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Wenn ich hier einen richtigen Roman schriebe, müßte ich beginnen: Fritz Eisner schlief ungewiegt ein, und als er sich erhob, sah er zu seinem Schrecken, daß die Sonne schon hoch am Himmel stand!
Hat man sich schon einmal überlegt, was für seltsame Schlafzeremonien so die Helden in den Romanen haben?! Meist sind sie vom Bett emanzipiert. Sobald sie müde sind, legen sie sich einfach unter einen Busch am Wege und schlafen ungewiegt ein. – Wirklich – ich habe in meinem Leben schlecht gerechnet fünfhundertsiebenundsiebzigtausend Büsche am Wege gesehen, aber ich erinnere mich kaum, daß ich jemand jemals in einem Busch am Wege habe schlafen sehen. Doch! – einen habe ich mal so gesehen, wie ich nach der Schule lief, durch den Tiergarten, des Morgens um halb acht, so um die Weihnachtszeit. Als ich aber um halb zwei zurückkam, lag er immer noch da, und, als ich einen Schutzmann holte, damit man ihn wecke, da das Schlafen im Freien doch ihm bei fünf Grad unter Null schädlich sein könne, mißlang uns dieses Wecken gründlich, weil der unter dem Busch nämlich erfroren, stocksteif und mausetot war, und man ihn also nicht mal mehr wegen Vagabundage in Strafe nehmen konnte. – Denn darin kennt das Gesetz keinen Spaß und geht rücksichtslos gegen reich und arm ohne Ansehen der Person vor.
Wozu wird aber noch eigens hervorgehoben, daß sie das ungewiegt tun? Wiegen sind jetzt selbst für ganz kleine Kinder verpönt, geschweige denn für Romanhelden. Man hat auch noch niemals solche für sie in passender Größe gebaut. Man behauptet neuerdings, das Wiegen wirkt sich später aus: die Menschen werden noch dümmer davon. Ganz bewiesen ist das aber nicht. Denn sicher hat es früher mehr gescheite Menschen gegeben, die in ihrer Jugend gewiegt wurden, als es jetzt gibt, wo sie es nicht mehr werden.
Wenn sie sich aber in dem Roman vom Schlummer erheben, da steht die Sonne schon hoch am Himmel ... oder öfter noch sogar im Zenit. Sie haben damit Glück, denn die Sonne steht sehr selten, soweit meine unklare Vorstellung von ihrer Berufstätigkeit geht, nur um Zwölf Uhr mittags, und dazu noch gerade am Äquator im Zenit. Bei uns in der gemäßigten Zone aber steht die Sonne meist gar nicht am Himmel; es ist grau, trübe, regnerisch, höchstens, daß uns die Uhr verrät, wo die Sonne – wenn man sie sähe – vielleicht stehen könnte. Aber in einer Großstadt wie Berlin zum Beispiel kümmert sich niemand recht um die Sonne und ihren Himmelsweg, auch wenn sie zufällig einmal da ist. Man kann auch gar nicht so leicht beurteilen, was das nun auf sich hat, wenn sie hier, da oder dort steht ... ich habe zum Beispiel mal als junge eine Landpartie nach dem Grunewald gemacht, und da wollten wir, da keiner eine Uhr besaß, die Zeit nach dem Stand der Sonne bestimmen, steckten einen Stock in die Erde, schlugen ein elliptoides Etwas daherum, schrieben nach einem zerbrochenen Taschenkompaß, der längst nicht mehr recht ging, die Himmelsrichtungen heran und freuten uns in leiser Verwunderung, daß es wirklich erst halb zwölf war. Und, als wir dann den Herrn fragten, der die ganze Zeit unsere Manipulationen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt hatte, wie spät es wäre, da war es – halb fünf, und ich bekam meine Reinigung, als ich heimkam; denn man hatte mich zu Mittag erwartet und ängstigte sich schon.
Seitdem aber habe ich Mißtrauen gegen die Sonne. Sie ist ein Ding für sich, und die Uhr ist ein Ding für sich. Wenn ich mich wärmen will, so setze ich mich in die Sonne, sofern sie scheint. Und wenn ich wissen will, wie spät es ist, sehe ich nach der Uhr. Und, ob die Sonne hoch oder tief steht – davon nehme ich, wenn ich aufstehe, oder auch sonst gar keine Notiz.
Oder aber es kommt noch häufiger in Romanen vor, daß die Sonne dann schon zur Rüste geht, wenn der Held sich neu gestärkt vom Schlaf erhebt. Nun denke man sich jemand, der einem so gesprächsweise mitteilt: – sehen Sie, dort hinten geht die Sonne zur Rüste! – Ich, für meine Person, würde jedenfalls auf die weitere Unterhaltung mit diesem Menschen gern Verzicht leisten. Mit dem sprudelnden Naß der nächsten Quelle aber wäscht sich in Romanen der Held den letzten Rest des Schlummers aus den Augen und wandert gestärkt fürbaß. Wo aber gibt es in Berlin überhaupt eine Quelle. Die nächste ist bei Freiwalde oder in Blumenthal bei Strausberg – das sind gut und gern dreißig bis fünfunddreißig Kilometer. Tagelang kann man bei uns gehen, bis man auf eine Quelle trifft. Und dazu sind das auch noch sehr armselige Luder von Quellen. Und warum, zum Teufel, wandert unser Held dann immer fürbaß? Was heißt überhaupt: fürbaß? Was für ist, weiß ich aus der Grammatikstunde; was Baß ist, weiß ich aus der Gesangstunde ... was aber fürbaß ist, und warum es immer nur neben dem Wanderer herläuft und sonst nirgends anzutreffen ist, ist mir eigentlich bis heute nie so recht klar geworden.
Also mit den Romanen und dem Leben ist es, wie mit der Sonne und der Uhr. Der Roman ist eine Sache für sich – und das Leben ist eine Sache für sich.
Und deswegen legte sich also Fritz Eisner nicht unter den Busch am Wege, sondern plumpste in sein Bett. Und schlummerte dann nicht sogleich – wie Vorschrift im Roman – ein; sondern lag noch stundenlang mit geschlossenen Lidern, aber halbwach und delirierte, während es neben ihm schnarchte und blies, unkontrollierbaren Unsinn vor sich hin, der höchst beschämlich für ihn gewesen wäre, in jeder Hinsicht, wenn er sich seiner voll bewußt geworden wäre, oder, wenn er gar ihn hätte verlauten lassen, oder – gar nicht auszusinnen! – aus dem Wunschdasein ihn in die Wirklichkeit übertragen hätte; ... aber der wohl trotzdem seine ureigentliche Meinung über Dinge und Menschen besser zum Ausdruck brachte, als alles, was er in vollwachem Zustand über diese hätte sagen können. Und er schlief auch dann keineswegs ungewiegt. Und er erwachte auch nicht neugestärkt, sondern er riß sich aus einer tiefen Benommenheit empor, wie man es eben nach solch einer durchwachten, durchschwatzten, durchzechten Nacht – die Kommende Note, der Syndikus des Alphabets war, wie gesagt, als Mixer eine raffinierte Bestie gewesen – einer Nacht voll Erregungen nicht anders zu tun pflegt: mit einem faden Geschmack, mit wunden, gereizten Lidern, und zerschlagen zu dem, als hätte er auf einem Hackbrett gelegen. Und er stellte sogleich erstaunt fest, daß es zwar sehr hell, grau und licht, aber auch sehr still um ihn war, und daß das Bett neben ihm leer war, und daß der Korb mit Little Dorrit ebenfalls verschwunden war. Das einzige, was sich bemerkbar machte, war ein ganz leises Bienensummen von feinem Nähnadelregen, der an die Scheiben prickelte, und sich nur hin und wieder zu einem einzigen klatschenden Tropfen auf das Fensterblech entschloß ... war weiter von nebenan etwas Klappern von Geschirr und Klingen von Glas, das man wohl wegräumte, und das sich dabei aneinander rieb ... und waren darüber – beide beherrschend – von draußen, vielleicht von der offenen Loggia her, sehr eigentümliche ungegliederte und doch entfernt menschliche Laute, wie sie Little Dorrit behaglich vor sich hin zu blubbern beliebte, wenn sie satt war, nicht schlief, sondern um sich guckte, und an dieser Welt im einzelnen sehr wenig auszusetzen fand. Für die tieferen Zusammenhänge und ihre Unzulänglichkeit fehlte ihr noch der Überblick.
Und als all diese Laute nun langsam Fritz Eisner in eine trübe, graue, ärmliche Sonntagswirklichkeit hineingeworfen hatten, sah er keineswegs nach dem Stand der Sonne, sondern beugte sich, erschrocken, über seine Taschenuhr, die auf dem Nachttisch ziemlich lärmend pickerte. Und fuhr noch erschrockener zurück. Gewiß: um diese Zeit pflegten ja auch Leute den Kaffee zu trinken; – aber den Nachmittagskaffee. Und diese Erkenntnis ließ Fritz Eisner (denn irgendwie war er scheu, schweigsam, schämte sich leicht) tief die ganze Inferiorität seines Ichs empfinden. Und richtig, schon kam von drinnen Annchens Stimme, sehr munter und voll von freundlicher Überlegenheit«. »Na – du Faulpelz – endlich! Ich habe schon seit zehn Uhr geschuftet, wie ein Wilder, daß man wenigstens etwas Boden hereinkriegt ... und der Herr der Schöpfung ... « Annchen liebte solche Verbalinjurien, »anstatt mir ein wenig dabei zu helfen ...«, sie brachte diesen Satz nicht zu Ende, was auch keineswegs zu seinem Verständnis nötig war. »Wirklich – lieber zweimal abbrennen, ehe ich meine Wohnung noch mal zu so etwas hergebe! Und denke dir: auf die polierte Tischplatte haben sie die Gläser mit diesem Rattengift gestellt, das der Doktor Groß da zusammengebraut hat ... solche Flecken, wie reingebrannt! Und einer von den guten alten Römern von Onkel Sigmund ist auch wieder hin; – jetzt sind es nur noch zehn und das Muster kriegt man in ganz Berlin nicht nach.«
Fritz Eisner pflichtete von nebenan sehr kleinlaut bei, daß derartige Massenansammlungen in ihrer Wohnung recht überflüssig wären, und daß sie infolgedessen in Zukunft zu unterbleiben hätten. In Wahrheit aber fühlte er sich sehr beschämt (gegen halb vier). Denn so ist es nun mal: der Mann mag General, Direktor eines Bergwerkes, Oberingenieur, Bankkönig, Akademiemitglied, Universitätsprofessor, Chefarzt sein – zu Hause ist er, bleibt er eine Drohne und gilt als solche. Und wenn er noch eben eine Sternenbahn berechnete und einen Magen vernähte, die Fusion zweier bislang feindlicher Aktiengesellschaften startete – er mag sich noch so aufblasen –, er sinkt doch in die ganze Armseligkeit seines Nichts zurück, wenn ihm seine Frau den Kleiderschrank aufräumt oder das Geschirr wegstellt. Die ganze Überlegenheit der Frau rekrutiert sich daher, daß der Mann ohne sie mit zerrissenen Strümpfen ginge. Und selbst, wenn er das nicht täte, sondern sie zum Stopfen gäbe oder sich neue kaufte, es wird ihm so lange eingepeitscht, wie lächerlich und hilflos er ohne diese von ihr gestopften Strümpfe wäre, bis er es wirklich glaubt, und diesen gestopften Strumpf (der nebenbei bei ihr erst an achtzehnter Stelle kommt: hinter Blusen, Handschuhen, Hüten, Schürzen und so weiter), diesen gestopften Strumpf als ein unverdientes Göttergeschenk ansieht, und als das selbstlose Opfer eines schwergeprüften Wesens, das unbelohnt für uns sein Herzblut verspritzt, und sich uns zuliebe mit Dingen abgibt, die tief unter ihrer Würde und ihrem geistigen Niveau sind.
