch in der Stadt, in dem Staub und in dem Geruder! Wir werden uns besser draußen irgendwie noch mal treffen. Restaurant Grunewald oder sonstwo. Da kriegt man auch geschlossene Räume ... so für kleine Gesellschaften und kann von da leicht nach Hause. Ich habe dieses Jahr überhaupt noch keine Erdbeerbowle getrunken. Lu telephoniert Ihnen noch. Sonnabend geht es immer am besten bei mir; da kann auch im schlimmsten Fall der Assistent länger bleiben.« Er öffnete die Tür. »Paul, sind schon alle gegangen, oder warten noch welche?« rief er halblaut.
Fritz Eisner stand jetzt neben ihm. »Sie muß weg. Die Sache gefällt mir gar nicht«, sagte Doktor Spanier leise, »der Befund war doch recht übel.«
»Zwee von de Kasse, Herr Doktor und een Privater!« kam es zurück.
»Also Entschuldigung! Und Lu – du machst das ab. Oder es bleibt am besten bei dem nächsten Sonnabend!«
Und schon kam Paul und brachte ein braunes, breites Glasfläschchen, in dem, wie kleine Perlen, braune, durchscheinende Kügelchen durcheinander kullerten, die nach Arzt und Apotheke rochen.
»Und was wird mit uns?« meinte Lu.
»Mit uns ...« Fritz Eisner überlegte. Montag war Hannoverscher Kurier fällig und Mittwoch Essen. Und die Zeitungen hier wollten und wünschten auch noch so verschiedenes. »Es ist abscheulich. Kein Mensch glaubt mir, daß ich einen Beruf habe! Ach, Frau Doktor, wir werden das Telephon spielen lassen ... es ist eine zu hübsche Erfindung, nicht wahr? Aber nur für unsere Generation. Meine Mutter zum Beispiel ängstigt sich davor und ist nicht heran zu bekommen. Na 1840 hat es das eben noch nicht gegeben. Mit Ibsen und Hauptmann und Liebermann ist sie ganz gut mitgekommen; aber das Telephon macht ihr Schwierigkeiten.«
Fritz Eisner sah sich nochmal um. Lucie ordnete gerade im Augenblick etwas im Teewagen. Es sah reizend, wirklich erfreulich aus, wie sie da im letzten Abenddämmer (der rötlich von draußen durch unliebsam-falschproportionierte Fenster hereinflutete – aber was konnte das Licht dafür?! ... es war unbeteiligt daran und himmlisch-unparteiisch) – in einem rosiggrauen Halblicht mit den Smaragdfarben, dem Foulardgrün, in ihrer ganzen aparten Beweglichkeit, dieses und jenes verschloß und zurechtrückte.
›So müßte man Lucie malen!‹ sagte sich Fritz Eisner; aber im gleichen Augenblick kam ihm zu Bewußtsein, daß einen viele Dinge, Menschen und Landschaften sehr entzücken können, die als Bilder von vornherein den Todeskeim des Kitsches tragen würden, und daß schon die Sicherheit der Besten dazu gehört, um nicht zu dick Zucker auf die Erdbeeren zu streuen. Und auch sie vergreifen sich oft genug ... Es muß da irgendeine Divergenz zwischen dem Leben und seiner Neuschöpfung durch die Kunst bestehen, die nur schwer zu überbrücken ist. – Bei Schulte hätte sich Fritz Eisner nach einem solchen Bild nicht umgedreht, nicht ein Bleistifthäkchen in seinen Katalog gemacht, und jetzt stand er, wie gebannt. »Es ist Ihnen doch bestimmt, im Bürgerlichen zu enden«, sagte er.
Lucie war doch ganz Dame, mit der angenehmen Selbstverständlichkeit der Gesicherten.
Hannchen, die naturgemäß jetzt ziemlich mit sich selbst beschäftigt war – man hatte ihr zwar nichts Neues gesagt, aber es bedeutete doch eine Umstellung ihres Lebens ... sie sollte, wie ein Zug auf ein totes Geleise geschoben werden und zwar auf ungewisse Zeit ... Hannchen horchte auf.
»Ja ja«, sagte Lucie, »dein Schwager und ich – wir haben so unsere Gaunerzinken.«
Hannchen aber drohte: »Daß mir nur keine Klagen einlaufen!« Und sie fühlte sich als ›Mitwisserin von Herzensgeheimnissen‹ ... »aber auf ihre Verschwiegenheit könne man rechnen, endlich wäre ihr schon mehr gebeichtet worden.«
Unten hatte die Friedrichstraße Schichtwechsel gemacht. Oder war eben dabei, es zu tun. Sie hatte die Armeen der Arbeit entlassen, um den Armeen des Vergnügens und des Lasters ihre Pforten zu öffnen, hatte umgeschaltet, hier Betriebe gelöscht, dort sie entflammt. Die einen Blumen – die Tagblumen – schlossen sich, und die Nachtblumen öffneten sich und strömten ihre perfiden Düfte von Gift, Suff, Lärm, Licht, Geilheit und Roheit aus; und zwischen ihnen hatten schon die Spinnen aller Art, von der fetten Kreuzspinne bis zur armseligen Wegspinne, ihre Netze ausgespannt und lagen auf der Lauer. In den Nebenstraßen, die bislang harmlos, geschäftig und betriebsam dagelegen hatten, waren plötzlich Lichter, Reklamen, schreiende Plakate aufgeblitzt, und ein johlend-animiertes, abenteuerlustiges Provinzpublikum suchte in Scharen die Stätten ihrer ach so lärmenden und ach so stumpfsinnigen Vergnügungen auf, und die Liebe, mit verschminkten Gesichtern und großen Federhüten warf die Angeln ihrer Blicke nach ihnen aus.
Hannchen hatte reges Interesse für ihre Umgebung und betrachtete besonders ihre ›verirrten Schwestern‹: ob das alles solche Damen wären. Daß es so viele gäbe, hätte sie nie geglaubt. Es wären aber sehr schöne dabei, und manche sähen doch eigentlich sehr sittsam aus. Sie hatte wohl ganz phantastische Vorstellungen von ihnen, und meinte, daß sie als Züge von tanzenden Mänaden in Gazehemdchen durch die Friedrichstraße im Cake-walk hinschoben. Wie bei allen bürgerlichen Frauen lag etwas Neugier und etwas Neid, die sie durch Herablassung zu cachieren suchte, in ihren Blicken.
»Ach!« rief Fritz Eisner leise, aber scharf, »sieh dir mal die genau an!« Und er wies so von unten her auf eine ziemlich dicke, schwammige, sehr aufgeknallte, sogar für ihren Beruf noch recht vulgäre Person, die mit einer großen, wippenden, blauen Straußenfeder auf dem roten Sammethut, wie eine Freundin Karl V. bei Hans Makart, unter einer Maske von Schminke ihnen entgegenlächelte ... »kennst du die noch? Nein?! Das ist doch die kleine falsche Baumeistersfrau aus Potsdam damals ... der dann das Kind starb ... und die dann die richtige Baumeistersfrau auf die Straße setzte.«
»Wirklich? – Wollen wir sie ansprechen?«
»Wozu? Es hätte keinen Sinn! Sie würde uns nur belügen; und zu helfen ist ihr nicht. Und zum Schluß ist sie sicher, wie sie heute ist, genau so bürgerlich, wie du und ich. Merkwürdig ist aber doch, wie lange sich so etwas hält.«
Und als sie ein paar Schritte weiter waren und die kleine reizende, falsche Baumeistersfrau von einst ihnen schon längst im Gewühl abhanden gekommen war, schlug sich Fritz Eisner mit der flachen Hand vor die Stirn: »Gott, was bin ich aber dumm! Man hätte sie doch eigentlich fragen müssen, was das für ein Lied war, das sie damals immer sang: Fliegenschmalz, Fliegenschmalz. Tatü, tata ... Fliegenschmalz tatü ... Fliegenschmalz tata! ...«
Hannchen lachte. »Das hätte man wirklich tun sollen«, und dann summte sie auch vor sich hin: »Fliegenschmalz, Fliegenschmalz, tatü ... tata ... »Du«, sagte sie, »das war eigentlich hübsch damals in Potsdam. – So etwas kommt nicht wieder.«
»Du, – weißt du was, Hannchen, komm zu uns mit heraus ... ich bringe dich nachher nach Hause«, sagte Fritz Eisner, während sie in der Untergrundbahn sich gegenüber saßen, im ziemlich leeren Wagen. (Die Arbeit war schon abgerückt.)
»Wo denkst du hin, Fritz?« rief Hannchen. »Nachher wartet Egi auf mich. Und ich muß doch meinen Jungen schonend darauf vorbereiten. Er wird entsetzt sein, der arme Kerl. Lulu versteht es ja Gott sei Dank noch nicht so. Und Muttchen – wie ich der das sagen soll? ...«
»Ja«, meinte Fritz Eisner, »hast du eigentlich schon Geld dazu?« denn bei Hannchen wußte man nie, ob sie welches hatte oder nicht. Sie klagte immer, sie hätte keinen Groschen bis zum nächsten Ersten. Aber es war zum Schluß zu allem da. Sie war mehr als sparsam, verstand aber doch zu schenken, wo sie größere Geschenke erwartete ... darin war sie Lebenskünstler.
»Ja«, sagte Hannchen, »wir haben natürlich nicht einen Pfennig! Ich hoffe, daß der Schwiegervater einspringt, oder daß Arthur etwas wieder von meinem Geld flüssig machen kann. Er hat es uns versprochen, wenn wir's nötig brauchen sollten. Aber dann muß doch auch in diesen Tagen das, was wir von Tante Trautchen geerbt haben, zur Auszahlung kommen!«
» Habt ihr es denn schon geerbt?«
»Du kannst meiner Mutter alles nachsagen – – lügen tut sie nicht. Wenn sie erzählt, Tante Trautchen hat es ihr gezeigt, so hat sie es mit ihren eigenen Augen gesehen. Da kann man sich darauf verlassen, wie aufs Amen in der Kirche.«
»Man merkt sogar schon an deinen Vergleichen, daß dein Mann getauft ist!« warf Fritz Eisner ein. Und im gleichen Augenblick tat es ihm leid, denn es traf eine wunde Stelle bei Hannchen. Aber er hatte nun manchmal die Eigenheit, Bemerkungen nicht unterdrücken zu können, auch wenn er sie selbst als geschmacklos empfand. Aber Hannchen nahm das Thema nicht auf.
»Oder Muttchen«, sagte sie ganz ruhig, »muß eben schlimmstenfalls noch eine kleine Hypothek auf ihr Haus aufnehmen. Das bekommt sie ganz leicht; überlastet ist es ja nicht, und wir zahlen sie ihr dann später wieder aus.«
»Ja«, meinte Fritz Eisner, »das muß aber doch schnell dann gemacht werden!«
Plötzlich begann Hannchen jetzt zu hüsteln und bekam einen müden Schimmer um die Augen. Solange durfte sie nicht krank scheinen; vor einer Stunde war es ihr erlaubt worden, und sie hatte nun sogar zu bestätigen, daß sie es war.
»Herrgott«, rief plötzlich Fritz Eisner, »ich sollte doch eigentlich Annchen anrufen, und sollte sie von Gumperts abholen. Aber jetzt ist es schon halb neun, da wird es sicher schon zu spät sein. Jetzt wartet sie da nicht mehr. Das ist aber unangenehm! – Also, kommst du mit? Du kannst ja von uns aus sagen, wo du bist; und Lulu ist ja bei dem Mädchen auch vorzüglich aufgehoben.«
Hannchen bekam Tränen. »Wie soll das überhaupt mit dem Dicken werden?« So nannte sie Lulu im Familienkreise nach seiner Körperkonstitution, denn er war für einen Jungen reichlich fett. »Mitnehmen kann ich ihn doch nicht! Und mein großer Junge meint es gewiß gut mit ihm, er ist ein vorzüglicher Vater, aber er hat doch bei ihm nun mal nicht die richtige Aufsicht. Und von Dienstmädchen wird er nur verdorben. Sie stellen ihm sowieso schon immer nach, weil er so hübsch ist!«
»Hör mal, Hannchen, es scheint mir (nach meinen eigenen Erfahrungen zu urteilen), daß diese Nachricht um mindestens zwölf Jahre verfrüht ist ... und außerdem ist er doch bei seinen Großeltern oder bei deiner Mutter sehr gut aufgehoben. Einen besseren Elternersatz kann er sich gar nicht wünschen!«
»Ach Gott«, seufzte Hannchen. »Muttchen läßt sich für den Jungen ja in Stücke schlagen; aber sie zanken sich doch den ganzen Tag zusammen. Man weiß wirklich oft nicht, wer das größere Kind ist: Lulu mit seinen vier Jahren oder seine Großmutter mit ihren achtundvierzig. Das geht so lange, bis sie beide weinen, und sich dann wieder vertragen. Aber, das immer?! – Das würde ja nur Mord und Totschlag geben! Ich kann doch nicht reisen!!«
»Hör mal«, rief Fritz Eisner, »hier muß ich raus. Kommst du noch zu uns mit?«
Aber Hannchen verneinte. »Nein, nein! ihr großer Junge erwarte sie zu Hause, und er müsse seine regelmäßigen Mahlzeiten haben. Gerade für einen geistigen Arbeiter, für einen Kopfarbeiter, wäre das viel wichtiger, als für einen Handarbeiter. Sie hätte das erst gestern gelesen (Hannchen hatte immer gerade alles mögliche erst gestern gelesen). Auch Kant wäre, wie Egi, ein sehr starker Esser gewesen.«
Solange hatte Hannchen, die den Hut, die Blumenwippe im Schoß, ihm gegenüber saß – der Wagen war fast leer und man konnte sich – eine seltene Sache in der Untergrundbahn! – einmal ordentlich ausleben, brauchte nicht die Ellbogen anzuziehen, man klebte nicht aneinander wie die gepreßten Feigen – solange hatte Hannchen eigentlich ausgesehen wie ein ganz junges Mädchen. Ihren vierjährigen Jungen und die schweren Kümmernisse ihrer zerrütteten Ehe sah man ihr wirklich nicht an. Aber wie sie jetzt aufstand, Fritz Eisner die Hand zu geben, sah der plötzlich – das hatte er noch nie bemerkt – daß durch ihr schönes kastanienbraunes Haar von englischer Fülle schon so eine erste ganz schmale weiße Linie sich schlängelte, wie eine hellere, gewellte Ader durch einen Porphyrblock. Es war doch reichlich früh, mit ihren siebenundzwanzig Jahren, daß sie schon begann, von der Jugend Abschied zu nehmen.
»Ich glaube, die Mutter kommt morgen zu uns, komm dann wenigstens mit!« rief Fritz Eisner, während er die Schiebetür aufdrückte.
»Nee! nee!« rief Hannchen lachend und einen gerade kursierenden Witz aufnehmend. »Das jeht nich! Karline hat morgen Ausjang mit ihrem festen Herrn, ... im Jejensatz zu ihrem Bräutigam. ›Un eener muß doch in'n Laden bleiben!‹«
Und dann stand Fritz Eisner und winkte auf dem Perron, ließ den Zug an sich vorbeifahren, die Schräge hinab, der Höhlung zu. Es ist merkwürdig doch, wie schnell so ein Kopf schwindet, und ein Mensch, der eben noch unser war, in der fernen und fremden Masse untertaucht!
Vor dem Hause flog Fritz Eisner ein Nachtfalter gegen den Hut. Weiß und blau bepunktet. »Oh, Zeuzera aesculi, der Kastanienbohrer. Und wenn ich das Alter Methusalems habe, werde ich solche Namen nie vergessen. Sehr seltenes Exemplar. Das hätte mich vor fünfzehn Jahren beseligt. »In der tiefsten Tiefe, in der höchsten Höhe findet der Mensch Befriedigung durch die Wissenschaft.« Flieg weiter, mein Bursche, wenn L. D. erst mal größer wär, kämst du nicht so billig davon!«
»Ich habe den ganzen Nachmittag gewartet, du würdest mich anrufen«, sagte Annchen, als ihr Mann noch nicht ganz im Zimmer stand. Sie war schon in einer rosigen Matinee, im Schein der Ampel, machte den Abend zum Morgen, und Fritz Eisner verglich unwillkürlich das Bild mit dem letzten von Lucie, und er vermißte das dabei, was er in der Kritik die »Note« genannt hätte, ein Etwas von Haltung und Bewegung, das einem persönlichen Lebensrhythmus entspringt.
»Ja, Liebchen, wir haben wirklich keine Zeit gehabt. Ich war mit Hannchen bei Lucie und Doktor Spanier.«
»Siehst du, und ich mußte dahin gehen! Da wäre ich viel lieber mit euch gegangen, wie zu diesem langweiligen Kaffeeklatsch. Wenn ich mir hier ein ›schönes‹ Buch genommen hätte, hätte ich sicher mehr von gehabt.«
»Hör mal, Doktor Spanier hat Hannchen ...«
»Ach, weißt du aber das Neueste?« rief Annchen begeistert, »erinnerst du dich an Selma Westheim, dieses große, schwarze Mädchen von den reichen Westheims am Lützowplatz ... sie hat uns noch zur Geburt von L. D. gratuliert ... natürlich, du kennst sie doch! ... Sie hat dir noch so gefallen ... auch wieder geschieden!«
»Ja«, meinte Fritz Eisner, »mit Hannchen ist das aber nicht sehr erfreulich ...«
Aber Annchen war zu voll von Neuigkeiten. »Und Röschen Pinkus – ebenso weg vom Mann ... schon wieder bei den Eltern ... denk dir nur, auf der Hochzeitsreise ist sein ehemaliges Verhältnis ihnen nachgekommen, und hat sie mit dem Revolver bedroht ... Die anderen haben sogar erzählt, er hätte es überhaupt mitgenommen! ...«
»Ach weißt du, mein Schatz«, meinte Fritz Eisner ...
»Das ist ja im Augenblick für uns nicht so wichtig, aber ...«
»Ja und Erna Langendorf, die frühere Erna Meyerheim, hm ... mh ... mh ... Na, ja, wenn ein Mann seine Frau so behandelt, wie der Langendorf, der soll ja ein ganz böser Knote sein!« (Fritz Eisner erinnerte sich an ihn, als einen sehr jungen, feingebildeten und musikalischen Juristen) ... »dann kann ihr das kein Mensch übelnehmen. Und Anni Bock, die Kunstgewerblerin hat jetzt den Bankier Arnheim doch geheiratet. Na, was blieb seiner Frau anderes übrig ... und sie sollen sehr glücklich mit dem Kind sein. Und Simons, die reichen aus der Landgrafenstraße, vollkommen parterre, wohnen jetzt im Gartenhaus ...« (Annchen hatte von je starkes Interesse für Menschen, die keine waren). »Ach Gott, ich hab' ja so viel gehört. Man ist ja so ganz raus. Leben möchte ich ja zwischen solchen Leuten nicht acht Tage lang mehr ... man braucht ja doch einen geistigeren Kreis – aber es ist doch zu nett, wenn man mal wieder von seinen alten Bekannten was hört. Wen sehe ich denn noch?! Es sieht nebenbei bei Gumperts aus, wie in einem Schloß. Der muß ja das Geld nur so scheffeln. Und famose Bilder. Drei echte Grützner und einen großen Rudisühli. Das soll ja der einzige Schüler von Böcklin sein. Und eine Aufnahme! ... der ganze Ladentisch von Wilczek war da. Und was hatten sie mir vor meinen Platz ausgeschnitten hingelegt: die Anzeige von unserem Roman aus der heutigen Abendzeitung; sie sind alle furchtbar gespannt schon. Ich habe ihnen aber auch den Mund furchtbar wässerig gemacht.«
»Hör mal«, meinte Fritz Eisner, »bei uns hat es zwar auch sehr köstliche Sachen gegeben, und Lucie ist auch sehr gut eingerichtet, wenn sie auch keine echten Grützners hat – ich soll ihnen jetzt erst mal ein paar Bilder aussuchen – aber die Nachrichten, die ich mitbringe, sind keineswegs so durchweg erfreulich wie deine. Hannchen hat eine sehr angegriffene Lunge, die rechte Hälfte besonders und muß innerhalb von acht Tagen fort, in die Schweiz. Nach Davos schickt man jetzt solche Kranke; und es soll ja Wunder tun.«
Annchen wollte es nicht glauben. »Ach, du liebe Zeit!« meinte sie, »das wird noch nicht so schlimm sein! da würde ich an ihrer Stelle doch erst noch zu einem anderen Doktor gehen, zu einem richtigen alten Arzt, der Erfahrung hat. Ich hätte zu solch einem jungen Menschen kein Zutrauen.«
»Zu ihm brauchst du es auch nicht haben. Nur zum Röntgenschirm und zur photographischen Platte. Früher hörte man nämlich so etwas, und da konnte man sich verhören. Heute sieht man's und photographiert es dann nochmal, um ganz sicher zu gehen. Da gibt's keine Zweifel, leider Gottes. Weißt du, daß sie weg muß, ist ja nicht das schlimmste. Das wird sich schon einrichten lassen, möglich, daß es sogar ihre Ehe ein bißchen besser macht – im Vertrauen: es tut mehr not, als je ... Ich will nichts gesagt haben, aber es wäre mir lieber, wir hätten jemand neulich nicht eingeladen! – (na, es wird auch vorübergehen!) ... Mit der Ehe ist es doch nu mal meist so: ›man kann nicht mit- und man kann nicht ohne einander leben‹.«
»Ich kann das nicht leiden«, sagte Annchen weinerlich, »wenn du immer so schlecht von uns Frauen sprichst. Du tust das vor anderen auch, und die denken dann immer, wunder wie unglücklich du mit mir bist.«
»Liebes Kind!« rief Fritz Eisner, »es gibt keinen Menschen, der von den Frauen besser denkt und spricht als ich, ich habe sogar den Mut, sie nicht erziehen zu wollen, und sie so gern zu haben, wie sie sind ... ich habe im Augenblick hier nur von einer vorübergehenden, kulturellen Institution gesprochen, über deren Mangelhaftigkeit alle Beteiligten einig sind (wie mir auch deine ›Letzten Bulletins aus der Gesellschaft‹ zur Genüge erhärtet haben) ... aber über deren Umbildung noch keine festen Beschlüsse gefaßt sind ... Es ist genau, wie bei vielen technischen Dingen, sagen wir, bei der Dampflokomotive: wir wissen bestimmt, daß sie mangelhaft ist, weil sie rußt, qualmt, stinkt, hart läuft, immer auf den Schienen bleiben muß, einen schwierigen Unterbau erfordert, nutzlos und unrationell eine Menge Kohlen frißt ... aber wir haben noch nichts Zweckentsprechenderes gefunden, was wir an ihre Stelle setzen können, die Menschen schnell und leidlich sicher zu befördern. Und wenn du statt ›Menschen‹ das Wort ›Nachwuchs‹ oder ›Kinder‹ setzst, so hast du alles, was ich sagen wollte.«
Aber Annchen war diesem Ausflug nicht gefolgt. Sie liebte Spaziergänge nicht, weder in praxi, noch in der Theorie ... »Ich bin ganz satt«, sagte sie und zog sich eine Schüssel mit Aufschnitt herüber, um sich ein Brot zu belegen. »Aber iß du noch etwas! – Ja, wie stellt ihr euch denn das vor, mit Hannchen? Ich will mal gar nicht von Lulu und ihrem Haushalt reden. Aber das kostet doch ein schweres Geld. Und die Eltern von Egi sind ganz zusammengebrochen, das hat mir Paul heute gesagt. Er kam nachher noch. Ich habe doch so lange auf dich gewartet.«
»Wer ist Paul?« fragte Fritz Eisner erstaunt.
»Na, Paul Gumpert! – früher habe ich doch immer zu ihm Paul und Du gesagt. Man soll nie mit seinen alten Freunden auseinander kommen, man weiß nicht, wie man sie noch im Leben brauchen kann.«
»Liebchen«, sagte Fritz Eisner, »erstens ist das einzige, was Sinn hat, mit seinen alten Freunden langsam, aber sicher zu brechen, weil sich zwei Menschen nie gleichmäßig entwickeln, und einer dann später dem anderen lästig fällt; und zweitens und überhaupt: Wozu so erregt? Es tut dir ja niemand etwas! Du kommst mir immer vor, wie der Borghesesche Fechter; der steht auch schon seit zweitausend Jahren in Angriffsstellung. Ich verstehe gar nicht, daß dem Kerl das nicht endlich langweilig wird! Ich habe durchaus nichts gegen Paul Gumpert. Er ist ein sehr netter und anständiger Bursche, geradezu reizend, ich liebe sogar so unkomplizierte, gesunde Menschen, die ins Leben passen, über alles. Ich beneide sie sehr (wenn ich auch zum Schluß nicht mit ihnen tauschen möchte). Die Welt würde doch an geistiger Inzucht zugrunde gehen, wenn alle Menschen Dantes und Schopenhauers wären. Publikum muß sein.«
»Ach, du sprichst immer so häßlich über meine Bekannten. Ich möchte mal wissen, was du zetern würdest, wenn ich so etwas über deine sagte.«
»Aber, mein Mäuschen, was geht mich denn Paul Gumpert an?! Ich will nur endlich wissen, was er gesagt hat!«
»Gott, gesagt hat er, daß der alte Meyer und Arthur Meyer, weil sie eben sich übernommen hätten, und sie niemand gestützt hat, ganz glatt bankrott sind. Und daß die Sache heute beim Amtsgericht gemeldet wird. Das tut mir natürlich bitter leid. Erstens für sie, die alten Leute, die es zum Schluß doch anders gewohnt waren. Dann für Egi, denn es schadet ihm. Und endlich für Hannchen – weil ihr Geld, wenn sie es nicht beizeiten herausgezogen haben, doch auch mit fort sein wird. Nun ja, Egi verdient ja jetzt etwas durch die neue Redaktion. Aber – ob das genügt?«
»Es sind sogar andere, anscheinend große Sachen für Egi im Wege, eine Berufung ins Ausland.«
»Ach Gott«, meinte Annchen, »so etwas höre ich seit vier Jahren jede Woche nun dreimal! Warum soll es denn mit einemmal etwas werden?! Man kann sich doch nur an das halten, was ist. Und das ist doch sehr wenig.«
»Na ja, ungefähr das, wenn auch nicht ganz so schlimm, hat mir Hannchen heute auch gesagt. Aber ihr bekommt doch nun ein paar tausend Mark von Tante Trautchen in die Hände. Und deine Mutter, wenn ich recht gehört habe, sogar fünfundzwanzig Tausend. Da wird es sich schon ermöglichen lassen!«
Annchen lachte. »Mir kaufe ich ein Suite-Case, und dir schenk ich eine goldene Uhr«, sagte sie, »mit deiner Nickeluhr kannst du überhaupt nicht mehr gehen. Erinnerst du dich noch, wie wir als Brautpaar bei Tante Agnes Besuch machten, und sie ihr ganzes Urteil über dich nachher in die Worte zusammenfaßte: ›Ach, er trägt doch 'ne Nickeluhr! So etwas darfst du, wenn du jetzt ein berühmter Mann wirst, nicht mehr! Überhaupt mußt du endlich anfangen, auf deine Kleidung ein bißchen mehr acht zu geben.«
»Du irrst dich, mein Liebling, das hätte ich früher tun müssen. Aber wenn wir berühmt werden, dann wollen wir gleich so berühmt werden, daß ich das nicht mehr nötig habe – diese Phase überspring ich – so berühmt, das alle Leute sagen: wie reizend und einfach von ihm: er trägt sogar eine Nickeluhr! Denn weißt du, ich selber kaufe mir doch nie eine goldene. Und von dir fürchte ich, werde ich, wenn es von Tante Trautchens Geld gekauft werden sollte, nie eine bekommen ... denn ich mißtraue der Sache!«
Annchen lachte immer noch. »Gott, ich wage es ja nicht zu sagen; ich glaube aber auch nicht eher dran, als bis es mir der Geldbriefträger hier auf den Tisch aufzählt!«
»Hör mal, wir wollen aber noch mal an deine Mutter telephonieren, daß sie morgen ja zu Mittag kommen, damit wir das wegen Hannchen mit ihr in Ruhe besprechen können. Die arme Frau tut mir leid, denn sie hat mit Hannchen doch schon genug Sorgen gehabt in den letzten Jahren.« Und damit nahm Fritz Eisner das Telephon ab, und rief die Nummer, noch bevor Annchen Einspruch erheben konnte ... denn Frau Luise Lindenberg hatte von einer befreundeten Familie, mit der sie ein Herz und eine Seele war, einen Nebenanschluß genommen. Sie wollte eigentlich nicht, aber sie hätten ihn ihr geradezu aufgedrängt.
»Wer ist denn jetzt noch da? Was wünschen Sie eigentlich?« klang es mit dem Ton eines Viehtreibers Fritz Eisner ins Ohr.
»Ach, verzeihen Sie«, flötete Fritz Eisner, »würden Sie vielleicht so überaus liebenswürdig sein, mich mit dem Nebenanschluß ... Frau ...«
»Jetzt nach Zehn? Da hört sich doch die Weltgeschichte auf!« brüllte ein angeschossener Wildeber drüben.
»Da müssen Sie Ihre Uhr nach der Normalzeit stellen – mein Herr! – Und außerdem geht mich das einen Dreck an! Ich möchte den Nebenanschluß haben und weiter nichts von Ihnen ... Verstehen Sie ... Und wenn ich des Nachts um dreie anklingele. Es handelt sich um einen Krankheitsfall!«
»Das ist mir aber ganz gleich«, rief wieder der freundliche Besitzer des Hauptanschlusses, »Beleidigungen verbitte ich mir von Ihnen! Haben Sie mal einen Nebenanschluß! Das wünsche ich meinem ärgsten Feinde nicht! Man wird ja verrückt dabei!«
»Hörmal, Annchen«, meinte Fritz Eisner beiseite sprechend, wie die Personen in Kotzebueschen Stücken, während es in den Drähten ratterte und knackte und wild klingelte ... der Hauptanschluß ohrfeigte mit Signalen ... »die scheinen aber nicht sehr gut miteinander zu stehen!«
»Hab' ich dir denn das nicht erzählt? Muttchen verkehrt doch überhaupt nur noch durch den Rechtsanwalt mit ihnen, und bestellen tun sie gar nichts mehr ... mit solchen Leuten kann man ja nicht anders auskommen.«
Und dann kam drüben die hohe, aber erschrockene und doch verschlafene Stimme von Frau Lindenberg. »Ach du bist es, Fritz? Ich dachte schon, es wäre Egi?«
»Warum denn Egi?«
»Na, weißt du denn nicht – heute früh ist doch rübergekabelt worden und ich hoffe, man hätte schon Bescheid.«
»Der kann doch erst frühestens morgen kommen ... indem ich mich aus der Schule so dunkel erinnere, daß auf der anderen Seite der Erdkugel gerade dann Nacht ist, wenn bei uns Tag ist. Aber deswegen rufe ich nicht, um dir diese Belehrung zukommen zu lassen. Ich wollte nur wissen, ob du morgen bestimmt kommst. Ja?! Sehr schön! Und Annchen (sie war neben Fritz Eisner getreten) will dir noch etwas sagen ...«
»Wie geht es Little?«
»Ach weißt du, Muttchen«, schon hatte Annchen ihrem Mann den Hörer entrissen, »sie war vorhin etwas quenglich. Ich habe sie eine ganze halbe Stunde rumgetragen. Aber das kommt wohl von den Zähnen. Nachher ist sie auch wieder ganz ruhig eingeschlafen. Aber ich war heute bei M'chen Gumpert zum Kaffee – also die hat ein Glück gemacht! Und dann hört man doch von all den alten Freunden und Freundinnen wieder etwas ... man lebt doch hier ganz wie abgeschnitten, wie; außerhalb der Welt. Das von Selma Westheim hast du wohl schon gehört?! Auch wieder geschieden! Und Röschen Pinkus, denke doch nur! das frühere Verhältnis von ihrem Mann soll sie doch mit einem Revolver bedroht haben! Entsetzlich, solch schönes Mädchen ...«
Fritz Eisner schlich zu L. D. ins Nebenzimmer. Aber da lag sie, lächelte im Schlaf und nuckelte sehr leise an den Mittelfingern (wenn man sie herausnahm, steckte sie sie wieder in den Mund, wie mit einem Scharnier, das zurückschnappt, wenn man es weggebogen hat). Und der Kopf war auch nicht eine Spur warm! Ach nein, sie war ganz in Ordnung. Richtig! das von dem merkwürdigen Amateurgärtner mußte er ja Annchen noch erzählen, wenn sie fertig mit telephonieren war. Aber, als er schon lange ausgezogen war, hörte er Annchen immer noch drin ihre Monologe in den Trichter sprechen; denn, wenn sich auch Frauen meist nichts zu sagen haben, so haben sie doch furchtbar viel miteinander zu reden.