Aber plötzlich fiel Fritz Eisner der Brief von gestern abend – nein heute früh – ein. Und die Quecksilbersäule seines Selbstgefühls begann wieder bedeutend zu steigen. Erstens war Geschirrwegräumen Frauenarbeit, zweitens half ihr ja wohl Pauline dabei, oder sie half Pauline; was sollte er dann noch? Halb vier! – Seinetwegen konnte es halb fünf sein! – Jetzt hatte er Oberwasser.
»Weißt du auch, Annchen«, rief er herein, während er seine Sachen vom Stuhl zusammensuchte und vor freudiger Erregung mit den Unterbeinkleidern nicht zurechtkam – komische Sorte von Unterzeug, das zwei linke Beinlinge hatte! – »Weißt du auch, daß mein Roman angenommen ist?«
»Ach, denke mal an!« sagte Annchen ungläubig. »Aber er ist doch noch gar nicht fertig!«
Nein – fertig war er wirklich noch nicht. Es gab mindestens noch vier Monate Arbeit.
»Oh, wir werden eine ganze Menge Geld damit verdienen«, meinte Fritz Eisner freudig, und dachte gleich voll Schrecken, daß er schon Vorschuß drauf hatte.
Annchen war mit der Zeit in diesen Dingen so skeptisch und pessimistisch geworden, wie ihr Mann optimistisch war – er hatte immer irgendwelche Eisen im Feuer und rechnete stets im voraus mit großen Einnahmen von braunen und blauen Lappen, die sich später nie verwirklichten ... ohne daß er das besonders tragisch nahm. Er zitierte dann etwas von »In-Wüsten-fliehen« und »Nicht alle Blütenträume reiften« und schuf sich eine neue Hoffnung. Endlich blieben eben doch nur wieder immer die paar Goldstücke aus seinem Tagesfron bei der Zeitung. Man schob sich nur so von Woche zu Woche, von Monat zu Monat durch, und freute sich, wenn die Karre gerade noch so quietschend weiterhumpelte.
»Na, es ist ja jedenfalls sehr schön«, meinte Annchen begütigend, »daß wir jetzt damit nicht mehr so zu rechnen brauchen wegen Tante Trautchen. Ich glaube, gerade jetzt um halb vier wird sie eingebuddelt, das gute, alte Tierchen.«
Denn die Sache mit der Annahme einer halben Arbeit, von der kein Mensch wußte, auch sie nicht, wie sie weitergehen sollte, schien ihr doch sehr fragwürdig. Gewiß hatte ihr Mann da ein paar freundliche Phrasen und verklausulierte Wenns und Vielleichts falsch und allzu sicher gedeutet; denn Männer sind ja, was ihre Sachen anbelangt, genau wie die Kinder, die immer glauben, sie haben die Schokolade schon, wenn jemand ihnen sagt, daß er vielleicht das nächstemal ihnen welche mitbringen wird.
»Hier lies mal«, rief Fritz Eisner und warf als letztes Argument den Brief im Bogen durch die Türspalte. Er mißtraute der posthumen Güte von Tante Trautchen gründlich, aber wagte sich nicht mit der Sprache heraus, solange er keine Beweise hatte. Lieber wollte er in Hinterpommern in einer konservativen Versammlung eine sozialdemokratische Wahlrede halten, als hier seine Meinung verfechten.
»Du hör' mal«, rief Annchen nach einer kleinen Weile, »das ist aber sehr schön. Nun mußt du dich aber wirklich heransetzen. Jetzt hast du keine Ausrede mehr.« Und zu Pauline sagte sie: »Passen Sie nur auf, jetzt werden wir berühmt werden. Mein Mann hat nämlich den Roman verkauft. Ich hätte es ja noch nicht getan.«
»Ach ja«, meinte Pauline verschämt. »Ich lese auch immer den Roman jetzt in der Steglitzer Zeitung. Was das arme Mädchen alles auszustehen hat, wegen des Kind. Und nun denkt man immer, solche Gräfin hat das besser wie unsereiner ...«
Und zu Fritz Eisner rief Annchen wieder herein: »Ich würde aber sehen, daß ich mehr bekomme«, und auf die Loggia rief sie hinaus: »Dorrit, dein Vater schenkt dir jetzt einen Sportwagen!«
Denn das eine war nun einmal bei Annchen so: die Dinge blieben nie lange, wie sie waren. Unter ihren Händen steigerten oder verminderten sie sich zusehends. Und hier war etwas, das sich steigern konnte.
Fritz Eisner aber knöpfte sich gemächlich die Weste zu und hatte das Gefühl, daß er auf der ganzen Linie gesiegt hatte ... trotz halb vier.
Aber das Gefühl blieb ihm nicht lange. Gewiß – er hatte auf diese Arbeit gesetzt, sie vorbereitet, fundiert ... hatte bald sechs Jahre eigentlich nichts von Belang mehr geschrieben, seinen Boden ausgeruht dafür ... halb es als Not, halb aber auch es als Glück empfindend. Er war ganz in Tagesarbeit untergetaucht; und er war sich bewußt, daß dadurch seine eigene Arbeit nun runder und reifer wurde als das frühere ... farbiger ... und weiter im menschlichen Horizont. Das brauchte ihm niemand zu sagen oder zu attestieren. Aber gerade deshalb war es viel schwieriger, es unterzubringen. Täglich laufen hundert Romane in den Zeitungen, erschienen hundert Romane in den Büchereien, und den hundertersten da zu machen, das kann man ... oder man kann es nicht. Und wenn man es konnte, war man aufgenommen in die Literaturversorgungsgemeinschaft. Aber etwas machen, was all dem zuwiderlief, was nicht nach rechts und links sah, was die hundert anderen Romane gegen sich hatte, und damit hereinkommen; Leute finden, die darauf setzten – das war schon schwierig, und es gab wenig Blätter, die solche Versuche wagten. Und somit war es ein Glück, daß er für seinen Roman einen Unterschlupf gefunden hatte, bevor er eigentlich noch zu suchen begonnen. Aber selbst das bewies noch gar nichts ... konnte immer wieder ein Schlag ins Wasser sein ... Wer sagte, daß man gerade auf ihn gewartet hatte? ... denn auch das kam und ging wieder. Das einzige, was man sicher damit gewann, war die Möglichkeit, etwas ruhiger weiterzuarbeiten. Und dann, das war das peinlichste: wie viel hatte er denn bisher? Kaum mehr als ein Viertel des Ganzen. Und selbst wenn er jetzt nur einen vorzeitigen Abschluß machte – auf halbem Weg anhielt – auch das war kaum vor drei Monaten zu schaffen. Es war noch ein verdammtes Stück; und man konnte noch zehnmal vorher die Karre umwerfen und im Straßengraben der Alltäglichkeit enden. Denn das hatte Fritz Eisner schon herausbekommen: daß solch eine große Arbeit ein hartes und schwieriges Ding ist. Nicht allein die zehn, zwölf oder zwanzigtausend Zeilen, die die Feder dabei laufen muß – trotzdem auch die niemand mißachten soll, denn Tinte riecht schlecht und macht einem auf die Dauer übel – aber immer sich treubleiben ... nie den Motor leerlaufen lassen, Tag für Tag, Monat für Monat, jahrelang in sich die gleiche Grundstimmung durchhalten, sich in viele Ichs zerspalten, in jedem anders sein und dabei doch als Dominante sein eigenes Ich nie aufgeben, ja, sich seiner selbst überhaupt jetzt erst mal ganz bewußt sein ... keine Sekunde, keine Zeile, die Tonlage aus dem Ohr verlieren ... und doch jede Sekunde bereit sein, sie je nach innerer Notwendigkeit zu modulieren ... immer in einer erregenden Traumwelt leben, die man beherrschen will, und die uns nicht beherrschen darf, und die uns geradeso belauert, wie wir sie belauern ... jedes Teil auf die Wirkung zum Ganzen sehen und richtig einpassen, jeden Punkt ausmalen, bis man ihn für sich ganz allein, herausgeschält aus seiner Umgebung, betrachten kann ... und dabei doch genau fühlen, wann zu viel, wann genug – und nie darüber das Ganze (die Totalität!) vergessen ... Auf dem Papier hier stehen und im Kopf schon immer weiterbauen, so wie ein Arbeiter, der ein Gerüst aufschlägt, schon oben an die letzten Latten denken muß, wenn er ganz unten ein paar Balken verzapft ... immer wieder alles ausschalten bei den tausend Unterbrechungen des Alltags, bei den Umstellungen auf Tagesschreiberei ... es ins Unterbewußtsein hinabwerfen, da brodeln und garkochen lassen, und jede Minute es wieder herausziehen können, um dann daran weiterzubosseln, als ob man es nie, auch nur eine Sekunde, aus der Hand gelegt hat, niemand darf Gußnähte sehen ... Oh ... all das war schon eine schwere Quälerei, bei der man immer von neuem mutlos wurde, immer wieder die Zähne aufeinanderbiß und sich weiterpeitschte, eine Nervenspannung sondergleichen ... war keine Sache von heute auf morgen, die man berennen, stürmen konnte wie eine Schanze und dann Hurra! brüllen.
Und doch war es das einzige, das irgendeinen Sinn gab, das einen hielt, über das Nichts wegtäuschte. Ohne diese Quälerei – oh, dieses erregende Gefühl des Sichausblutens und Gestaltens! – wäre er kaputtgegangen. Er hätte gar nicht gewußt, was er sonst hätte tun sollen im Leben; denn das andere, das Leben selbst, war alles doch nur Surrogat, Ersatz, ein Spiel, das die anderen spielten und einen dabei zum Partner wollten. Und weil man ihnen dafür nun galt, glaubten sie, man mache wirklich mit. Auf der Gegenseite blieb aber immer wieder die ganze grausige Problematik des Berufes, den er gewählt hatte, weil er ihn gewählt hatte. Eine Klugheit jedoch besaß er – das wußte er –, besaß er bei aller Enge seines Geistes: Er hatte nie etwas unternommen bislang, was er nicht zu Ende geführt hatte, was nicht in seinem Wesen lag, was sein Acker nicht hergeben konnte. Er dachte manchmal, er wäre wie der Peter Montesgaard aus Rosmersholm deshalb Häuptling und Herr der Zukunft, der alles könne, was er wolle, weil er nie mehr wolle, als er könne.
Und auch jetzt war Fritz Eisner das bisher geglückt. Und er hatte viel gewagt (keine Schanze von Lyrik oder Novelle war es, die man einfach berennen konnte, stürmen, und dann Hurra! brüllen), nein, er wollte eine ganze breite Symphonie mit Andante und Allegro und Rondo verklungener Zeiten und verklungener Menschen geben, über denen die Grazie einer verwehten Kultur lag. Wie ein Nachtwandler hatte er bisher seinen Weg gemacht, langsam und Fuß vor Fuß, auf schmalem Brett über Abgründen. Aber nun war er doch heute plötzlich durch diesen fatalen Brief da angerufen worden, hatte die Augen aufgerissen und begann zu zittern vor dem Stück, das noch vor ihm lag, und vor allem dem, was er da übernommen hatte, so leichtfertig, als ob ein Kind ein Haus bauen will. – Gottja, jetzt mußte er schon einmal weiter. Aber das, dessen letzte Qual und letzter Reiz darin lag, daß es wie sinnlos und dabei doch im eigenen Willen geschah – darüber verfügten nun fremde Leute, nahmen ihm seine schöne Nutzlosigkeit. »Wann können wir auf den Schluß rechnen?« Sein Willen hatte ein Fenster bekommen, durch das man von außen hereinsehen konnte, gerade so, wie man bei Tierexperimenten das Objekt beobachtet.
Und mit dem Gefühl, daß er von jetzt an die nächsten Monate, Tag und Nacht ungeheuer, erdrückend viel zu tun hätte, und sich sofort also, wie im Kopfsprung vom Turmbrett, mitten in die Arbeit hineinstürzen müsse; und zugleich mit dem Gegengefühl, daß es herrlich wäre, diesen Moment des Sprunges möglichst lange hinauszuschieben ... er sah überhaupt nicht ein, warum er auch nur eine Zeile weiter schreiben sollte: er hatte doch jetzt den Befähigungsnachweis erbracht ... Er mußte an seine Rede damals draußen in Potsdam denken – er hatte sich nun ja am Start mit aufgestellt, im Wettlauf um das bißchen papierenen Zeitungsruhm und um den Trostpreis eines Nekrologs ... Und das sollte doch eigentlich genügen: ein vornehmer Mensch läuft nicht um die Wette ... ›der Graf stürzt nicht‹ ... so im Widerstreit der Empfindungen also, schlenderte Fritz Eisner behaglich aus dem Schlafzimmer in den Salon. Er erkannte zwar an, daß er unbedingt ungeheuer viel zu arbeiten hätte, aber er schämte sich keineswegs, es sich einzugestehen, daß er zum Arbeiten so viel Lust hätte, wie der Bär zum Tanzen. Seine Selbsteinschätzung und seine Sicherheit, Frau, Kind und Personal gegenüber hatte seit zwanzig Minuten bedeutend gewonnen. Er war keineswegs überheblich, aber er trug eine paschahafte Jovialität zur Schau. Wirklich, es war nett, wie die schon alles wieder in die Reihe gebracht hatten – ganz sauber ... kaum, daß in einer Ecke noch ein rotes oder gelbes Stäubchen von Konfetti sich an die Scheuerleiste geklemmt hatte. Der bronzegoldene Kaiser mit den stolzen Schnurrbartspitzen war längst an den Ort seiner Herkunft, allwo man ihm auch mehr Verständnis entgegenbrachte, zurückgekehrt. Und die lauten Mampe-Plakate hatten die stillen Liebermanns wieder freigegeben. Die violetten und grünen Girlanden lagen schon zusammengeschoben – ein Nichts von Seidenpapier – in einer Ecke des Büfetts, einträchtig neben dem Dutzend unscheinbaren Halbkreisen der gefalteten Lampions.
Nur all die grünen und blühenden Zweige, die an den Türen gesteckt hatten und an den Kronen gehangen hatten, waren nun in Töpfe und Vasen gekommen, hatten sich neu emporgerichtet, waren große und grüne und farbige Stichflammen auf Tischen, Regalen und Schränken und auf dem Büfett in den blauweißen Chinafluiten geworden. (Wirklich, man konnte sie auf den ersten Blick für schön und alt halten, diese Pötts ... was einem leider beim zweiten nur mit großer Nachsicht gelang.) Aber immerhin – sie hatten Stil und erfüllten ihren Zweck; besonders, wenn, wie bei ihren edlen Ahnen, blühende Kirschzweige und Forsythien wieder einmal aus ihrer Rundung wuchsen. Und die Rosen von ihm und Lucie waren auch geblieben. Sie standen oder richtiger lagen in einer roten Glasschale auf dem Tischchen im Salon und begannen zu streuen, hatten ein gut Teil ihrer Blätter, gekrümmt wie rosige Muscheln, auf die polierte Tischfläche geworfen, ... ihr Silberband war gerissen ...
»Reißt über Nacht mein Silberband, so streu' ich all mein Gold wohl in den Sand«, wie das Omar Chajjam, der Mann aus dem Rosenlande schon wußte, dachte Fritz Eisner. Und dann überlegte er sich, während er behaglich mit den abgefallenen Rosenblättern spielte, ob er Annchen mitteilen solle, was er über die Rosen Lucies wußte, welchen Weg sie gemacht hatten, bevor sie zu ihr gekommen waren. Aber die Erfahrung hatte ihn gewitzigt, daß es falsch war, irgendwelche Dinge, die zu Gerüchten Anlaß geben konnten, Annchen anzuvertrauen. Es kam noch im besten Fall ein sehr peinlicher Briefwechsel dabei heraus, der nur selten das Zerwürfnis aufhielt; auch wenn Annchen unter Tränen versicherte, daß sie gar nicht das, sondern etwas ganz anderes gesagt hätte. Und Fritz Eisner beschloß deshalb (während er weiterschlenderte), es für sich zu behalten. Doktor Spanier war ein prächtiger Kerl und Lucie war, wie sie war, und hatte gewiß trotzdem als Frau und Mensch ihre Meriten. Schönheit und gar absonderliche Schönheit ist schon immer Verdienst und fällt niemand ganz umsonst zu, gerade so wie jeder Erfolg im Leben.
Nein, eigentlich gefiel ihm die Wohnung so in ihrem stillen, silbernen Licht von dem ganz zarten Regentag da draußen – solchem, bei dem man nicht wußte, ob man denn einen Schirm aufspannen sollte oder nicht – mit seinem Himmel, der wie aus grauen langen Seidenstreifen quer aneinandergenäht war, und ganz und weit hineinblickt, viel besser als gestern in ihrer Maskerade. Es war wirklich hell und still hier oben. Vorhänge waren nur angedeutet mit schmalen roten oder goldfarbigen Leinenbahnen. Man war doch nicht der tote Lenbach, der in ewiger Dämmerung zwischen kirschroten Sammetdraperien dahingelebt hatte.
Und Fritz Eisners Wohlgefallen an sich und seiner Wohnung erhöhte sich noch, als er entdeckte, daß eine ganze Schachtel mit Zigaretten (und sogar die besseren, mit Mundstück) sich vorfand, die Pauline für ihn eigens, wie sie eingestand, unterschlagen und nicht mit aufgestellt hatte. »Ich dachte, wozu brauchen die allens haben!« Und es steigerte sich weiter, da eine Bestandsaufnahme der Reste von gestern sich als über Erwarten zufriedenstellend ergab. Und so beschloß Fritz Eisner, Annchen und Pauline bei den letzten Handgriffen zur Wiederherstellung des Status quo ante freundlich mit einigen guten Ratschlägen zur Hand zu gehen ... während er über der Basis einiger kalter Eier, Schinken, Gemüsesalat, mit viel Heringswaren, ein nachträgliches und provisorisches Mittagessen fachmännisch zusammenstellte, und sich freudig überzeugte, daß die Kaffeemaschine so weit fertig sei, und nur noch die Spiritusflamme entzündet werden mußte. Und mit all diesen Dingen auf einem Tablett nebst dem Sonntagsblatt – denn er mußte doch sehen, ob der Artikel von ihm wieder so gekürzt war und so mit Druckfehlern gewürzt worden war ... und mit einem Buch zum Schmökern ... zog er also vorsichtig, und ermunternde Worte Annchen und Pauline zuwerfend, auf die Loggia hinaus, zu Little Dorrit, mit der er gleichfalls ein kleines Zwiegespräch zu halten beabsichtigte. Und er stellte sogar das Tischtelephon in das geöffnete Fenster, damit er, von der Loggia aus, ohne sich zu erheben, Mitteilungen der Außenwelt geben oder entgegennehmen könne. Denn um diese Zeit, gerade dann, wenn man sich sonst eine halbe Stunde aufs Ohr legte, pflegte das Telephon, diese Erfindung des Teufels, die natürlich notwendiger ist, als die des lieben Gottes und auch brauchbarer, meist ganz und gar tobsüchtig zu werden.
Draußen, hinter den Baumkronen der Ulmen, die seit gestern grüner wieder geworden waren – ihre Korallen der Früchte stäubten sie schon ab, wollten nichts mehr von ihnen wissen, dachten nur noch an die Blätter, wie sie recht viel bekommen und sich recht dicht darin hüllten – lag das weite Land mit seinen Linien der Lindenwege, mit seinen fernen Häuserblocks, mit seinen Sammetfeldern und mit einem paar Dutzend Obstbäumen, wie aus Zuckerkant, und mit dem bläulichen Abschluß des Grunewalds in der Ferne. Alles unter dem taftgrauen, ganz still und leise vor sich hinweinenden Kuppelhorizont von Himmel ... Aber man sah schon die Stelle, wo die Sonne durchbrechen wollte, um seine Tränen zu trocknen. Es war wie auf der Bühne, da die Braut zwar noch weint, aber man schon die leinene Tür schwanken sieht, durch die der jugendliche Held und erste Liebhaber gleich in seiner ganzen theaterhaften Unwiderstehlichkeit hineinstürmen wird.