Als Fritz Eisner aufwachte, klopfte Pauline, oder, um recht zu berichten: da Pauline klopfte, wachte Fritz Eisner auf. »Ach«, sagte sie, »haben Sie vielleicht einen Groschen? der Postbote kann nicht rausgeben.«
»Wozu braucht er ihn denn?« fragte Fritz Eisner, stand selbst schamhaft hinter der Tür und schob seine Hand samt dem Groschen durch die Spalte.
»Ach, da ist ne portopflichtige Dienstsache für die gnädige Frau!« sagte Pauline. Man konnte ihr diesen Unsinn mit ›Gnädige‹ und so nicht austreiben. »Und ein Paket an die Gnädige Frau wäre gleichfalls da.«
»Portopflichtige Dienstsache?« kam es vom Bett her sehr erregt. »Was ist denn das nun wieder?«
»Hier!« sagte Fritz Eisner und reichte Annchen das gelbe, gekniffte Etwas, denn Annchen öffnete zwar fast alle Briefe an ihn, das war doch das wenigste, wenn man verheiratet wäre ... zwischen Mann und Frau dürfe es keine Geheimnisse geben ... war aber sehr ungehalten, wenn er etwa versehentlich einmal unter der Post einen an sie gerichteten mit aufriß ... das wäre ja gerade das Zermürbende an der Ehe, daß man gar kein Privatleben mehr haben könne.
Little Dorrit war auch aufgewacht, setzte sich im Körbchen hoch, riß die Augen auf und begann, mit einem süßen Unsinn kakelnder Töne, quietschfidel die ihr bekannte Umwelt zu begrüßen: vom Wickeltisch bis zum Schwamm, von der Kommode bis zum Schrank, vom grünen Läufer auf dem Boden bis auf die blanke Messingampel mit dem grünen Preßglas, anscheinend aus Maitrankbonbons hergestellt, ... und die Nachttischlampen, die Gummipuppe und den großen Mops, den man aufziehen konnte. Und dann wackelte er durch das Zimmer und fiel um, sowie er irgendwo gegen stieß, und strampelte ganz schnell mit den Beinen, wie ein Käfer, den man auf den Rücken legt; und er schien dann auch eine Unzahl von grauen Papiermachébeinen zu haben, gar nicht nur an jeder Ecke eines, wie sonst.
»Da lies mal!« sagte Annchen ganz gerührt. »Man mag nun gegen Tante Trautchen sagen, was man will, sie war gewiß komisch, aber sie war doch ein › guter‹ Mensch!«
Da stand es schwarz auf weiß, in gerichtlicher Abschrift. »Ich vermache Fräulein Annchen Lindenberg, Tochter von Frau Luise Lindenberg, Berlin, Steinmetzstraße 35 I, zehntausend Mark.«
Es waren zwar nicht fünfzehntausend, wie erhofft, aber zehntausend Mark, das war jedenfalls besser als eine Ohrfeige im Dunkeln.
»Also, wenn sie jetzt da wäre, das gute alte Tierchen«, rief Annchen dankerfüllt, »ich würde ihr einen Kuß geben!«
Aber – da war noch ein Respektsbogen daran. Amtsgerichte, selbst solche aus Melsungen und Umgebung, pflegen doch sonst an simple Untertanen nicht mit Respektsbogen zu schreiben, höchstens an obere Instanzen, an Ministerialdirektoren mit dem Titel Exzellenz. Ach, da stand ja noch etwas! Na, das war gewiß irgend etwas darüber, wann und wie es zur Auszahlung kam!
Plötzlich warf sich Fritz Eisner über das Bett und begann zu lachen, daß das ganze Bett nur so krachte. Er kam gar nicht wieder zu sich. »Annchen, Annchen!« schrie er, »ich kann nicht anders. L. D.! Ich kriege ja gar keine Luft mehr! Ach Gott, ach Gott, ach Gott – also weißt du denn, was wir geerbt haben! Was du geerbt hast?! nee? neee? – Minus Zehn Pfennig!!!! Sieh mich nicht so verdutzt an! Hast du denn die Nachschrift nicht gelesen? Nein? Na, die mußt du lesen? Die ist doch gerade die Hauptsache, ist die Mandel auf dem Pfefferkuchen ... ach Gott, ach Gott, ach Gott! Das andere ist ja ganz gleichgültig! ›Da meine Großnichte Annchen Lindenberg geheiratet hat und der Unterstützung von meiner Seite anscheinend nicht mehr bedarf, so erkläre ich hiermit das Legat von zehntausend Mark vom 15. Januar 1887 für null und nichtig‹ ... Das ist doch die Hauptsache! Minus zehn Pfennig! Du brauchst sie mir aber nicht vom Wirtschaftsgeld wieder zu geben, das ist mir der Spaß wert, so billig bin ich noch nie zu einem Vergnügen gekommen. Die Leute, da gestern in der Friedrichstraße, haben sicher viel mehr ausgegeben, und sich viel weniger gut amüsiert!!« Fritz Eisner suchte nach dem Taschentuch, um sich die Tränen zu trocknen, die ihm über die Backen kullerten. Aber Annchen schluchzte.
»Da brauchst du doch nicht zu weinen, mein süßes Nuckelchen ... soll dir nie etwas Schlimmeres passieren! ... Ach Gott. Ach Gott, ach Gott, wie kann man über einen Menschen, der so viel Humor besaß, weinen? das heißt doch sein Andenken schlecht ehren!«
»Ach, ich weine ja gar nicht deswegen! Ich weine nur, weil du dich über mich lustig machst!«
»Aber mein geliebter Goldhase, nichts liegt mir ferner. Ich habe über Tante Trautchen schon so oft gelacht, und nun lache ich eben noch das letztemal zu ihrem Andenken. Du mußt es mir nicht übel nehmen, ich kann nicht anders. Aber da ist doch noch ein Paket für dich gekommen. Und wenn ein Goldklumpen aus Clondyke drin wäre – mehr Vergnügen könnte er mir auch nicht machen, wie diese ›portopflichtige Dienstsache‹!«
Und schon knipperte Annchen auf, während Fritz Eisner eine Schere brachte. Fritz Eisner war bei Knoten für das Prinzip Alexanders, Annchen mehr für das der Penelope. Sie mußte knippern, und wenn's noch so schwierig und verknotet war. Also: viel Holzwolle und obenauf ein Brief! Annchen überflog und referierte zugleich: ein Andenken an ihre geliebte Mutter ... in Ehren halten ... etwas Besonders-Schönes ausgesucht, da ich weiß, daß vor allem dein Mann an so etwas Freude hat ... Die arme Mutter hat ja leider sonst nichts hinterlassen ... seit zehn Jahren von mir pflichtschuldigst unterhalten worden, trotz allem, was zwischen ihr und mir vorgefallen ist ... Dies zur Aufklärung, falls das Gericht gegen meinen Wunsch sich nicht davon abbringen läßt, die Kopie der euch betreffenden Abschnitte eines längst hinfälligen Testaments euch zuzusenden. Leider hat die gute Mutter, wie das bei alten Leuten ja keine Seltenheit, wohl in der letzten Zeit ihre Sinne nicht mehr ... Möge ... und so weiter und so fort ...«
»Ach!« rief Fritz Eisner begeistert, er vergaß ganz sein Lachen ... »das packen wir gleich aus. Vielleicht ist es eine alte Höchster Gruppe, oder Fulda, oder Frankenthal? Das kann da alles in der Gegend sehr gut sein.«
Aber Annchen protestierte, das würde zuviel Schmutzerei geben mit der Holzwolle, und sie müsse es dann nur wegräumen. Sie wollten es zusammen nach dem Frühstück in der Küche auspacken.
Doch Fritz Eisner sagte, daß er hier die Pappe unterlegen würde, und daß er ganz vorsichtig sein würde; und dann begann er so langsam Schicht um Schicht abzunehmen, mit zarten Fingern, wie ein Museumsdirektor unersetzliche babylonische Funde ... Und erst kam ein Köpfchen heraus, und dann ein Arm, und dann eine Figur, und dann riß Fritz Eisner die Holzwolle herunter – und die ganze Scheußlichkeit stand da ... es war minus zehn Pfennig! Es war nicht Frankenthal, und es war nicht Höchst ... und es war nicht Fulda ... es war ... Jahrmarkt. Es war nicht mal Jahrmarkt ... es war Schießbude! Und zerbrochen war es auch! Es war nicht Biedermeier, und es war nicht Rokoko, sondern es war eine Biedermeiergruppe in Rokokotrachten. Irgend welche süßen Wesen, in Spitzen gehüllt, umwarben einander. Und sie glänzten, als ob sie mit Schweineschmalz abgerieben wären. »Reizend«, sagte Annchen, »wo stellen wir die nur hin?!«
»Ja, da wird sich Pauline sehr freuen!« sagte Fritz Eisner. »Es wird sie in ihrer Kammer immer an das Schützenfest in Beeskow erinnern«, und ging ins Badezimmer. Während jetzt Annchen sich vor Lachen kugelte, – sie hatte dazu L. D. zugezogen, – war Fritz Eisner verärgert. Bei Fulda, Höchst und Frankenthal hörte bei ihm der Humor auf.
Aber dann am Vormittag war doch Fritz Eisner recht bedrückt wegen Hannchen. Es kam ihm jetzt erst so wirklich zu Bewußtsein, was doch diese Untersuchung von Doktor Spanier da gestern bedeutet hatte. Er könnte ja nochmal anfragen, was die Platte bei der Entwicklung ergeben hätte. Aber es hätte auch keinen Sinn. Sicherlich war es kein Irrtum. Und was es hieß, einen Menschen auszuschalten – nicht für heute und morgen, oder für vier Wochen – sondern einfach für Jahre, und das sogar noch im günstigsten Fall: ... das springfreudige Leben nahm Abschied von ihm, man gab ihm keine Kutte und keine Rassel, wie das Mittelalter den Aussätzigen, aber die größte Leidensbrüderschaft der Erde nahm ein neues Mitglied auf und vereidigte es auf ihre geheimen Satzungen, auf ihre stillen melancholischen Entsagungen, auf die traurige Lust und Unbefriedigtheit ihrer Sinne, die immer wieder vergessen will, und in jedem Genuß doch immer nur den Abschied schmeckt ... was das bedeutete, das erschöpfte man so, im ersten Augenblick gar nicht. Aber es war schon ein schweres Ding, ob man sich zuerst dessen bewußt wurde oder nicht.
Auf dem Balkon lag die Sonne. Also – da war auch die Schwalbenschwanzraupe unter einem Wasserglas. Pauline hatte sie doch mitgenommen. Sie hatte einen krummen Buckel gemacht, die Raupe, sich schon angesponnen, hing ganz reglos, zuckte nur hin und wieder wie in Krämpfen und wand sich in seltsamen Bewegungen von rechts nach links. Fritz Eisner wartete eine Weile, spannte auf den Augenblick, wo die Haut im Rücken reißen würde, und die noch weiche Puppe sich durchschäle ... aber dann war es ihm doch zu lange, und er träumte über die roten und orangefarbigen Kapuzinerkressen in die Sonne hinaus. Es war mal gerade schön, aber eigentlich kühl für die Jahreszeit. Es war überhaupt jetzt wieder ziemlich frisch und regnerisch, denn in Berlin, da ist ja doch immer auch nur, wie Heine sagt, ›ein grün-angestrichener Winter‹. Und selbst in der Zeit, die sich Sommer nennt, pustet mal alle ein, zwei Monate der Winter da oben von den Lofoten und von Island herüber und ruft uns wie durch ein Megaphon in Wind und klatschendem Regen zu: ›Vergeßt nicht, daß ihr eigentlich mir versklavt seid!‹ Die Meteorologen aber, die für so etwas schlechte Ohren haben, schreiben dann von einem Minimum nordwestlich von Irland und von Zugstraße Vb. Und seltsam, während Fritz Eisner so in der Sonne saß, die mal einen leichten Tüllschleier sich vorband, mal ihn sich wieder hastig vom Gesicht riß, wie eine Dame, die meinte, daß sie diese Farbe nicht kleide, spürte er so ganz langsam, wie in ihm wieder die Figuren sich zu formen begannen, Dialoge führten, und durch sehr stille und sehr altmodische Straßen in gemächlichen Schritten herankamen. Noch waren sie weit draußen, aber sie näherten sich ihm schon wieder, umschwärmten ihn wie halbflügge Vögel, die sich noch nicht von ihrem Nest trennen wollen und wieder ängstlich nach den Eltern rufen.
Aha, da war ja Frau Lindenberg! Drinnen sprach sie schon und trat dann auf den Balkon, um ihren Schwiegersohn zu begrüßen. »Na, hast du Hannchen mitgebracht, liebe Mutter?«
»Hannchen?« rief Frau Lindenberg, als sähe sie darin eine Verletzung territorialer Hoheitsrechte, die sogleich einen diplomatischen Notwechsel erforderten ... »Hannchen?! – die hat doch heute Professor Toxeira zu Tisch, einen entzückenden Menschen, daran könnte sich wirklich mancher ein Vorbild nehmen, von einer Höflichkeit gegen Damen, wie eben alle Südamerikaner.« Sie schien danach sehr viele von jenen zu kennen.
»Ach ja«, meinte Fritz Eisner, »wenn du ihn das nächste Mal siehst, so frage ihn nur, ob Cordoba in Uruguay liegt!«
»Warum?« »Ach, da sollst du mal sehen, wie höflich er dann erst ist. Haben sie denn schon die Depesche bekommen?«
»Nein!« sagte Frau Luise Lindenberg mit einem Ton, der hieß: Aber was verstehst du denn von dem Internationalen Staatenverkehr?! – »Wie sollten sie denn auch? Die Kabel gehen doch über die Gesandtschaft. Aber es ist nur noch eine Formsache. Es ist fix und fertig ... oder so gut wie fix und fertig!«
»Nebenbei hast du heute auch ein posthumes Liebesbriefchen von Tante Trautchen bekommen?« fuhr Fritz Eisner fort. »Ich habe so über sie gelacht, wie ich nicht einmal über sie damals gelacht habe, als sie mit ihrem Gesicht eines Briefkastens und ihren achtundzwanzig Buchstaben Kehrseite ›Täubchen, das entflattert ist ...‹ sang und man mich beinahe heraustragen mußte. Das sollte man ihr noch auf den Grabstein einmeißeln lassen.«
Frau Luise Lindenberg machte ihr allerernstestes Gesicht. »Der Name dieser Person darf in meiner Gegenwart nicht mehr genannt werden!« sagte sie mit der Stimme von Hamlets Vater.
»Warum?« meinte Fritz Eisner. »Ich für meinen Teil werde ihn sogar noch recht oft nennen ... so hätte ich sie vielleicht vergessen, aber jetzt hat sie sich aere perrenius in mein Gedächtnis eingegraben ... seien wir doch mal ehrlich: das Leben ist eine bitterernste Sache im Grunde« (das wäre die Brücke zu Hannchen) »und da wollen wir denen nicht böse sein, die uns eine vergnügte Stunde mal bereitet haben ... wie mir heute deine Tante Trautchen!«
»Den Namen dieser Person wünsche ich nicht mehr zu hören!« wiederholte Frau Lindenberg mit noch größerer Bestimmtheit (jetzt war sie beim Ton des Erbgeistes aus dem »Faust«) und wollte nach dem Zimmer nebenan zu ihrem Enkelkind abzweigen.
»Nun bleib doch schon mal da!« rief Fritz Eisner. – »Du kommst mir auch wie die Hummel hier vor! Du bleibst nicht eine Minute ruhig an der gleichen Stelle und brummst immer!«
»Also was willst du denn?« Frau Luise Lindenberg lachte gezwungen. »Naja«, sagte sie endlich, »geglaubt habe ich es ja auch nie recht. Gott, es wäre wohl zu schön gewesen!«
Aber Fritz Eisner traute sich immer noch nicht so recht an sein Ziel heran. »Hast du nebenbei heute die Zeitung schon gelesen? Nein? Ach, da steht unter Handelsregister, da wo die Todesanzeigen aus der Kaufmannswelt stehen, doch eine sehr interessante Neuigkeit darin! Arthur Meyer und Co., Berlin SW. (da sind wohl die Bureaus). ›Forderungen sind zu richten bis zum zehnten Juli an den Konkursverwalter!‹«
»So – steht das schon heute in der Zeitung? Aber Neuigkeiten sind das nun gerade für mich nicht. Das hat man ja kommen sehen.«
»Aber sage mal, das war doch eigentlich nicht nötig? Hatten denn da nicht seine zukünftigen Schwiegereltern, die doch gar nicht wissen sollen, wieviel sie eigentlich haben, ihn nicht stützen können? So etwas wird doch sonst gemacht, bis die Katze wieder auf die Beine fällt!«
»Ja, aber entschuldige mal – hat dir das Annchen nicht erzählt? – Arthur ist doch schon seit acht Tagen wieder entlobt. Ihre Eltern haben es nicht gewünscht, und seine natürlich auch nicht. Und Gott – endlich kann Arthur ja auch nur froh sein: diese Erna Silbermann war doch eine entsetzliche Person! Ganz oberflächlich! Was kann an einem Mädchen schon dran sein, das berufsmäßig Tanzpreise kriegt! Und sogar in Heringsdorf! Für Arthur, der doch wirklich ein tiefer Mensch ist, wäre das doch nichts gewesen!«
»Ah – ich dachte, Hannchen hatte sich schon so auf die Schwägerin gefreut! So – nun setze dich mal dahin – einen Augenblick ... quirle doch nicht immer herum. Sieh mal, die Aussicht hier ist doch eigentlich wunderhübsch. Kannst du dahinten den Kaiser-Wilhelms-Turm sehen? Nicht mal durch den Kneifer? Hier habe ich mir sogar gestern eine Schwalbenschwanzraupe unter ein Glas gesetzt. Ich laß den Schmetterling nachher, wenn er ausgeschlüpft ist, fliegen. Aber es macht mir Spaß. Hast du eigentlich heute schon Hannchen gesprochen? Gestern abend noch durchs Telephon? War sehr aufgeregt. So so? wegen des Besuches heute? Na, es wäre ja eine große Sache ... für ... Egi. Wie findest du nun Hannchen so in letzter Zeit?! Ganz gut? Naja – also nun wollen wir doch mal wie zwei alte Freunde – wir sind doch gar nicht so viel an Jahren auseinander (was macht ein Dutzend Jahre denn?) – darüber reden! Ich bin gestern mit ihr beim Doktor Spanier gewesen, dem Mann von Lucie, der Röntgenspezialist und vor allem Lungenspezialist ist und ich glaube auch in Krebsforschung arbeitet.«
Und nun begann Fritz Eisner haarklein alles zu berichten. Und Frau Luise Lindenberg hörte ganz gespannt zu, ohne ihn zu unterbrechen. Alles Überdrehte, Theaterhafte ihres Wesens, war im Augenblick von ihr abgefallen. Sie erinnerte Fritz Eisner, wie sie so wie er da saß, und langsam das wahre Menschentum, die echten Züge ihres Wesens mit einer ganz sicheren Klarheit wieder in ihr Gesicht traten, durch all die tausend falschen Masken und Gefühlsschminken ihres Wesens, erinnerte ihn an eine gotische Madonna, die in der Renaissance, im Barock, im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert immer wieder mit Farbe überschmiert worden ist, fast unkenntlich geworden ist, alle Feinheiten, allen ihr innewohnenden Ernst der Stimmung verloren hat. Ablaugen darf man sie nicht ... dann bekommt man nur das blanke, rohe Holz ... Und nun klopft man so ganz langsam und mit feinen Fingern und mit leichten Meißelschlägen eine Schicht nach der anderen ab. Hier bleibt noch etwas drauf, will nicht gleich weichen, da und dort. Aber so ganz allmählich kommen sie wieder, die reinen Formen, kommt sie wieder, die alte Vergoldung durch. »Ja, also das Fazit: lungenkrank ist Hannchen. Wie sehr – wollen wir mal ganz außer acht lassen. Nach Davos muß sie. Und – wie sollen wir es möglich machen?! Das ist die große und letzte Frage jetzt.«
»Gott, wie ich den Menschen hasse, ich weiß, er ist trotzdem ein ungewöhnlicher, ein überbegabter Mann, ich weiß, ich weiß – nein, ich verkenne das durchaus nicht! Soll er dumm sein! Meinethalben mag er kaum seinen Namen schreiben können! ... Aber ich wollte einen Menschen, einen Menschen, dem ich mein Kind anvertrauen konnte, mit Gefühl und mit dem Sinn für Verantwortung für das, was ich da in seine Hände gelegt habe. Meinst du – ich hätte mich soviel um Hannchen in all den Jahren noch gekümmert, wenn ich nicht gewußt hätte, wie sie bei ihm friert! Reichtümer soll er nicht erwerben! Und wenn sie hungern sollten – bei mir wäre immer noch ein Tisch für sie gedeckt, solange ich selbst noch einen Brocken habe. Aber einen Menschen! ... einen Menschen! Was hat er aus meiner Tochter, aus diesem schönen Wesen gemacht? Die Hälfte von ihrem Leben hat sie ihm gegeben, die Hälfte ihrem Kinde. Und was ist noch für sie geblieben? Und nun das noch? Du mußt nicht denken, daß ich blind bin – ich sehe auch Hannchens Fehler. Aber sie war anders, und sie hätte anders werden können. Und er wird sich nun wegschleichen, wie ein Dieb, der ein Haus angesteckt hat, das er ausgeraubt hatte; wird, weil er hier abgewirtschaftet hat, drüben den großen Mann spielen, den Excellentissimo professore tedesco ... und meine arme Tochter werden sie hier indes von Spital zu Spital schleifen. Und wenn es ihm gut geht, dann wird er es vielleicht auch bezahlen, vielleicht auch nicht. Und wird allen Leuten vorjammern, was er für eine Kugel am Bein hat. Und er wird sich sehr groß dabei vorkommen, weil er einsam in der wilden Fremde lebt und noch drüben in Deutschland für seine arme kranke Frau und ihren Sohn (nicht seinen) sorgt. Ich – ich weiß das alles vorher. Und Hannchen wird mit einem Himmelsblick mir sagen: mein armer, großer Junge, er hat es so schlecht draußen. Ach Gott, wie ich diesen Menschen hasse. Es dreht sich mir das Herz herum, wenn er nur zu mir ins Zimmer tritt. Ich sehe es vor mir. Es wird jetzt eine große Komödie geben und Rührung und Abschied. Und schon vom Schiff aus wird er Hannchen dann nahelegen, ob es nicht besser wäre, wenn sie sich auch gerichtlich trennten. Oh, ich kenne das alles.«
Es ist ein Unsinn, zu sagen, der ist groß, und der ist klein ... der ist wertvoll und der ist wertlos. Es hat in diesem Theaterstück jeder einmal seine Rolle, seine große Szene, sein Stichwort. Der kriegt es früher, der später, aber kriegen tut es ein jeder. Und hier, wie diese Mutter um ihre im Leben verlorene Tochter jetzt rang, niedergeschmettert von der neuen Erkenntnis und doch hart dabei, und schon in ihrem Inneren auf zukünftige Aufgaben lauschend, ›ich nehme natürlich solange Lulu, den lasse ich denen drüben nicht – der soll mal anders werden!‹, das war ihre große Szene.
»Sieh mal«, sagte Fritz Eisner, »ich kann da nicht ganz mit dir mitgehen. Ich habe ja einen seltsamen Beruf mir gewählt. Ich bin das Gegenteil eines Richters. Der verurteilt. Ich spreche frei. Der Richter spricht immer von Schuld. Ich kenne nur Schicksale. Hier wie da. So gut bei Hannchen wie bei Egi. Ich kann da nicht ganz mit dir gehen. Aber nun müssen wir das Wichtigste besprechen: wo ist das Geld aufzutreiben? Daß von Egis Eltern im Augenblick nichts zu erwarten ist, wird dir klar sein ... Tante Trautchen (Frau Luise Lindenberg zuckte zusammen, lächelte aber dann doch, soweit dieses Wort überhaupt im Inhaltsverzeichnis ihrer Gemütsbewegungen stand) war nur ein guter Witz ... Ich käme kaum in Frage. Später – nicht ganz ausgeschlossen. Aber, wenn ich heute ungefähr mit meinen Schulden reinen Tisch mache, bleibt nicht viel vom ersten Honorar. Egi?! Also – was bleibt?«
»Gott«, meinte Frau Luise Lindenberg, »was ich an Zinsen habe und vom Haus – reicht gerade so für eine einzelne ältere Dame, die sich alle zwei Jahre mal ein neues Seidenkleid machen lassen und ihren Enkelkindern ein Weihnachtsgeschenk kaufen will. – Woran soll ich noch sparen? Ich lebe doch schon wie eine Waschfrau. Und wovon soll ich dann später leben? Ich kann nichts verdienen. Wenn's an mir läge, würde ich ja morgen sterben, aber auch das darf ich jetzt nicht mal. – Und in meiner Familie wird man abscheulich alt.«
»Ja, ich dachte, ob nicht die Möglichkeit ist: noch eine kleine Hypothek aufs Haus, die man nach vier, fünf Jahren dann abträgt. Oder die erste Hypothek erhöhen – das macht dann weniger Zinsen. Drei- oder viertausend Mark würden kaum einen Unterschied von fünfzig Mark im Quartal machen, das wäre nicht so spürbar und dein Haus ist ja kaum zu fünfzehn Prozent belastet. Aber es muß eben schnell gehen. Denn in acht Tagen soll Hannchen schon fort. Aber selbst, wenn das nicht ginge, wäre es auch nicht so furchtbar schlimm, denn Egi muß dann doch – wenn das wirklich mit Südamerika was wird, Geld für die Ausstattung und die Überfahrt gleich in die Hände bekommen!«
Da schellte es draußen. Sehr deutlich. Sehr laut. Es hatte das wohl schon öfter getan, bis es durch die geschlossenen Türen nach dem Balkon drang. ›Ist denn niemand da?‹ – ›Nein – L. D. und Pauline sind doch indessen weg. Und Annchen ist ein wenig mitgegangen. Sie sagte, sie muß sich den Ärger mit Tante Trautchen – aber das ist wirklich das allerletzte Mal, daß ihr Name über meine Lippen kommt – auslaufen, sonst kriegt sie Migräne davon.‹
Und Fritz Eisner sprang auf, um zu öffnen. Es war ein Herr und eine Dame. Oder sagen wir – ein Mann und eine Frau. Er sah ganz biderb aus – Stammtisch, Skatbruder, trug einen flachen Kragen, ein kleines, schwarzes Knötchen, einen Gehrock von altväterlichem Schnitt und dazu einen grobkrempigen, sehr weißen Strohhut, eine Kreissäge auf dem runden Kopf. Und die Dame war eine von jener Sorte, die in der Jugend sehr hager sind und im Alter dann dünner werden, und wie bei Wippchens Wirtin, sah man es ihr noch heute an, daß sie früher mal recht häßlich gewesen war. Sie trug ein weites, flohbraunes und violettschimmerndes Taffetkleid, changeant, köstlich, wie aus den Zeiten der seligen Großmutter und sicher auch von dort her übernommen, und zwanzigmal modernisiert; und dazu einen Hut aus braunem, geknitterten Stroh, in der Form jenes altertümlichen Gebäckes, das man »Storchnest« nennt, mit dito Schleifen und Blumen, die aus den Knitterfalten herauswuchsen wie Farne und Bienensaug aus den Mauerritzen einer Ruine. Und dazu dann, ganz stilecht, Armbänder – auf hageren, roten, bloßen, verschafften, sommersprossigen Armen, – breit und biedermeierlich aus Goldblech mit weißer und blauer Emaille; und eine Brosche aus derselben Garnitur von der Größe des Brustschildes eines Krongardisten. Sie lag über den Gruben ihres Halses, wie ein Brett über einer Brunnenkufe.
Fritz Eisner wollte schon sagen: »Verzeihen Sie, das ist ein Irrtum von Ihnen – das Sängerfest vom Kriegerverein ist in Hankels Ablage«, aber da erkannte er: das war ja der ›Postassistent‹! Doch warum hatte er seine Mutter aus Magdeburg mitgebracht?
Doch schon hatte Frau Luise Lindenberg heimatliche Laute vernommen – der Dialekt ist (nach Goethe) das, in dem die Seele ihren Atem schöpft – und stürzte vor. Und küßte ihn, wie bei Monarchenbegrüßungen auf beide Wangen. »Wilhelm!« rief sie. Jetzt hatte sie die Maske wieder vorgebunden.
»Das ist Röschen!« sagte Wilhelm, »wir haben uns vorige Woche geheiratet. Es ist nett, daß ich dich gleich hier treffe, dann brauche ich dir nachher nicht noch einen Besuch zu machen.«
Und es war nett. Es war sogar sehr nett ... ach, der irrende Ritter der Liebe vom Gendarmenmarkt hatte in seine seelische Urheimat, in die tiefsten Niederungen des Kleinbürgertums zurückgefunden. Wo waren jetzt seine Frauen der Oberingenieure von Siemens & Halske, und all die Sirenen sonst, die aus den Armeen der Männerwelt gerade ihn besitzen mußten? Und die seine so beflügelte Phantasie einst über die Bühne wandern ließ?! Sie waren ihm entflattert, zusammen mit seinen hohen Stehkragen, die ihm zu eng wohl geworden waren, und die er deshalb an einen jüngeren Kollegen aus der Buchhalterei verkauft hatte (jedes Ding hat seine Zeit), und mit den bunten Bindern. Selbst der Stammtisch der Postassistenten sah ihn nur noch selten. Er hatte ihn verulkt, als er heiratete und ihm zahlreiche Karten, Rohrpostbriefe, Telegramme gesandt (diese Leute scheinen doch Vorzugspreise bei der Post zu genießen!), die dem Vetter Wilhelm sicher sehr viel Spaß gemacht hätten, wenn sie an einen anderen geschickt worden wären, die ihm aber doch mit dem Ernst und der Heiligkeit seiner Ehe nicht ganz im Einklang zu stehen schienen.
Und er hatte es gut getroffen. Gewiß, Röschen war ein armes, alterndes und abgetriebenes Tierchen. Aber war nicht zänkisch, nicht unordentlich, log nicht, hatte einen Sprachfehler; und sie war auch sonst ganz weich. Sie saß neben ihm jetzt auf dem Sessel in ihrem flohfarbenen Seidenkleid, als ob sie Eier ausbrütete.
Sie sah ihn immer nur von der Seite an und sagte »Willichen – aber Willichen!« Und sie blickte sich ganz heimlich hier um und hatte das Gefühl, daß es vielleicht bei vornehmen Leuten immer so aussehen müsse, daß aber doch ihr neuer Muschelvertiko ihr besser gefiele.
Und auch Lottchen, ihre Tochter, die auch schon drei Jahre goldsticken lerne und Michaeli ausgelernt hätte, sage zu Hause immer Willichen ... ›ach Djott – an Vata kann sich doch so'n djroßes Mädchen zu schlecht djewöhnen‹. Und sie brächte ihrem Manne immer sofort die Morgenschuhe, wenn sie ihn nur schon draußen auf der Treppe hörte. Sie wären alle drei zusammen sehr djlücklich!
In dem Seelenleben von Röschen schienen ihre Chefs eine große Rolle zu spielen, ihr alter und ihr neuer Chef. Jedenfalls hörte Fritz Eisner jedesmal, sowie er auf das Gespräch zu achten begann, das Wort Chef aufklingen. Beide, der alte und der neue hatten etwas zur Hochzeit geschenkt, trotzdem sie es gar nicht gesagt hätte; und Willichen sein Chef hätte sich auch nicht lumpen lassen ... eine pyramidale Metallbowle von Rosenhain. Ihr jetziger Chef hätte ein Likörservice, und ihr alter Chef ein djroßes djerahmtes Bild, »Die Arbeit« geschenkt. Das hätten sie aber ins Schlafzimmer gehängt, weil sie im guten Zimmer schon eins hätten mit'n Djoldrahmen.