Das war sehr schön, hier oben zu sitzen. Das Auge konnte wandern und fand keine Widerstände, kein Ende; und die Gedanken, die keine Gedanken waren, konnten das ebenso. Man hatte zum Schluß eigentlich nichts fest gedacht, wenn man so vor sich hinstarrte, und war doch reicher geworden. Und dann blieb es sich nie gleich. Immer spielte der Himmel andere Lieder auf seinen Harfensaiten von Licht; jetzt war er noch süß, weich und melancholisch, chanson triste von Tschaikowski; aber schon in einer halben Stunde konnte er Mozart sein. »Ein Veilchen auf der Wiese stand« ... oder Beethoven »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre!«
Unten auf der Straße fuhren in scharfer Pace – das war jetzt Mode, jeder wollte ein kleiner Robl sein und war nur zufällig kein Rennfahrer von Beruf – mit lustigem Klingeltrillern einzeln, paar- und klubweise die Radler. Und da sie alle schon müde, verregnet, bespritzt und tief enttäuscht aus Werder kamen, so hatten sie wenigstens hohe Blütenzweige an die Lenkstangen gebunden, oder, die das nicht mal hatten, hatten doch als Zeichen ihrer Herkunft an einer grünen Schnur eine Flasche mit gemein-gefährlichem Fruchtwein übergeschnallt, die, wenn man von oben auf sie hinuntersah, taktmäßig mit den Tritten auf ihrem Rücken mithüpfte. Die meisten aber hatten beides. Von der breiten Asphaltstraße aber drüben kam Hufschlag, Gummiquietschen und die wilden Hupesignale der Autos, die das gleiche Ziel hinter sich hatten, und nun eiligst heimstrebten, um sich in Berlin für die Strapazen des Vergnügens schadlos zu halten.
Oh, da hatte Paula gestern nacht, wie sie sich auf die Blumenkästen gestützt hatte, doch die jungen Kressen geknickt. Sie sind so spröde, sie brechen wie Glas. Das heißt, welche würden sich vielleicht wieder erheben. Aber sie hingen noch ganz matt mit den schiefen resedegrünen Scheibchen ihrer Blätter. Da müsse man nochmal nachlegen. Schade, auf die hatte man sich so gefreut. Sie haben nachher so ein wildes, saftiges Leuchten, rot, rotgelb oder feuerlilienfarben. Gottlob, daß Paula in ihrem Schmerz nicht alle ausgerottet hat. Ob denn das nun wirklich so war, daß sie auseinandergingen?! Jedenfalls sprach Paula eher zu wenig als zu viel. Wie so Menschen heranwachsen! Als Fritz Eisner fünfzehn Jahre war, war sie fünf. Und sie war eigentlich nie älter geworden, für ihn. Sie war fünf Jahre, als sie heiratete, und sie ist heute noch fünf Jahre, da sich ihr Mann von ihr trennt. Warum nur immer Kinder mit so lebensentscheidenden und lebensgefährlichen Dingen spielen? Wenn die Erwachsenen vernünftig wären, sollten sie sie gar nicht da heranlassen. »Messer, Gabel, Schere, Licht – sind für kleine Kinder nicht!«, diese Liste müßte erweitert werden.
Merkwürdig, der Salzstreuer war immer noch fest verklebt, gab nichts her für die Eier, trotz dieses Metallkolbens, den er da endlich nach Jahr und Tag gekauft hatte. Aber eigentlich konnte man von jenem in absentia auch noch keine Wirkung verlangen. »Höre mal, Annchen, da habe ich doch gestern diese Dinger für den Salzstreuer gekauft. Kann ich die mal bekommen?«
»Ich habe keine gesehen«, kam es drin aus der Erregung hoher Geschäftigkeit heraus. Und keineswegs gerade in dem Ton gesellschaftlicher Konversation, sondern eher in dem, der in den Zwiegesprächen der Familienmitglieder üblich ist.
»Aber Kindchen, ich habe sie doch Sonnabend mitgebracht. Du sagtest noch ...«
»Mir hast du sie jedenfalls nicht gezeigt«, kam es wieder aus dem Rembrandtlicht des Eßzimmers mit seinem feierlichen Eichenwald. »Pauline haben Sie vielleicht was gefunden? Oder weggeworfen?« Pauline schien ob dieses Verdachts in ihrer Ehre gekränkt und meinte, daß ihr so etwas noch keine Herrschaft geboten hätte. Was sie mit ›so etwas‹ sagen wollte, kommentierte sie aber nicht weiter. Und Annchen knickte sofort zusammen und rief vorwurfsvoll: »Siehst du?!«
»Nun schön«, meinte Fritz Eisner beschwichtigend (natürlich war er wieder mal ein ganz erbärmlicher Kerl gewesen – ekelhaft und brutal), »dann werden sie sich morgen finden, oder man wird neue kaufen.«
»Ach, Pauline«, hörte man aus der Dämmerung des Eichenwaldes in jener klaren Betonung, aus der hervorging, daß nun endlich das Thema gewechselt werden müßte – »bitte reichen Sie mir mal ganz vorsichtig die Mokkatassen zu!« (Braucht noch gesagt zu werden, daß jene niemals gefunden und nie wieder gekauft wurden?! Das heißt, auch das ist nicht richtig: sie fanden sich doch beim Umzug nach drei Jahren und wurden weggeworfen.)
Fritz Eisner versenkte sich kopfschüttelnd über die nervenzerrüttende Absonderlichkeit des kleinen Lebens in die Nachrichten der Zeitung. Also den Russen ging es unleugbar im Augenblick sehr übel. Jetzt gab man es schon offen zu, wußte aber nicht recht, wie man sich dazu stellen sollte. Denn Rußland war eine befreundete Macht, und die Würfel des Krieges konnten schon bald wieder auf die andere Seite fallen. Und dann wurde es schlimm vermerkt, wenn man etwa sich nach der einen Seite zu weit engagiert hatte. Immerhin: man klopfte den Japanern etwas auf die Schulter, nannte sie Wunder an Mut, Vaterlandsliebe, menschliche Präzisionsmaschinen von Soldaten. Das hatten sie aber von uns, von den Preußen gelernt ... Trotzdem fühlte man sich doch als Europäer etwas beschämt; denn was sollte werden ... denn was sollte vielleicht werden, wenn einmal die Zeit käme, da der kleine schlitzäugige Asiat in uns nicht mehr den überlegenen Mörder sah, und etwa China, den Koloß, gegen den Mann des Westens auf die Beine stellte. Sie hatten nun gelernt, daß der weiße Mann ebenso umfiel, wenn ihn eine Granate durchlöcherte, wie jeder andere, und der Nimbus des Höheren, der göttlichen Unverletzlichkeit des Weißen war im ganzen, fernen Osten im Verklingen. Das war zweifelsohne – kam es wie es mag – eine zweischneidige Sache. Selbst der beliebte Leitartikler erster Garnitur vom Sonntag sah das. Und meinte, es wäre besser gewesen, wenn im Interesse des Übergewichts der europäischen Kultur Rußland diesen Krieg vermieden hätte. Worin ihm durchaus vorbehaltlos zuzustimmen war. Nur begriff man nicht, warum der Leitartikler nicht weiter ging und diese Maxime auf jeden Krieg überhaupt ausdehnte. Die Sezession wurde also doch mit einem Kaiserhoch eröffnet, trotz der offen angesagten Fehde ... Und als Bebel bei der Maifeier im Friedrichshain auf das politische Gebiet kam, mußten die Frauen den Saal verlassen, damit ihr seit Urzeiten vegetatives Gemüt nicht verwirrt würde ... mulier taceat in ecclesia ... hier in politicis durfte sie nicht mal hören ... Letzte Nachrichten! – Oh, was war das nur? Der Dichter und Bohemien Peter Hille wurde unweit des Bahnhofs Zehlendorf blutüberströmt und bewußtlos unter einer Bank liegend aufgefunden ... Ob er infolge eines plötzlich einsetzenden Lungenödems von der Bank gestürzt ist und sich so die Verwundungen zugezogen hat, oder, ob sie von einem Überfall herrühren, konnte noch nicht festgestellt werden, da der verunglückte Dichter (mit einem Mal ist er für diese Hunde ein Dichter; früher hat es niemand gesehen oder wahr haben wollen) das Bewußtsein noch nicht wieder erlangt hat ... ein Auge scheint verloren, doch hofft man das andere ... Zustand ernste Bedenken ... vor allem, da auch die durch jahrzehntelange Entbehrungen geschwächte Konstitution des Fünfzigjährigen ... wir werden weiter ... und so fort ...
Fritz Eisner hatte das Blatt sinken lassen. Oh, jetzt war es ja draußen ganz hell geworden. Die Erde und alle Bäume in ihrem jungen Laub lachten und weinten zugleich. Und der Himmel war von jenem abgeregneten Blau wie sonst an der See. Nur eine Wolke war noch da. Aber sie hatte sich gerade vor die Sonne gestellt. (Denn wenn auch nur eine Wolke am Himmel ist, stellt sie sich immer gerade vor die Sonne.) Und deshalb war die mit all ihren barocken Wülsten und Schweifungen von einer Goldkante umzogen.
Das kann gestern gerade also um die gleiche Zeit gewesen sein, wie wir über Peter Hille sprachen. Und plötzlich sah Fritz Eisner ihn vor sich mit seinem braunen weichen Bart mit der blassen, wie phosphoreszierenden Stirn und den glutenden Augen, die nach außen leuchteten und nach innen blickten. Er war oft mit ihm und anderen zusammen gewesen. Aber all das war ihm eigentlich eindruckslos verflogen ... Geblieben war eines, unauslöschlich: einmal, auf einem Ausflug in Klein-Machnow, gegen Abend schon, er ging auf dem nassen Rasen zwischen den Tischreihen in langen Schritten, hatte den alten, schon grünlichen Havelock fest um den hageren Leib gezogen, so wie er es gewiß gewohnt war, wenn er in ihm schlief. Und plötzlich begann Peter Hille zu sprechen. Man hatte ihn wohl gebeten, es zu tun. Erst schien es komisch, diese zagen Worte in dem fast lächerlichen harten, gaumigen Westfalenton; – aber bald achtete man darauf nicht mehr, empfand auch nicht mehr die Armseligkeit und Weltabgewandtheit des Sprechers, wurde ganz verstrickt und gefangen von jenem wundervollen Gewebe klingender Bilder, die aus ihm wie silberne Blasen in einer Kristallschale emporstiegen. Und dieses angstvolle Staunen wurde stärker und stärker, je länger er sprach, legte sich gleichsam wie ein Nebel um alle. Es wurde zu einem seltsamen und seltenen Hauch, der auch die Einfachsten und Rohesten streifte. Dieser arme Lazarus da, bleich und abgehungert, ungepflegt und abgeschabt ... dieser halb lächerliche, halb fanatische Vagabund war mehr als sie ... war größer als sie, war reiner als sie, war abgründiger als sie. Und der Augenblick, den sie jetzt erlebten, umschloß vielleicht einen jener wenigen Glückszufälle, die einem beschieden sind, in dieser unausdenkbaren Trivialität des Menschendaseins, einen jener Augenblicke, wie er unter Tausenden kaum Zehn trifft, da nämlich einer der Großen und Gesegneten dieser Erde sich herab läßt, das Wort an uns zu richten.
Und so etwas liegt nun, blutig und bewußtlos, nur noch ein fliehendes bißchen Leben, ein flatternder Herztakt, mit zerschlagenem Kopf und leerer, stierender Augenhöhle in den weißen Kissen eines Krankenhausbettes. Er muß doch jetzt mit seinem wirren Haar und seinem weiten, weichen Flatterbart, einäugig, eigentlich so aussehen, wie man sich Odin vorstellt.
Ja, gewiß – vor noch nicht zwei Wochen hatte Fritz Eisner (das fiel ihm jetzt erst ein) ja Peter Hille hier draußen noch auf der Straßenbahn getroffen. Er sah sogar beinahe gepflegt aus gegen sonst. Sie konnten nur ein paar Worte sprechen, denn es war vor seinem Hause fast, da jener einstieg: – was er mache? was er trieb? ob man mal etwas Neues von ihm lesen könne? Oder es abschreiben lassen könne? – O ja, er hatte gerade jetzt ein Stück beendet: »Williams Abendröte, die letzten Tage Shakespeares«. Ob er Zeitstudien wie zum »Sohn des Platonikers« gemacht hätte – Nein, nein, das hätte er kaum dazu gebraucht, denn es wäre nicht eigentlich historisch.
Der Goldrand stand immer noch um die Wolke, die die Sonne verbarg, etwas vorzeitig verbarg. Williams Abendröte ...
Fritz Eisner legte das Blatt fort. Little Dorrit, die eine kleine Weile eingeschlummert war ... man hört dann ein Kind gar nicht; wir liegen im Schlaf, treiben im Schlaf, rudern, schwimmen in den Wogen des Schlummers, solch Kind treibt auf dem Schlaf, leicht wie eine Schaumflocke, schwebt über ihn hin, wie mit weißen, lautlos gleitenden Mövenflügeln ... L. D. hatte sich wieder ermuntert und schielte erstaunt nach einer blanken Klapper, die am Himmel ihres Körbchens hing.
Und für Little Dorrit hatte diese Klapper sehr erfreuliche Eigenschaften. Sie hing da oben und war blank – einfach schön-blank und blitzte nur so. Wenn sie aber von irgendeiner Hand durch einen leichten Stoß in Bewegung gesetzt wurde, dann sang sie sehr lieblich und nachdenklich vor sich hin, wie ein hübsches Kind auf einer Schaukel, das sich ganz leise wippt. Und, wenn die Hand sie tüchtig rüttelte, dann jedoch schrie die Klapper ganz böse, wie ein alter Mann, der nach seinem Frühstück ruft. Aber es kam auch, daß man sie runternahm und L. D. gab, wenn sie im Körbchen aufrecht saß und nach ihr hampelte. Und dann konnte L. D. sogar selbst mit ihr klingeln. Das war ja ganz nett. Aber doch lange nicht so schön war es, wie wenn sie die in den Mund steckte. Dann war nämlich das eine Ende zwar – buh-kalt und sauer; aber das andere Ende dafür gerade angenehm kühl. Und man konnte an ihm lutschen und herumbeißen, als ob man schon den Mund voller Zähne hätte. Und dabei wollte man doch erst welche kriegen. Aber am schönsten war immerhin, daß man die Klapper wupp! – im Bogen zum Korb herauswerfen konnte. Dann war sie fort, ausgelöscht, verzaubert, aus der Welt eliminiert, ins Jenseits versunken. Und wenn man dann recht brüllte, kam einer von jenen, die bei L. D. in Dienst waren, der Mann oder die Frau oder die Aufseherin über diese beiden, und brachte die Klapper wieder aus dem Nichts in die Welt des Bestehens zurück, und gab sie L. D. von neuem in die Hand, drückte ihre Finger um den Stiel und lachte dabei. Und die Hilflosigkeit in den großen dummen Gesichtern war so komisch, daß L. D. auch lachen mußte und, um sie nochmal zu sehen, die Klapper, kurz entschlossen, kreischend wieder im Bogen zum Körbchen hinausfeuerte, und dann von neuem zu brüllen anfing ... bis jener tauchte und sie wieder holte. Und das ging so zwanzig, dreißig, vierzigmal, bis alle davon müde waren, nur L. D. nicht, die durchaus nicht einsah, warum das etwa weniger unvernünftig sein sollte, wie all das, was diese Leute taten, zum Beispiel, daß das Wesen mit der Bürste im Gesicht immer mit einem Stock auf Papier kratzte, solange bis es allen leid war, nur ihm nicht.
Und nachdem jetzt L. D. eine Weile nach der Klapper geschielt hatte – sie war eine altmodische, silberne, mit einem Elfenbeinstiel und diente nun schon der dritten Generation des Hauses Eisner – setzte sie sich allein – das aber war eine stolze Errungenschaft der letzten Woche – im Körbchen auf und versuchte, lachend und kakelnd, nach ihr zu hampeln. Aber, als sie sie nicht erreichen konnte, begann allgemach die Schale der Lustgefühle zu entschweben, und die Schale der Unlustgefühle sich zu senken, und Little Dorrit zog eine bedenkliche Schippe, daß der niedliche Mund zu einem viereckigen und schwarzen Loch in dem kleinen Gesicht wurde. Doch, als auch das nichts nützte, und diesen Mann da keineswegs zu seinen Vaterpflichten rief, setzte L. D. mit einem wilden und wütenden Gebrüll ein, das Fritz Eisner, der die ganze Zeit fern ab in seinen Gedanken das kleine rosige Stück Leben angestarrt hatte, endlich aufschreckte.
Er war indessen mit seinen Gedanken weiter gewandert: Der arme Peter Hille! Wie nah doch Sein und Nichtsein, ins Lebengleiten und dem Leben-Entgleiten beieinander liegt! Er hatte die Geburt Little Dorrits wieder durchgemacht, bei der durch einen unglückseligen Zufall er und die Wärterin allein dabei waren – der Arzt war gerade fortgerufen worden – und bei der es auf des Messers Schneide stand, daß Mutter wie Kind den Weg verfehlten ... Er hatte wieder diese Vision von Blut und Schleim und Todesschweiß und Qualen und Zuckungen, und aus all dem endlich ein nur noch leise röchelndes, verschmiertes grünliches Etwas, das er rütteln und schütteln mußte, während die Wärterin ratlos um die ganz erschöpfte, in Schmerzen und Blut aufgelöste, zitternde, fast erlöschende Frau flog. Und der panische Schrecken hierüber, das tiefe Staunen und das starre Grausen über diesen, ihm noch unbekannten, ersten Dornenweg des Lebens mit seinen Krämpfen und seinem Todeshämmern ... bis so ein Mensch sich aus dem Mutterschoß windet, bis Leben sich, kämpfend und todesnah, von Leben trennt ... gerade so, wie ein Bildhauer zuerst die Form zerschlagen muß ... das war ihm, als eine neue und von nun an unverlierbare Wahrheit von dieser Stunde her nahe geblieben, lag jetzt in ihm, und tauchte immer wieder in ihm empor; für alle Zukunft war etwas davon in seinen Knochen. Es schien ihm so unglaubwürdig, daß das wirklich auf dem Grund alles Menschenseins liegen sollte, daß manchmal, wenn er jetzt durch das Gewühl der Straßen ging, er sich plötzlich fragen mußte, ob wahrhaftig all die vielen Hunderte und Tausende und Millionen da über den gleichen, grauenvollen, todesnahen Weg der Schmerzen in das Leben hineingepeitscht worden wären. Es war ihm, als ob er erst jetzt etwas verstanden hätte, was er bisher nur halb gewußt, ja kaum geahnt hatte. Mädchen waren ihm durch die Hände geglitten, wie jedem, der dreißig Jahre Großstadtpflaster tritt. Sie hatten sich flüchtig gefunden, hastig oder schwer gelöst. Aber weder ihm, noch jenen, war dabei die Ahnung gekommen, über welche grausigen, blumenverdeckten Untiefen die Schmetterlinge ihrer Liebe eigentlich dahingeflattert waren, wie sie um Leben und Tod dabei gewürfelt hatten. Und auch jetzt würde er es jede Sekunde wieder vergessen, das wußte er, wenn sie mit dem bunten Spiel ihrer Flügel von neuem beginnen würden.
Aber Little Dorrit war durchaus nicht gewillt, daß Fritz Eisner sich weiter solchen Gedanken hingab, und ihre gesamten Energien drängten lärmend auf den einen Punkt hin, der sich Klapper nannte, und schön-blitzend, aber ihr unerreichbar war. Und sie gab dem sehr zornig Ausdruck. Und da sie von den beiden hier der Stärkere war – denn das Kind kann brüllen, wenn es etwas haben will, wenn es etwas nicht bekommt, der Mann muß schweigen – so blieb Fritz Eisner nichts übrig, als die Schalter seiner Gedanken umzuknipsen, und die Klapper vorsichtig vom Verdeck des Körbchens mit plumpen Fingern loszunesteln. Und schon diese halb-vergebliche Manipulation verfolgte L. D. mit lächelnder Befriedigung. Die Schale der Lustgefühle sank sehr schnell wieder in ihr.
Und kaum hatte L. D. die Klapper in der Hand, und sie dreimal hin und hergeschwungen, so warf sie sie im Bogen zum Körbchen hinaus, als ob das so verabredet und vereinbart wäre. Aber plötzlich geschah etwas Ungeheuerliches in ihr, eine Erleuchtung kam über sie, etwas, das für sie gleich groß war, wie der Gedanke, den Archimedes bei einem schwimmenden Holzstück faßte ... der Kant durchzuckte, als er jenseits aller Dinglichkeit in seinem Hirn das Ding-an-sich aufblitzen sah ... als Kolumbus meinte, man müßte auch von der anderen Seite her nach Indien kommen – ein erster Schluß, der ihr ganzes, bisheriges Seelenleben wie mit einem Ruck umstellte: Bisher war die Klapper fort, wenn L. D. sie hinauswarf, hinausgeworfen hatte. Nicht mehr da, futsch. Wie weit das eine mit dem anderen zusammenhing, war ungeklärt, und stand auch nicht zur Diskussion. Und selbst, wenn es das getan hätte, so war damit doch keineswegs etwa gefragt, wo die Klapper denn nun dann wäre, wenn sie nicht da wäre?! Genug, daß sie wieder kam, wenn man danach brüllte, von der Bedienung angebracht wurde; oder auch nicht wieder kam und, sehr schnell vergessen, ins Jenseits, ins Unbestehende und Ungeborene hinabtauchte ... aber jetzt hatte sich plötzlich in L. D.s Kopf etwas ganz Neues vollzogen. Es war ihr, als ob eine Wolkenwand zerriß, mit einem Schlag etwas Unerhörtes klar geworden: Daß nämlich zwischen diesem, ihrem Wegwerfen und dem Verschwinden der Klapper Beziehungen irgendwelcher Art beständen; und daß ferner die Klapper doch noch wo sein müsse, auch wenn sie nicht da war! Und, da sie nicht im Körbchen war, müßte sie außerhalb des Körbchens sein. Und da sie nicht oben am Himmel, am Verdeck war, müßte sie unten sein. Und da müßte man sie wieder holen oder zumindest ihre Anwesenheit feststellen, um dem Bedienten einen Wink zu geben.