Und dann waren sie bei der Einrichtung und den Sachen, die sie sich noch so langsam anschaffen wollten, denn so ganz komplett wären sie ja doch noch nicht; aber, wenn Willichen erst die zweite Prokura bekäme; und sie verdiene ja auch noch; trotzdem sie nur noch Hausarbeit nähme; denn seit sie einen Mann hätte, wäre ihre Wirtschaft ja doch viel schwieriger geworden, »un wissen Sie, ach Djott, so immer ins Djeschäft is man auch zuviel Versuchungen ausgesetzt. Un das wäre Willichen doch auch nicht wieder lieb.«
Und dann erzählte Röschen, daß sie aus einer alten Handwerkerfamilie käme aus der Parochialstraße, wo früher alle Gelbgießer gewohnt hätten; sie wäre selbst so ein Stück Alt Berlin. Und sie sprach von ihrem »Mutterchen«, das so lange bei ihr gelebt hätte, und das erst vorjten Winter mit achtundsiebzigeinhalb bei ihr djestorben sei – sonst hätten sie ja schon viel früher sich bekommen! Eidjentlich wollten wir ja auch ne Hochzeitsreise zusammen machen (als ob man das allein machen könnte! dachte Fritz Eisner) in die märkische Schweiz; aber Willichen kann jetzt keinen Urlaub bekommen; denn jetzt ist doch grade Hauptsaison für leichtere Herbstware.
Und dann kamen Annchen und Pauline herauf, das Kind hinlegen. Es wäre doch ab und zu unterwegs ein wenig ungnädig gewesen, die Zähnchen machten ihr wohl zu schaffen.
»Dja Dja, sie müßten ihr eben Ohrringe stechen lassen – des is solch altes Djeheimmittel; aber es hilft. Sonst kriegt sie Ihnen sicher den Fluß.«
Aber Frau Luise Lindenberg war dagegen: Sie hätte das zwar auch gehört; aber das macht man nicht mehr.
Annchen freute sich aufrichtig mit Willichen und Röschen, oder tat doch so ... man wußte das nie genau ... und forderte sie sogar, trotz ihres Mannes heimlichen Fußtritten unter dem Tisch (sie merkte so etwas nie) zum Mittag auf. Aber Röschen hatte Anstandsgefühl: ›Beim ersten Besuch schickt sich das nicht, was sollen denn die Leute von uns vorn Begriff kriegen, Willichen?‹ und zwang zum Aufbruch.
Es war überhaupt falsch, in Röschen eine einfache Arbeiterin zu sehen. Sie empfand sich völlig als Wesen von Tradition, war durchaus kein Mensch von heut und gestern, sie kam direkt aus dem alten Berliner Volksstück von Angeli und Voß. Und sie war eine von denen, die niemals unter karierten Bettüchern geschlafen hätte. Eigentlich war sie doch – das sah Fritz Eisner mehr und mehr – ganz guter Berliner Schlag. Und wenn man ihr einen Keks anbot, zierte sie sich erst etwas und sagte dann errötend: »Ich werde man so frei sind!«
Als sie die unter Segenswünschen und den ernsten Versprechungen, sie bald zu besuchen (Alte Jakobstraße hundertfünfzehn) entlassen hatten, sahen sich Mutter und Tochter an.
»Es ist doch bitter traurig, wie diese Person den Mann in die Fänge bekommen und zugrunde gerichtet hat. Das hätte mein seliger Onkel Leopold noch erleben müssen. Drei Equipagen haben die in Magdeburg gehabt und ein Haus ... ein Haus ... ein Haus ... ›alles‹ hat da verkehrt!«
›Also wer konnte nun schon in Magdeburg »alles« sein?‹ wollte Fritz Eisner sagen; aber er besann sich und wollte Öl auf die Wogen gießen, goß es aber statt dessen ins Feuer.
»Was willst du eigentlich, liebe Schwiegermutter«, sagte er, »wo wir um uns gucken, passen die Leutchen nicht zusammen, sind unglücklich, reiben sich auf, gegenseitig. Da hast du doch endlich mal eine glückliche Ehe. Und sie wird es bleiben. Laß den nur erst zweiten Prokurist werden! Der kauft noch einen Klavierautomaten und stiftet Kegelpreise. Gründet nicht nur mehr Ortsgruppen, sondern wird Ehrenvorsitzender von irgend etwas; was ist gleich ... nur, daß er Ehrenvorsitzender ist, daraufkommt es an. Und bei der nächsten großen Versammlung des Dreschflegelgrafen Pückler-Tschirne, da nehme ich ihn mit und melde mich dann zur Diskussion und stelle ihn neben mich aufs Podium und sagte: ›Meine Herren! Sehen Sie sich diesen Mann an!‹«
»Nicht so laut, das Kind wacht doch auf!« rief Annchen.
»Lernen Sie ihn kennen, lernen Sie ihn schätzen, wie ich. Und nennen Sie mir auch nur einen Zug seines Wesens, seines Geistes – wenn man davon sprechen könnte! – seiner ganzen Art, der ihn von ihren Stammtischbrüdern und Gesinnungsgenossen unterscheidete! Und da wagt hier der Herr Graf von der Verschiedenheit der jüdischen und der germanischen Rasse zu sprechen?! Von der Unmöglichkeit einer Assimilation?! Meine Herren! ...«
Aber Annchen war böse. »Immer machst du meine Familie schlecht! Es sagt ja auch kein Mensch etwas gegen deine.«
Und Frau Luise Lindenberg setzte, sich ins Grab legend, hinzu: »Ich glaube, heute ist wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt für solche unangebrachten Scherze!«
»Gottja!« sagte Fritz Eisner und ging hinter nach seinen Büchern. »Ich habe ja schon auf der Schule den nötigen sittlichen Ernst vermissen lassen. Und deswegen konnte mir auch die Reife für Quarta nicht erteilt werden ... Ich werde den Verkehr mit mir abbrechen.«
Aber am Nachmittag hatten sich Frau Luise Lindenberg und Annchen – nach einigen Tränen – doch schon ganz gut mit Hannchens Erkrankung und der Notwendigkeit ihrer Reise abgefunden. Sie wußten zwar noch nicht, wo das Geld dafür herkommen sollte, aber jedenfalls räumten sie mal jetzt ihren Kleiderschrank aus, bis auf die letzte Leinenbluse. Es war eine Gedächtnisleistung ersten Ranges, reif für den Wintergarten, wie sie so jedes Stück von Hannchens Kleidern, vom armseligsten Fähnchen an bis Für-große-Gelegenheiten, in der letzten Steppnaht und dem kleinsten Porzellanknopf an der Manschette im Kopf hatten, mit all den Metamorphosen, die das Stück im Laufe eines Jahrzehnts bestanden hatte. »Also, das rote Satinkleidchen« – warum nur immer diese Diminutive? – »mit den Spitzen von Gerson, und die grüne Jacke von Mannheimer als Weste (man trug gerade solche als das Neueste, es war eine Art von Zephalothorax, wie man sie aus den zoologischen Lehrbüchern von den Krustazeen her kennt), wenn man das mit einem dunkelroten Ottoman garnieren würde, würde es ganz gut noch für mittlere Gelegenheiten gehen.«
Fritz Eisner warf ein, daß sie doch von dem Leben da oben einen falschen Begriff hätten: sie müßte einer strengen Liegekur sich unterziehen; ... aber er wurde überstimmt. Im Gegenteil: man wäre dort sehr viel eingeladen, und ginge dort sehr viel nachmittags zum Tee.
L. D. war aufgewacht ... wieder sehr guter Laune ... und rutschte – wohlumwickelt – auf dem Teppich, fuhr Karussel um die Stuhlbeine. Fritz Eisner aber war jetzt, je länger die Schlacht ging, und je erregter die Wortkartätschen hin und her flogen, immer mehr und mehr ausgeschaltet. Stand nicht mal mehr Gewehr bei Fuß in Reserve. So lange es um Arztgehen und so ging, war er ganz gut gewesen, aber, wo es nun wirklich bitter-ernst wurde, bei der Frage, Schneiderin hinsetzen, oder es noch schnell zur Passavent geben (sie war billig, doch unpünktlich, versprach, aber lieferte nicht!), da war er nicht mehr zuständig und auch nicht mehr verwendbar.
Jedenfalls war die Sache außerordentlich wichtig; und nicht nur wichtig sondern eilig. Man konnte zwar eventuell Hannchen das silbergraue Cheviotkleidchen mit den weißen Besätzen (ein Pariser Modell) noch nachschicken; aber dann könne sie es nicht mehr anprobieren, und es wäre doch bedauerlich, wenn sie es später oben nicht tragen könne.
In der Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden waren die Streitenden überhaupt nicht zu trennen und kämpften – wie wir das von Kaulbach her wissen! – noch als Geister in der Luft weiter. Und man hat genug Beispiele, daß Streitende in ihrem Furor blind und taub für alles ringsum waren, nicht aßen, nicht tranken, nichts sahen und hörten. Essen und trinken taten die hier zwar, Frau Luise Lindenberg und Annchen. Ja, da sie nicht mit dem Herzen dabei waren, mimmelten sie so langsam, ohne daß sie es wußten, einen ganzen Korb voll Gebäck (für alle Fälle und für Besuch) bis auf den Boden auf, und feuchteten die Kehlen mit Kaffee dazu an, bis nichts mehr aus der Kanne kam. Aber sehen von dem, was um sie vorging, taten sie gar nichts. Denn als Fritz Eisner, der wieder einmal, um Luft zu schöpfen, auf die Loggia hinausgegangen war (die Blüten der Kressen schauten über die graugrünen Blätter fort in die Sonne, wie Ritter mit aufgeschlagenem Visier über ihre Schilde blicken) und dort entdeckt hatte, daß seine Schwalbenschwanzraupe eben keine Raupe, sondern eine Puppe war, hereinging und ihnen nun ganz vorsichtig an dem Halm das zackige, zuckende neue Etwas zeigte, auf daß sie sich auch vor diesem Wunder des Alltags staunend beugten ... denn so etwas ist doch unerhört aufregend! ... da kam er gar nicht bei ihnen durch, konnte sich keinerlei Beachtung verschaffen.
»Sieh nur mal Annchen, wie merkwürdig!«
»Ja«, rief Annchen begeistert, »richtig – das Graukarierte, das hatte ich vergessen!«
»Ach, das mußt du dir mal betrachten, Mutter!« rief Fritz Eisner nach der anderen Seite herüber.
»Nein doch – keine Rede davon! Das hat die Passavent ja längst als Futter für den lila Regenmantel verwandt. Ich meinte doch das Schottisch-karierte, aus dem Ausverkauf von Engel!«
Aber das war nicht mal so eigentümlich, daß man im Eifer der Schlacht nicht rechts und links sah, viel merkwürdiger war, daß man nicht mal das Telephon hörte, und es ganz ruhig duldete, daß Fritz Eisner sich den Apparat auf die Loggia hinaustrug. Endlich sagte sich Fritz Eisner, bin ich doch nicht Demosthenes, der sich darin üben will, die Meeresbrandung zu überschreien.
»Hallo! wer ist da? Ich habe eben nicht recht verstanden! Ach, Herr Gumpert – Sie wollen lieber meine Frau sprechen? Nein, freuen sich gerade, daß Sie mich haben – desto besser! Was macht der gestreifte Kattun? Es geht ihm gut? Na, das macht mich glücklich und froh. Er ist also noch immer der Angelpunkt der Welt? Passen Sie auf, Sie werden noch sagen, wie der alte Liebermann zu Friedrich Wilhelm IV.: »Mich kennen Se nich, Majestät? Ich bin doch der, der die Engländer mit de Kattune verdrängt hat von'n Kontinent!«
»Schreiben Sie Ihre Romane, und lassen Sie mir meine Kattune. Davon verstehen Sie nichts. England hat gerade in meiner Branche in den letzten zwei Jahren mehr Spindeln neu zu bekommen, als die Gesamtzahl der Spindeln ist, die wir in ganz Deutschland heute haben. Ohne England kann ich vor allem mit den besseren Artikeln gar nicht arbeiten. Nebenbei wollte ich Ihnen gratulieren.«
»Wozu – warum? Habe ich etwa das große Los gewonnen? Zum Roman? Entschuldigen Sie, Herr Gumpen, die Zeitung besteht, glaube ich, hundert Jahre und länger schon – wenn Sie jedem, der da einen Roman hat, gratulieren wollten ...«
»Man ist schon furchtbar gespannt, überall. Ich weiß sogar welche, die eigens daraufhin drei Monate abonniert haben ... Aber wenn Sie mal Lust haben, machen Sie mal Sonntag eine Autotour Neustrelitz oder Paretz mit uns ... ganz ländlich da draußen. Sie müssen nur sagen, wann Sie Zeit haben. Und wie geht es sonst?«
»Ach Gott, mir geht es ganz gut, dem Kind und Annchen auch, aber leider Hannchen ...«
»Na, das glaube ich, die Ärmste! ... Ich will nichts sagen, aber das Brüderchen, der werte Herr Arthur Meyer, ist schon mit einem sträflichen Leichtsinn in die Sache reingegangen. Oder meiner Ansicht nach reingegangen worden. Da muß man doch ganz anders fundiert sein, wenn man heute auf dem Baumarkt im Großen sich durchsetzen will. Das hätte ihm mein jüngster Stift sagen können. Rauskommen wird nicht ein Prozent bei der Pleite. Er soll sich freuen, wenn er geradeso wegkommt, und sich nicht der Staatsanwalt noch um die Sache kümmert. Natürlich wird das arme Hannchen – entschuldigen Sie, daß ich Hannchen sage, aber ich kenne sie ja zehn Jahre länger als Sie – große Aufregungen haben. Die anderen sind mir ja völlig gleich bei der Sache. Ihr Schwager mag ein sehr gescheiter Mensch sein (ich kann das nicht beurteilen!). Er soll ja auch sehr amüsant in Gesellschaft sein können – so für die Zigarre und einen Kognak – ich habe mit ihm nicht gerne was zu tun. Ich habe mir nie etwas aus ihm gemacht. Verstehen Sie – ich sehe mir immer die Frau an, wenn ich wissen will, was an einem Mann dran ist; und ich sehe mir immer den Mann an, wenn ich wissen will, was an einer Frau dran ist. Und was hat der in den sechs Jahren aus Hannchen gemacht! Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich Ihnen das so sage, und zum Schluß hat sie es besser verdient, als daß er sie jetzt noch sogar fast zum Gespött macht. Gewiß, es kann immer mal etwas vorkommen – wer kann für sich gutsagen? – aber man läßt sich dann nicht zusammen heute bei Josty und morgen in der Traube und dann bei Huth sehen – Verzeihen Sie: das ist eine Taktlosigkeit.«
»Ich nehme es Ihnen gar nicht übel – die Sache ist sogar noch viel trauriger, als Sie wissen und ahnen!«
»Ja, das habe ich mir nämlich auch gedacht. Ich will nicht indiskret sein, aber es muß doch da geldlich sehr schlecht dastehen, im Augenblick. Und das war eigentlich mit ein Grund, weshalb ich anrufe: Sie wissen ja, daß ich Hannchen immer sehr gern gehabt habe. Sie hatte Fehler und Eigentümlichkeiten, aber sie war doch ein entzückender Kerl, gerade mit ihrem ganzen Unfug und ihrem Eifer für tausend Sachen, von denen sie nichts verstand. Nicht nur äußerlich. Und es tut mir natürlich bitter wehe, wenn ich wüßte, daß sie zu all den Aufregungen jetzt auch noch Not leiden sollte. Was an mir liegt, daß das vermieden wird – natürlich in diskretester Form, Sie verstehen! – und deswegen bin ich ja gerade froh, daß ich Sie am Apparat habe. Männer können so etwas viel besser untereinander besprechen – was an mir liegt, soll gern ...«
»Oh«, unterbrach Fritz Eisner, »wie es geldlich steht, weiß ich nicht. Gut sicherlich nicht, eher ganz schlecht. Aber es ist möglich – das wird sich heute entscheiden – daß mein Schwager einen Ruf nach Argentinien bekommt, wo man große Pläne mit Universitätsreformen scheinbar hat, dann würde es ja wohl wieder besser gehen! Aber die Sache mit Hannchen liegt viel, viel tragischer. Ich war gestern mit ihr bei Doktor Spanier, der sie durchleuchtet hat. Sie hat eine schwer angegriffene Lunge und muß innerhalb acht Tagen nach Davos, in die Schweiz, geschafft werden. Wenn Sie sie nochmal sehen, tun Sie, als ob die Sache nicht so ernst wäre. Aber, wie dafür das Geld aufgebracht werden soll – das ist uns noch schleierhaft. Wir dachten an eine kleine Hypothek oder Hypothekenerhöhung auf das Haus meiner Schwiegermutter. Ich habe das eigentlich erst heute angeregt und mit ihr besprochen.«
Im Apparat summte und sang es eigentümlich. Und Fritz Eisner wußte nicht, waren das irgendwelche unkontrollierbaren Nebengeräusche, oder summte da Paul Gumpen Hmmhmhm vor sich hin. »Hören Sie mal«, sagte er sehr geschäftsmäßig. »Ihre Schwiegermutter hat doch jetzt auch Telephon – 4367, Nebenanschluß, ja? Ich werde das mal morgen mit ihr durchsprechen, jedenfalls machen Sie sich keine Sorgen. – Wenn ich's nicht selber gebe, verschaffe ich es ihr. Ist das Objekt sehr belastet? Fünfundvierzig Prozent? Ach, das ist ja sehr wenig ... da sieht man wieder: Frauen! Jeder Mann hätte sich mit dem gleichen Geld mindestens drei Häuser gekauft. Also, rufen Sie mich mal an, wenn Sie Zeit haben! Vielleicht dann, wenn Ihre Schwägerin fort ist. Bis dahin wird es ja auch schlecht gehen, für Sie. Und richtig – ich muß ja auch selber Mittwoch nach London und Manchester hinüber, und bin vor zehn Tagen kaum wieder da. Dann müssen Sie aber zu mir kommen. Sie brauchen nicht viel Zeit zu verlieren. Ich lasse Sie und Annchen dann mit dem Wagen abholen. – Na, was hat Ihre Frau von gestern erzählt? Ich bin den letzten Augenblick noch gekommen, kurz vor Aufbruch, wie sie mit allen schon durch waren. – Ich habe nur noch gesehen, wie sie die letzten Leichen ihrer alten Freundinnen und Bekannten herausschaffen ließen. Aber M'chen und alle waren, glaube ich, furchtbar befriedigt von der Strecke. So ungefähr wie Seine Majestät in Hubertusstock: siebenunddreißig kapitale Hirsche, achtundsiebzig Rehböcke und zweihundertzehn Fasanenhennen. Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen! ... Das, was Sie mir da von Hannchen erzählt haben, tut mir aufrichtig leid, hoffentlich flickt man sie da oben doch noch einmal richtig zusammen.«
Fritz Eisner hatte nie geahnt, daß Hannchen solchen Schatz an Toiletten hatte, denn, als er das Telephon wieder hereintrug, war die Schlacht immer noch im Gange. Aber sie hatte schon abgeflaut, nur noch einzelne Batterien blitzten hüben und drüben auf, und Wortes wie Pepita, Bolero, Rauschrock, Pflaumblaues Satintuch, Beige und Cremespitzen flogen durch die Luft. Und nach einiger Zeit wurde dann ganz abgeblasen, der Kampf gehörte der Geschichte an, und die feindlichen Heere zogen gemeinsam auf den Balkon, oder richtiger auf die Loggia hinaus, die im Gegenstück zu den üblichen Berliner Loggien sogar dreiundeinemhalben Menschen und noch einem Tischchen Platz bot. Und sie erfreuten sich an den ersten Früchten des Jahres, Werderschen Frühkirschen und Erdbeeren, die aber aus Holland und aus seinen Treibhäusern gekommen waren. Für Obst bestand in der Familie Lindenberg eine durch nichts zu zügelnde Sympathie, die die letzte medizinische Forschung jetzt als Sehnsucht nach Vitaminen gedeutet hätte. Früher war man noch nicht so weit. Es war wirklich hübsch, hier zu sitzen, mit dem grünen Land unter sich, das hinten zur blauen Waldlinie leicht anstieg, so wie der Horizont des Meeres von einem Turm aus ... und mit den Kapuzinerkressen davor unten an der Bildleiste ... amüsante Flecken mit ihren gelben und roten Leuchtfarben, wie auf einem Rahmen von Ludwig von Hofmann. Man vergaß ganz den Staub, den Dreck, die zerbeulten Emaileimer in den Büschen, die Gipsbuden, die Laubengärten, die Berge von altem Eisen, und die Kohlenhaufen an den Gasometern weit drüben. Es war jetzt so, wie eine einzige anmutig grüne Schüssel ... ›nur aus der Ferne klingt die Trommel schön‹.
Das Gespräch wogte hin und her zwischen den Dingen, die stets im Kreise der Familien diskutiert werden, und die nur durch sonntägliche Erdbeeren mit Sahne, Zigaretten und Liköre, und durch andere Dinge, die das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, mundgerecht gemacht werden können.
Eigentlich wäre doch alles ganz erfreulich – es ständen Aussichten auf bessere Zeiten bevor, man hätte tapfer durchgehalten, und nun würde man dafür belohnt werden. Die Nachricht, daß Paul Gumpert Frau Luise Lindenberg beraten wolle, erweckte Genugtuung: – denn er wäre treu wie Gold. Ein anderer hätte das Hannchen nie verziehen – sie hätte ihn doch eigentlich an der Nase herumgeführt. »Und wie wohl wäre ihr jetzt?!«
»Und ihm auch!« sagte Annchen. »Denn M'chen genügt ihm doch geistig wirklich nicht.«
Mit Hannchen – ja da solle man auch nicht gleich verzweifeln. Man kenne Hunderte und Tausende von Fällen, wo die Leute schon aufgegeben gewesen wären, und dann ganz gesund und uralt noch geworden wären, wie zum Beispiel der Sozialdemokrat Singer. Hannchen hätte ja von je ein glückliches Naturell gehabt, und damit hätte man schon halb gewonnen ... Mit Egis Eltern – das wäre vorauszusehen gewesen ... und es gehöre zum Schluß auch zu jenen Dingen, die man endlich lieber hinter sich hat, als daß sie einem noch bevorstehen. Es berühre sie alle doch nur – wenn sie ehrlich sein wollten! – wie ein Ereignis bei ganz fremden Menschen: denn irgendwelche Wärme hätten sie in diesem Hause nie verspürt ... Aber man wäre doch jetzt beunruhigt, ob nicht der Kabel mit Egis Berufung (sonst sprach man von Depesche, in diesem Fall hieß es Kabel) gekommen wäre; da sein müsse er doch eigentlich schon. Das wäre doch sehr schlimm jetzt, wenn daraus nichts würde.
»Da braucht ihr nicht beunruhigt zu sein, liebe Kinder«, sagte Fritz Eisner, »bei Emerson steht irgendwo eine sehr nette Anekdote: Ein indischer Prinz zog mit seinem Vater das erstemal in die Schlacht. Und alle zwei Minuten fragte er den Vater: ›Vater, Vater – fängt denn die Schlacht noch nicht an?!‹ Und da sagte der Fürst: ›Glaubst du denn, mein Sohn, daß du als einziger im Heer das Blasen der Kriegstrompeten überhören wirst?‹ ... Wir werden das Blasen der Trompeten hören.«
Man fand diesen Vergleich sehr unziemlich ... aber zehn Minuten später begannen trotzdem die Trompeten zu blasen.
»Ah Hannchen! wie geht es dir?«
»Mir? – vorzüglich! Wie immer. – Wie soll es mir sonst gehen? Weißt du, ich freue mich eigentlich schon, Professor Toxeira hat mir eben erzählt, es wäre ja ein fabelhaft-internationales Leben dort oben. Und Lena – aber die hat immer solchen bösen Mund – (sie steht nebenbei gerade neben mir!) sagt sogar, es wären dort oben richtige mittelalterliche Liebeshöfe. Es gehen aber auch sehr viele Südamerikaner hin, vor allem Brasilianer. Nebenbei famose Menschen. Und Lena meint, daß es dort mindestens ebenso schön wäre zum Eislaufen und Bobfahren wie in St. Moritz. Weißt du, ich habe mich eigentlich schon ganz damit abgefunden. Lulu kommt indessen ein paar Monate zu Muttchen; und mein Junge – denke mal, er bekommt sogar Überfahrt erster Klasse – einen ganz teuren Platz ...«
»Ach, das ist ja schön, da nimmt er sicher eine Kabine zweiter Klasse und für die Differenz kannst du dann gleich ein paar Monate oben bezahlen.«
»O nein«, rief Hannchen voller Entsetzen, » das kann mein großer Jungen nicht! Solche Fahrt ist ja doch keine Kleinigkeit! Und das würde die argentinische Regierung auch nicht wünschen. Wie sähe denn das aus?! – Mutter muß eben ein paar tausend Mark aufnehmen. Da wird nichts übrig bleiben. Denn von meinen armen Schwiegereltern – denk mal, Arthur wollte doch – aber rede bitte nicht darüber! – wollte doch vorgestern sogar einen Selbstmordversuch machen ... mit Mühe und Not haben sie ihn davon abgehalten – von meinen Schwiegereltern, da sind natürlich jetzt nicht hundert Mark zu bekommen. Sie haben sogar schon das zweite Mädchen entlassen!«
»Na!« rief Fritz Eisner – »und die große Erbschaft von Tante Trautchen?! Hoffentlich hast du die Sache mit dem Humor aufgenommen, den sie verdient ... Minus zehn Pfennig! Also ich bin beinahe gestorben vor Lachen. Hast du denn auch solche schöne Porzellangruppe zum Andenken bekommen?!«
»Ach, denke nur«, rief Hannchen ganz betrübt, »eine reizende Figur, ein Fischermädchen oder mehr eine Bäuerin, die Tauben füttert, und eine saß ihr auf der Schulter und pickte ihr die Körner aus dem Mund. Und Lulu sie sehen – sich auf sie stürzen, und sie vom Tisch reißen und hinwerfen, in tausend Scherben – das war eins. ›Was hast du dir denn eigentlich dabei gedacht?‹ frage ich ihn ... ›ich habe sie mir nur ein bißchen angucken wollen!‹ sagte er – ›da habe ich wirklich nichts dafür gekonnt!‹ Er hat aber deswegen kein Eis zu Mittag bekommen.« Hannchen strafte mit Speiseentziehung, weil sie behauptete, daß diese nach der englisch-amerikanischen Theorie das Gemüt des Kindes tiefer träfe als Schläge.
»Im Gegenteil!« rief Fritz Eisner, »ich hätte dem Jungen zehn Eisberge als Belohnung gegeben! Einen so sicheren Kunstinstinkt habe ich ihm noch gar nicht zugetraut.«
»Ich fürchte, meinen kleinen Dicken wird man mir wieder nach ganz falschen Prinzipien erziehen, wenn ich erst fort bin.«
»Liebes Hannchen, ich will dir mal etwas sagen: Es gibt nur ein Prinzip, als Mutter die Kinder zu erziehen. Wenn es ein Junge ist, lege dich mit ihm eine Stunde auf den Fußboden und spiel Baukasten; und wenn es ein Mädchen ist, sei Kochmamsell einen Vormittag lang in ihrer Puppenküche. Alles andere ist Unsinn.«
»Das ist Montessori« – rief Hannchen begeistert.
»Hör mal, Egi möchte dich noch einen Augenblick sprechen!«
»Ach Egi, ich gratuliere! Freust du dich, um ein Kaiserwort zu zitieren, den deutschen Staub von deinen Pantoffeln zu schütteln? Für ewig wird es ja nicht sein ... wird schwer sein, sich einzuarbeiten ... auf dem Schiff noch spanischen und portugiesischen Unterricht? Na, etwas lesen kannst du es ja ... Wann geht dein Dampfer?! Wirklich – schon nächsten Sonntag mittag, Punkt zwölf Uhr von Hamburg? Vorher müssen wir nochmal zusammen sein. Du hast noch sehr viel zu ordnen, offizielle Abschiedsbesuche zu machen? Das glaub ich! Meinen Roman? Du versäumst nichts, außerdem schicke ich ihn dir, als Buch, du wirst ihm nicht entgehen! Sehr viel Geld ... nur für hier, drüben gerade so zum Anständig-leben ... Wer übernimmt denn jetzt hier deine Herausgeberstelle für das große Handelsrecht? Führst du die von drüben aus noch weiter? Das würde doch schwierig sein. Ach Gott, ach sooo! die hast du gleich am zweiten Tag wieder abgegeben! So – so – so?! Das wußte ich ja gar nicht. Na, dann geht es dich ja natürlich nichts mehr an. Wie man es den Zeitungen mitteilt, willst du von mir wissen? Laß es durch die Gesandtschaft gehen, das ist vielleicht das beste, oder durch das Konsulat. Da bringt es jede Zeitung ... Du meinst, das wäre nicht üblich? Professor Toxeira ist auch der Ansicht? ... Dann setze ich es dir auf, oder gib mir ein paar Daten, und was du veröffentlicht hast. Also schreiben wir einfach: ›Der bekannte Rechtslehrer Doktor E. M., der früher in ... hat einen Ruf nach ... angenommen. Es ist das erstemal, daß deutsche Gelehrte und so fort ...‹ So würde ich es einigen Blättern geben. Und für andere, wie Rundschau, Voß, Kölnische, Frankfurter, würde ich deine Bedeutung um die Wissenschaft im allgemeinen und die Jurisprudenz im besonderen mehr ins rechte Licht rücken.«
Hinter Fritz Eisner standen Annchen und Frau Luise Lindenberg doch sehr aufgeregt und tuschelten. »Also es ist fertig ... na das freut mich für ihn, hoffentlich hält er sich da. Wenn Hannchen Ende Winter gesund ist, soll sie natürlich auch mit Lulu rüber gehen. Was verliert man denn hier? Ich! – Lieber heute als morgen!«
»Wir sollen zu dir, jetzt gleich zum Tee kommen? Baumkuchen würde mich sehr verlocken! Ihr hättet schon so lange gewartet. Es wäre so spät geworden ... und dann zum Abendbrot alle drei dableiben. Professor Toxeira und Fräulein Lena Block sind da? Nee, mein alter Knabe, das wird wohl nicht gehen, so gern ich möchte. Annchen war die letzten Sonntage immer aus. Das ist der vierte, wo Pauline keinen Ausgang hat, und eigentlich hat sie einen um den anderen, das kann ich nicht machen. Professor Toxeira schwärmt für mich? Er sagt, ich wäre charmant et de bon esprit? Er muß Gedanken lesen können, denn geredet habe ich damals kaum drei Worte, nicht aus Schweigsamkeit, sondern weil es technisch unmöglich war! Und Lena ... ach nein, Fräulein Lena Block wird mich auch nochmal sehen, bevor sie in der übernächsten Woche nach der Normandie arbeiten geht. Ich komme vielleicht nochmal in ihr Atelier. Ich soll mir ihre letzten Arbeiten ansehen? Vor allem die Studie, die sie von dir gemacht hat? Sie wäre geradezu beleidigend ähnlich? ach so – Fräulein Block hat sich also, wie sie es wohl nannte, über dich hinweg gemalt, so ungefähr, wie sie das damals exemplifizierte.«
»Wie?« rief Egi – »das mußt du mir erklären, es ist hier so viel Lärm um mich, ich verstehe dich nicht ganz!«
Aber Fritz Eisner kam nicht mehr dazu, denn schon hatte Annchen den Hörer ihm entwunden. »Siehst du, Egi, das ist abscheulich, unsere Arbeit wird überhaupt nicht gewertet. Jeden geschlagenen Sonntag muß man zu Hause sitzen und Dank erntet man überhaupt nicht. Ach, ich werde schon mit Pauline reden. Ich schenk ihr eine Mark, und sie kann dann in der Woche ausgehen. Ich hätte zu gern doch auch Professor Toxeira. kennen gelernt. Und vielleicht läßt sich auch mit Lena gleich etwas wegen eines Atelierbesuchs verabreden. Was macht Hannchen? Da hast du gewiß einen schönen Schreck bekommen, armer Kerl? Ach, es wird aber schon nicht so ernst sein, wie es immer gleich gemacht wird. Siehst du: mein Sprichwort. – Es kommt immer alles besser, als man glaubt! Jedenfalls gratuliere ich Dir herzlichst, und wir kommen dann möglichst schnell.«
»Nein«, meinte Fritz Eisner, »schenke ihr eine Mark und lasse sie jetzt weggehen. Und wenn ihr zu Hannchen und Egi wollt, bleibe ich hier. Ich bin sehr abgespannt von den letzten Wochen, fast nie vor zwei, drei ins Bett. Wenn Pauline früher wieder kommen will, komme ich dann nach. Wenn nicht, müßt ihr euch eben ohne mich behelfen.«
Und da im gleichen Augenblick Pauline die Tür öffnete – sie sah zum Anbeißen aus, unter Annchens Strohhut vom vorigen Jahr, der zwar reizend war, aber leider unmodern geworden, weil man jetzt große Krempen trug – und ehe man noch eine Ansprache an sie richten konnte, sagte: »Ich gehe dann, gnädige Frau!« so wagte Annchen doch nicht, aus Furcht vor einem schiefen Gesicht, das Anerbieten mit der Mark zu machen, und meinte nur: »Hören Sie, Pauline, kommen Sie etwas zeitiger; wir gehen zu meinem Schwager und mein Mann bleibt hier. Vielleicht kann er dann noch etwas nachkommen. Denken Sie nur, der Herr Doktor geht nach Südamerika als Professor.«
»Ach«, meinte Pauline, »da fehlen wohl welche?«
Und nachdem man sich auf das Bastkleid mit den chinesischen Borden geeinigt hatte, für Annchen – auch Fritz Eisner war dafür, denn sie sah sehr nett darin aus – schied man und sagte: Fritz Eisner solle ja schön nachkommen, vielleicht könne er auch das Kind getrost allein lassen. Versorgt bis zur Nacht war es, und sonst könne er ruhig ein Fläschchen warm machen. Er wisse ja, wo sie stünden, und wie das zu machen sei.