Und so beugte sich Little Dorrit erst rechts aus dem Körbchen, und dann, als sie die Klapper nicht sah, links aus dem Körbchen über den Rand fort ganz still und suchte sehr geschäftig und angestrengt. Und als sie sie entdeckt hatte, neben dem Tischfuß, brachte sie laut und wortreich, in hohen Quietschtönen ihre Befriedigung darüber zum Ausdruck, die sicher ähnlich lautete, wie jenes archimedische Heureka! und nur aus Unkenntnis ihrer primitiven und ungegliederten Sprache von Fritz Eisner nicht wörtlich verstanden, sondern lediglich inhaltlich erfühlt wurde.
In dem Augenblick, da der Mensch den Daumen den anderen Fingern gegenüberstellte, begann die menschliche Kultur, sagen die Prähistoriker. Wann das war, wissen wir nicht, dachte Fritz Eisner. Und hier, in diesem Augenblick, löst sich also L. D.s Seele von dem Reinanimalischen, tritt in den Bannkreis des menschlichen Gedankens. Aber Little Dorrit war selbst über diese neue Errungenschaft, diese Erweiterung ihres Repertoires am meisten erstaunt; und wie ein Sextaner die Fälle von mensa immer wieder hersagt, auch wenn er sie kann, gleichsam, um sich zu überzeugen, ob sie auch festsitzen, und aus Stolz darüber, daß er jetzt Latein lernt, so warf sie sofort die Klapper von neuem hinaus, und beugte sich über den Rand des Körbchens, um ihren Verbleib festzustellen. Und zwar gab sie sich dieses Mal gar nicht damit ab, auf der falschen Seite zu suchen; und entdeckte sie auch alsogleich.
Fritz Eisner winkte geheimnistuerisch Annchen herbei, um ihr dieses neue Wunder zu weisen, und beide einigten sich alsbald, aber wortreich dahin, daß L. D. – so nannten sie sie der Kürze wegen – das klügste Kind wäre, das sie je gesehen hätten. Andere – vor allem die der Konkurrenz, zum Beispiel Hansheinz Gumpert – legten gewiß nicht unter einem Jahr solche vielversprechenden Intelligenzproben ab. Eine Behauptung, die nur bei Eltern, und da auch nur bei ihren eigenen Kindern, und weiter außerdem auch nur bei dem ersten Kind Glauben finden wird. Aber Annchen sagte, daß sie das gar nicht wundernähme; sie hätte auch geistig eine so ungewöhnliche Frühreife gezeigt und mit acht Monaten schon schwierige Worte wie »heiß« und »Nachtjacke« gesprochen – »wenn du es nicht glaubst, frage doch meine Mutter!« – während Hannchen ein Dummerchen gewesen wäre und noch mit zwei Jahren zu allen Dingen Bubu gesagt hätte ... was ja nach der Betonung Flasche, wie Töpfchen, wie Puppe bedeuten sollte.
Und damit verließ Annchen wieder die Loggia und sagte noch in der Tür, daß sie auch eine tiefe Sehnsucht hätte, sich ruhig einmal am Nachmittag – wenn auch nur ein halbes Stündchen – mit einem guten Buch herauszusetzen; aber sie hätte leider nie eine Sekunde mehr Zeit, »das nächste Mal komme ich auch als Mann zur Welt«. Diesen Augenblick hatte sich aber gerade das Telephon, das im offenen Fenster stand, ausgesucht, um loszuklingeln, und Annchen ergriff den Hörer.
»Ach, Tag, Hannchen«, rief sie ... »gut bekommen gestern? ... Wirklich sehr nett gewesen ... Gott ja, weißt du ... Ach – denke mal ... aber sie sah doch entzückend aus, fand ich ... ich jedenfalls konnte sie nur immerfort ansehen ... So, so ... also doch! ... Sehr ordinär ... aber weißt du, solche Frauen gefallen den Männern immer. Meinst du, ich könnte mir keine Löckchen drehen und so mit den Augen machen ... Nein Fräulein, ich bin noch nicht fertig ... Diese Person ...«
Man muß zugeben, es waren eine ganz gehörige Anzahl von Menschen gestern dagewesen und möglich, daß dieser oder jener jetzt vergessen wurde, dafür bekam aber ein anderer desto mehr ab, so daß es sich zum Schluß gleich blieb. Und es wird, wenn man so den Querschnitt nimmt, doch zweiundeinhalb bis drei Minuten auf jeden gekommen sein. Die Sonne kam indes langsam am unteren Rand der schönen goldgerahmten Wolke hervor, blinzelte eine beträchtliche Weile mit schon rötlichen, langen, schrägen Strahlen über das ergrünende Wipfelmeer der Ulmen und bohrte sich allgemach in eine zweite Wolke dadrunter, die sich plötzlich angefunden hatte, begann auch sie in Gold-, Kupfer-, Purpur- und Zimmetberge zu verwandeln ... und Annchen und Hannchen sprachen immer noch. »Nein – Fräulein, ich bin nicht fertig!« ... während L. D. wie ein Kanarienvogel, wenn Klavier gespielt wird, vergnügt vor sich hinzwitscherte.
Fritz Eisner hörte nur noch halb hin, während er schmeckerisch und langsam in seinem Buch herumstocherte: Die jungen Männer in Wien waren doch charmante Menschen, plauschten so nett miteinander, gescheit und nachdenksam, und waren dabei immer nur erwachsene Gymnasiasten. Ihr Dasein hatte angenehme large Linien. Man ging vom Sacher ins Ronacher, und von da zur Jause in die Cottage, machte Ausflüge, machte Wagenfahrten in den Prater, reiste schnell mal, wenn Seelenkonflikte drohten, zum Abreagieren auf den Semmering oder nach Lugano ... liebte und ließ sich lieben von Frauen und Mädchen, die – ganz gleich welchen Standes – weich waren und schmiegsam und apart wie eine schillernde Federboa. Alles ging ihnen so glatt, selbst das Sterben. Geldsorgen gab es nicht. Man hatte seinen Beruf im Nebenberuf. Er war menschlich kaum hinderlich. Man war großer Arzt, Musiker, schrieb an dem Werk, war in der Kanzlei, beim Herrn Papa im Geschäft, aber man nahm es nicht ernst. Und alles war dabei doch angespielt von einer leisen Melancholie. Man ging dahin wie in einem herbstlichen Park, und man fand den Weg ins Freie, oder man verfehlte ihn. Es mangelte ihnen allen irgend etwas, was man so bei uns im Norden als selbstverständliche Mitgabe hatte: aber dafür mangelte uns ebenso etwas in unserer Starrheit, auch den geistig Beweglichsten, was die da unten in jedem Schritt ihres Ganges, in jedem Wort ihrer Sprache, in jedem Blick hatten und mit jedem Frauenlächeln einsogen ... Aber man müßte doch nochmal mit Hannchen wegen Doktor Spanier etwas vereinbaren!
»Hör mal, Annchen könnte ich denn vielleicht auch mal ...«
»Gott, Fritz, ich werde doch einen Augenblick wenigstens mal mit meiner Schwester reden dürfen. Man hat sowieso keine Menschen!« sagte Annchen, und riß sich ziemlich hastig den Hörer vom Ohr. »Aber wenn du meinst ...?«
»Ihr könnt ja ruhig nachher noch den Rest der Gesellschaft durchnehmen; aber ich möchte gern Hannchen was fragen. Hallo, Hannchen – bist du noch dort? Du hast zum Verlieben nebenbei gestern ausgesehen! Du weißt, so etwas traue ich mich bloß durchs Telefon zu sagen – es distanziert so hübsch, hebt den Mut und man fühlt sich außerdem ganz unvereidigt. Was treibt Egi, dein Gatte? – Er arbeitet?! – Am heiligen Sonntag? Ach! Und Ludwig, das Kind? Ist mit dem Mädchen spazieren, nach dem Zoo? Fünfundzwanzig Pfennig? Ich würde ein Kind nicht so ins Gedränge schicken. Gesagt, du sollst eine Eisblase auflegen, nicht viel sprechen? Na, das tust du ja ohnehin nicht? Wie bist du eigentlich gestern nach Hause gekommen? Doktor Spanier hat noch ganz überflüssigerweise für dich was aus der Apotheke geholt? Dich ruhig verhalten? Es hat so geschmeckt: wie Rizinus mit Ochsengalle. – Ich hab' noch nie Ochsengalle gekostet! Aber Hauptsache, daß er nun fast weg ist, der Husten ... Sieh mal an, das ist ja sehr erfreulich! Kennst du die neueste Errungenschaft von L. D.? Hat dir das meine Frau schon erzählt? Wenn sie jetzt die Klapper aus dem Körbchen wirft, dann beugt sie sich raus und sucht mit den Augen so lange, bis sie sie wieder entdeckt hat. Außerordentlich! ... Preyer ... heißt er. Sonst nicht unter einem Jahr. Dein Lulu schon mit vier Monaten?! Aber das ist ja unmöglich? Also, du wärst auch schon so erstaunlich weit vorgewesen? Ach!? Hast schon mit acht Monaten gesprochen? Merkwürdig – wie solch ein Kind gerade auf »heiß« kommt und »Nachtjacke«?! Liegt das bei euch in der Familie? Du meinst, gerade Annchen hätte sich so spät entwickelt? Und hätte mit zwei Jahren kaum sprechen können. – Ich soll nur deine Mutter danach fragen. Also schön – ich werde deine Mutter mal fragen. Aber sag mal, wann wollen wir eigentlich zu Doktor Spanier zusammen gehen?! Ich möchte mir sehr gern seine Apparate mal ansehen. Ich glaube, er hat ganz neue Dinge, die du sicher nicht damals in der »Urania« gesehen hast. Also gut: Mittwoch nachmittag ziehen wir zu Doktor Spanier. Du meinst, daß du jetzt in dieser Woche nicht wegkannst? Aber einen Nachmittag mal wird sich Egis neue Arbeit hoffentlich auch ohne dich behelfen können. Warum braucht er dich denn gerade jetzt, bei den Vorarbeiten so unentbehrlich? Nachher, wenn die Sache erst mal liefe? – Du wärst sehr froh darüber? Also solche wissenschaftlichen Hilfsarbeiten sind von je dein Element?! ... Kommst du wenigstens heute abend ins Café? ... Doch sehr schön milde ... Und du kannst ja mit der Untergrund von Tür zu Tür fahren. Egi meint, er müßte die Nacht durcharbeiten? Aber warum denn? Eigentlich müßten wir es wenigstens mit Eisschokolade begießen, denn ich habe ja meinen Roman jetzt auch unterbracht. Danke dir – sehr freundlich. Aber mir schon lieber, er wäre erst mal fertig. Hat dir das meine Frau erzählt? Also heute nicht ... nach Mitternacht wären Egis beste Arbeitsstunden? Komische Arbeitszeit! Aber ob ihr nun heute oder morgen anfangt! Jammerschade. Naja, du magst ja recht haben. Vielleicht ist es doch besser, du gehst des Abends nicht aus. Es ist doch immer ein bißchen kühl. Ich soll dir noch mal Annchen heranrufen? Gewiß – gleich!«
Während Annchen kam und sich von neuem an das Telephon hing, trug Pauline vorsichtig das Körbchen ins Zimmer, samt L. D., die ihr entgegenjubelte (aus ihren anderen Angestellten machte sie sich lange nicht so viel. Die waren dumm und ungeschickt.) ›Es könnte doch zu kühl für unser Kind werden.‹ Weggehen würde sie heute nicht, trotzdem sie ihren Sonntag hätte. Nur wenn sie des Abends bitten könnte, eine halbe Stunde in die frische Luft zu gehen. Und dann legte sie einen Brief, einen Eilbrief neben Fritz Eisner auf den Tisch. Eilbriefe sind immer mit Angst und leichter Erregung umgeben. Und gar noch am Sonntag nachmittag atmen sie ganz besonders Geheimnis und peinliche Überraschung. Was mag drin stehen? Ist jemand erkrankt? – gestorben? – kommt angereist – wünscht einen jemand notwendig zu sprechen – hat sich gerade die Verabredung verschoben – kann sie nicht kommen – kann sie doch kommen – winkt Glück – droht Enttäuschung und Budeneinsamkeit? ... Nur für den Menschen, der mit Zeitungen zu tun hat, haben Eilbriefe längst ihren Frisson, ihren schönen Nimbus von Sensation verloren! Selbst am Sonntag nachmittag. Er weiß schon. Karten! Besichtigung. Denkmalsweihe. Eröffnung. Lenbach Nekrolog vorbereiten. Uhde gestorben. Oder ein paar rote oder blaue Billetts. Nicht über vierzig Zeilen. Muß aber spätestens um halb elf da sein. Für das Mittagsblatt. Oder um halb eins für die Abendausgabe. Und so etwas ahnend schob Fritz Eisner den Brief uneröffnet als Lesezeichen in seinen Schnitzler.