»Gewiß – er würde zusehen, daß er nachkommen könnte. Und dann klappten die Türen, und es wurde wundervoll leer und ruhig in der Wohnung. Es kann schön- und es kann häßlich-ruhig sein – das hängt von uns ab. Beängstigend, bedrängend, niederschmetternd und schweigend, voll von starren Augen. Aber das war jetzt schön ruhig, ganz leise klingend, nachdenksam, angenehm und gedankenschwer. Ruhe mit Vertrautheit, Ruhe mit einem Königstuhl. Man kann ja nur Herrscher über ein Stück Raum und tote Dinge sein, über Aussicht, Ferne, Luft, Licht und Sonne, vielleicht Blumen und Bäume. Einen Stuhl, einen Tisch, einen Federhalter, ein Buch und seine Gedanken. Alles Lebende sonst gehört sich selbst.
Gegen Abend wachte L. D. auf und wurde etwas unruhig, wollte nicht recht wieder einschlafen, schubste das Fläschchen aus dem Mund heraus, das ihr der Vater gebracht hatte, so daß ihr vom Gummistöpsel eine Milchstraße über das Gesicht und in die schwarzen Haare spritzte, und wollte sich weder durch Schaukeln des Körbchens, noch durch guten Zuspruch, noch durch eine Kette von Zisch- und Schnalzlauten, die jedem Kaffernalphabet Ehre gemacht hätten, bewegen lassen, von neuem einzuschlafen. Selbst gegen das Nuckeln, das sonst ein Tonikum ernsten Ranges war, zeigte sie Abneigung und zog sogar die Finger, als sie ihr in den Mund gesteckt wurden – es war das weder erziehlich noch richtig; – aber was sollte Fritz Eisner anderes tun?! – unwillig wieder heraus und äußerte den Wunsch, von ihrem Angestellten hochgenommen und herumgetragen zu werden. ›Laß doch den Unfug mit der Gummipuppe‹, schien L. D. zu sagen, ›das Quietschen macht mich ganz nervös, überhaupt faß meine Sachen nicht immer an.‹ Aber sonst war sie nicht unfreundlich zu ihm, sondern fühlte, daß die anderen Angestellten fortgegangen waren – (richtig: sie hatte ihnen ja selbst Ausgang gewährt) und daß sie auf diesen Angestellten jetzt angewiesen sei, und daß es infolgedessen unklug wäre, ihn zu verärgern.
»Na, komm her«, sagte Fritz Eisner, und bastelte sie aus den Kissen heraus, »aber nachher trinkt L. D. noch ein Schlückchen und dann wird es sehr schön schlafen, bis die Pauline kommt. Und siehst du, damit du nicht etwa glaubst, daß ich dir nachher kalte Milch gebe ... ich würde dir ja auch ein Stückchen Schokolade geben, aber da machst du nachher Piep, oder nießt zweimal, und dann heißt es wieder: na ja, es ist ja auch kein Wunder, wenn der Papa so unvernünftig ist ... also deshalb stelle ich jetzt das Fläschchen in den Topf mit heißem Wasser hier. Das bleibt sehr schön warm bis nachher!«
Aber L. D. setzte sich hoch und steil in Fritz Eisners Arm auf, wurde jetzt ganz vergnügt und völlig munter, und schien den Gedanken, je wieder schlafen zu wollen, endgültig aufgegeben zu haben. Sie faßte, um etwas sichereren Halt sich zugeben, denn dieser Angestellte war bekanntlich etwas ängstlich und leicht zu irritieren, und man riskierte, daß er einen fallen ließ, wenn man eine sehr heftige und plötzliche Bewegung machte – den Angestellten also fest mit der einen Hand an das Ohr und sagte in ihrer Sprache: »So – trage mich ein bißchen auf und ab, immer hin und her, hier, den grünen Läufer runter. Sechs Schritte hin – kehrt; sechs Schritte zurück – kehrt! Da habe ich ein bißchen Bewegung und Unterhaltung dabei. Und es ist auch netter, wenn man nicht so allein ist, wenn jemand bei einem ist; und besonders jemand, der so komisch riecht wie du – ganz anders als die Oberangestellte, oder die Frau, ihre Assistentin ... komisch, aber eigentlich für mich nicht unangenehm.«
Hinten aber, über der blauen Linie des Grunewalds war die Sonne am Untergehen. Und sie gab sich eine Mühe dabei, wie sie es sonst, bald um die Mitte des Jahres, gar nicht tut. Denn die Sonne benimmt sich ja darin sehr anständig gegen uns; so um die Mitte des Jahres, wenn es sowieso ganz erfreulich und üppig in der grünen Welt ist, hält sie sich eigentlich mit ihren Feuerwerken gar nicht so lange auf. Sie macht ein paar blutrote Streifen, spritzt einige Wölkchen mit Farbe an, gelb und gold, zerbläst über sich ein paar Rosenblätter und geht langsam schlafen. Sie strengt sich nicht an. Aber so vor Frühjahr und vor Herbst und auch manchmal im harten Winter, da sagt sie: ›Seht mal, ich gebe ja zu, Kinderchen – denn das seid ihr nämlich, meine Kinderchen! – die Sache ist ziemlich scheußlich und trübselig bei euch gewesen, den ganzen lieben langen Tag. Ich habe mich schon gelangweilt, ich habe schon gefroren, wieviel mehr ihr erst. Denn ich gucke mich doch überall um und bin einige Millionen Réaumur Grade warm. Und ihr döst meist nur so hin, ohne rechts und links zu sehen, und seid höchstens siebenunddreißig Grad warm, und dann noch Celsius (ich kann mir das gar nicht vorstellen), also ich will euch deshalb mal heute zum Abend ein hübsches Feuerwerkchen machen, mit dreißig Arten von bengalischem Licht, daß ihr alle nur so staunen und ah! sagen sollt ...‹
Und dann meint nachher einer zum anderen: »Haben Sie eigentlich heute den Sonnenuntergang gesehen? Also, das war fabelhaft, der ganze Himmel, mit allen Wolken ein Flammenmeer, und dann wieder ganz lichtgrün dabei. Und die Sonne so groß und dunkelrot und nachher tief violett, wie ein flüssiger Goldball. So habe ich es überhaupt noch nicht gesehen. Ich fuhr gerade mit der Straßenbahn heraus nach Steglitz. Die ganze Bahn innen war in Himbeersaft getaucht.«
»Leider nicht«, sagte dann der andere. »Wissen Sie, da war ich noch im Geschäft. Ja, Sie haben es eben gut.«
Aber manchmal auch in der schönen Zeit, da übt sich die Sonne gleichfalls in solchen Feuerwerken, damit sie es nicht vergißt. Und wirft ihre bunten Scheinwerfer und Strahlenregen, und läßt Pechpfannen aufleuchten und Funkenfontänen sprühen, läßt alles nur so durcheinander spielen, daß es eine Freude ist. In zehn Minuten streicht sie mit breitestem Pinsel die ganze Erde bis zum letzten Baumwipfel und in den letzten Zimmerwinkel an, und die ganze, weite Wölbung da oben ... streicht sie an, mit ihren göttlichen Farben, von denen nur auf dieser Erde bei uns die Blumen und die Schmetterlinge kleine Pröbchen sich gestohlen haben. Die Meteorologen meinen zwar, daß dann das Wetter umschlüge, und es morgen kalt und regnerisch würde, und wissen nicht, daß die Sonne sich nur ein bißchen übt, um es für später nicht ganz zu verlernen.
Und so tat sie das auch heute. Der weite Himmel war mit vielen kleinen Wolken gestuft. Sie sahen aus, als ob sie alle mit den gleichen Stanzen aus ganz feinem grauen Stoff geschlagen wären. Und nun schwammen sie auf einem blaugrünen Grund, und jede einzelne war von unten her wie von einem Rampenlicht feurig und rot, und zornig und melancholisch zugleich, angestrahlt. Mitten in ihnen jedoch schwamm – wie mit den Ellbogen sie beiseite stoßend ... mit ihrem Gluthauch sie wegpustend, daß sie wie Federn aufflammten und hoch stäubten – die alte Sonne, ließ sich langsam, ein Riesenball von glühendem Purpur und Gold, in den Wald gerade über dem Kaiserturm in die Erde hinabsinken. Das ganze Zimmer, in dem Fritz Eisner und L. D. auf und ab pendelten, erfüllte sie mit ihrem Licht, mit den Blut- und Nelkenfarben, mit ihren schönen Tönen erlesener Rosensorten.
Und jedesmal, wenn Fritz Eisner mit L. D. sich wandte, am Ende des Läufers, so daß sie die Sonne vor sich hatten, da richtete sich L. D. in seinem Arm ganz hoch auf und rief etwas, was nach dem Urteil der Sprachkundigen als »Haben« hätte gedeutet werden können, was aber vielleicht auch ganz anderen Impulsen und Affekten Ausdruck verlieh, und streckte dann beide Hände nach diesem großen, schönen, so wunderbar leuchtenden Ball ... so zehn-, zwanzigmal. Little Dorrit konnte gar nicht abwarten, daß ihr Angestellter wieder sich umwandte, sie war ganz erregt und in ihren schwarzen weiten Augen spiegelte sich das Rot der letzten Strahlen, machte sie noch mehr aufleuchten wie sonst.
Fritz Eisner war erstaunt und wie erschrocken, sagte kein Wort, unterbrach aber auch seine Schritte nicht. Eigentlich konnte L. D. sonst recht gut schon die Entfernungen schätzen, und sie pflegte sich nie um Dinge zu bemühen, die so ganz außerhalb ihrer Greifweite lagen. Sie liebte es, sie nicht zu beachten; auch wohl, wenn sie wie Hotto oder Wauwau und Kinderwagen und andere Kinder, die man in den Haaren hätte reißen können, erkannt wurden, mit aufmunternden Akklamationen zu begrüßen: aber sie äußerte nicht die Absicht zu ihnen zu gehen, nach ihnen zu greifen oder selbst sie besitzen zu wollen.
Das hier ist doch etwas anderes, dachte Fritz Eisner, während er so ganz langsam auf und ab pendelte. Und es war ihm, unheimlich ... schwer zu sagen, wie und weshalb – er empfand undeutlich so etwas, als griffen von fern Hände nach seinem Herzen, mitleidlose Hände, die ihm sehr, sehr wehe tun wollten. »Das ist vielleicht mehr ein erstes, ungewisses Sehnen, als gerade ein Besitzenwollen. Es kann vielleicht auch so etwas wie ein Dank an die Lebensspenderin, an die Allmutter sein. Oder vielleicht ein frühestes halbbewußtes Bekenntnis der großen Zugehörigkeit; und endlich vielleicht zuckt auch darin der geheimste Wunsch aller Kreatur nach Rückkehr. – Wer kann das wissen?«
Aber wie er sich wieder wandte, da drehte sich plötzlich L. D. in seinem Arm um, und ließ ohne jeden Übergang und ganz unvermittelt, und wie mit einem leichten Seufzer den Kopf sinken, legte ihn mit der Stirn auf seine Schulter, und war im nächsten Augenblick schon eingeschlafen; und da stand auch Pauline, rosig vom Abendlicht, hübsch und besorgt in der Tür.
»Was hat denn das Kind?« fragte sie ängstlich. »Warten Sie, ich nehme es Ihnen ab!« Und sie legte L. D. ganz leise in den Korb zurück. »Das ist alles jetzt von den Zähnchen. Da stehen manche Kinder sehr aus, ich glaube L. D. bekommt vier Stück auf einmal. – Gehen Sie jetzt weg?«
Sie standen beide ganz dicht nebeneinander am Körbchen, und Pauline und Fritz Eisner beobachteten zusammen L. D.s Atemzüge; aber die waren ganz ruhig, und das Köpfchen war ganz kühl, wie immer. Trotzdem blieben sie stehen, als ob sie angenagelt wären, dicht beieinander, und Fritz Eisner spürte mehr und mehr durch Paulines dünnes Sommerkleid die ganze Wärme ihres Körpers, die helle Frische ihrer Haut und ihrer Glieder. Pauline hatte eigentlich nichts Grob-sinnliches an sich, nichts Verführerisches, nichts von der Bauerndirne, die uns reizt, sie zu packen, oder die uns schwer und still an der Hand nimmt und uns auf den Heuboden zerrt. Sie war kein Apfel, in den man beißen muß. Sie war eine Blume, deren Duft uns bezaubert, und die man sich anstecken will, koste es, was es mag. Sie war ein Mädchen, an dem alles lächelte und verschämt lächelte. Aber es war trotzdem sehr schwer für einen Mann, fünf Minuten mit ihr allein zu sein, und sie nicht in die Arme zu nehmen und zu küssen. Es war wohl etwas, um das man dann nicht herum kam. Man hätte mit ihr sprechen können, lachen, Unsinn treiben, das nicht beachten wollen, es wäre einem wie Zeitvergeudung erschienen. Und man hätte erst dann das Gefühl gehabt, daß man Paulines Sinn richtig gedeutet hätte, wenn man sie küßte und im Arm hielt. Man mußte einfach dahin treiben.
Vielleicht merkte auch Pauline so etwas, denn als Fritz Eisner auf ihre Frage nicht gleich antwortete, und die warme Stille um sie her beklemmend wurde, sagte sie noch einmal, aber ohne sich auch nur einen Zoll von seiner Seite zu rühren. »Gehen Sie jetzt weg, oder soll ich Ihnen hier Abendbrot machen?«
»Ach nein«, meinte Fritz Eisner, »ich werde dann doch lieber noch weggehen, aber wenn Sie mir eine ganze Kleinigkeit vorher machen wollten, ein Brot und ein Ei«, und leise und für sich setzte er hinzu: »Röschen hat djanz Recht – so immer ins Djeschäft ist man zu stark Versuchungen ausdjesetzt!«
»Der Herr Doktor und seine Frau«, meinte Pauline, »die gehen wohl auseinander?«
»Warum – er hat zwar draußen einen Posten bekommen – aber deswegen?«
»Na, ich dachte, er wird vielleicht das Malfräulein, um die er da bei unserem Fest immer so rum war, heiraten?«
»Die läßt sich nicht so einfach heiraten, Pauline!«
»Und dann, wissen Sie, ick habe auch ein Onkel gehabt, eines schönen Tags hat der auch Adieu gesagt, hat übers Wasser gemacht, und die Frau wartet heute noch auf ihn. Jetzt hat se drei Kinder.«
»Ach nein«, meinte Fritz Eisner, »so etwas gibt es wohl bei uns doch nicht!« Und er wußte nicht recht, bezog er das auf das erste, oder auf das zweite oder auf beides?
»Gehen Sie denn nicht nachher da noch hin, zu Ihrem Schwager?«
»Ach nee – was soll ich da? Sie werden mich kaum vermissen. Ich gehe noch etwas vor die Tür – vielleicht ins Café.«
»Ach, dann dürfte ich wohl auch bitten. Können Sie mir ein schönes Buch zum Lesen geben. Wissen Sie, man ist doch immer so allein.«
Fritz Eisner tätschelte Pauline die Backen. Es zog ihn in den Fingerspitzen dahin. Es gibt so zwei Sorten von Frauenwangen: Kirsche oder Pfirsich. Das war Pfirsich.
»Sie haben ganz recht, Pauline«, sagte er, während er nur schwer und mit aller Willensmühe die Hand wieder zurückzog. »Es gibt Bücher zum Lesen, und Bücher, die nicht zu lesen sind. Und dann gibt es noch welche zum Hinstellen. Was wollen Sie denn für eines?«
»Ach, hören Sie«, meinte Pauline, »eins«, und wurde noch röter, »wo sie sich lieb haben und kriegen.«
»Na, warten Sie mal«, sagte Fritz Eisner, »so etwas werde ich auch schon finden. Da hab' ich eins, das ist sehr schön, und da werden alle so glücklich, wie wir beide leider nicht werden können. Also nehmen Sie das nachher so lange. Und alle Menschen sind darin sehr vornehm und sehr elegant und sehr reich und sehr zufrieden mit sich; also all das, was wir auch nicht sind und nie werden. Adieu Pauline!«
Und Fritz Eisner ging hinter, das Buch holen.
Aber als Fritz Eisner dann unten war, verspürte er doch keine Lust, in die Stadt zu gehen, aber noch weniger, zu Egi und Hannchen herauszufahren und sich den Wortkaskaden des Professor Toxeira auszusetzen. Zwar hätte er gern einmal Lena Block wieder gesehen, denn sie war doch etwas, das nicht hinter jedem Zaun wächst, war wie eine erste Erfüllung einer neuen Frauensehnsucht. Etwas, das man bei uns kaum kennt, in ihrer Klugheit und Rasse und Stilsicherheit, und mit ihrem Instinkt für bildende Kunst, mit ihrem scharfen und wohl auch vorausdenkenden Verstand. Möglich, daß wenn man ihr näher kam, all diese Vorzüge, durch peinliche Eigenheiten ihres Charakters paralysiert wurden. Sie war wohl ein Wesen, wie manche dieser Art, mit der man berauschend glücklich und noch viel, viel tiefer unglücklich sein konnte. Aber all das wünschte ja Fritz Eisner gar nicht. Nur sie alle drei Wochen mal einen Nachmittag sehen und mit ihr plaudern – war vielleicht schon ein Festtag. Diese Lena Block – na, zum Schluß waren ihr alle hier doch zu Dank verpflichtet. Sie war im rechten Augenblick auf der Bühne erschienen, wie die Eltern in der Posse, die den Segen geben, wie der Deus ex machina des antiken Schauspiels. Es war für Egi, was sie vielleicht gar nicht so ahnte, gerade der psychologische Moment gewesen. Wenn er in diesem Augenblick nicht ins Wasser sprang und nicht schwamm, würde er unweigerlich ertrunken sein. Denn das Schiff, das ihn bisher noch so aus Gnade und Barmherzigkeit mitgenommen hatte, war selbst leck geworden, und mußte irgendwie nach einem kleinen und versandeten Hafen abgeschleppt werden, um dort vor Anker zu gehen, und nie wieder flott zu werden. Passagiere konnte es dahin wirklich nicht mehr mitnehmen.
Gott, Lena Block hatte wohl eines in Frankreich gelernt, was die Frauen bei uns in Deutschland nicht begreifen und nie lernen werden, und was wohl doch ein Zeichen einer einheitlichen, viele Jahrhunderte alten gesellschaftlichen Übereinkunft ist: Wenn bei uns eine Frau einen Mann mal liebt, so hängt sie sich an ihn und will ihn ganz für sich –, »die Frauen spornen uns zu großen Taten an und hindern uns, sie auszuführen« sagt das nicht Oskar Wilde? Ach ja, wenn bei uns einer etwas wird, erreicht und weiter kommt, so wird er es trotz der Frauen, die sich mit Bleigewichten an ihn klammern und sich mitzerren lassen wollen. Er hat immer doppelte Belastung. Vielleicht hassen ihn die Frauen sogar, weil er etwas wird, und ihnen dadurch nicht mehr allein gehört. Wenn in Frankreich einer etwas wird, so wird er es durch die Frauen, die ihn schieben, ihm Verbindungen eröffnen, seine Chancen wahrnehmen, ihn lancieren, ihn ins rechte Licht zu rücken suchen, oder über seine wahre Unfähigkeit hinwegzutäuschen suchen. Die Beziehungen jeder Art, oder nicht einmal jeder, sondern meist nur einer Art für ihn ausnutzen ... alte Liebhaber für ihn einspannen, zukünftige für ihn zu interessieren suchen; und ihn, wie Krocketkugeln, durch Krocketieren und Hinausschlagen der anderen Kugeln, die im Wege liegen, über das Spielfeld durch all die Reifen hindurchtreiben, bis er als erster an den Pfahl schlägt und die Partie gewonnen hat ... Nein, Frauen können schon in Frankreich mehr lernen, als nur malen, ... wenn sie klug sind, und Frauen sind, und – Lebensstil haben.
Fritz Eisner war so in Gedanken, den Kopf leicht gesenkt, den Spazierstock hinten durch die Schultern gezogen, wie er es liebte, wenn er mal für sich ging – meist stürzte er zur nächsten Bahn, denn die Wege sind weit und Zeit ist Geld – war so die langen, schon halb dunkeln Ulmenreihen hinabgewandelt. Die Laternen waren längst angezündet, es war wohl schon nach neun Uhr. ›Wozu noch ins Café fahren‹, sagte er sich, ›und den Weissagungen des Alten mit der Sammetjacke lauschen, oder zusehen, wie die junge Lyrik die Weihe eines Gedichts empfängt, »auf die Dame, die am Nebentische Eis aß«; oder abwarten, bis der brave Zyniker von Arzt nach Hause geht, um nach dem Rohrpostbrief zu sehen. – Wozu? – Das lohnte wirklich nicht. Und außerdem würde man es mir nur verargen, wenn es aufkäme, daß ich herzlos heute, an Egis Ehrentage, vielleicht das letztemal, da ich mit ihm auf lange Zeit hinaus im trauten Kreise der Familie und der Allernächsten zusammen sein kann, lieber in die Höhlen des Lasters fliehe ... nein.‹ Und er lenkte seine Schritte in das dämmerige Dunkel des Platzes hinter der Kirche, die mit Schiff, Eselsrücken und Turm, breit und finster und, nur von dem wenigen Licht einsamer Laternen phantastisch überzuckt – die Nacht stand der Kirche gut; aber leider war sie auch bei Tage sichtbar – aus den Baumkonturen in den Sternenhimmel stieg. Und er ließ sich da etwas abseits auf einer Bank nieder, verscheuchte das zärtliche Pärchen (aber ist das nicht ein Pleonasmus?), das wohl allein zu sein wünschte, und das nun, halb aufstehend, ganz langsam und wie mit müden Knien fortschlich, bis zur Bank geradeüber, um sich dort niederfallen zu lassen ... wie zwei aufgescheuchte Nachtfalter, die keinen weiten Flug mehr machen wollten.
Und die Dienstmädchen kamen vorbei, und all die anderen Geister der Tanzböden, leise über den knirschenden Kies mit ihren Zufallsschätzen, untergefaßt oder die Finger verhakelt, manche noch sprechend, andere schon still und von zukünftiger armseliger Lust berauscht. Und die jungen Leute, stolz im Gefühle ihrer Männlichkeit, die gleichen, die morgen wieder gehetzt irgendwo im Trott des Alltags Hausdiener, Barbiergehilfen, kleine Bureauschreiber und Aushilfskellner und Depeschenboten und über den Kasernenhof gehetzte Soldaten spielen müssen.
»Wie seltsam und merkwürdig und unheimlich zugleich diese Liebeswelt. Nicht viel anders als die namenlose Schar der Eintagsfliegen, die da in einem Schleier von weißlich sprühenden Funken hinten ihre Tänze um die Laterne webt. Das kennt eigentlich noch keiner. Warum sollte man nicht so etwas einmal schreiben? Wer sagt, daß es weniger tief, und weniger süß, und weniger tragisch werden würde, als vielleicht das schöne Buch, das ich vorhin Pauline zu lesen gab. ›Oregon und Texas ist noch unbesungen, und dennoch ist Amerika ein Gedicht in meinen Augen.‹« Fritz Eisner liebte Emerson sehr.
Und nach einer Weile schob er wieder den Stock durch die Ellbogen, zog ihn unter die Schulterblätter und ging so langsam, den Kopf gesenkt, heim. Sicher war Annchen schon zu Hause. Hannchen sollte ja zeitig schlafen gehen, das hatte Doktor Spanier ihr eigens eingeschärft. Oder wenn sie später käme, könne er ja sagen, er wäre doch zu überanstrengt gewesen, von den letzten Wochen, immer die halben Nächte durch, und so wäre er lieber zu Hause geblieben.
Nebenbei wolle er die »Herzogin von Assy« weiter lesen, es wäre sehr merkwürdig, sehr undeutsch in Atem und Rhythmus, gar nicht reflektiv oder gehemmt. Ihm lag es nicht. Aber es war schon bewundernswert, daß in Deutschland jetzt so etwas gemacht wurde. Eigentlich hatte es eine geheime Ähnlichkeit mit Professor Toxeira, es war etwas von den gleichen Lebenslinien darin.
Aber Annchen kam spät, doch gar nicht müde; im Gegenteil, sie war noch ganz aufgeregt. – Eigentlich hätten sie alle noch ins Atelier von Lena gehen sollen, aber dann wäre man lieber doch so bei Hannchen geblieben. »Es ist sehr dumm von dir gewesen, daß du nicht auch noch nachgekommen bist. Denn es war wirklich reizend; an einen so anregenden Abend kann ich mich seit langem nicht mehr erinnern. Hannchen ist ja, wenn sie will, eine vollendete Hausfrau. Und Egi! – So habe ich ihn seit Jahren nicht gesehen. Geradezu gut und blühend hat er ausgesehen. Und derart sicher und bestimmt in seinem ganzen Auftreten. Er sagt, einerseits freut er sich, daß er wegkommt; aber andererseits tut es ihm doch leid, denn Berlin ist doch zum Schluß für einen Wissenschaftler die einzige Stadt, in der man leben kann, weil nirgends sonst der Lesesaal der Bibliothek bis zehn Uhr auf ist, wie hier in der Königlichen. Hannchen ist schon ganz ausgesöhnt mit allem und freut sich ordentlich auf den Engadin. Sie ist ja immer eine große Optimistin gewesen. Muttchen wird sie erst hinbringen, und wenn sie sich etwas dort eingelebt hat, in acht oder vierzehn Tagen, wiederkommen. Muttchen ist überhaupt aufopfernd. Zu mir würde sie nie so sein. Und wir müssen uns doch jetzt die Hacken abrennen, was es noch alles zu tun gibt – auch für Egi, daß er seine Aussteuer zusammenbekommt – denn drüben ist alles dreimal so teuer, außer Lebensmitteln, die kosten gar nichts. Und Pferde bekommt man fast geschenkt.«
»Ja ja«, meinte Fritz Eisner halblaut und fast für sich, »es ist wirklich merkwürdig, daß oft, wenn's drauf und dran geht, die ungenießbarsten Leute viel menschlichere Eigenschaften haben als die sogenannten lieben und prächtigen.«
»Wie?« meinte Annchen.
»Ja, ich finde das wirklich sehr anerkennenswert von deiner Mutter.«
»Und ich habe Hannchen auch versprochen, mich ihr zur Verfügung zu stellen, denn sie darf doch jetzt unmöglich noch so viel herumrennen. Und Lulu – der kommt so lange zu seinen Großeltern. Sie haben so darum gebeten. Gerade jetzt, in diesen schweren Tagen möchten sie ihn um sich haben, damit er sie mit seiner glücklichen Heiterkeit etwas ablenke. So'n Kind weiß und ahnt doch von nichts. Sie wissen noch gar nicht, ob sie ihre Neunzimmerwohnung halten können. Es ist ja auch traurig: erst ein eigenes Haus, dann eine Mietswohnung; und jetzt sich noch mehr einschränken müssen. Egis Vater ist ja wie gebrochen. Lange macht er es nicht mehr. Sicher ist, daß der Liebenthal falsches Spiel mit ihnen getrieben und sie hineingeritten hat. Das wird jetzt mehr und mehr klar. Denn er hat mündlich Garantien zugesagt, noch vor zehn Tagen, die er schon am nächsten Tage gebrochen hat. Und seitdem heißt es in seinen Bureaus immer, er wäre verreist, und es wäre unbestimmt, wann er wieder käme. Mal ist er in der Schweiz und mal am Nordkap. Aber man hat ihn doch hier ganz bestimmt gesehen. Und denke dir, mit Paul Gumpert haben wir auch schon telephonisch gesprochen, und er hofft uns morgen oder übermorgen schon das Geld zu verschaffen, ganz ohne Provision und außerdem zinsfrei, wenn es nur hypothekarisch eingetragen wird; und die Kosten für die Eintragung wird auch sogar der Geldgeber noch tragen. Er sagt, das macht ein Bankier, der ihm sehr verpflichtet ist. Wir sind alle noch ein Stück zusammen gegangen, Hannchen ist natürlich zu Hause geblieben. Weißt du, es ist heute abend doch recht kühl, das ist nichts für sie. Egi hat sich dann verabschiedet, um Lena nach Hause zu bringen. Denn man kann eine junge Dame doch nicht am Sonntag abend allein gehen lassen, wo allerhand übles Volk auf der Straße ist. Und mich hat Professor Toxeira noch bis vor die Tür begleitet – das hat er sich nicht nehmen lassen. Er sagt, drüben bei ihnen dürfte eine Dame, wie ich, überhaupt nicht einen Schritt allein gehen. Nicht einmal allein reiten oder fahren. Er spricht nebenbei ein herrliches Französisch. Aber bei mir ging es dann auch wieder nachher vorzüglich. Weißt du, man sollte ja doch Sprachen nicht so vernachlässigen.«
Little Dorrit war auch am nächsten Tag wieder ganz fidel. Sie war zwar ein bißchen blaß, schlief etwas mehr, als sonst, sah nicht so gut aus, aber eigentlich krank war sie keineswegs. Vielleicht ein wenig erkältet. Das Näschen lief manchmal ein bißchen; aber dann war es auch gleich wieder weg. Das kam wohl vom Zahnen. Immerhin ist es besser, man ist vorsichtig und hält sie warm vor allem unten herum. Pauline läßt sie überhaupt immer so rumrutschen. Soll sie mal ruhig ein paar Tage nur in ihrer Box bleiben. Und auch nicht ausgefahren werden. Wirklich, das Wetter war draußen ziemlich scheußlich. Zugstraße V b. Naß, windig und regnerisch. Man fror nicht gerade, aber es war einem fast ungemütlich gegen Abend. Für diese Jahreszeit, man schrieb ja schon Juni, war das doch wahrhaftig keine Art. Solche rechten Sommer, wie man früher gehabt hat, gibt es überhaupt nicht mehr. Früher ist es eine Ausnahme gewesen, wenn es im Sommer geregnet hat. Und jetzt ist es eine Ausnahme, wenn mal die Sonne scheint. Aber das ist wohl nicht wahr! Solange man wirklich jung ist, ist nämlich immer schönes Wetter, und später regnet es meist ... das ist keine Tatsache der Witterung, sondern eine Tatsache des veränderten Gemüts. Im ganzen bleibt sich nämlich bei uns das Wetter ziemlich gleich. Und von der Jugend behält man dann die schönen Sommer mehr in Erinnerung, und später mehr die trüben und verregneten.