Unten klingelten in gelinden Abständen immer noch die Radfahrvereine vorbei und riefen einander und gegenseitig sich freundliche und anerkennende Worte zu, die meist mit der körperlichen Anlage des anderen oder seiner Herkunft oder seiner Rasse in Verbindung standen und von der üppigen Phantasie des schlichten Volkes beredtes Zeugnis ablegten; wie ja überhaupt der Witz eine Pyramide ist und nach oben hin immer mehr abnimmt. Die Sonne hatte jetzt den Himmel ohne Wolken ganz für sich. Denn das ist so eine Marotte von ihr: den ganzen Tag mag sie sich in Berlin nicht sehen lassen, anderwärts beschäftigt sein; aber morgens und abends taucht sie immer noch irgendwie mal auf, sagt ›guck ... guck ... hier bin ich‹; und kaum, daß man noch aufmerksam wird und recht hinsieht, ist sie wieder fort. Und so marschierte sie auch jetzt abwärts hinten auf den Kaiser-Wilhelm-Turm zu, der wie ein dicker drohender Finger am Horizont aus der Waldlinie sich herausreckte.
Man konnte das so hübsch beobachten von hier oben. Mal tauchte sie links von ihm ein, mal rechts, groß und glühend, rostfarben und blutig. Und wenn sie einmal den Weg hin und zurück gemacht hatte, war wieder ein Jahr um. Aber ein paar Tage – zweimal ein paar Tage im Jahr – fiel sie gerade hinter dem Turm in die Erde hinein, wurde von ihm wie eine Blutapfelsine in zwei Hälften zerspalten, und des Turmes durchbrochene Spitze warf dann ihre Strahlen und Gluten wie ein Leuchtturm über das Land. Doch schon nach wenigen Tagen wurde ihr das wieder leid; und ihr großer, glühender Meteor, fiel rechts oder links, ein paar Schritte davon in den Wald ein. Wirklich – es war ein bevorzugter Platz hier draußen für eine Großstadt, und selbst dem Besitzer oder Pächter (so etwas ist nie ganz geklärt) der Eckkneipe weiter drüben war das aufgefallen, und er hatte deshalb sein Lokal stolz »Zum Sonnenauf- und -untergang« genannt.
Und der Sonnenuntergänge halber und wegen verschiedener anderer Dinge war die Loggia, der Starkasten hier oben, für Fritz Eisner ein angenehmer Plate auf dieser Erde. Man konnte zum Beispiel auch sinnlos in den Himmel starren hier, sinnlos in die Bäume starren hier oben ... sehen, wie die Ringelspinnerraupen von ihren Nestern aus sich täglich neue Zweige unterwarfen ... konnte zwei Schwalben zuschauen, von denen immer eine von rechts kam, die Straße herunter und die andere von links, die Straße hinauf, und die an einer bestimmten Stelle – gerade vor diesem seinem Starkasten – sich immer wieder trafen, gegeneinander flogen, einen Augenblick sich in der Luft aufrichteten, sich küßten und sich wieder trennten. Es gibt so auf den frühen Kölner Bildern, bei dem Meister des ..., na, es ist ja gleich ... des Marienlebens solche Engel oder Cherubine, nicht mit zwei, nein, mit vier Schwalbenflügeln. Diese alten gottseligen Herren mit den Kindergemütern müssen sich also wohl auch darüber gefreut haben.
Aber das Schönste kam erst hier auf der Loggia, wenn die Kressen blühten. Man konnte dann, wenn die spanischen Kressen, deren Sporne und Früchtchen so süß und scharf auf der Zunge brennen ... wenn die blühten, in das gelbe, orangenfarbene, rote Feuerwerk ihrer Blüten starren, das doppelt brannte, weil es in der Luft hing, nur den weiten Himmel noch als Hintergrund hatte. Allein ihretwegen, dieser blühenden Kressen wegen, hätte Fritz Eisner Maler sein mögen. Denn es müßte sehr schön, sehr befriedigend sein, so etwas zu malen; auf blauem Farbgrund in Gelbrot, Orange und Resedegrün es zusammenzukneten, und die offenen Blumenschnabel so recht breit hinzutupfen, aus deren Höhlungen trotz der Halbschatten das eingetrunkene Licht gleichsam als reine Farbe wieder herausspritzt. Zehnmal, hundertmal, immer wieder, an jedem neuen Tag, mit jedem neuen Licht müsse man mit dem Pinsel seine Farbenandacht davor halten. Solange bis man selbst ganz eins mit der Blume da geworden ist. So, als hätte man jedes Blatt, jede neue Bewegung, mit der es sich dem Licht zukehrt, selbst getan. So, als wäre man auch nur noch ein Wachsen ... und Blühen ... und Schönheit ... und Lichthunger ... und Traurigkeit und Sehnsucht im Blau des Abends, und Schaudern unter den aufschlagenden, abrieselnden Tropfen ... und ein dummes, verschlafenes Erstaunen und Zittern über die elektrische Birne, die plötzlich aufblitzt, und uns aus dem Schlaf reißt. Ja, so etwas zu malen müßte eine sinnliche Freude sein, und mönchisch und einsam zugleich; und wäre doch so köstlich-zwecklos und verrückt dabei, das heißt genau so sinnvoll, wie jedes andere, mit dem die Menschen wichtigtuerisch ihre Zeit vertrödeln.
Und endlich liebte Fritz Eisner diesen seinen Starkasten, weil man, sobald es warm genug war, da so gut und unbehelligt lesen – die Menschen haben ja soviel geschrieben von eh und je! – nur lesen konnte. Gewiß konnte man nicht alle Bücher da lesen; denn jedes Buch hat seinen Platz. Es gibt Bücher für Sommer, für Winter, für Im-Freien, Im-Gebirge, An-der-See ... auf dem Land ... für das Boudoir und den Kamin, das Eßzimmer und den Schreibtisch, für Vormittag- und für einsame Mitternachtsstunden, für Regentage und für Sonnenschein. Zola heute hier zu lesen, wäre eine Blasphemie gewesen, gegen diese seine Welt, in der die Leute arbeiten und nur arbeiten, und in der das Jahr dreihundertfünfundsechzig Wochentage hat. Dickens ist sehr schön; aber für Winterabende, mit Tee dabei »He kettle began«, Gottfried Keller kann man gut in einer Ecke des Gartens lesen, während es drüben im Bienenstand summt; oder in einem sauberen Giebelzimmer, mit niederer von Balken durchzogenen Decke. Aber Schnitzler – das empfand Fritz Eisner! – ist für uns hier oben durchaus etwas für Sonntagnachmittag ... und Balkon und ... Großstadt; aber draußen. Leben, Wagen, Menschen, nur von fern; ein Fink in den Baumwipfeln (besser noch eine Amsel, die auf den Lebensbäumen ihre Strophen flötet). Und unerklärliche Düfte von Laub und Staub bilden dazu die Kulissen und Sofitten, unsichtbare und doch gefühlte Hintergründe.
Fritz Eisner döste angenehm vor sich hin. Ab und zu kam das Telephon und störte. »Jawohl – sehr nett – so originell – Aber Sie haben wirklich nicht zu danken – wollen Sie noch meine Frau sprechen? Ich werde mal nachsehen, ob ein Spitzentuch, P.H. gezeichnet, gefunden worden ist.«
›Man müßte eigentlich sich doch mal mit Doktor Spanier in Verbindung setzen‹, sagte sich Fritz Eisner, ›und ihn wegen Hannchen fragen und sich nochmal wegen des Autos bedanken‹ – stand auf, und klappte das Buch zu. Und er hätte jeden für einen gemeinen Kerl erklärt, der ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, daß die so zarte und verwandtschaftliche Rücksicht und diese gesellschaftliche Förmlichkeit keineswegs sonst auf der Linie seines Wesens läge, und daß sein Anruf jetzt am Sonntagnachmittag, da es doch sehr fraglich war, ob jene zu Hause seien, gar nicht Doktor Spanier, sondern Lucie, seiner Frau galt ... und daß er glücklich wäre, wenn jetzt zufällig ihre Stimme im Apparat aufklingen würde.
Und Fritz Eisner hätte damit ganz recht gehabt. Denn er war sich auch dessen gar nicht bewußt. Aber der Nachmittag, die Weichheit und Grazie der Schnitzlerschen Prosa, diese amoureuse Geistigkeit seiner Frauen, die Plauderworte, all das hatte ihn, ohne daß er es ahnte, an Lucie erinnert. Und dann in ihm den Wunsch geweckt, sich von ihrem Lebenshauch streifen zu lassen, wenigstens das Timbre, das melodische Auf und Ab, das Helldunkel ihrer Stimme und vielleicht auch ihr Lachen zu hören. Denn Lucie lachte gern, hell und lebhaft, aus einem Drang ihres Wesens heraus; und nicht nur wie Annchen meinte, um auf ihre schönen Zähne aufmerksam zu machen.