Aber diese Woche fing wirklich nicht gut an, was das Wetter anbetraf. Der Regen klatschte manchmal so, daß er geradezu die Blätter von den Ulmen vor der Tür schlug und die Raupen von den Zweigen wusch, und die Hauswände, vor allem die Wetterwand, spritzte er ab, wie mit einem Gartenschlauch hier draußen. Über dem Wickeltisch schlug wieder ganz deutlich die feuchte Stelle durch. Aber in der Stadt merkte man eigentlich nicht soviel davon. Man stellte sich – wenn man nicht zufällig schon unter Dach und Fach war – unter einen Torweg und wartete, bis die Husche vorbei war, bis es sich abgeregnet hatte, bis die Tropfen weniger stramm im Stechschritt über den Asphalt marschierten, oder bis trotz des Stechschritts die Bahn kam, die nicht überfüllt war und einen mitnehmen konnte.
Für Fritz Eisner gab es noch eine ganze Menge zu tun, drin und zu Hause. Denn die Salons wollten nochmal sich möglichst angenehm verabschieden von den Zeitungen und von ihrem Winterpublikum, mit einem Aufmarsch der Moderne, die die Kritik herausforderte ... ehe sie in den Sommerschlaf fiel und Defreggers, Schreyers und Knaus' und Spitzwegs, Menzel-, Feuerbach- und Böcklinstudien, und noch allerhand andere sichere Verkaufsware zweiter Klasse aus ihren Magazinen herausholte ... solche Bilder, die zwar vielfach von der Kritik schon perhorresziert wurden, in denen aber das eigentliche Geschäft der Kunsthandlungen beruhte, und die für die Fremden und die Amerikaner weich und genießerisch zwischen schönen Teppichen und Truhen nun zur Schau gestellt werden sollten. Sie machten es darin so, die Kunstsalons, wie eine Schneeballart, die außen die großen weißen, aber tauben Schaublüten hat, um die Insekten anzulocken, und innen die ganz kleinen unscheinbaren, aber wahren und honigtragenden Blüten, die ohne die anderen eben nicht beflogen würden.
Und in Königsberg, Hannover aber und Essen, und sonst noch wo, da wollte man doch jetzt auch wieder wissen, was an dem Lärm daran wäre, den in diesem verrückten Berlin die Sezessionsleute machten, und ob Werner und Thumann und Konrad Kiesel und Laszlo, und wer noch etwa, wirklich so schlecht, und Liebermann und Slevogt und Corinth und Gaul wirklich so gut wären (worüber Fritz Eisner sie aufzuklären hatte) ... die Sache mit den französischen Impressionisten, mit Manet, Pissaro und so weiter hätte sich ja so ziemlich tot gelaufen; aber was jetzt an dem Mann dran wäre, dem Hodler und dem Cézanne oder dem van Gogh, von dem sie neuerdings soviel hermachen; und, ob die Sache mit dem modernen Kunstgewerbe noch immer weiter um sich griffe oder weiter im Abbau sei; – was die Bildhauer machten, und welche im Recht seien, die die Denkmäler fabrizieren, oder die anderen, die keine Staatsaufträge bekommen. Man wollte sich draußen in der Provinz zwar nicht von den alten Göttern lossagen, aber man wollte auch nicht den Anschluß verlieren. Also hieß es für sie, auf dem Laufenden gehalten zu werden! Und dazu war ja Fritz Eisner ausersehen.
Annchen war jetzt nicht sehr viel zu Hause – wie konnte sie auch – denn es gab wirklich zu tun. Wenn so ein Haushalt sich so gut wie auflöst, die Leute in die weite Welt auseinanderflattern, gibt es schon vorher noch verschiedenes zu erledigen. Vielleicht könnte überhaupt Hannchen ihre Wohnung so lange möbliert vermieten, da bekäme sie noch etwas zu, was ihr da oben von Nutzen sein könne, statt daß sie für das Speichern zahlen müsse; denn ob es Egi gleich möglich sein würde, ihr etwas zu schicken, sei doch nicht so ganz sicher. Und richtig, man fand sofort einen prachtvollen Mieter, einen Ausländer, einen jungverheirateten, schwedischen Musiker mit einer süßen Frau und einem noch süßeren Kind, die alle drei (das heißt das Kind nur symbolisch) einen Rütlischwur taten, auf die Möbel wie auf ihre Augäpfel zu achten. Und es ging alles nach Wunsch. (Brauche ich noch zu sagen, daß er weder verheiratet war, noch Musiker ... noch Schwede, noch zahlte, noch sich davon abhalten ließ, das halbe Mobiliar zu demolieren, verklagt und exmittiert werden mußte – nur das Kind war echt! – oder ist das alles schon im ersten implizite enthalten gewesen.)
Und dann hatte der Roman begonnen. Er las sich nicht übel gedruckt, setzte nicht schlecht ein, man spürte im Augenblick, wo man war, wo man hingeführt werden sollte, braucht nicht lange zu tasten. Ohne Zweifel, es ging von den Lettern eine gewisse Suggestion aus, sie hatten das, was sonst Druckerschwärze und gar solche in Zeitungen, sehr selten hat: – ein Fluidum. Selbst zwei Druckfehler störten nicht, rissen nicht heraus. Endlich war er, Fritz Eisner, auch so etwas wie Publikum schon wieder; denn diese ersten Abschnitte lagen ja über ein Jahr für ihn zurück. Er hatte sie eigentlich noch mit unsicherer Hand geschrieben, mit schwereren Stößen, noch nicht getragen vom Strom. Und sie hielten gedruckt schon stand, waren farbig und bildhaft, und flossen in der Melodie vielleicht etwas zu volksliedmäßig und weich, aber nicht unangenehm dahin. Und so würde nun sein Name, der ja eigentlich bisher nur in den Zeitungen sporadisch auftauchte, sich oft hinter Chiffren und Pseudonymen versteckte – seine anderen Bücher waren kaum in die Breite gedrungen, hatten nur ein paar Freunde und Verehrer gefunden, ihn nur bei Literaten bekannt gemacht, aber jetzt waren sie schon fast ganz vergessen – und nun würde er wieder Tag für Tag, sechsmal die Woche, durch zwei, drei Monate seinen Namen fünfzig- oder hunderttausend Menschen, oder noch mehr hier in Berlin einhämmern. Das war immerhin sehr wichtig für seinen späteren Weg.
Und auch die nächsten Tage hielten gut stand. Am Donnerstag aber, wie er früh die Zeitung aufklappte, war gerade unter dem »Fortsetzung folgt« noch ein kleines Artikelchen angeheftet, so daß die Spalte damit dann ausging. – Das ist doch ungeschickt! Das hätten sie wirklich anders abtrennen können, schon des optischen Bildes wegen! ... »Hochschulnachrichten.« Also das kann doch bei Gott keinen Menschen interessieren: ob Professor Leinenmesser für Kristallographie von Greifswald nach Halle kommt, das verwirrt doch den Leser nur, reißt ihn aus der Stimmung. So etwas sollte man sich eigentlich verbitten. Nächstens werden sie noch eine Odolreklame unter meinen Roman setzen.
Aber plötzlich lachte Fritz Eisner auf. »Ach, sieh mal hier, Annchen«, rief er, »das Blatt müssen wir uns aber aufheben, da stehen wir beide, Egi und ich, zusammen drauf. Hier siehst du – da oben stehe ich mit meinem Roman, und hier: ›Doktor Eginhard Meyer, der sich vor allem durch seine rechtsphilosophischen Studien und seine »Formen der freien Rechtsfindung« ... hat von der argentinischen Regierung ... der junge Gelehrte wird dem Ruf Folge leisten‹ ... Das lassen wir als Doublette für deine Mutter einrahmen, damit sie von nun an etwas freundlicher von ihren Herren Schwiegersöhnen denkt und spricht.«
Annchen lachte. »Ich wollte es dir eigentlich erst gar nicht erzählen, aber gestern war Muttchen wirklich zu komisch. Wir waren doch, um Hannchens Pelzkragen von Herpich zu holen, in der Stadt, und da liest eine Dame in der Bahn gerade deinen Roman, und zeigt ihn einer anderen. ›Na, wie gefällt dir denn der Roman von Fritz, Muttchen?‹ fragte ich sie so recht absichtlich. Und ahnst du, was sie da sagt, so laut, daß die ganze Straßenbahn es hört (du weißt ja, sie ist immer gleich so pathetisch), ich habe mich ordentlich geschämt: ›Ich habe mir geschworen, nie wieder solche Leute persönlich kennen zu lernen, die so etwas schreiben. Man ist zu enttäuscht von ihnen!‹ Da bin ich aber doch grob geworden.«
»Aber entschuldige, Annchen, das zeigt doch, daß sie endlich eine sehr kluge Frau ist. Auch, wenn es manchmal aussieht, als ob es nicht so wäre. – Aber dann verstellt sie sich eben nur ... ach Gott, und sieh mal, was da noch steht ... Du – das tut mir aber leid! ... ›Doktor Dietrich von Vanselow hat einen Ruf als Extraordinarius und zugleich als Leiter des neugegründeten röntgenologischen Instituts in Bonn ... seine Arbeit über die Behandlung der Metastasen des Brustkrebses ... ‹ Du – da wird sich aber Doktor Spanier nicht sonderlich freuen, denn er war doch eigentlich zuerst für diesen Posten vorgeschlagen. Desto besser für uns: bleibt wenigstens er und Lucie hier. Aber gegönnt hätte ich's ihm. Ich glaube, er hat Ehrgeiz und will gern weiterkommen. Warum – verstehe ich eigentlich nicht. Denn ein Mensch, wie er, muß doch in seiner Tätigkeit seine Befriedigung finden, die doch wirklich einen Sinn hat, ganz im Gegensatz zu dem, was tausend andere tun, die Baustellen verschieben oder Soldaten drillen oder Kindern das Abc eintrommeln. Gewiß, er kann an solchem Institut noch besser arbeiten, und hat vielleicht noch mehr Material, und ist fester angeschlossen an den Stromkreis als einer, der draußen steht: aber materiell kann es ihn doch nicht reizen – denn geldlich braucht er sich wirklich keine Hemmungen aufzulegen. Er hat sicher viele, viele Tausende in sein Instrumentarium und in seine Apparate hereingesteckt, und wird das auch weiter tun – also ein so großer Unterschied kann es für seine Arbeitsmöglichkeiten auch nicht sein. Die Spaniers sind nebenbei seit Generationen sehr reich. Meine Mutter kannte den Vater und den Großvater noch, der auch ein sehr bekannter Arzt hier in Berlin war.«
»Ist er denn getauft?« fragte Annchen.
»Sicher nicht! – Wieso?!«
»Na, dann wird er sich nicht so leicht mehr habilitieren können in Preußen. Sie sind jetzt sehr rigoros darin geworden. Egi hat das Hannchen auch neulich gesagt, als sie ihm das von Bonn erzählte. – Er soll sich taufen lassen, meint er.«
»Daher der Name ›Freie Wissenschaft‹!« sagte Fritz Eisner, stand auf, um fortzugehen, und küßte Annchen.
Merkwürdig – draußen war gar nicht so schlechtes Wetter! Und als Fritz Eisner am Potsdamer Platz ausstieg, brannte sogar wieder einmal die Sonne herunter, und der Platz dahinter mit den weiten Rasenrondells, mit den hohen schönen Baumgruppen war lichtgrün und vergoldet ... Bäume sind wie Menschen: sie müssen allein stehen, wenn sie schön in den Formen werden sollen, dann runden sie sich nach allen Seiten, werden schwer im Laub, stolz und groß ... gibt es zum Beispiel etwas elenderes als unsere Kiefern?! – wie sie so stehen in Reih und Glied unserer Nutzwälder, eine wie die andere, aufgestellt Schulter an Schulter, wie die Soldaten auf dem Sand eines Kasernenhofes, und solch bißchen zerzaustes Nadelgrün als Krone, das deutlich sagt: bei mir kommt es auf die Körperlänge, aufs Gardemaß, auf die geraden Knochen und nicht auf den Kopf an ... aber laßt mal solche Kiefer ganz allein stehen, was das für ein schöner Kerl wird; zackig und finster, und bezweigt von oben bis unten, hart und trotzig und selbstbewußt, und dabei voll von Träumerei und Einsamkeit, harzduftend über und über, ein Fossil, ein Vorweltriese ... Aber hier gab es nur Linden und Ulmen, die alte Steinfiguren beschützten, und Rotdorn geradeüber von der Normaluhr. – Aber er war schon verblüht – und dann das durchleuchtete schöne Kastaniendämmer der Bellevuestraße, die mit Recht einen französischen Namen hat, denn sie ist so ein Stückchen Paris, ein ganz winziges Abschnittchen da aus der Gegend vom Etoile ... damit auch Paris in diesem Städtekatalog Berlin nicht fehle. Und dann die lange Leipzigerstraße mit ihrem Sonnenlicht, das nun ganz blank und weiß war, und der vielen, sich verschiebenden Bewegtheit von Straßenbahn, Omnibus, Autos und allerhand Gefährt sonst ... mit den Termitenzügen der helleren oder dunkleren Fußgänger rechts und links, weit hinab, und mit den Flecken von allerhand Uniformen dazu ... und den Einzelnen, die hier und da die Dämme, hastig springend, als ob sie Deckung suchen müßten, traversierten ... mit ihren Zeitungsverkäufern, die ausschrien: »Roosevelt – Präsidentschaftskandidat! – Blutige Kämpfe um Port Arthur!!!« ... und mit ihren Blumenhändlerinnen, die jetzt schon bei »drei Bund – fuffzig!« waren – ganz gleich was ... all das war im Augenblick von einer so hübschen bewegten Buntheit, daß Fritz Eisner doch zugeben mußte, daß die Leipzigerstraße in den letzten dreißig Jahren viel zugelernt hätte. In seiner Jugend war sie noch solch ein Rest von farbiger Lithographie, Meyer Lüdtke, und von »Familie Mendelsohn« gewesen ... da konnte man sogar hier noch wohnen (Warenhäuser standen dort jetzt, wo ihn Tanten auf dem Schoß gehalten hatten). Und nun war sie bei den Impressionisten in die Schule gegangen. Nur der Ton war etwas anders, nicht so violett, mehr grau und etwas glasig, der Ton war noch Monet achtzehnhundertsechsundsiebzig, mit schärferen Konturen und härteren Schatten. Aber in Deutschland ist die Malerei ja immer zwanzig bis dreißig Jahre zurück.
Drüben im Künstlerhaus gab es englische Radierungen zu sehen. Musiker sind die Engländer nicht, Maler sind sie auch nicht, selbst Gainsborough tut nur so, wenn man an Goya denkt. Sie sind vielleicht zu gut erzogen, um Künstler zu sein; jeder ist zu sehr Engländer, treibt seelisch, geistig und körperlich zu viel Sport, ist durchtrainiert, meidet Hingabe und Exzesse. Und ohne die geht es nun mal bei der Kunst nicht. So also gibt es bei den Engländern wenige, die viel, aber dafür viele, die etwas können. Ein Engländer kann nie so begabt, aber auch nie so unbegabt sein, wie ein Deutscher, Franzose, Niederländer, Spanier oder Italiener, oder selbst die Leute des Nordens, die erst jetzt kommen. Als Maler sind sie eine Rasse zweiter Hand. Für volle Farbe fehlt ihnen das Organ. Für schwarz-weiß, für Graphik jedoch sind sie unübertrefflich. Heute noch die letzten Träger einer großen Überlieferung, scheinen sie Erziehung von Jahrhunderten in sich zu haben. Auch für die geschickte farbige Paraphrase des Aquarells, die nicht ein Abbild, sondern mehr nur eine Erinnerung der Wirklichkeit geben will da sind sie licht, sauber, geschmackvoll und köstlich.
Gehen wir dahin, und sehen wir, wie ein Penfield oder Slocombe oder ein Saymour Haden noch heute die Lichtträume eines Rembrandt weiterspinnt, mit der atmosphärischen Weite um eine Mühle, und dem sich ballenden Gewitter über den drei Bäumen; wie sie so etwas mit feiner, empfindsamer Hand nachträumen, als halbe Künstler und als halbe Dilettanten, Börsenmakler oder sonst etwas ... Vielleicht gibt es auch von Whistler, diesem nach Westen verirrten Japaner, Blätter die ich noch nicht gesehen habe. Ich werde manches zwar schon von früher kennen, aber diese Kunst ist so schön zeitlos, Kunst für alte Herren und Gourmets, die nicht mehr viel ausgehen, aber die Natur in Mappen sammeln.
Doch vor dem Künstlerhaus stieß Fritz Eisner plötzlich mit einer älteren dunkelgekleideten Dame zusammen, ganz anspruchslos, bestes, altes Tiergartenviertel. Er erkannte sie, sie ihn, trotzdem sie sich bald fünfzehn Jahre nicht gesehen und gesprochen ... sie blieben stehen, und da hatten sie sich schon verschwatzt. Es war eine behagliche, manierenvolle, wohlhabende Dame, von freundlichem Humor und einem singenden Sprachton, der das unbewußte Entzücken seiner Jugend gewesen war; eine aus dem Kreise seiner reichen und zahlreichen Anverwandten, die sich sonst nie viel um ihn gekümmert hatten, es sei denn, um ihr Mißfallen auszusprechen, was man ihnen meist, den Tatsachen nach, wirklich nicht verargen konnte. Nur, da sie nichts ihm dazu gaben, so stand ihnen eigentlich die Berechtigung der Kritik nicht zu. Und da es Fritz Eisner – durch Erfahrungen gewitzt – sich zur Lebensregel gemacht hatte: bei Zerwürfnissen mit der Familie, stillen oder ausgesprochenen, ängstlich alles zu vermeiden, was etwa eine Versöhnung anbahnen könnte, so waren sie so ganz unmerklich auseinander gekommen. Sie hatte ihm weder zur Hochzeit noch zur Geburt von L. D. gratuliert; und er sah ostentativ nach der Straßenbahnnummer, wenn er hätte ihr etwa in die Arme laufen können. Aber menschlich hatte er eigentlich sonst nichts gegen sie. Und jetzt standen sie zusammen und freuten sich furchtbar miteinander. Sie spritzte und sprudelte nur so, wie die Fontäne auf der Reklame für den Kurfürstensprudel.
Gott, man wäre ja so begeistert! Jeden Morgen telephoniere man sich an, wie es heute gefallen hätte, und debattiere so lange am Telephon darüber, bis das Fräulein vom Amt sie zu trennen drohe. »Und wenn ich denke: einmal bei einer Kindergesellschaft hast du bei mir sieben Baisers und acht Eierbrötchen noch nachher gegessen ... ich sehe dich noch, mit dem Sammetanzug und dem Klappkragen und dem Lavallier ... laß dich mal angucken. Na, eigentlich hast du dich nicht sehr verändert – ich gebe zu, den Schnurrbart hast du damals noch nicht gehabt, und die Nase war etwas kleiner, du wirst jetzt nebenbei deinem seligen Vater sehr ähnlich ... Damals, wie du immer bei uns auf den Nußbaum zum Schütteln klettern mußtest, da hat noch keiner gewußt, daß du so'n berühmter Mann wirst, von dem seit Tagen ganz Berlin spricht ... wo du hingehst, man hört doch nichts anderes. – Sag mal, wie lange bist du eigentlich nicht bei mir gewesen?! – ich wohne immer noch Margarethenstraße 12, und der Nußbaum hat dieses Jahr sogar vorzüglich angesetzt. Ich hoffe, daß du dies Jahr wieder raufkletterst! ... Ist das Kind niedlich? Es muß ja reizend sein, nach dem Bild, das ich bei deiner Mutter gesehen habe. Was die und die und die machen?! – es geht ihnen allen gut – nur Alfred ist sehr alt geworden. Daß ich meinen armen, guten Mann im Herbst vor drei Jahren verloren habe – na ja, er war sehr krank – und ich kann mich freuen, daß ich ihn so lange, bis siebzig, behalten habe – aber mußte denn das sein?! Den ganzgroßen Bucchara habe ich auch noch. Wenn ich mal sterbe, kriegst du ihn. Aber vorher kannst du ihn bei mir noch ein paarmal ansehen! Die alte Köchin? – die ist jetzt ganz verwebbt – aber ich laß sie machen, was sie will. Was nützt mir 'ne vernünftige, wenn sie nicht kochen kann?! Wir können aber hier nicht so lange stehen bleiben – wir werden noch als Verkehrshindernis arretiert werden. Begleite mich ein Stückchen. Ach was, Fritz, wenn ich jünger und hübscher wäre, würdest du dich nicht so lange bitten lassen, oder paßt da deine Frau – Junge, Junge!! Ich muß zu dem Hund, dem Eisner. Denk dir, seit fünfunddreißig Jahren macht er mir schwarze Glacéhandschuhe. Jedes Jahr ein Dutzend. Und jetzt mit einem Male, hat er mir die Daumen verschnitten. Entweder muß er sie zurücknehmen oder ich muß mir ein Stück von der Kuppe abhacken lassen. Anders geht's nicht. – Mußt du wirklich noch auf die Redaktion? Aber ich habe mich aufrichtig mit dir gefreut; und – hörst du – halt die Ohren steif! mach uns keine Unehre! blamier uns nicht! Du kommst nicht aus dem Toppkeller! – die ganze Familie guckt auf dich!! – Hoffentlich geht es so gut weiter, wie es angefangen hat.«
Fritz Eisner brachte sie noch ein Stückchen herüber über den Damm nach Josty – denn die Autos fuhren wie wild – plauderte mit ihr noch ein paar Schritte in die Potsdamerstraße hinein. Aber da fiel ihr ein, daß sie bei ihrem Schlächter in der Linkstraße falsch bestellt hätte; zwei Pfund, statt drei Pfund Filet. Und zwei Pfund ist gar nichts. Was raus kommt, in die Küche, sieht man nie wieder. – Bei drei Pfund kann ich sagen: So, Johanna, das bleibt noch zum Abend! »Zehn Jahr kümmert er sich mindestens nicht um mich, und dann will er eine alte Dame allein über den Damm und in so verrufene Quartiere gehen lassen! Ein schöner Herr bist du! Manieren hast du wie ein englischer Lord!! Warte einen Augenblick, ich komme gleich wieder raus!«
Und damit ging sie die paar Stufen zum Schlächterladen hinauf.
Wirklich, sie sah noch genau so aus, wie vor dreißig Jahren, trug sicher noch das gleiche unauffällige Kleid, hatte nicht einen Pulsschlag ihrer Vitalität eingebüßt, und mußte doch heute schon an sechzig sein oder sogar drüber. Wem war sie doch ähnlich? Richtig, das war eigentlich Röschen. Röschen! ... Gewiß an Bildung, Manieren, Ingredienzien war sie ganz anders, völlig Dame, Röschen tausendfach überlegen; aber in der Art war es genau das gleiche. Vier, fünf Generationen Berlin. – Sie waren beide im gleichen Ofen gebacken, nur daß sie von der obersten Schicht der Schichttorte war, mit Zuckerguß, Füllung und kandierten Früchten, und daß Röschen aus einer der untersten war. Aber der Teig war bei beiden gleich. Und man hatte an guten Zutaten weder hier noch dort gespart bei der Schichttorte, wenn sie auch unten herum leider ein bißchen hartbacken, pappig und etwas angebrannt war.
Aber wie Fritz Eisner so vor sich hinstarrte, ohne eigentlich irgend etwas besonderes wahrzunehmen, war es ihm plötzlich, als ob in dem optischen Bild des Hauses da drüben, das in seinem Gesichtsfeld lag, sich etwas veränderte. Er hatte eigentlich das Haus und die breite altertümliche Haustür mit den geschnitzten hohen Empireornamenten wohl gesehen, aber nicht registriert. Doch nun, wo sich da drüben etwas änderte, fuhr er zusammen. Es war so ungefähr mit ihm wie bei einem Reh: wenn man sich still verhält, äst es ruhig weiter, sieht einen vielleicht sogar an, scheint einen aber gar nicht zu erfassen. Aber sowie man nur den kleinen Finger rührt, scheut es auf, sieht herüber und springt davon. Das Haus war, wie das so in der Nähe von Bahnhöfen ist, eigentlich kein feines Haus mehr. Für Privatmieter war es zu lärmend, für Bureaus kam es noch nicht recht in Frage, und so hatten sich in der Übergangszeit allerhand fragliche Pensionen hier aufgetan, die für Monate, Wochen, Tage, aber auch stundenweise – und dieses wohl vor allem! – vermieteten; und insofern Wagnerianer waren, daß sie weder nach Woher, Wohin der Fahrt, noch nach Name und Art fragten ... sondern ohne Neugier sich damit begnügten, daß das Fünfmarkstück silbern und rund war, und daß das Gepäck des jungen Paares sich noch an der Bahn befände. Und wie gesagt, an der Tür dieses Hauses hatte sich plötzlich etwas verändert. Sie war nicht geöffnet worden, aber sie wollte sich öffnen. Und dann tat sie es, tat sie es ganz. Nicht gleich, erst nach einer kleinen Weile von Unentschlossenheit. Und dann schob sich ein Köpfchen mit einem zarten Etwas von Hut, so einer Art Meisenbauer, mit Seide verhängt, heraus. Und dann kam ein seidener Straßenmantel hinterher. Und ein schlankes, hübsches Wesen mit langen Gliedmaßen und einem kleinen zierlichen Kopf dazu, ging schnell und federnd wie ein Gepard, wie eine Ginsterkatze, nach dem Potsdamerplatz zu. Man sah ihm ordentlich die Hast an, mit der es hier aus dieser Straße herauswollte, mit der es sich bestrebte, in eine größere Gruppe von Menschen einzutauchen.
Fritz Eisner pfiff vor sich hin. »Es wird ihr kaum bestimmt sein, im Bürgerlichen zu enden!«
Und nach einer halben Minute tat sich die alte Empiretür noch einmal auf. Aber dieses Mal gar nicht so zaghaft. Im Gegenteil: man spürte, wie eine männliche Faust, eine Boxerfaust die Klinke herunterdrückte, im vollen Bewußtsein dessen, was sie tat; und daß es ihr durchaus nicht peinlich war, daß ihr Herr sich etwa hier befände. Nein, sie würde mit Freuden jedem in die Fresse fahren, der dagegen etwas zu sagen hätte. Und ein Panamahut folgte, und ein rundes, glattes Gesicht, wie auf dem Inserat des Gilette-Apparates; und mit breit wattierten Schultern, dann ein graugelbvioletter, rauher englischer Anzug, voll grüner Sprengsel wie Heuhüpfer. Und das Ganze stapfte mit festen Schritten in amerikanischen Halbschuhen über den Damm, gerade auf Fritz Eisner zu.
»Oh«, rief es (das heißt jenes Gemisch zwischen A, O und U, von dem man in Deutschland glaubt, daß es auf dem Broadway das Zeichen freudiger Begrüßung ist), »Halluh, Mister Eisner, entschuldigen Sie, daß ich bei Ihnen noch keinen Besuch gemacht habe, ich bin damals mit den Spaniers – verkehren Sie nebenbei dort? – so mit bei Ihnen hereingeschneit. Es war die hübscheste Sache der Season. Aber ich hatte, goddam, allerhand viel zu tun; keine Nacht vor drei. – Jetzt gerade eine große Fusion zustande bekommen. Darf ich Ihnen noch zu Ihrem jroßen Erfolg gratulieren (jetzt vergaß er den Yankee). Scheint ja eine pyramidale Sache zu werden. Janz Berlin ist voll von. Hier muß ich rauf, oben ist das Filialbureau meiner Jesellschaft. Sehen Sie, da – zwei Treppen hoch! Wenn Sie mal was Gutes trinken wollen, so auf dem Sprung, mix' ich Ihnen gern was. Habe oben ein paar janz rare Sachen, die man nicht mal mehr bei F. W. Borchard bekommt!«
Die ältere Dame aus der reichen und zahlreichen Verwandtschaft war wieder aus dem Laden gekommen ... der Aufenthalt hatte etwas länger gedauert, weil sie dem Schlächter für das letzte große Roastbeef noch den Kopf waschen mußte, es wäre zäh wie Schuhsohlen gewesen, und weil sie ihn hatte schwören lassen, daß das für Sonntag mittag, da wie stets ihre Kinder bei ihr wären, besser abgehangen sein müsse ... und sie stand plötzlich wieder neben Fritz Eisner. Die Kommende Note jedoch zog höflich den Hut und ging in das Haus.
»Kennst du denn Doktor Groß, Fritz?« fragte ihm nachblickend die Dame der Verwandtschaft, mißtrauisch und langgezogen. »Ja?! – Falls du es tun solltest, will ich dir mal etwas sagen, als alte Berlinerin: so 'was kennt man nicht! ... Aber nun muß ich zu dem Kerl, dem Eisner! Wie findest du das? Setzt mir Daumen an die Glacéhandschuhe, die meinem jüngsten Enkelkind noch zu klein wären!«
Aber es war wie verhext. Fritz Eisner sollte nicht weiter kommen. Fritz Eisner hatte gar nicht gewußt, daß er so viele Bekannte hatte, die ihn ansprechen konnten, Leute, die ihm sonst im Bogen aus dem Wege gegangen waren, grüßten ihn schon aus sechs Meter Entfernung. Sie schienen Queue die Leipzigerstraße lang zu bilden ... sie schienen sich für halb zwölf mittags verabredet zu haben, um ihm aufzulauern. Ein Schulkamerad, den er Jahre nicht gesehen hatte, kam sogar über den Damm herüber. Er hatte ihn nie ausstehen können, er war schon von je – so etwas zeigt sich früh – ein Schönredner und ein aufgeblasenes Nichts gewesen.
»Na, sag mal, Feuerländer« – diesen Spitznamen hatte Fritz Eisner jahrelang nicht gehört – »warum kommst du denn nicht zu unseren Werderaner-Abenden?! Das ist doch unerhört!«
»Weil ihr mich nicht aufgefordert habt!«
»Was – sollte das dieser Bummelfritze von Sternfeld wieder vergessen haben?! Wir haben doch noch vor drei Wochen davon gesprochen. Natürlich stehst du auf der Liste; ... jeder kommt da nicht drauf!«
Als er endlich auf der Zeitung anlangte, hieß es: »man läßt Sie vom Verlag schon den ganzen Morgen suchen. Warten Sie – ich will Sie gleich melden!« Und der eine der Redakteure, mit dem er immer leise Reibereien sonst gehabt hatte, schüttelte ihm die Hand, und sagte ganz unvermittelt, »daß es ihm stets ein Vergnügen gewesen wäre, mit ihm zusammen zu arbeiten, und daß er hoffe, daß Fritz Eisner ihm weiter treu bliebe.«
Im Verlag, im Allerheiligsten, im privatesten Privatkontor – es war ein Tempel mit Vorhöfen, bis man zum Oberpriester kam – nötigte der Oberpriester Fritz Eisner in einen Klubsessel, gab ihm eine Zigarre: »Nun sagen Sie mal, in aller Welt, lieber Freund, warum haben Sie uns eigentlich den Roman da nicht gegeben? Wir hätten uns sehr gefreut, wenn wir ihn gehabt hätten, und so gut wie die da drüben sind wir auch.«
»Gehabt haben Sie ihn auch, wenigstens die ersten zwei-, dreihundert Seiten. Aber die anderen haben eben früher zugegriffen.«
»Wer hat denn das wieder verbrockt!« rief der Gewaltige und kam ganz aus der Kontenance. »Aber vielleicht können wir irgend etwas, wenigstens für die Zukunft vereinbaren, daß wir spätere Arbeiten von Ihnen bekommen. Wie gesagt: es ist ja doch sehr schade, daß wir diesen Roman noch nicht haben!«
Nur Fritz Eisners alter Jugendfreund, der Bändelmann aus der »Destille«, sprang, als er ihn nachher beim Heimweg sah, von der fahrenden Bahn, an der Französischen Straße und kam auf ihn zu. »Du«, sagte er, »das ist ja sehr hübsch ... und man spricht ja auch furchtbar viel davon. Sogar schon auf der Börse. Aber weißt du, früher, wie wir noch mehr zusammen waren ... so deine ersten Arbeiten, die waren doch begabter!«
»Vielleicht!« meinte Fritz Eisner, »aber sicher waren sie anders. Man kann eben nicht immer zweiundzwanzig Jahre bleiben!«
Zu Hause lag plötzlich eine Einladung zu einem Bankett für Sonnenthal. Fritz Eisner wußte wirklich nicht, wie er zu der Ehre kam, hier mitgezählt zu werden. Und Annchen sagte, daß drei Leute – eine Dame kenne sie gar nicht davon ... aus der Drakestraße – angerufen hätten (außer M'chen), welche Tage wir noch nächste Woche frei hätten. Sie hätte aber ohne ihn – mit Ausnahme von nächster Woche Dienstag, den achtzehnten, und Freitag, den einundzwanzigsten, noch nirgends fest zugesagt; und natürlich auch für Sonnabend bei Ilges draußen. Das hat Lucie noch vorhin von unterwegs telephoniert. Sie wollte eigentlich selbst rauskommen zu mir; aber sie hätte keine Zeit mehr gehabt. Wir dürfen uns aber nicht zu spät treffen, weil Sonnabend Egi und Hannchen und Muttchen ja um elf Uhr fortfahren. Denke mal: er vom Lehrter Bahnhof, und sie vom Anhalter Bahnhof! Und wer weiß, auf wie lange!! Das ist doch eigentlich traurig – wir machen mal so etwas nicht!!!«
»Zum Donnerwetter!« rief Fritz Eisner plötzlich (und was konnte eigentlich das arme Annchen dafür?!) – »ich will nicht in das gesicherte Leben hinüber voltigieren. Ich will nicht immer dahin gehen, wo die Leute Autos fahren, in Grand Hotels absteigen, Diners fressen, ihre Kinder von Nurses ›füttern‹ lassen, zum Spezialarzt laufen, wenn sie einen Nietnagel haben. Ich will nicht Sonntag vormittag Besuche mit Handschuhen machen; einladen und mich einladen lassen. Ich will nicht in der Welt zu Hause sein, in der sie ihre Frauen gegenseitig verführen. Ich will nicht mitzählen, wo gezählt wird; vorgestellt werden, wo man vorgestellt werden muß. Ich will nicht in diese Welt hineinkommen, wo man eine stinkende Hochachtung voreinander hat und vor sich selbst; und, wo keiner zum anderen sagt, daß wir eigentlich hier auf dieser Erde, wie wir gebacken und gebraten sind, arme Hunde und wehe Kreaturen sind. Ich will nicht an die Welt dieser Leute etwa noch glauben lernen, und an all ihren Quatsch, und davon die Sehnsucht und die Zweifel und die Trunkenheit aus dem Herzen mir reißen lassen ... Ich wünsche nicht, das Leben als Selbstverständlichkeit, wie die da, zu nehmen, und nicht mehr als Problem mit ihm mich herumschlagen zu müssen ... weil ich zu dumm, zu faul, zu bequem und zu saturiert dazu geworden bin. Nehmt mir doch nicht mein Bestes!!! ... Ich habe keine Lust, das Tatwamasi, das ›Ich bin Du‹, zu vergessen, und das ›Ich bin Ich‹ an seine Stelle zu setzen! Ich will all den Unsinn von Staat und Gesellschaft und Abgestempelt- und Eingegliedertsein nicht mitmachen ... weder so noch so!!!«
Aber Annchen sagte ganz vertränt: »Na schön – dann werde ich all den Leuten wieder abtelephonieren!«
»Ach was«, sagte Fritz Eisner – er war jetzt sehr weich, hatte abreagiert und schämte sich. »Ach laß das vorerst. Das hat ja noch in den nächsten Tagen Zeit!«
»Sieh mal«, meinte Annchen, »denke doch nur mal daran: was habe ich denn in den ganzen Jahren gehabt? Und was habe ich noch?! Hannchen – die verreist jetzt wieder! Man möchte doch auch gern wieder mal ein bißchen aufleben!«
»Gewiß«, meinte Fritz Eisner. »Aber glaubst du vielleicht, daß da draußen das Leben ist? Was die Leute dir geben können, sind doch nur Dinge, die kaum die Haut ritzen. Das mußt du doch endlich mal einsehen.
Seien wir doch einmal ehrlich, Annchen, bisher, da wir eigentlich aufeinander angewiesen waren, sind wir schon nicht innerlich so zusammengekommen, wie wir es müßten. Meinst du, es wird besser werden, wenn uns tausend Menschen hin und her zerren, und wir uns nicht mal mehr selbst gehören, geschweige denn einander?«
Aber Annchen wurde böse, denn das konnte sie auch. »Und das sagst du mir?« rief sie, »die ich doch nur für meinen Mann und mein Kind lebe! Wie kann man nur so brutal sein und eine Frau so wenig verstehen?!«
»Hör mal, ich habe mal als Kind solch Marktfrauchen gehabt, mit einem Tuch um. Und das habe ich sehr geliebt, denn es war anders als mein anderes Spielzeug. Man konnte es hinlegen, in die Ecke werfen, unter die anderen Sachen stubsen, es schnellte immer wieder auf, stellte sich hin, blieb es selbst; und das hat mich sehr gereizt, herauszubekommen, woran es läge, und da habe ich es ganz heimlich mal aufgepolkt. Da hat es einen kleinen grauen Bleikern in der Mitte gehabt, und die anderen hatten alle nur Kleie oder Sägemehl, und im Kopf fast gar nichts. Es war nichts besonderes, nur eine Hökerfrau, aber einen festen Mittelpunkt hat es gehabt, zu dem es immer wieder zurückkehrte. Kannst du dir nicht so etwas auch mal zulegen – es brauchte ja nicht einen Gramm von deiner seelischen Leichtigkeit zu nehmen – damit dich nicht all und jedes mehr hierhin und dahin wehen kann, ohne Sinn und Verstand? Aber sieh mal, es muß doch mal etwas da sein, wenn der Schmetterling in dir blasser wird. Heute traf ich einen Freund, und dem sagte ich, daß ich eben anders wäre – oder sagen wir verändert, denn anders wird man nie! – weil ich nicht mehr zweiundzwanzig bin, wie er es heute noch ist. Und man kann doch als bald neunundzwanzigjährige Frau nicht immer das Leben nur wie eine Achtzehnjährige sehen wollen. Man ist doch kein Ballon, der nur steigt, wenn er Gas aufnimmt, und der, sowie er das Gas durch die Poren hat entweichen lassen, nichts mehr ist als eine leere schlaffe Hülle, bis ihn wieder neues Lachgas auf ein paar Stunden aufbläht!«
Aber Fritz Eisner hatte doppelt ins Leere gesprochen; denn Annchen war, als er aufsah, schon längst aus dem Zimmer, weil nebenan sich L. D. geregt hatte. Man hatte sie heute in ihrem Körbchen gelassen, da sie immer noch nicht so ganz auf dem Posten war. Aber jetzt war sie aufgewacht und eigentlich ganz munter wieder. Vielleicht konnte man sagen, daß das Köpfchen eine Spur wärmer war, als sonst, aber Fieber – und Kinder fiebern doch sehr leicht und gleich hoch – so richtiges Fieber hatte sie wirklich nicht. Morgen, wenn wieder ebenso die Sonne schien, wie heute, würde sie auf den Balkon herausgestellt werden, und dann könnte sie sicher übermorgen wieder ausfahren. Ein neues Zähnchen, das dritte wäre schon durch. Augenblicklich war L. D. sehr zufrieden ob des komischen Gebarens eines Stoffhäschens, das, wenn es von oben her durch eine Gummischnur dirigiert wurde (doch darüber braucht man nicht zu reden), über die Bettdecke trippelte und dann mit einem Satz zum Wickeltisch hinübersprang, allwo es ein Männchen machte, sich umsah, und sofort wieder zurückhüpfte. Und in dieser Tätigkeit, angefeuert durch ein kleines Gelächter, fortfuhr, solange man es nur wünschte.
Den nächsten Tag gab es wirklich zu tun, von früh an. Annchen war mit unterwegs, bis auf die paar Stunden mittags und abends, denn aus den Zwei, die wegreisten, waren ja nun drei geworden, und Frau Luise Lindenberg hatte plötzlich bemerkt, daß das schwarze Sammetkleid mit dem roten Einsatz – man brauche es doch, wenn man mal nachmittags in eine Konditorei ginge oder eine Badebekanntschaft mache, die einen zu einer gemeinsamen Wagenfahrt auffordere – nicht mehr modern wäre. Und so alt wäre sie doch noch nicht, daß sie gehen könne, wie aus dem vorigen Jahrhundert. Und mit dem schwarzweißkarierten Seidenkleidchen, mit dem Pepitakleid stimme auch etwas nicht. Ebenso könne man manches sich zwar oben kaufen, aber gewisse Dinge, die man nötig brauche, wären billiger hier; und da es vielleicht nötig sei, daß sie länger bliebe ... und so weiter und so weiter.
So also hatte Annchen zu tun.
Und auch Fritz Eisner, der sehr im Rückstand war mit seinen Berichten, floh aus der Unruhe in die Schreibstube, um doch lieber nach seinen Notizen die Artikel in die Maschine zu diktieren, denn zu Hause hätte ihm das Telephon – diese Erfindung des Teufels! – nicht zehn Minuten Ruhe mehr gelassen. Sonst hatte es sich oft tagelang nicht gerührt, und mit einemmal war es wie toll. Und alle Bitten beim Amt, daß er jetzt nicht gestört werden möchte, waren erfolglos; er habe eben eine offene Nummer; er müsse sich eine Geheimnummer geben lassen, oder einen Nachtschalter anbringen lassen, dann könne er ja selbst abstellen. Oder er brauche einfach nicht heranzukommen. Fritz Eisner versuchte es, aber damit war ihm auch nicht gedient, denn nun schellte es, bis er tobsüchtig wurde. Und so floh er aus dem Haus, und hielt sich nur zur Mittags- und Abendstunde durch die Berichte auf dem Laufenden. Egi hätten sie fabelhaft ausgestattet. Aber wenn man genug Geld zur Verfügung hat, ist es ja ein Vergnügen, zu kaufen. Er reist wie ein siamesischer Prinz, auch mit ganz neuen Schiffskoffern. Billets und Platzkarten hätten sie auch schon für sich genommen: aber sie hätten doch lieber beide Dritter genommen (die eine Nacht würde auch vorbeigehen, sie wäre ja jetzt sowieso sehr kurz). Sie legten sich eben ein paar Reisedecken unter, da säßen sie ganz bequem, und vielleicht bekämen sie auch eine Coupé für sich. Aber Egi hätte sogar schon seine Schlafwagenkarte erster Klasse, das gehöre mit zum Billett und sei ihm gestellt worden.
Sie würden das so einrichten, daß sie, Hannchen und Egi, doch noch des Abends nach dem Grunewald ins Restaurant zu Ilges kämen. Das wäre ein wundervoller Abschluß; da würden sie noch mit allen zusammen sein und von da direkt an die Bahnhöfe fahren. Ja, Egi könne sogar Hannchen noch in den Zug setzen, und dann erst selbst nach seinem Lehrter Bahnhof herübergondeln; man hätte es sich ausgerechnet, es klappte sehr gut, wenn man ein Auto nähme. Lena Block und Professor Toxeira (der doch noch hier sei) haben auch gebeten, zu Ilges kommen zu dürfen. Es soll dann wieder eine Art Picknick werden; denn man könne das Spaniers nicht zumuten. Und man würde noch diesen und jenen anrufen. Paul wäre leider noch nicht zurück aus London.
Nur Muttchen könne kaum dabei sein. Sie würde mit einer Droschke vorher ... aber vor Acht wäre keine Rede davon, denn die Passavent liefert immer erst im letzten Augenblick, das wäre ihr nicht abzugewöhnen ... also mit einer Droschke und dem Mädchen vorher erst nach dem einen Bahnhof und dann nach dem anderen fahren, und das Gepäck aufgeben oder deponieren, so daß sie beide eigentlich gar nichts mehr damit zu tun hätten. Muttchen käme dann nach, wenn ihr noch Zeit bliebe, sonst warte sie im Wartesaal zweiter Klasse. Sie hätten sich schon ausgemalt, Egi und Hannchen, wie lustig das wäre, wenn Muttchen in ihrer Aufregung die Gepäckstücke verwechsele und Hannchen in Davos mit seidenen Oberhemden und Boxcalftretern herumliefe, während Egi in Cordoba seine Kollegs in Kombinations und einem bestickten Kimono hielte ... Mit dem Roman von Fritz ginge es merkwürdig: er wäre Stadtgespräch, wo man hinkäme. Leute, von denen man nie geglaubt hätte, daß sie sich um so etwas kümmerten, denen man gar keinen Sinn dafür zugemutet hätte, rissen sich ordentlich darum ... riefen unausgesetzt Frau Lindenberg an. Es wäre zu eigentümlich, wie so etwas in der Progression wüchse; gleichsam sich mit sich selbst multiplizierend, ins Unendliche hinausgriffe. Fast, wie die Geschichte von dem Weizenkorn und dem Schachbrett, von dem man in der Schule erzählt bekäme, das zum Schluß in Gold ausgerechnet, es einen goldenen Erdball und einen goldenen Mond ergäbe. Was aber doch unmöglich sei. Alle Leute sagten schon, der Verfasser hätte gewiß furchtbar viel Geld dafür bekommen.
Am Freitag war vormittag L. D. mit Pauline in der Sonne auf dem Balkon gewesen, aber vielleicht, daß sie zu heiß war – es hatte sie anscheinend etwas müde gemacht; denn sie schlief fast den ganzen Nachmittag, war zum Abend munterer, hatte aber dann eine unruhige Nacht, warf sich hin und her, und wie man sie anfaßte, war sie heiß, und die Haut war trocken. Aber das Fieber war doch geringer, als man dachte; nur achtunddreißig. Man lag und lauschte auf jeden Atemzug, jedoch so nach Mitternacht war das Kind wieder ganz kühl, trank nochmal und schlief dann sehr ruhig bis zum Morgen. Und am Morgen setzte es sich im Körbchen hoch und fing an, mit der Umgebung sich ins Einvernehmen zu setzen. Sie nannte die verschiedenen Dinge, hatte in allerletzter Zeit sich wortähnliches wie Ball-Ball, Mann-Mann, Mama, Pa-pa, Li-li gebildet, dessen Begriffe aber bei ihr noch nicht ganz fest saßen, sondern wechselten, mal war der Mops, der laufen konnte, Mann-Mann, und mal das Stoffhäschen oder die Flasche; auch war sie noch für Zweigeschlechtigkeit, und nannte wahllos die Angestellten Papa oder Mama oder Lili (was man als Pauline deutete),je nach Lust und Laune. Umgekehrt aber verwechselte sie sie keineswegs, und wenn man sie fragte, wo ist der Ball-ball, so hätte sie nie auf das Häschen oder den Papiermaché-Mops gezeigt, und sie trennte auch ihre drei Angestellten Papa, Mama und Lili ganz scharf voneinander.
Freitag nacht also war man überein gekommen, sich das nicht länger anzusehen, und jedenfalls den Arzt zu holen; sowieso hätte er längere Zeit nicht nach dem Kind geschaut. Aber Sonnabend früh war Little Dorrit wieder, wie jemand, der sagt: ich soll krank sein!? Aber redet doch keinen Unsinn! Sie verlangte nach der Boxbox, und als man sie hinsetzte, stellte sie sich auf und versuchte, was sie noch nie getan, an der Brüstung sich weiter tastend mit sehr komischen Verrenkungen und Verknotungen ihrer Batterbeinchen dort entlang zu tappeln, aber ließ sich danach, wohl durch ein erstes Mißlingen entmutigt, wieder fallen, und beschäftigte sich eingehend mit dem Kaninchen, welches insofern seine Nachteile hatte, daß es eigentlich ein Stoffkloß war, ohne allzu deutliche Extremitäten, und deswegen viel schlechter sich in den Mund stopfen ließ, wie zum Beispiel eine Gummipuppe, die zu diesem Behuf mit Armen und Beinen und einem Kopf gesegnet ist.
»Siehst du«, sagte Annchen, »das habe ich neulich in ›Ammanns Buch der Mutter‹ gelesen, daß Zahnen, Gehen und Sprechen ungefähr gleichzeitig ist. Und es ist doch zu entzückend, so zuzusehen, wie aus einem kleinen rosigen Würmchen langsam sich ein Mensch herausschält, mit ganz bestimmten Willen und Eigenarten, genau solch Dickkopf wie du. Gestern habe ich ihr zwanzigmal das Häschen gegeben, sie hat es immer herausgeworfen, sie wollte den Hund haben. Und da reißt sie sich doch dran.«
»Wollen wir heute mal den Arzt holen, daß er sie mal ansieht?« fragte Fritz Eisner, aber mehr rhetorisch, denn wie er das Kind so herumspielen sah, hielt er es selbst für sehr überflüssig.
Doch Annchen meinte, daß es ja gottlob nicht so brenne, und daß es dann bestimmt morgen geschehen solle, wenn die erst endlich mal weg wären. Man gönne es ihnen; aber die letzte Woche wären doch für alle eine Mordsstrapaze gewesen. Um sie würde sich sicher kein Mensch so kümmern, wenn sie es benötigte, wie sie sich jetzt für die anderen Tag für Tag so aufrebbele. Aber heute abend um zehn wäre es Gott sei Dank vorbei. Heute würde sie ja doch noch Mittag essen müssen ... der letzte Tag mit ihrer Schwester ... das ginge nun mal nicht anders. – Wer weiß, wie lange man sich nicht sähe; sie hätte doch bloß eine Schwester, und so weiter. Und zu tun hätten sie heute noch, sie wüßte nicht, wo ihr der Kopf stände. Wenn es irgendwie möglich wäre, sollte er da auch noch mit ihnen essen, sonst sähen sie ihn des abends, oder schon nachmittags, keinesfalls zu spät, draußen bei Ilges. Dem Kind ginge es ja wieder gut. Aber sie sei doch noch etwas beunruhigt und würde dann hin und wieder anrufen. Hoffentlich bleibt es mit ihr so. Auch Pauline wurde eingeschärft, sofort anzurufen, wenn L. D. nur Piep mache, oder sie irgendwie beunruhige. Und so ging man und nahm doch noch etwas zärtlicher und fast geführt von Little Abschied, wie von irgend jemand, der einem wiedergeschenkt war. Und noch in der Flurtür machte Annchen kehrt: Weißt du, ich möchte doch lieber hier bleiben, ich bin so unruhig. Aber Fritz Eisner meinte, daß das nur übelgenommen würde, und daß es auch überflüssig wäre, denn das Kind wäre zwar ein wenig blaß noch (kein Wunder); aber sonst doch ganz vergnügt. Hörst du, wie es drin mit Pauline lacht?
Es war ein ziemlich warmer Tag. Das ist ja das Alberne an unserem Klima, daß es so übergangslos ist. Heute friert man und morgen zerfließt man. Um elf Uhr war drin in der Stadt schon der Asphalt weich und zeigte Eindrücke von Nägeln, Soldatenstiefeln und Hufeisen. Wenn man die Straße überquerte, ging man wie auf Gummiplatten. Fritz Eisner war froh, wie er auf der Zeitung war. Großstädte sind ja doch nur etwas für Herbst und Winter, vielleicht noch Frühling, aber vom 15. Juni bis 30. August sollten sie verboten sein, oder abgebrochen werden; denn dann sind sie unausstehlich.
Auf der Zeitung suchte man Fritz Eisner schon wieder. Sonst war man gar nicht so entzückt gewesen, wenn er in langen Gesprächen die Redakteure in einem Stockwerk nach dem anderen von der Arbeit abhielt und zum Schluß irgendwo achtzig oder hundert Zeilen schrieb, oder zu schreiben vereinbarte – so ganz nebenher, als ob die Unterhaltung und die Zigaretten ihm die Hauptsache gewesen wären.
Eigentlich war Fritz Eisner ja – das war ein offenes Geheimnis – für die Zeitung eine Unmöglichkeit; denn er glaubte offensichtig nicht an sie. – Und das ist das Erste und Wichtigste, was man auf einer Zeitung tun muß; wie überall sonst in jedem anderen Betrieb auch, ob es Alteisen oder Krankenstühle sind. Wenn man nicht die Empfindung hat, es wäre der Mittelpunkt des Weltalls, die Zentralsonne, um die alles andere kreist, wird man genau, wie beim Militär oder jedem Beamtenkörper immer unbrauchbar sein und nie zu höheren Stellen befähigt sein. Sowie man sich aber darüber ganz klar wird, daß Alteisen zu den Abfallprodukten des Daseins gehört, und die Gesunden mit Krankenstühlen nichts anfangen können ... ist man für den Betrieb verloren. Als Externer kann man irgendwo ganz gute Dienste noch leisten; – gewiß! – aber zum Stamm, zur Seele, zum Knochengerüst selbst wird man eben nie gehören. Und das war zum Schluß eben in den letzten Jahren auch die Stellung, die Fritz Eisner zu seinen Redaktionen gehabt hatte.
Aber jetzt wollte ihn plötzlich jeder haben, und ihn für sich einspannen. Man machte ein ordentliches Kesseltreiben auf ihn, sagte den Botenjungen, wenn er käme, wenn sie ihn sähen, sie sollten ihn abfangen; er solle sofort hier und da und dahin kommen, wo man ihn erwarte und noch etwas für morgen, für das Sonntagblatt von ihm wolle. Aber am lautesten schrie man (bildlich gesprochen) von oben aus der Redaktion der Zeitschriften; doch dahin könnte er nachher gehen, denn da arbeite man durch.
Aber als er endlich hinaufkam, brauchte man ihn wirklich. Es war Polen offen. Erstens war ein Text zu witzigen Zeichnungen geschrieben worden, der das hatte, was Hamlet schon indirekt dem armen Polonius vorwarf, einen Überfluß an Mangel an Witz, und über den also, mit Ausnahme des Verfassers, nur eine Stimme war: blamabel! Und da sollte Fritz Eisner schnell noch einspringen. Mehr werde ihm schon einfallen als gar nichts; und dann decke er es ja mit dem Namen, und da wären die Leser schon zufrieden. Und solche Knittelverse schüttle er sich immer so nett aus dem Ärmel. – Er solle nur nachsehen, es wären heute sicher auch welche drin. Und ferner brauchte der Artikel zu den Bildern »Aus den Kunstsalons«, der noch einmal das Wichtigste zusammenfaßte aus den Ausstellungen (das heißt vor allem das, was sich als illustrativ-geeignet erwies) und mit dem man somit von dem Thema »Kunst« bis zum November Abschied nehmen wollte – nun kam Sport, Fürstenempfänge, aus den Bädern, Sommermoden in Queensland, unsere Vogelwelt in den Dünen ... und so fort heran also dieser Artikel brauchte notwendig jemanden, der nicht nur nach den Photos urteile, sondern auch die Originale kenne ... und das wäre ja sowieso sein Metier. Auf fünfzig Mark mehr (oder weniger) – wie leichthin bemerkt wurde – käme es nicht an, wenn man's nur gleich bekäme, so daß es noch in die nächste Nummer hineinkönne. Man würde ihn in ein Zimmer sperren, das gerade frei wäre, weil der Bewohner auf Urlaub sei, und überwachen lassen, und ihm dann die Blätter durch den Metteur naß aus der Hand reißen lassen. Dann könne er selbst noch Korrekturen lesen; ja, man würde noch ein übriges tun und ihm sogar Mittagbrot holen lassen, das bessere Menü für zwei Mark von nebenan: mit Fisch und Mehlspeise. – Lumpen ließe man sich nicht. – Aber er solle sie um keinen Preis aufsitzen lassen, weil er sich jetzt als Berühmtheit fühle. Ob nebenbei eine anständige Aufnahme von ihm existiere, oder ob sie ihn mal für alle Fälle fürs Archiv aufnehmen lassen sollten, sie würden ihm dann den Photographen ins Haus schicken (der Dichter in seinem Heim!).
Fritz Eisner protestierte: »Er wolle bald wieder nach Hause, wäre beunruhigt, Kind wäre nicht wohl gewesen, einige Tage. Es wäre zwar heute ganz munter wieder; aber er hätte ein ekliges Gefühl da herum. Er könne es selbst nicht sagen, weshalb, er versuche es niederzukämpfen, doch ...«
›Erstens hätte er ja gesagt, das Kind wäre ganz wohl wieder; zweitens lebten wir Gott sei Dank in der Zeit des Telephons, und er hätte einen Apparat ja dort im Zimmer vor sich auf dem Tisch stehen, da könne er jede Minute sich erkundigen; drittens würde er selbst, wenn das Kind krank wäre, zu Hause nur im Wege stehen – also, solle er nur sie nicht aufsitzen lassen.«
Und schon war Fritz Eisner, wie ein alter Elefant, von der Herde abgetrieben und in ein Zimmer eingefangen und vorher befragt, was er noch zum Schreiben benötigte. Es wäre ganz ruhig, ein Eckzimmer, käme sogar niemand durch. Und alle halbe Stunde einmal guckte der Redakteur mit dem Kopf durch die Tür, kam auf den Zehen herein, stellte sich hinter ihn, las ihm über die Schulter weg und lachte: »er fände es vorzüglich«. Vielleicht, um Fritz Eisner nicht aus der Stimmung zu bringen, damit es nicht noch schlechter würde, oder weil er wirklich ein bescheidenes Gemüt war. Alle Stunde aber kam der Metteur. So alte Metteure wie in der anderen Zeitung, noch aus Lessings Zeiten her, gab es hier nicht – aber sie waren würdig genug – und griff mit zwei verbundenen Fingern einer großen geschwärzten Hand ihm über die Schulter, und sagte nur sehr tief: »Manuskript! – Ick brauche noch sechzig Zeilen! Wann kann ich den Schluß holen?!«
Und während so Fritz Eisner Reim an Reim setzte und sich selbst wunderte, was da für eine sich überpurzelnde Wortverwirrung herauskam, und allerhand dadurch ihm zuflog, an das er eigentlich nie gedacht hatte, zuckte es in ihm und zergelte in ihm, summte in ihm, genau wie die Maschinen aus dem Maschinensaal es taten, die das ganze Zimmer mit einem leisen fernen Brummen und einem Zittern und geheimnisvollen Schwirren erfüllten, das man empfand und doch nicht fühlte, scheinbar nicht beachtete und nicht eine Sekunde vergaß: ›Was ist mit dem Kind? – was ist nur mit dem Kind – was ist nur jetzt mit dem Kind??‹ – Aber jetzt konnte er noch nicht anrufen. Erst fertigmachen. Und der Redakteur hatte wirklich splendide für ihn gesorgt: es kam Essen; es war gewiß sehr gut, auch eine halbe Mosel dabei; aber es schmeckte ihm nicht, er hätte mit demselben Genuß Pappe und Leder gegessen und Brunnenwasser dazu getrunken: – ›was ist denn mit dem Kind? Nein – den zweiten Artikel mache ich ein anderes Mal, Montag vielleicht‹.
»Hallo, Pauline, sagen Sie Lili: was macht L. D.«
»Ach, eigentlich ganz munterchen. Jetzt schläft sie. Die gnädige Frau hat auch schon zweimal angerufen, unser Püppchen sieht sogar jetzt besser aus, als sie den ganzen Tag aussah. Da war sie doch noch etwas blaß.«
»Also ich komme dann bald ...«
Aber es ist Unsinn, was ich mir da einrede; dem Kind geht es doch wirklich nicht schlecht. Und wenn ich die Leute hier aufsitzen lasse, wird man sagen: kaum hat der Esel ein bißchen Erfolg, wird er größenwahnsinnig und bekommt Launen wie eine Primadonna! Und damit legte Fritz Eisner das Bildermaterial sich über den Tisch, ordnete es sich nach Künstlern und Ländern. Nein, da war ihm nichts fremd (das hatte er alles gesehen), und begann wieder zu schreiben. Endlich wurde es ja anständig bezahlt. Genug für einen neuen Anzug und ein Paar Stiefel. Beides könnte er brauchen, dafür würde er es dann nehmen.
Die Maschinen hatten jetzt aufgehört, hatten wohl ihre Riesenauflagen ausgerollt und ausgespien. Es war eigentlich ganz still um ihn – denn das war alles sehr schön schalldicht abgeschlossen. Auf den Gängen hörte man keinen Schritt. Auf so etwas hatte man beim Neubau Rücksicht genommen. Wenn der Redakteur nicht hereinschlich oder Herr Sorge, war sicherlich kein Laut im Raum; der Bienenkorb fing erst gegen Abend wieder an zu schwirren. Aber das Brummen und Summen, diese Schwingungen im Ohr und im ganzen Körper hatten trotzdem nicht aufgehört und immer, wenn er schrieb: ... ›von der ägyptischen Tierplastik mit ihren starken und vereinfachten und in wundervoller Sicherheit zusammengehaltenen Einzelformen ... die intim und groß zugleich sind ... kommt der Bildhauer August Gaul‹ ... oder so ... da schrie unterirdisch in ihm etwas: was ist nur mit L. D. Was hat nur das Kind? Und du sitzst hier und schreibst Unsinn! Was geht dich all das denn überhaupt an? Es zerrte in ihm, ohne daß er es sich erklären konnte, an Fäden, die sie beide über Raum und Zeit verbanden.
Aber jetzt kam nur noch dieses spanische Bild, das da bei Schulte letzthin ausgestellt war. Oja – die Spanier beherrschen sogar noch heute das Handwerk der Malerei. Sie sind nicht intim. Sie haben Wucht trotz der Riesenformate. Sie haben Tradition im Lande. Er erinnerte sich, es war wirklich sehr sicher hingesetzt, von einem Winkel bis zum anderen. Mit breitem Pinsel. Flüssig, und doch nicht dünn in der Farbe, und trotzdem der kleinsten Form folgend, war die große Fläche beherrscht. In all denen, in Velasquez und Goya und Morales und wie sie heißen, bis auf Zoluaga heute, ist eine wilde und sichere Schönheit des Handwerks darin, die nicht immer angenehm ist, aber stets fesselt, überwältigt, wie der ganze Ernst, der dahintersteckt. Er erinnerte sich, das Bild war eine starke Sache gewesen als Malerei, aber es hatte ihn persönlich peinlich berührt, schon damals. Es war ein Mann so in seinem Alter, über dreißig, und eine junge Frau. Und sie saßen und starrten auf Spielzeug, Kinderspielzeug, das auf dem Boden lag, auf Bälle, Puppen, Hundchen und Kreisel mit sehr leeren und sehr toten Blicken. Sie weinten nicht, sie waren ganz starr, als ob innen in ihnen alles erfroren wäre. – Ein abscheuliches Sujet! Gott. Warum soll eine Kunst wie die christliche, die als ihr Hauptmotiv einen toten Mann hat, dem man sogar noch Nägel durch die Hände geschlagen, die Seiten aufgerissen, und an ein Kreuz geheftet hat, nicht auch so etwas malen?! In Pompeji flatterten Putten über die Wände, und Aphrodite löste sich nur unwillig und in leiser Wehmut aus den Armen ihres Liebhabers.
Und wie Fritz Eisner plötzlich das Bild heranzog, um es noch einmal zu betrachten, fuhr er zusammen. Dieser Mann, dieser Madrider, sah ihm ja zum Erschrecken ähnlich, so als ob er für ihn Modell gesessen hätte, täuschend jeder Zug, die Stirn mit den beiden runden Buckeln hier, dort die etwas schiefe Falte, die vom Mund zur Nase führte, selbst das eine, stets etwas eingekniffene Auge – das war er ganz genau. Und das Frauchen im Seidenkleid, zusammengeduckt auf dem Stuhl, vornübergebeugt mit den etwas vorgekämmten Haarsträhnen an den Ohren, genau wie sie Annchen trug, und der gleiche zierliche Typ, sogar die gleichen leicht kurzsichtigen Gazellenaugen. Als ob man mich hier eingesperrt hätte, damit ich das sehen müßte! ... Nein – über dieses Bild kann ich nicht schreiben, keine Zeile, ich weiß nichts davon, will nichts davon wissen. Es wäre ja, als ob ich mich damit in seine Macht begäbe. Ich muß jetzt nach Hause, damit es nicht wahr wird.
Zugleich trat aber auch wieder auf leisen Sohlen der Quälgeist, der Redakteur ein. »Hören Sie, Eisnerchen«, rief er, »wir müssen Redaktionsschluß machen. Das ist genug! Setzen wir noch ein paar Aphorismen über Kunst an, wenn es nicht genau ausgeht. Wir haben noch welche liegen. Oder warten Sie ... dreiundvierzig, vierundvierzig, einundsechzig, dreiundsiebzig ... das geht! Da müssen wir sogar noch acht Zeilen streichen. Die Kasse wird jetzt zu sein. Ich hab's Ihnen aber schon raufholen lassen!« Und damit reichte er Fritz Eisner ein Häufchen Zwanzigmarkstücke, für die der sonst bald eine Woche gearbeitet hätte, und setzte hinzu: »Sie sehen – wir können auch anders. Für Namen haben wir besondere Sätze!« Und in diesem Augenblick schrillte das Telephon wild und ängstlich auf und Fritz Eisner lehnte sich erschrocken in den Stuhl zurück und schloß die Augen. Um Himmels willen!
Der Redakteur griff, wohl auch etwas irritiert und ängstlich, nach dem Hörer. » Wer ist da? Frau Doktor Spanier? Ja, gnädige Frau – wen wünschen Sie zu sprechen? Herrn Eisner?! Er hat wirklich Glück, er sitzt hier gerade neben mir. Ich lasse ihn gleich aus meinen Klauen!«
Und dann, während er Fritz Eisner den Hörer reichte, sagte er mit einem ganz leicht-perfiden Ton und einem ganz leicht verkniffenen Auge: »Ist das dieses aparte Frauchen von diesem bekannten Lungenarzt? Herrgott, es geht schon auf fünf. Na, ich telephoniere dann von nebenan in die Setzerei hinauf. Sie werden sich auch lieber ungestört unterhalten wollen!«
»Durchaus nicht!« sagte Fritz Eisner, aber da winkte der andere schon in der Tür.
»Also Frau Doktor, was gibt es? Ich muß jetzt nach Hause«, sagte Fritz Eisner. »Wir sind ja doch hoffentlich heute abend zusammen.« (Ich bin eigentlich ekelhaft kühl gegen sie. – Mit welchem Recht bin ich denn unter die Pharisäer gegangen?!)
»Wenn ich das bestimmt wüßte, hätte ich jetzt nicht bei Ihnen angerufen.«
Fritz Eisner schrak zusammen. »Warum – ist etwas bei mir zu Hause passiert?«
»Warum soll bei Ihnen etwas passiert sein?!« fragte Lucie. »Nur ob Sie mich heute abend sehen werden, weiß ich nicht.«
»Aber entschuldigen Sie, die Wirtin darf doch bei einem Fest nicht fehlen!«
»Vielleicht bin ich das dann gar nicht mehr – wer kann das wissen. Hören Sie, ich glaube, Sie haben mich ganz gern – ich gefalle Ihnen irgendwie, mache Ihnen Freude, wenn Sie mich ansehen. Wir merken ja so etwas, auch wenn es nicht gesagt wird. Darf ich eine halbe Stunde mit Ihnen noch sprechen?«
»Hören Sie«, sagte Fritz Eisner, »ich möchte nach Hause, das Kind ist nicht ganz wohl; – ich bin unruhig. Kommen Sie dann zu uns heraus, meine Frau ist sicher wohl auch noch nicht da, da haben wir Ruhe genug, sind ungestört.«
»Nein«, kam es zurück, »das möchte ich nicht.«
»Ja, dann vielleicht irgendeine Konditorei. – Schilling?«
»Auch das möchte ich nicht. Ich möchte nicht gern gesehen werden. Wissen Sie was: ... sind Sie in einer halben Stunde bei Cassirer? Ja? Da können wir beide sicher auch ungestört reden, und endlich liegt es ja auf Ihrem Weg. Tun Sie mir die Liebe. Ich muß heute jemand haben, mit dem ich sprechen kann. Gehen Sie bald fort? Ja? Das ist recht, da werden hoffentlich weder Sie noch ich zu warten brauchen.« Und damit gingen die Worte drüben in ein wildes Schluchzen über.
›Was soll ich dabei tun‹, dachte Fritz Eisner – ›wenn sie durchaus nicht im Bürgerlichen enden will?‹ und ging langsam und nachdenklich die vielen, jetzt sehr stillen Treppen hinunter.
Auf den Straßen war es drückend warm noch, vielleicht gar nicht so sehr aus sich heraus, wie in Erinnerung an die Mittagsglut. Die Häuser, Dämme und Wände, diese ganze steinerne oder eiserne Welt der Großstadt repetierte gleichsam ihre Aufgabe noch einmal. Das Leben strömte und schäumte nur so. Man begriff gar nicht, wo mit einemmal all diese Menschen herkamen. Jeder schien dreimal da zu sein. Es war wie zu einem Volksfest so bunt. Die Bahnen waren überfüllt und die Gehsteige auch, und kein Mensch schien Krankheit, Sorge, Armut zu kennen. Alle hatten Blut in den Backen und Licht in den Augen. Wahrhaftig, dieses Wetter war die kleidsamste Mode seit Jahren. Und warum sollte man eigentlich bei solchem Wetter an Krankheit glauben? Krankheit ist doch nur eine Novemberwahrheit. Hier sind zwanzigtausend Menschen, die vor Leben nur so sprühen. Sieh dir diese beiden Mädchen an! Sie würden lachend den Kampf mit einer Kompanie Soldaten aufnehmen, so gärt in ihnen die wonnevolle Lebenskraft, von der der Alte aus Wiesendahl singt. Und grad' du ... grad' dein Kind soll krank sein, weil du die fixe Idee hast, daß es es sein müsse, weil der Gedanke daran da oben hinter den Augen, im Kasten hinter der Stirn lauert.
Oh, wie nett die Bellevuestraße! – ich habe sie gern – ich würde sie verschonen mit einem Erdbeben. Sie ist die Grenzscheide; hier weht es noch hinein von den tausend Dünsten der Stadt, von Asphalt und Benzin und Menschen schwärmen und Pferden und den angehäuften Waren, von Gulis und Staub; und drüben – hundert Schritte weiter – zieht einem der Atem von tausend Bäumen des Tiergartens in die Nase. Man riecht deutlich die harzige Schärfe der gewaltigen Silberpappeln, die den Eingang der Bellevueallee bewachen, und den Lohegeruch ganz alter Eichen, letzter Ureinwohner. Hat nicht der Große Kurfürst hier das Eichenholz zu seinen Schiffen schlagen lassen, die bis nach Afrika fuhren und Land räuberten? Oder habe ich das nur mal geträumt? Wie schön das hier früher war, da noch alles voll Unterholz stand, Wirrwarr, Wildnis, fast undurchdringlich, von breitschirmigen Riesen überdacht ... noch schimmerten nicht in langen Reihen zuckerkantige Marmorklötze durch die Laubnischen, nur eine paar einsame graue Freundschaftssteine und elegische Erinnerungsstätten erzählten etwas dem, der hören wollte; und Friedrich Wilhelm III. stand auf seinem Marmorsockel; und die alten Baumriesen, die ihn umschlossen, waren so schön in ihren großen Konturen – wie aus dem Hydepark –, daß man ihn in diesem Rahmen sogar liebte ... des Rahmens willen.
Oh, hier war man schon! Ganz still, kein Besucher sonst mehr. Nur der Diener, der sich an der Kasse langweilte, und Fritz Eisner zunickte und sich sagte: wenn dieser da nicht gekommen wäre, hätte ich jetzt schon geschlossen. Aber der schreibt ja; nachher schreibt er nur unfreundlich ... er wird auch schon mal wieder fortgehen. Wie kann überhaupt ein Mensch bei so schönem Wetter hierherkommen?
Die Räume waren eigentlich gar nichts. Nur sehr sauber, angenehm in der Temperatur und angenehm in den Proportionen, weicher, lautloser Boden, ein paar bequeme Sessel, allzu konstruktiv vielleicht, noch von Van der Velde her, aus der Zeit des Kunstgewerbe-an-sich – eine gepolsterte Sitzbank, sehr neutrales Oberlicht, und Bilder an den ruhigen Wänden. Was will denn diese Person von mir? Und wozu sitze ich jetzt hier, während zu Hause vielleicht mein Kind fiebert? ... Ach, das ist schön! Wie schön das ist! Eigentlich ist es doch gar nichts: ein paar große grüne Apfel und ein alter blaugrüner Ingwertopf auf einem zerknitterten Damasttuch ... in wilden Falten zerwühlt, in denen sich blauviolette Schatten gefangen haben ... von oben gesehen ... alles scheint nach vorn zu rutschen, im nächsten Augenblick wird dieser Topf vom Tisch fallen und in hundert Scherben gehen. Aber er tut es nicht. Und langsam steigert sich die Wirklichkeit dieser einfachsten Dinge, je mehr man darauf starrt. Es ist nicht mehr Vision, wie alle andere Malerei, es ist Erlebnis; nicht mehr eine Angelegenheit der Netzhaut – alle übrigen Sinne mischen sich mit ein. Es wird zu einer überhöhten Wahrheit, die eigentümlich erregt und ans Herz greift. Warum nur? Wo liegt das Geheimnis, daß da jemand sechs Farbenflecke nebeneinandersetzt, ganz anders, als man es früher tat, und man darüber Tränen bekommen kann, und meint, man ist für einen Augenblick glücklich und losgelöst von allem; – und vielleicht ist dabei zu Hause mein Kind krank.
»Warten Sie schon lange auf mich? ...«
»Oh, meine kleine Ginsterkatze, setzen Sie sich hier hin. Was gibt es? Ich bin seit vormittags unterwegs, will nach Haus, bin unruhig. Also was gibt es? Sehen Sie nur, wie schön das ist, diese grünen Früchte! Sind es Apfel? (Es kann auch etwas anderes sein!) Von wem? Natürlich von Cézanne.«
»Sie haben mich vorgestern gesehen?«
»Sie haben einen wunderhübschen Klang in der Stimme! Ich glaube, den könnte man auch malen. Verzeihen Sie, ich bin etwas zerstreut! Habe meine Gedanken nicht beieinander. Etwas überarbeitet. Auch innerlich verängstigt. Ob ich Sie gestern oder vorgestern gesehen habe?! Vielleicht. Fürchten Sie, daß ich etwa indiskret bin, und wollten mich nun bitten, daß ich es nicht sein sollte? Deswegen brauchten Sie nicht zu kommen!«
»Das würde mich im Augenblick nicht mehr berühren ... ich habe meinem Mann heute gesagt, daß er mich fortschicken soll, weil ich ihn betrogen habe. Ich selbst wäre dazu gewiß zu feige, von ihm wegzugehen. Aber er soll mich nur fortschicken. Es ist etwas in mein Leben gekommen, das stärker ist als ich.«
(Diese ekelhaften Romanphrasen! Was geht das mich an, dachte Fritz Eisner.) »Na, dann gehen Sie doch in Gottes Namen zu diesem Barmixer und Tanzchampion und Boxer, wenn Sie hoffen glücklicher zu werden! Man soll immer seinen Instinkten folgen! Man wird Sie nicht halten, Lu. Wollen Sie von mir da Rat haben?« rief Fritz Eisner und sprang auf (wie schön dieser Cézanne doch war, jetzt so im späten, warmen Licht ... man kam gar nicht los davon).
»Setzen Sie sich doch. Warum verstehen Sie mich denn so schlecht?! Ist das Ihr Beruf? Ich habe geglaubt, ich bin noch so, wie früher. Und ich bin es nicht mehr. Wenigstens jetzt nicht. Kennen Sie die grande chaine in der Quadrille? Wo man jedem die Hand gibt, umhermarschiert und zum Schluß steht man bei seinem Tänzer wieder. Aber meist ist es grande confusion, und man hat einen anderen bekommen. So habe ich bisher gelebt, und es hatte mir nichts getan, ich bin geblieben, wer ich war. Ich habe oft zwei Tänzer nebeneinander gehabt, ehe ich von dem einen zum anderen ging. Oder zu meinem alten Tänzer zurückkehrte. Ohne daß er es ahnte, daß ich einem anderen Tänzer im Arm gelegen habe. Und ich vergaß es dann auch bald. Oder noch hübscher war, wenn ich es nicht vergaß. Und vielleicht hat es mich gelockt, zu sehen, ob ich noch die gleiche bin – wer ahnt es? – Psychologie war nie meine starke Seite. Und seit drei Tagen weiß ich: ich kann es nicht mehr. Es geht nicht! Es ist eben etwas Stärkeres in mein Leben gekommen!«
»Lassen Sie doch diese Romanphrasen, Lu! Sie sind hübsch, Sie sind apart, sehr lebenshungrig – was wollen Sie mehr? Das ist auch ein Göttergeschenk. – Man ist ja nicht vereidigt, Gott sei Dank, in diesem Leben! Wenn Ihnen Spieler und Barmixer und mit Jurisprudenz verbrämte Schieber mehr liegen ... Warum nicht?! Das Leben ist eben eine steile Treppe, und den meisten geht schon auf halber Höhe der Atem aus; sie setzen sich hin – auf die Stufen ... oder sie kehren einfach um. Und vielleicht sind die ebenso im Recht, wie jene, die weitersteigen ... denn am Ende führt es doch ins Nichts. Wie in Japan in den Shintotempeln, die oben auf den Bergkuppen liegen. Erst keucht man Hunderte von Stufen hinauf und zum Schluß ist nichts da, als in einem simpeln Schrein ein blanker Metallspiegel, in dem man auch nur sich selbst sehen kann ... Also – warum sollen Sie das nicht tun?!!«
»Verstehen Sie mich denn nicht? Da sitzt ein Mensch, er ist oft fast den ganzen Tag kaum bei mir; ein paar Zimmer davon sitzt er; ich sehe ihn kaum zwanzig, fünfzig Minuten tagsüber und bis zwölf arbeitet er noch meist in seinem Laboratorium.«
(Das alte Lied, dachte Fritz Eisner, man kann schwer zugleich Ehemann, Liebhaber und Mann der Wissenschaft sein.)
»Aber das ahnten Sie ja doch zum Schluß, als Sie ihn heirateten? Man hat Sie ja nicht dazu chloroformiert«, sagte er unwillig.
Lucie schüttelte. »Und ich denke weiter nichts: da ist nun dieser wundervolle Mensch, und er gehört mir, wenn ihn die anderen nicht haben; das Leiden ganzer Stadtteile geht durch seine Hände, und es hat ihn nicht stumpf gemacht. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn so liebe. Ich kann ganz ruhig neben ihm sitzen und ihn nur ansehen: was arbeitet da drin in dir? Manchmal, wenn er zum Tee hinter kommt, habe ich das Gefühl, wenn ich ihm entgegengehe, ich muß vor ihm hinfallen und seine Knie umklammern, wie der alte Priamus vor Achilles. Ob ich Dju liebe, weiß ich nicht – es hat vielleicht Männer gegeben, die ich mehr geliebt habe –; aber das eine weiß ich seit gestern, ich kann ihn nicht betrügen – er zwingt mich dazu, es nicht zu können, ohne daß er ein Wort spricht, ohne daß auch nur der Begriff Eifersucht in ihm wäre, einfach dadurch, daß er so ist, wie er ist. Das mag brutal von ihm sein – aber es ist eben stärker.«
»Ja, aber ich habe keine Zeit, muß nach Hause, was kann ich für Sie da noch tun? Sie haben es ihm gesagt, Lu, und das war gewiß nicht klug, aber eine schöne, vielleicht nicht einmal glückliche Geste von Ihnen!«
»Sie sollen ein Wort für mich einlegen, bei ihm!«
»Ich? – aber wie kann ich das?«
»Er hört auf Sie, gewiß er hört auf Sie – ich weiß es!«
»Aber weinen Sie doch hier nicht«, unterbrach Fritz Eisner, »der Diener muß gleich kommen und schließen!«
»Er soll mich dalassen ... er soll mich nicht wegjagen! Ich brauche ja nicht mehr seine Frau zu sein! Meinethalben soll er mir eine Schürze umbinden und mich ins Laboratorium stellen, daß ich ihm die Gläser und Instrumente auskoche. Ich will ja gar nichts von ihm. Ich will nur wissen, daß er in meiner Nähe ist. In den gleichen Räumen wie ich, daß er da ist, auch wenn er nicht mit mir spricht. Er soll mich nicht fortjagen ... ich gehe ins Wasser, ich tue mir etwas an ... ich ertrag' es nicht!«
»Lassen Sie meine Hände los, Frau Doktor! Wie soll ich Ihnen helfen – doch Sie erzählen mir nur immer, was Sie gesagt und getan haben! Aber was hat Ihr Mann getan? Wurde er – sagen wir – sehr zornig, hat er Sie vielleicht geschlagen oder die Hand gegen Sie aufgehoben?«
Lu schüttelte wieder. »Er hat nicht ein Wort gesprochen, nicht eine Silbe und ist nach einer Weile aufgestanden und hat nur sehr leise, kaum hörbar, bemerkt: ›Ich habe noch achtzehn Patienten abzufertigen und vier neue dabei‹!«
»Das ist nicht gut für Sie!« meinte Fritz Eisner langsam. »Dann sitzt der Widerhaken und wird schwer herauszureißen sein. Und weiter war nichts?«
»Doch – er hat mir dann durch Paul einen Zettel geschickt«, sie bastelte in dem silbernen Beutel, »sehen Sie, hier ist er – den nehme ich dann mit mir mit. Ich möchte vorher 'rausfahren zu Ilges, er käme wohl erst ein wenig später, und ihn so lange bei den Gästen entschuldigen. Er wünsche nicht, daß es schon jetzt aufkäme, daß wir uns getrennt haben.«
Fritz Eisner war aufgestanden. »Liebe Frau Doktor, dann haben Sie ja wenigstens noch Zeit gewonnen! Sehen Sie, wie schön dieser Cézanne ist. Es ist doch erfreulich, daß es in dieser quälerischen und unangenehmen Welt so etwas gibt, was man Kunst nennt.« Aber im Augenblick, da Fritz Eisner auf die Bildfläche sah, schien sie sich ihm zu wandeln, und das infernalische Bild des Spaniers schlug undeutlich wie eine alte Untermalung durch die Farbschicht ... »Was reden wir hier noch! Ich muß jetzt fort. Kommen Sie mit? Ich bin sehr unruhig, eigentlich ohne Grund. Die Hitze – und ich bin sehr überanstrengt.«
Und richtig, da schoß schon ein leeres Auto an, kam wohl vom Reichstag heruntergesaust. »Fahren Sie mit? Ja? Sie können es ja dann weiternehmen!« Und schon bog der Wagen wieder nach dem Tiergarten zurück, jagte an seinem Rand unter den Laubdächern auf dem von den Gummis blankpolierten Asphalt weiter, trieb den Wind über die Gesichter hin.
»Ach – ich vergaß – war Ihr Mann sehr unglücklich, daß das mit Bonn nichts geworden ist?«
»O nein – er hat ja auch hier seine geachtete Position! Er war nur sehr verstimmt, denn er hätte sich ja nie um einen Posten beworben und sich einem Refus, einem Übergangenwerden ausgesetzt ... ehrgeizig ist er nicht – aber man hatte ihm noch neulich auf dem Röntgenkongreß im Mai gesagt – und zwar von einer Stelle aus, wo sagen so viel wie zusagen hieß, daß er sich darum bewerben soll. Aber wir sind eben Juden. Was ist da zu machen?«
Fritz Eisner gab keine Antwort. Eigentlich hörte das Grün nicht auf, den ganzen Weg über. Schon war man in den alten Bogengängen der Ulmen der Kaiserallee; wie Harfensaiten zitterten die Baumlinien im Vorbeisausen, grün und rosig; nur die Wipfel lagen noch in der ganz späten Nachmittagssonne. Richtig, da war schon die Kirche. Nun wäre man ja gleich da.
Fritz Eisner hatte das Gefühl, als ob das Herz ihm vor dem Halse säße. Es benahm ihm den Atem, und er spürte nur rechts und links in den Schlagadern des Halses sein Klopfen. Lu empfand es wohl, daß er jetzt sehr verängstigt war, und die Arztfrau brach bei ihr durch, und sie versuchte es ihm auszureden. Sicher wäre dem Kind gar nichts. Die Auskunft von Pauline, die ja gewissenhaft ist, wäre doch sehr zufriedenstellend gewesen. Sie würde es selbst sehen – den Wagen warten lassen – und dann würden sie beide zusammen weiterfahren, denn er müsse versuchen, wenigstens ein Wort für sie bei ihrem Mann einzulegen. Er würde es schon finden. Sie wäre furchtbar unglücklich jetzt.
»Also warten, Chauffeur!«
Auf der halbdunklen Treppe, vor den ersten Schwänen der Flurfenster, versperrte ein dickes, schweres, kleines, rundes Etwas, das langsam und sehr mühselig nach oben keuchte, den Aufstieg. »Herrgott, Mutter«, rief Fritz Eisner. Denn trotz Halblicht war sie, selbst von der Rückseite, schon den Konturen nach, schwer mit anderen Wesen zu verwechseln. »Was machst du dir denn die Mühe, jetzt hier herauszupilgern?«
»Nun – wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, muß der Berg wohl zum Propheten kommen« ... Frau Eisner liebte es, ihre Körperfülle selbst zu ironisieren. »Tag, Frau Doktor! Wissen Sie, was ein Peißelchen ist? Nein? ... Na, das sagten so ganz früher unsere Vorfahren; das heißt ungefähr soviel, wie ein hübscher Mensch! Und wann fährt dein Schwager weg?« wandte sie sich wieder an Fritz Eisner – »ich habe doch so etwas gelesen! Jedenfalls ein großes Glück für ihn ... gerade jetzt.«
»Ja, wir sind alle zusammen heute noch bei Ilges draußen, morgen um Zwölf geht sein Dampfer, und um Neun fünfzig Hannchens Zug. Sie gehen gleich von da nach der Bahn. Daß Hannchen leider krank ist, habe ich dir ja geschrieben. Merken tust du aber nichts, sie sieht genau so aus, wie immer!«
»Hör mal, mein Sohn, seitdem du berühmt bist, kümmerst du dich wohl um deine alte Mutter nicht mehr?! – Aber ich geh' gar nicht zu dir, ich komm zu Little.«
»Ist nicht ganz wohl gewesen, die letzten Tage!«
»Wird ein Schnüpperchen haben. Bei dem heißen Wetter geht es schnell weg. Denk dir, sie kommen zu mir und gratulieren mir zu deinem Erfolg. Du bist doch wie Lord Byron – wachst eines Morgens auf und bist berühmt. Ich hab' an der Tür draußen bei mir schon ein Zettelchen angemacht: Gratulationen werden nur am einunddreißigsten August entgegengenommen (da habe ich nämlich Geburtstag, Frau Doktor).«
»Nee – weißt du Mutter, ich bin doch unruhig wegen L. D. Ich geh' dann voran. Laß mich mal vorbei. Du mußt dich doch noch ein paarmal ausruhen bis oben. Soll ich dir lieber einen Stuhl durch Pauline runterbringen lassen?«
»Nächstens mußt du aber doch mal in den ersten Stock ziehen«, kam's hinter ihm her, »deiner Reputation und meiner Beine wegen.«
Fritz Eisner schloß auf und rief zugleich nach Pauline. Aber er bekam keine Antwort, und dann stieß er die Tür zum Schlafzimmer auf, und sah, daß Pauline, die sich über das Körbchen gebeugt hatte, sich ganz verweint hochrichtete. Da lag das kleine Wesen, mohnrot und der Atem keuchte. Ganz schnell, wie mit Kolbenstößen ging die Brust herauf und herunter. Der ganze Raum der kleinen Lungen mußte plötzlich voll von Schleim sein, durch den der Atem sich herein- und heraufquälte. L. D. versuchte zu lächeln, zu erkennen, aber es gelang nicht recht. Die Augen waren sehr groß und sie sagten: »Was hat man nur mit mir vor – Was hat man nur mit mir vor? Es war doch immer ganz nett hier. Und warum ist man jetzt so böse zu mir? Ich will atmen, und es geht so schwer, und deswegen muß ich so schnell atmen. Und da drin ist etwas, das macht immer dada dada dada dada ... so ganz fix, so wie der Hund, wenn er auf den Rücken gefallen ist, und seine Räder dann so laufen. Und hier in meinem Kopf geht es ebenso. Ich war ganz artig. Ich habe keinem etwas getan hier. Ich habe nur gelacht und mich gefreut. Und warum ist man so schlecht zu mir und macht mir solche furchtbare, solche entsetzliche Angst? Ich habe ja gar nicht gewußt, daß es so etwas gibt ... bei euch hier.«
Oh, jetzt verstand Fritz Eisner. So langsam, ganz langsam, leise, langer Hand war es vorbereitet worden, das hier ... als ob ein Heerführer unmerklich seine Truppen zusammenzieht. Nur nachts und insgeheim dürfen sie ein kleines Stück vorrücken, müssen immer wieder sich eingraben und verborgen halten. Und plötzlich setzte er sie dann von allen Seiten auf den armen Gegner ein, ohne Gnade, stürzt sie von den Hügeln auf sie herab, hat ihn im Kessel, in der Zange, wie Hannibal die Römer in der Schlacht am Trasimenischen See. Kein Ausbrechen mehr ... kein Ausweichen mehr und hinter ihnen nur das tödliche Wasser, in das er sie hineintreibt. Oh, welche feige Gemeinheit von diesem alten Vieh- und Menschheitszerstörer. Da sind doch so viele, die darauf warten, die alt, krank sind, jahrzehntelangem Siechtum verfallen, an denen geht er vorbei. Und auf so ein kleines armes Wesen, das noch keinen Schritt in die Welt gesetzt hat ... das beschleicht er wie ein Jäger, dem spürt er Wochen ganz geheim nach ... Was hat er nur davon, von dieser Sinnlosigkeit?!
Fritz Eisner hatte gar nicht bemerkt, daß Lu hinter ihn getreten war und sich auch einen Augenblick über L. D. gebeugt hatte und sogleich auf den Zehen wieder fortgeschlichen war. Und als er nun hinausging, um dem Arzt zu telephonieren, meinte sie nur, daß er ja in einer Minute schon da sein müsse, sie hätte ihn schon angerufen und ihm Bescheid gegeben. Und sie würde so lange das Bad geben, das müsse man wohl zuerst tun, um die Temperatur etwas herunter zu bringen. Dann würde L. D. schon ruhiger werden. Das wirke ja oft Wunder. Dann würde es schon besser werden. Eine Schwester wird auch bald kommen – »Bei so etwas, lieber Freund, müssen Eltern ausgeschaltet sein, sie sind nicht ruhig genug!«
Und auch die alte Frau Eisner sagte – und sie war wirklich sehr beruhigend, in ihrer stillen Art, sie ließ sich gar nichts anmerken, wie ihr das Herz dabei nur so flog: »Was habe ich mit euch durchgemacht! Kinder fiebern ja immer gleich sehr hoch. Aber es wird auch dafür meist sehr schnell wieder gut.«
»Ja, aber wie sie atmet ... wie gejagt!«
»Naja, mein Junge, wenn das Fieber erst heruntergebracht ist, dann wird auch das gut.«
»Aber wie kriegen wir Annchen her?«
»Ich werde sie dann schicken«, meinte Lu ...
»Weißt du, ich bin ja hier«, unterbrach Frau Eisner. »Fahr du selbst einen Augenblick mit heran, du hast ja das Auto – wirf nicht gleich so mit dem Geld, Junge! immer noch unten stehen. Es ist so peinlich, wenn eine andere ...« (Fritz Eisner verstand, wußte, daß, wie der Großvater plötzlich starb, vor fünfzig Jahren fremde Leute die Mutter aus dem Theater geholt hatten, und das hatte sie bis heute noch nicht verwunden ...) »und verabschiede dich schnell und unauffällig noch von deinem Schwager und Hannchen – und vor allem komm bald wieder. Hat Pauline Geld? Sonst laß mir was hier. Oder zwanzig bis dreißig Mark kann ich auch vorerst auslegen.«
Plötzlich stand der Arzt neben dem Körbchen, sehr groß, schwarz, sehr sicher. Er galt als überaus gewissenhaft. »Das ist nun der dritte Fall heute, zu dem ich gerufen werde. Es muß wie eine Epidemie sein. Die in früheren Jahren waren nicht so schlimm hier. Wir haben sie fast alle durchgebracht. Es ist eine Art Influenza, die sich auf die Atmungsorgane geworfen hat. Immerhin es setzt schwer ein. Er sah nach dem Fieberthermometer und schlug ihn sofort herunter. »Wie hoch«, fragte Fritz Eisner.
»So um die neununddreißig«, log der Arzt. »Ist Ihnen gesagt worden, ob die Schwester bald kommt? Vielleicht könnte es Schwester Agnes sein, die ist sehr zuverlässig!«
»Das Kind war heute früh fast völlig wohl, eigentlich viel lustiger als die letzten Tage.«
Der Arzt schrak ganz leise zusammen. »So? Sie war heute sehr munter?! Na, die Hauptsache ist, daß wir jetzt ein bißchen die Lungen frei kriegen, und daß das Herz keine Schwierigkeiten macht. Bis jetzt ist es noch gut.«
»Also kommen Sie!« sagte Lu. »Sie sehen ja, es ist wirklich nicht so schlimm, wie es uns Laien im ersten Augenblick erschienen ist. Das Warten kostet ja sonst ein Vermögen. Die Uhren der Chauffeure gehen nie richtig.« Und dann wandte sie sich zu dem Arzt. »Sie hatten neulich meinen Mann zugezogen, wenn ich nicht irre«, sagte sie, ging einen Schritt zurück und zeigte deutlich die Absicht, Fritz Eisner zuerst aus der Tür gehen zu lassen. »Wie ist der Fall eigentlich geworden?«
»Also grüßen Sie Ihren Mann und sagen Sie ihm«, meinte der Arzt sehr langsam, »die Pneumonie hatte leider dann doch verdammt schwer eingesetzt.«
»Aber durchgebracht haben Sie den Patienten?«
»Ich hoffe, daß es gelingen kann. Außer Gefahr ist die Patientin jedenfalls bisher keineswegs.«
Fritz Eisner verstand. »Herr Doktor«, sagte er, »Sie sind ungeschickt, Sie haben nicht gut zugehört. Sie wurden nach einem Patienten gefragt und nicht nach einer Patientin. Aber das sind ja in diesem Augenblick alles nur Worte. Das arme Annchen. Kommen Sie, Lu!«
Es ist merkwürdig, wie gut so Chauffeure Bescheid wissen. Es ist ihr Metier. Fritz Eisner hatte nie gedacht, daß man von hier aus so leicht nach dem Wald herüberkäme. Drüben bog das Auto ein, und dann ging es weiter in ein Netz ganz leerer, noch unbebauter Straßenzüge.
War der Abend schön. Und das war das Unheimliche für Fritz Eisner: es war nicht abzustellen. Die Außenwelt blieb. Die Sinne empfanden sie mit einer Überdeutlichkeit, trotz des Zitterns und der Tränen in seinem Innern. Da war ja die Gärtnerei des Herr Leonhard, in der das Kind immer gespielt hatte. – Wann wieder?! Die bunten Streifen der Blumenbeete leuchteten durch die Bäume und Büsche. Daß doch immer alle Blumen in der Abenddämmerung so leuchten, als ob sie trunken von all dem Licht vom Tag noch wären! Und dann kamen richtige Getreidefelder. Man hatte sie bisher nur von oben, von der Loggia gesehen, nie gedacht, wie breit ihre Linien hintrieben und wie schnell sie die Stadt vergessen machten. Über ihren graugrünen Wellen lag eine wundervolle Ruhe. Sie waren schon in Schatten getaucht, dufteten kühl und wie frisches Brot in eine blaue Dämmerung hinein, die sich im Horizont zu dem grünen Streifen himmlischer Klarheit verlor. Und jenseits über dem Waldrand stieg dazu riesig und blutig ein Mond hoch, unnatürlich groß und schwelend von einer sehnsüchtigen Glut. Aber die letzten Schwalben trieben trotzdem noch wie über einen See über die Wogen der Kornfelder hin, und glitten eine ganze Weile dann neben dem Auto her, so daß man ihnen auf den blau schimmernden Rücken sah, bis sie abbogen, gegen die Helligkeit emportaumelten, schreiend sich in der Luft überschlugen, und, wie geschleuderte Steine, als schwarze Schatten in der Ferne entschwanden.
Und dann sprang ein Barsoy gegen das Auto an, und daraus schloß Fritz Eisner, daß sie wohl schon lange in der Kolonie Grunewald wären. Denn wo sollten sonst Barsoys leben? Und richtig – da waren ja große tiefe Gärten mit herrlichen Rasenflächen, weiße Häuser, weiße Bänke, Mädchengelächter. Es klingt so nett, so ganz anders durch die Zäune eines Parks an unser Ohr, wie sonst. Und frühe Kletterrosen beglühten ganze Wände und Gartenmauern mit den züngelnden Stichflammen ihrer Blüten.
Lucie hatte erst versucht zu reden – Fritz Eisner abzubringen für Sekunden, – aber jetzt war auch sie ganz in ihren eigenen Gedanken, sprach nichts mehr, und nur die Lippen gingen wie in lautlosen Vorstellungen und Beschwörungen.
Vor Jahren war Fritz Eisner gerade hier entlang gefahren, ganz im Fond des offenen Wagen liegend, und ebenso berauscht von Liebe wie seine Begleiterin und Mund an Mund, ... während dazu über ihnen die Schirme der Alleebäume mit ihren grotesken Zacken, die manchmal fast zusammenstießen von rechts und links, schwarz gegen einen silberbestaubten Sternhimmel standen. Und der glitt da oben, hoch und geheimnisvoll über ihnen hin, mit den Tausenden von Funken, als schmaler, sich windender Streifen, gerade wie ein tiefblauer himmlischer Flußlauf über ihren Häuptern. Oh, daß er eben jetzt daran denken mußte, und doch nur so denken konnte, wie bei einem Mönchsmanuskript die Schriften verschiedener Zeiten durcheinander gehen, eine über der anderen steht, jede die andere halb verwischt, denn eigentlich dachte es ja nur in ihm: Dein Kind, das kleine, süße Wesen, das ringt jetzt mit dem Tod ... mit dem Tode ... mit dem Tode ...! Und jetzt fuhr er auch hier wieder neben einer schönen jungen Frau!
»Hören Sie«, sagte Lu, und fuhr sich dabei hastig mit einem Papier poudré über Stirn und Augen ... ach ja, da blinkte schon der See und Lichter spiegelten sich von drüben darin, lange gelbgrüne Lichtstreifen mit gelbgrünen Lichtpunkten darüber, die wie Semikolons mit einem Feuerpinsel über die Wasserfläche gemalt waren, und man hörte von drüben Gesang heimziehender Schulkinder. »Hören Sie, mein Freund, wir wollen uns beide eines vornehmen: wir wollen die Leute nicht merken lassen, wie es in uns aussieht. Erstens sind sie herausgekommen, um fröhlich zu sein, und wenn sie auch so etwas wie Mitgefühl heucheln würden – zum Schluß werden sie es uns doch nicht verzeihen, daß man ihnen einen Abend verdorben hat.«
Man war wohl schon eine Weile zusammen, hatte auch schon viel von den Kalten Platten geleert und hatte den ersten Ansturm auf die Erdbeerbowle hinter sich ... war sehr guter Dinge. Manche hatten den kleinen Nebenraum verlassen, gingen im Garten unter dem Halblicht einer allerletzten Dämmerung, die durch das Laub kam, und durch spärliche Laternen mehr betont, als aufgehoben wurde, auf und nieder. Viele begrüßten Fritz Eisner stürmisch, brachten ihm lärmend Ovationen, bemühten sich sehr vergeblich irgend etwas Bedeutsames zu sagen. Einer aus der Statisterie meinte sogar, daß sie immer noch mit Freuden an jenen Abend im »Dichterheim« zurückdächten. Aber das fühlte Fritz Eisner: all diese Leute da, diese von Wärme und Wein und dem Fluidum ausgesprochener und unausgesprochener Huldigungen erregten und lachenden hübschen jungen Frauen, diese Männer, brave Kaufleute mit weißen Westen, Rechtsanwälte, Hausbesitzer, Fabrikanten und so fort, standen ihm nicht mehr so freimütig gegenüber wie vor vier Wochen. Sie posierten vor ihm, wollten Eindruck schinden, irgendwie war er ihnen auch unheimlich geworden, vielleicht, weil er doch ernst und wortkarg blieb, so sehr er sich auch bemühte, dieses nicht zu sein.
»Du kommst spät, Lu«, sagte Doktor Spanier.
»Ich muß dich einen Augenblick nur sprechen!«
»Darf das nicht ein andermal sein? Hier trinkt man Bowle!«
»Nein!« sagte Lu. »Es dreht sich nicht um mich!« Und sie zog ihn fort.
Fritz Eisner suchte nach Annchen. Aber wo war sie? Wilhelm Klein lief ihm in den Weg; er war etwas freier, frischer wieder: mehr Blondhaar, Lockenschüttler, achtes Semester Marburg. Auch hatte er nicht den unvermeidlichen Gehrock, der ihn zu einem entgleisten Pastor machte, sondern eine Velvetjoppe, Wadenstrümpfe, keinen Hut und das Hemd stand sogar, da der Kragen fehlte, revolutionär offen und ließ die Rauheit seiner Felsenbrust ahnen. Auch das Gesicht war ausgeplättet. Aus dem Predigertyp einer freireligiösen Gemeinde war er plötzlich wieder Naturapostel geworden, mit langen Schritten und stürmischem Händeschütteln.
»Ich gehe auch morgen fort, Herr Eisner«, sagte er, »ich komme als Lehrer für Deutsch und Natürliche Schöpfungsgeschichte in die Freie Schulgemeinde nach Haubinda!«
»Ach, da freut sich wohl Ihre Frau und der Junge schon auf das Landleben?!« sagte Fritz Eisner (man mußte doch etwas sagen!).
»Selma?« rief Wilhelm Klein ganz entsetzt. »Selma bleibt natürlich hier – wir müssen uns zeitweilig trennen. Sie kann doch hier ihre Schule für rhythmische Gymnastik nicht aufgeben! Und außerdem würde die Stelle uns beide vorerst auch gar nicht ernähren. Man macht so etwas doch mehr der Sache wegen. Die Schüler dürfen nicht unsere Feinde sein ... sie müssen unsere Freunde, unsere Genossen werden. Wir wollen von ihnen lernen, nicht sie von uns! ... Ich war jetzt dort: Herrliche Knaben und Mädchen, von einer Freiheit des Fühlens und Denkens, einer kühnen Selbständigkeit des Blicks!«
»Gewiß, Herr Doktor«, unterbrach Fritz Eisner, der loskommen wollte von ihm ... »nur fehlt leider noch der Staat, der sie aufnehmen soll, in den sie hineinpassen!«
»Das lassen Sie unsere Sorge sein«, rief Wilhelm Klein pathetisch und überlaut, wie bei einer Rede zur Bismarckfeier (er vertrug sehr wenig, verlor sehr schnell die Hemmungen, trotz des Trainings der Studentenzeit und einer schwarzen Verbindung). »Dann werden wir ihn schaffen!«
»Den lieb ich, der Unmögliches begehrt!« sagte Fritz Eisner.
»Wo steht das doch bei Nietzsche?« fragte Wilhelm Klein, halb erstaunt und halb beleidigt, daß er das nicht wußte.
»Es muß ja nicht alles bei Nietzsche stehen – jetzt, da Sie nach Haubinda kommen und dort Deutsch lehren, müssen Sie sich langsam daran gewöhnen, daß es auch etwas gibt, das bei Goethe steht!«
Da stieß Doktor Spanier wieder zu ihnen. »Hören Sie, lieber Freund«, sagte er, und er legte, ganz gegen seine Art, seine Hand Fritz Eisner auf die Schulter. »Wir müssen gleich wieder fahren. Ich fürchte, daß der Kollege bei Ihnen heute nacht ganz gut noch einen Assistenten brauchen kann. Wozu sollen wir in diesem Augenblick Versteck voreinander spielen. Die Pneumonie soll ja leider sehr schwer eingesetzt haben. Und zudem ist es noch nicht mal eine echte. Wir haben also noch dazu den schlimmeren Teil erwählt. Das einzige, worauf ich baue, ist, daß es ein Mädchen ist. Die haben mehr Lebenskraft, als Jungens, aber es sieht nach dem Bericht des Kollegen sehr böse aus! Gehen Sie noch zu Ihrem Schwager und Ihrer Schwägerin, und dann treffe ich Sie in zwei Minuten draußen beim Wagen. Lu wird sagen, daß man mich zu einem schweren Fall gerufen hat, und von Ihnen und Annchen, daß Sie Ihre Schwägerin zur Bahn bringen, und vorausgefahren sind; da braucht keiner etwas zu merken.«
Aber wo waren die? Fritz Eisner sah in alle halbdunklen Winkel, nirgends! Und drin auch nicht. Doch da ganz drüben hörte er dann plötzlich im Vorbeigehen Egis Stimme und daneben jene sonore, ziemlich tiefe, dunkelrote von Lena Block. Fritz Eisner blieb stehen.
»Du brauchst nicht zu weinen, my boy! – Wir werden uns in diesem Leben schon einmal wieder sehen. Und ich denke auch an dich, wenn ich auch nicht schreibe. Ich finde Briefeschreiben – ja Schreiben überhaupt subaltern, wenn man malen kann. Du meinst, das wäre nicht schön von mir?! Aber begreifst du denn nicht, Boy, wir haben unsere Art uns ja weder selbst geschaffen noch ausgesucht, müssen so verbraucht werden, wie wir sind. Weißt du, ich habe schon als Kind nie geduldet, daß eine Puppe, mit der ich mal gern gespielt habe, nachher an ein anderes Kind verschenkt wurde, lieber habe ich sie selbst entzwei gemacht.«
Ganz leise schlich Fritz Eisner weiter. Was sollte er da noch stören. Und wie tief gleichgültig war das auch alles in diesem Augenblick, wo sein Kind mit dem Tod rang.
Drinnen spielte jetzt Lu die Wirtin, lachend, charmant, schalkhaft, mit einer unvergleichlichen Politesse. Wirklich, es wäre schade drum, wenn diese Eigenschaften in ihrem späteren Leben ungenützt sein sollten. Professor Toxeira hatte einen Ring von Damen um sich, schleuderte französische Tiraden nach rechts und nach links und man kann ja auch auf französisch so köstlich Dinge sagen, die im Deutschen gleich ordinär wirken – er schielte nach allen Seiten, war Hahn im Korbe.
Und da, in der Ecke, saßen jetzt auch Arm in Arm, eigentlich mehr umschlungen, als untergefaßt, Annchen und Hannchen, diese ungleichen und doch so ähnlichen Schwestern, trotzdem die eine von ihnen sehr aktiv war, und die andere nur sich treiben lassen konnte.
»Na, du Bummelante«, rief Annchen, »jetzt kommt er an!«
»Hör mal, Hannchen, meinst du, ob deine Mutter noch herkommt?« ... »Nein? Ist ihr zu viel, ist sehr spät mit dem Gepäck fort! Dann grüß sie bestens, und ich verabschiede mich auch gleich ganz lautlos von dir. Komm recht bald gesund wieder. Alles Gute! Freust du dich darauf, wieder mal D-Zugräder unter den Füßen zu haben? Und Annchen will ich dir gleich mit fortnehmen. Wir wollen lieber heimfahren. L. D. ist ein klein wenig fiebrig. Ich bin beunruhigt und deshalb bleibe ich lieber nicht hier.« (Wie habe ich das gesagt, sie kann nichts gemerkt haben!)
Annchen war wortlos aufgestanden und ging zu ihrem Mann, hing sich an seinen Arm. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich hab's ja geahnt. Es hat mich nicht verlassen.« Sie war ganz still. Solange der Alltag war, war Annchen unbrauchbar, unmöglich, scheute wie ein schlechtes Pferd vor jedem Blattschatten, der auf dem Weg zuckte. Sowie es aber hart auf hart ging, – ob für sie selbst oder ob für andere – war sie fast heroisch und von erstaunlicher menschlicher Disziplin. Denn es ist falsch, zu sagen, der ist klein, und der ist groß, der ist wertvoll, und der ist wertlos. Es hat jeder seine Rolle mal, seine Große Szene, sein Stichwort in diesem Theaterstück. Annchen hatte sie gewiß nicht oft, aber hier hatte sie eine ihrer großen Szenen.
»Ich gehe voran, Annchen«, flüsterte Fritz Eisner, während er sie im Raum auf und abführte. »Du kommst in einer Sekunde nach. Nicht verabschieden. Doktor Spanier fährt mit. Man wird ihn heute nacht bei unserem Kinde sehr brauchen. Doktor Bernard ist auch schon da.«
»Glaubst du noch, daß wir unser Kind behalten werden, Fritz«, sagte Annchen sehr ruhig.
»Ich habe mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, es nicht zu glauben. Es ist ja doch gut, daß der menschliche Kopf ein Raummaß ist, das nur einen bestimmten Inhalt faßt; und daß es viele Dinge gibt, Annchen, die so wenig in unseren Kopf gehen, wie das Meer in einen Milchtopf.«
Als sie heraus gingen, liefen sie gerade Egi in die Arme, der herein kam ohne Lena Block. Er war sehr gerötet und rief Fritz Eisner zu: »Hör mal, du hättest eher kommen müssen, die Bowle ist schon fast zu Ende. Wer weiß, ob man das da drüben so versteht. Sie war ganz hervorragend.«
»Weißt du, Egi, dann würde ich mir das Rezept geben lassen. Doktor Spanier verrät es dir gewiß. Du wirst sicher damit drüben großen Erfolg haben. Jedenfalls glückliche Reise, mein ... Boy!«
Egi lief ihnen nach: »Gehst du denn schon fort?!« rief er. »Kommt ihr nicht zur Bahn?! Wir gehen doch bald alle!«
»Ja, wir müssen leider nach Hause, L. D. ist ein wenig unpäßlich.«
»Ach, das tut mir aber wirklich und wahrhaftig von Herzen leid. Dann wünsche ich dem armen Würmchen schleunigst gute Besserung. Aber – es wird schon vorübergehen.«
Lena Block erschien draußen auf den Stufen der Terrasse. »Kommen Sie doch noch rein, Fräulein Block« rief Egi – »Hannchen hat Sie schon vorhin gesucht!« Und winkte seinem Schwager jovial mit der Hand: »Salue! Salue!«
Und wieder saß Fritz Eisner im Auto. Und wieder rasselte es die sehr stillen Villenstraßen zwischen den Gärten hindurch, verlor sich dann in die einsamen Felder, über denen tief der Mond hing, der frühzeitig wieder untergehen wollte.
»Ich habe jedenfalls noch schnell Paul telephoniert – er wird uns noch Dinge herausbringen, die wir vielleicht brauchen können, damit wir keine Zeit mit Herumschicken nach der Apotheke und so verbrocken.«
Und schon leuchteten von weither, von fern, von oben die beiden Vorderzimmer mit ihren vier Fenstern, waren strahlend hell, wie damals, blickten von ganz weit schon oben über die Gipfel der Ulmen hinweg ... wie damals bei dem Fest ... Die ganze Straße war sonst dunkel. ›Für wen hat man eigentlich jetzt hier noch Kaffee gekocht?‹ dachte Fritz Eisner – im Treppenhaus roch es schon danach. Die alte Frau Eisner saß ganz still und innerlich fröstelnd in dem großen unbequemen Stuhl des Eßzimmers, der für sie viel zu hoch war, ganz allein in diesem Eichenwald. »Bis achtundsechzig, Fritz, habe ich auf mein erstes Enkelkind warten müssen, und jetzt fürchte ich, mein Sohn, daß wir es wieder hergeben müssen! Halte dich gut. Du weißt, Mendel Gibber: – wir sind von den starken Herzen. Ja, Annchen, es ist schwer, genau so habe ich vor vierzig Jahren mein kleines Mariannchen ... da haben wir auch gebadet, warm und dann kalt ... kalte Tücher und warme Tücher ... und künstliche Atmung und Kaffee und Milch mit Kognak und Champagner ... na ja, die Einspritzungen macht man jetzt ... aber sonst war es gleich. Das arme Würmchen, daß es sich so quälen muß ... ich könnte nicht Arzt sein!«
Stunden saß man ganz ruhig sich gegenüber, starrte sich an mit Augen wie auf den Bildern von Munch. Hin und wieder stand jemand auf. Annchen oder Fritz Eisner oder Pauline. Pendelte zwanzig-, dreißig-, fünfzigmal durch die drei Zimmer, zupfte nervös an den Gardinen, schloß Fenster, rückte Bilder, strich Tischdecken glatt, horchte dann an der Tür. Drin arbeitete man ganz schwer. Immer wieder streckte der Tod seine Hand nach dem kleinen Menschenwesen aus, und immer wieder rissen es ihm die beiden in der letzten Sekunde noch aus den Klauen. Oh, er sparte nicht, ließ seine Truppen anrennen, einen Herzkollaps über den anderen, einen Erstickungsanfall über den anderen. Die beiden Ärzte und die Pflegerin standen um das Körbchen, als wollten sie mit ihren Leibern einen Wall bilden. Sie wußten, sie durften nicht um den Bruchteil einer Sekunde mit ihrer Aufmerksamkeit nachlassen ... dann hatte der andere gewonnen. Jede Minute versuchte man Neues, um das Fieber herabzudrücken und das Herz zu halten. Man hörte manchmal sogar ganz dumpfe, klatschende Schläge durch die Wohnung, wie bei einem Neugeborenen, das man zur Atmung zwingen will. Wieder eine Spritze. Kognak. Champagner. In Löffeln. Kaffee. Bäder. Kalte Übergießungen. Vielleicht ist ein Sauerstoffapparat schnell aus dem Krankenhaus zu beschaffen. Wenn es bloß nicht so tief in der Nacht wäre! Fritz Eisner verstand wie viele seines Standes nichts von der Medizin und schätzte auch Ärzte und ihre Tätigkeit gering. Menschlich waren sie gewiß nette Leute. Nur an Kranke sollte man sie möglichst nicht heranlassen. Aber, wie er die beiden jetzt, manchmal durch die Türspalte hineinblickend, an L. D.s Körbchen stehen sah, gespannt in jedem Nerv, wie Fechter auf der Mensur, nicht einen Wimperschlag das Kind aus den Augen lassend, auf jeden Atemzug horchend ... und sich nun sagen, daß morgen wieder und übermorgen und jede Stunde sie vor ähnlichen Aufgaben stehen müssen, und immer heute, wie in zehn, in dreißig Jahren, sie die gleiche Spannkraft dafür aufzubringen haben – das war wahrlich nicht wenig!
Doktor Spanier kam heraus. »Wie steht es?« Doktor Spanier schüttelte den Kopf – »schlecht, sehr schlecht – aber es ist wieder ein Hoffnungsschimmer, die Lunge fängt an, etwas freier zu werden! Die Temperatur war um acht Uhr einundvierzigzwei – jetzt ist sie nur noch neununddreißigneun. Wenn nur nicht diese grausigen Herzkollapse immer wären. Vierzehn Stück in drei Stunden. Und jedesmal denken wir, sie bleibt uns unter den Händen. Und kaum haben wir uns erholt von dem einen und sind glücklich, daß wir sie darüber weggebracht haben, da fängt schon der nächste an. Das einzig Gute ist, daß sie wohl sicher nichts mehr davon spürt, und wohl nichts von sich und der Umwelt mehr weiß. Jetzt werden wir sie nochmal baden. Vielleicht bringt das das Fieber wieder runter. Die Schwester macht eben draußen das Bad. Darf ich mal telephonieren?«
»Ja, Lu – sind unsere Gäste noch da ... Egi und Hannchen mit Jubel und Gesang in das Auto von M'chen Gumpert verstaut ... Ich werde wohl nicht mehr kommen können ... Sehr, sehr schwer ... aber doch nicht ganz so hoffnungslos mehr wie noch vor einer Stunde ... War man sehr lustig? Habe ich gefehlt? C'est dommage! Wird man wohl noch lange zusammenbleiben? Eine halbe Stunde noch höchstens. Ja, dann werde ich hier kaum fortgehen können. Wir sind ja noch lange nicht über den Berg. Fahre also dann nach Hause und packe deine Sachen. Nimm den kleineren rindledernen Koffer. Nur das Notwendigste. Du brauchst ja im Augenblick nicht so viel. Das andere kann alles später geordnet werden. Was noch? Ja, richtig, ich vergaß: Sage Paul – er hat Ordre von mir, aufzubleiben und dann ist er noch wach er soll sofort den blauen Anzug von mir ausbürsten und den hellgrauen. Die werden jawohl auch noch in deinen Koffer gehen. Und all das andere werden wir dann wissen, Lu, wenn wir in vierzehn Tagen zurückkommen. Noch kann ich nicht ›nein‹ oder ›ja‹ sagen. Aber dann wissen wir es! Was sagst du da? Du bist närrisch! Ich habe keine Sekunde mehr Zeit, Lu.«
Doktor Spanier winkte Fritz Eisner leise, ihm zu folgen. Die Schwester hob gerade L. D. nochmal ins Bad. Der kleine rote Körper zuckte im Licht. Doktor Bernard beugte sich über sie, hatte das Ohr an ihrem Rücken und horchte angespannt. Der Atem jagte noch. Aber die Zahl der Stöße in der Minute war doch geringer geworden. »Gott sei Dank, es weiß nichts mehr von sich! – Na, Little Dorrit, ... wo ist der Papa?«
Little Dorrit wanderte mit den großen angstvollen Kohlen ihrer Augen über das Gesicht der Schwester, über das Doktor Bernards und das ihr noch unbekanntere dieses anderen Mannes, der sie auch so quälte, und schien ganz enttäuscht zu sein; aber plötzlich glitten ihre Augen weiter – es wurde ihnen merkwürdig schwer, den Weg zu finden, und blieben auf dem Gesicht Fritz Eisners haften, gingen nicht zurück und ganz leise, wie das Zirpen einer sterbenden Grille kam es dazu wie »Dada!«
Nein, schöne Dinge sagten die Augen wirklich nicht. Sehr, sehr freudlose! ›Du, nimm mich nochmal! Trag' mich nochmal herum! Ich glaube, ich fürchte, wir werden uns nicht lange mehr sehen. Da kommt immer so etwas und würgt mich, und ein Mal frißt es mich dann doch. Sieh mal, ich bin nur solch armes, kleines hilfloses Tier, eine ganz kleine, arme Maus. Und das ist so wild und so schwarz, diese häßliche Katze mit den grünen Augen. Vater, Vater, du wirst dich lange Jahrzehnte noch ohne mich behelfen müssen. Ich ahne so etwas, du wirst nicht auf meiner Hochzeit tanzen. Und ich auch nicht. Sieh mal – ich werde jetzt weggehen, es wird mir viel erspart bleiben. Sagt man nicht, daß die Götter den lieben, den sie jung zu sich nehmen. Das ist falsch, Vater. Sie lieben nur den, den sie gar nicht erst auf die Erde herabschicken. Wozu hat man mich denn geweckt, wenn man mich jetzt schon wieder schlafen legen will?! ...‹
Aber vielleicht hatte das Bad wirklich die Temperatur herabgedrückt, denn der Atem fing an, leichter zu werden. Und die Lunge war fast bis zu dreiviertel wieder frei und luftdurchlässig, konnte wieder sicherer ihr Werk tun.
»Donnerwetter, Kollege«, hörte Fritz Eisner Doktor Spanier durch die Tür, »jetzt müßten wir einen Sauerstoffapparat hier haben. Ich habe telephoniert an die Charité – hoffentlich kommt er noch zur Zeit. Wenn uns das Herz nur nicht in der allerletzten Sekunde noch einen Strich macht durch unsere Rechnung. Atmung ist ja wieder ganz anständig. Und der fünfzehnte Kollaps war schon leichter zu koupieren als die vorigen.«
Frau Eisner und Annchen saßen sich gegenüber und sprachen mit sehr leisen Stimmen über L. D. Repetierten alles, was sie von ihr wußten, von der ersten Stunde an. Ja, schon vor der Geburt, von den ersten Bewegungen an. Frauen sind ja doch ganz anders mit solch einem Kinde verbunden und verwachsen. Aber noch war eigentlich wenig Hoffnung gegeben. Eine Stunde nach der anderen war herumgegangen, schon fing es wieder an zu dämmern. Die Nächte waren ja jetzt sehr kurz. Und die erste Drossel hüpfte wieder wie ein schwarzes Teufelchen hinten über den Dachfirst. Seit gestern mittag hatte Fritz Eisner nichts mehr zu sich genommen. Er war ganz leer, wie ausgepumpt. Und irgend etwas war da in ihm gefroren.
Plötzlich kam Doktor Spanier wieder herein. »Hören Sie«, sagte er, »ich will es nicht verschreien; aber es ist nicht unmöglich, daß noch Zeichen und Wunder geschehen. Seit zwei Stunden schläft ja Ihr Kleinchen ganz nett ruhig. Wenn uns in den nächsten Stunden nichts mehr dazwischenkommt, haben wir sie über den Berg!«
Annchen und Fritz Eisner fielen sich in die Arme und küßten sich und Annchen rief: »Denken Sie, Pauline, wir werden doch noch unser Kind be...«
Plötzlich hörte man vorn ein wildes Aufstampfen. Und Annchen und Fritz Eisner fuhren auseinander und lauschten jeder für sich mit offenen Mündern, starr wie Wachsfiguren. Doktor Bernard kam herein. Schlohweiß im Gesicht. Mit geballten Fäusten, er war ganz von sich vor Erregung. »Diese brutale Bestie, Herr Kollege«, knirschte er. »Unter den Händen weggerissen. In einer Viertelstunde. Ich stehe rechts am Kopf, Schwester Agnes links – kein Anzeichen einer Veränderung. Ich habe eben noch die Atemzüge gezählt – sehr gut, vorzüglich, und plötzlich, ehe ich auch nur die Hände herunter bekomme, eine Herzschwäche, die Agonie, und ehe ich das Kindchen hochreiße, der Exitus! Das hätten wir vor vier Stunden billiger haben können.«
»Sie armer Kerl – Ihr armen Leutchen!« sagte Doktor Spanier. Sonst nichts.
»Siehst du, Fritz – wir haben uns zu früh wieder gefreut. Unsere kleine reizende Dora. Ich möchte sie nochmal sehen!«
Aber Annchen kam nicht ganz bis hinein in das Zimmer. Sie war sehr brav, ruhig und allein gegangen. Doch vor der Tür fiel sie um. Glatt wie ein Plättbrett fällt – in einer Linie. Schlug – noch ehe man sie auffangen konnte – flach auf den Teppich. Und die nächste halbe Stunde hatte man dann mit ihr zu tun. Sie sagte, als sie aufwachte: es wäre ihr, da sie in das Zimmer gehen wollte, ein Mann entgegengetreten, ein großer Mann mit einem Mantel, der L. D. auf dem Arm gehabt hätte.
Aber das war wohl nicht richtig. Denn Fritz Eisner sah L. D. dann nochmal. Da lag es, unendlich still, sehr abweisend, hatte eine Gloriole von Ernst, Würde und Traurigkeit um sich, und war ganz unnahbar. Sie war leicht verändert, größer als sie im Leben war und ein wenig wächsern. Und rechts und links von ihr brannten in den gleichen Leuchtern die Kerzen wie beim Fest. Und waren schon sehr heruntergebrannt. Hatten ganze Stalaktiten, kleine, abtropfende Wachsgebirge gebildet, und auf der Schnuppe des Dochtes blakte und wehte, ebenso rot und zornig und unruhig, die tanzende Flamme ... wie damals, am Ende vom Fest, da Hannchen den bösen Husten bekam.
Oh – es ging alles sehr glatt. Keiner weinte. Keiner schrie. Fritz Eisner wanderte kilometerlang durch die Zimmer. Stets von einem Ende zum andern. Hielt die Hände an der linken Hüfte, so als ob er L. D. noch auf dem Arm trüge und sprach ... sprach ... Er wußte nicht recht, was. Der Kopf ist ja gottlob nur ein beschränktes Raummaß ... Er kann nicht all das fassen, was ihm auf Erden hier zugemutet wird. Es gibt Steine, die sind zu schwer für unser Herz, und deswegen spüren wir sie im ersten Augenblick gar nicht.
Oh – es ging alles wunderbar glatt – keiner weinte, keiner fiel in Ohnmacht mehr. Mit einemmal stand unten eine Kalesche. Und dann ging Fritz Eisner die Treppe herunter, und vorn, so zwischen dem Kutscher und dem Fahrgast war noch ein kleiner sehr bescheidener Abteil, und in dem lagen sehr viel Blumen und Kränze. Man brauchte eigentlich gar nicht zu merken, daß da ein kleiner Sarg darunterstand.
Nur als sechs, acht Kremser mit Bierfässern zwischen den Rädern, und Lampions und Girlanden am Verdeck, und dem Verein »Harmonie« darin, mit Pauken und Trompeten über den Potsdamer Platz kamen, wollte Fritz Eisner aussteigen, und den Leuten erklären, daß sein Kind gestorben sei, und daß es von ihnen nicht freundlich wäre, wenn sie so wenig Rücksicht nähmen. Es wäre zwar noch nicht ein Jahr gewesen, hätte kaum laufen, nicht sprechen hätte es können. Aber – nicht wahr?! – nun hätte er doch kein Kind mehr, und das müßten sie einsehen.
Und als er unter dem Eingang zur Untergrundbahn Rosen-Emil stehen sah, in einem sehr speckigen und durchgewetzten Smoking, ziemlich ängstlich nach der Polente spähend, denn eigentlich durfte er jetzt Sonntag nicht hier handeln – aber was koofte er sich for so'n paar Tage Haft! – da bat Fritz Eisner doch, daß gehalten würde, und fragte, was denn der Korb weißer Rosen koste – ja, er möchte ihn vorn zu den anderen tun. Und Rosen -Emil sagte weiter nichts wie: »Det is schlimm, Herr, det is schlimm – den Schmerz kenn ick.« Aber er log, er kannte ihn gar nicht. Doch was tut man nicht, um einen guten Kunden sich zu halten?!
Und alles ging so ganz glatt. Keiner weinte. Man war wirklich gut zu ihm. Nun ja, die Beerdigung kam noch. Aber das war doch endlich nur eine leere Form, nichts weiter, eine peinliche halbe Stunde. Ein Schlußpunkt unter einer Rechnung, die schon abgeschlossen war. Als Fritz Eisner nach Hause kam, war sogar schon die Wohnung umgeräumt. Das Schlafzimmer war da, wo sonst sein Arbeitszimmer war, und das Arbeitszimmer dort, wo vor achtundvierzig Stunden noch L. D. so schwer geatmet hatte. Wie rücksichtsvoll!
Alles ging so glatt. Wie zum Beispiel Fritz Eisner auf die Loggia heraustrat – er war immer noch etwas ruhelos, ging auf und ab und sprach und sprach. – Da stand inmitten der blühenden, roten, gelben und feuerfarbenen spanischen Kressen: Tropaeolum heißen sie – ganz richtig – Tropaeolum – (er schätzte sie, man sollte sie malen) – in dem Glas die Schwalbenschwanzpuppe. Aber statt der Puppe saß da ein ganz großer gelbschwarzer Falter, mit lichtem Ocker und metallenem Blau und mit Streifen und Flecken schwärzester chinesischer Tusche bemalt, und er bewegte rhythmisch und wie zählend seine Flügel. Und Fritz Eisner hob das Glas hoch. Und da richtete der Schmetterling sich einen kleinen Augenblick empor, ließ noch einmal die Sonne auf seine neuen herrlichen Farben fallen, spannte die vier Flügel und entschwebte, glitt über die Ulmenwipfel hin, taumelte, trieb hinaus, ins wolkenlose, saphirene Blau des heißen, ganz sonnenhellen Tages. Dann entschwand das Wunder der Psyche seinem Blick.
Und da stürzte Fritz Eisner hinein, warf sich auf den Teppich und weinte und schluchzte ohne Aufhören bis tief in die Nacht. Plötzlich konnte er weinen. Dieser ganze Eisberg da schmolz in Tränen ab. Er weinte, weil ihm nun auch diese kleine unbefleckte Seele entflattert war, mit all ihrem jungen und neuen Farbenglanz auf den Flügeln. Und weil er fühlte, daß sie auf ihren hauchleichten Schwingen das beste Stück seines Selbst mit fortgetragen hatte.
Ende