Merkwürdig – erst hatte Annchen immer in den höchsten Tönen von ihr gesprochen, und Fritz Eisner hatte in Erinnerung an ehedem, an Lucies vier Gespräche von Frührenaissance bis Terminhandel und an Johannes Hansen gern auf sie gestichelt. Aber seit gestern nacht, da Fritz Eisner und Lucie plaudernd sich etwas näher gekommen waren und aneinander Gefallen gefunden hatten, da sie sich über die gleichen Interessen fort – und wozu sind wir da? und wozu sind all die Dinge da, die wir lieben, wenn sie nicht in einer Frau, die neben uns ist, wiederklingen sollten? – Und Annchen mochte gut sein, auch keineswegs stumpf, aber sie schwang nicht mit oder nur sekundenweise ... nein, sie tat es nicht! – warum auch sollte sie das jetzt noch tun, nach ein paar Jahren Ehe? ... da sie sich also über gleiche Interessen fort, wenn auch nicht die Hände gereicht, so doch vorsichtig und scheu mit den Fingerspitzen einander berührt hatten ... seit gestern nacht war plötzlich Annchens Meinung über Lucie umgeschlagen. Und alle halbe Stunde fing sie im Vorbeigehen so nebenher und zufällig wieder von ihr an: Unerhört hätte sie sich benommen! ... und sie möchte mal sehen, was Fritz Eisner sagen würde, wenn sie ... und alles an ihr wäre Mache, von ihrem süßen Meerkatzenlächeln bis zur absichtlichen Pointiertheit ihres Wesens ... So zu sein, wäre wirklich keine Kunst ... Früher hätte sie sich noch gut gekleidet; aber jetzt wisse sie ja gar nicht, wie auffallend sie sich behängen sollte ... Sie hätte doch sehr eingepackt ... sie hätte ausgesehen, wie ihre Mutter ... Und dabei wäre sie doch höchstens zwei Jahre älter wie sie ... (Was sich nicht ganz mit der Wahrheit deckte, da es umgekehrt war).
Fritz Eisner nahm den Hörer ab. Ssssss ging's im Ohr. Halb Selterwasser, halb, als ob man zufällig an einen Geigenkasten stieße. ›Jedenfalls müsse man doch bestellen, daß man nicht genau wüßte, ob man Mittwoch käme‹ (denn es würde ja doch wohl niemand zu Hause sein ...). Und schon klang drüben Lucies Stimme auf. »Ach«, sagte die, »das ist nett, daß Sie anrufen. Ich langweile mich.«
»Ist Ihr Mann vielleicht zu sprechen?«
»Nehmen Sie mit mir vorlieb. Dju ist fort. Aber er muß bald wiederkommen. Ich kann ihn erreichen. Ist was mit Hannchen?«
»O nein, sie ist ganz munter wieder ... soweit ich weiß.«
»Immer Krankenbesuche. Nicht mal den heiligen Sonntagnachmittag hat der arme Kerl für sich und für mich. Finden Sie nicht auch? Bei uns wird doch so viel verboten. Keine Wiese, wo nicht mindestens drei Tafeln mit verschiedenen Verboten stehen. Warum verbietet man nicht einfach den Leuten, Sonntag krank zu sein? Die anderen stört's, ihnen macht's auch keinen Spaß, dem Arzt macht's Mühe und Kopfzerbrechen, und seine Frau – das ist das Schlimmste! – muß allein zu Hause bleiben.«
»Wie ist's Ihnen gestern bekommen, Frau Doktor? Gut?«
»O ja, es war gestern sehr hübsch. Sie verstehen das nicht. Für einen Mann ist das nur ein Lückenbüßer. Für eine Frau die Bestätigung ihrer selbst. Es fehlte nichts, um einen angenehm empfinden zu lassen, daß man lebt. Es war für alles herrlich gesorgt: einen, den man gern hat, bei dem man sich einkriecht, bei dem man weiß, er ist wer. Einen, mit dem man tanzen kann. Und einen, mit dem man plaudern kann.«
»Kann so etwas nicht durch Personalunion verbunden sein?«
»Schon an dieser Frage sieht man, daß Sie ebensowenig vom Wesen der Männer wie der Frauen verstehen. Stellen Sie sich, wenn es Ihnen gelingen sollte – (ich kann es beiläufig nicht!) – einen Mann vor, der hinreißend tanzt und zugleich geistreich ist. Und es würde ihm weder das eine noch das andere geglaubt werden. Und einen Elegant dabei. Seien Sie versichert, daß wir bei Männern Geist viel stärker empfinden, wenn der Kragen an den Knopflöchern etwas durchgescheuert ist, und die Krawatte schief sitzt. Aber gut – es soll das beides geben! Es wäre doch gar nicht auszudenken, wenn man mit solchem Ungeheuer verheiratet sein müßte. Ich wenigstens – und die Erfahrung hat mir rechtgegeben – bin, wie es bei Balzac immer heißt, als Frau von Welt durchaus für reinliche Scheidung dieser Dinge.«
»Ihr Mann hat noch was für Hannchen verschrieben, und besorgt? Hat er Ihnen Näheres darüber gesagt?« »Dju spricht über so etwas nicht. Aber er war sehr still nachher, und das ist kein gutes Zeichen.«
»Hannchen meinte nämlich, sie könnte diese Woche nicht. Aber wir wollen schon sehen. Was haben Sie getan, heute Nachmittag?«
»Was man als Frau tut, wenn man am Sonntagnachmittag allein ist, auch das Mädchen fort, und zur anderen Gruppe gehört – denn es gibt zwei Gruppen: die eine, nicht wahr, ordnet ihren Kleiderschrank, und die andere liest.«
»Auch als Mann tut man nicht viel anderes, obwohl man eigentlich schreiben müßte. Ich habe den ganzen Nachmittag hier oben in der Sonne gesessen und geschmökert.«
Lucie lachte. »Sagen Sie mir nicht, was Sie gelesen haben, ich will es raten!« Und dieses Lachen versetzte Fritz Eisner in Entzücken und machte ihn ganz traurig vor Glückseligkeit ... »Sie haben auf dem Balkon gesessen ... und haben ... halte mal – es war mein Buch ... ›Es war ihr bestimmt, im Bürgerlichen zu enden‹!«
»Woher wissen Sie das?« schrie Fritz Eisner fast bestürzt in den Hörer hinein.
»Weil ich es auch gelesen habe, heute nachmittag.«
»Sie haben doch heute wieder dasselbe nette, altmodische Parfüm, wie gestern! Was ist das eigentlich? Es hat so etwas von China, von Orient. Riecht so braunviolett.« Denn Fritz Eisner war es plötzlich gewesen, als ob ihm dieser ganz zarte Duft, der Lucie umgab, wieder getroffen hätte. Und das war nicht verwunderlich, denn, wenn man sagt, daß Gerüche, wie nichts sonst, die Erinnerungsbilder wecken, so gaukeln auch umgekehrt um die Erinnerung die Gerüche. Und Fritz Eisner hatte plötzlich, während er Lucies Stimme hörte, die Situation von gestern nacht wieder innerlich erlebt, in der er mit ihr vor seinen Regalen stand, fast Kopf bei Kopf, und ihm dieser leise und absonderliche Hauch eines exotischen Wohlgeruches entgegenschlug und erregt hatte ... ganz leise, noch unter dem Kleeduft, der ihre ganze Person umfing.
»Woher wissen Sie das?« rief Lucie lachend, »Dju wird recht haben, wenn er sagt: auch die Gerüche sind nur elektrische Strahlungen, werden von Wellen getragen ... und vielleicht sind sie auf denen des Fernhörers mitgeritten. Warum soll das so unmöglich sein?! Nebenbei ist es wirklich ein exotisches Parfüm, das mir ein Freund von Dju, der Schiffsarzt ist, letztes Jahr noch aus Japan mitgebracht hat. Ich nenne es nach dem japanischen Etikett ›Krikelkrakel‹.«
»Woher wissen Sie aber, daß ich den ›Weg ins Freie‹ gelesen habe?«
»Ganz einfach, weil es gestern obenauf auf Ihrem Schreibtisch lag. Und da dachte ich es mir.«
»Aber ich habe mehr davon gehabt. Es ist ein Buch für grüne Bäume.«
»Wer sagt das? Zum Schluß kommt es nicht auf die Schönheit des Konzertsaals, sondern den Spieler, das Instrument und den Hörer an. Reine Erinnerungen haben ja die Menschen doch nur, wenn sie etwas erlebt haben, die Männer so gut wie wir. So etwas muß man hin und wieder lesen, um sich zu vergewissern und bestätigen zu lassen, daß man selbst recht hatte, und die anderen unrecht.«
»Bleiben Sie heute zu Hause?«
»Wenn Dju nicht zu spät kommt, und nicht zu müde ist, fahren wir noch raus ins Café. Denn ich war den ganzen Tag nicht vor der Tür. Vielleicht kann man schon draußen sitzen. Wo soll man auch sonst hingehen? Ich habe Dju damit infiziert. Wo anders sieht man Leute – da Menschen. Und so gern ich auch bei Leuten esse (sie haben bessere Köchinnen!), noch lieber rede ich mal ein paar Worte mit Menschen. Hallo, da kommt Dju, der arme Kerl, ja schon. Gottseidank. Ich habe ihn eben schließen hören. Einen Augenblick!« Fritz Eisner vernahm sehr, sehr fern halblautes Sprechen. Und dann klang es wieder hell auf: »Sind Sie noch da? Dju meint, es wäre gewiß recht gut, wenn Ihre Schwägerin bald käme. Soweit er ohne Untersuchung sagen könnte, scheine die Erkrankung doch augenblicklich in einem ziemlich floriden Stadium zu sein. Er ist der Ansicht, es wäre eine Jugendsache, die ausgeheilt war und jetzt wieder aufflackert. Vielleicht infolge der Geburt und anderer Dinge, Aufregungen und so weiter, die den Körper widerstandslos und disponibel gemacht hätten. Denn er sagt, es wäre zwar vielleicht unwissenschaftlich, aber seiner Erfahrung nach spiele gerade bei dieser Krankheit auch das Seelische eine große Rolle. Also – sehen wir uns heute noch im Café? Und wann machen wir Kunstshopping – wann machen wir unseren Bummel durch die Salons? Sie haben es mir fest versprochen! Sie wollten mir Impressionisten zeigen! Aber das besprechen wir dann heute abend noch. Kommen Sie doch auch ins Café! Ich muß jetzt für Dju Abendbrot machen. Er war seit mittag fort.«
»Eigentlich müßte ich schreiben, denn es brennt mir auf den Nägeln. Hab' ich Ihnen gestern erzählt, daß mein Roman als Abdruck schon angenommen ist, trotzdem er kaum mehr als zur Hälfte fertig ist?!«
»Nein ..., wo denn?«
»Das ist Geheimnis. Aber, im Vertrauen: Sie lesen die Zeitung auch!«
»Ach, sehen Sie an. Ich habe doch schon immer auf Sie getippt. Damals schon, als noch Annchen sagte: ›Gefallen dir eigentlich die Bücher von meinem Verlobten? – mir nicht‹.« ...
Aber da war Annchen hinter ihn getreten. »Mit wem sprichst du da?« Und schon hatte sie den Hörer in der Hand. »Ach, Lucie!« rief sie, »das ist ja reizend. Wie war das gestern?« Und sie trällerte wie ein Couplet den Douglas: »›Grad' wie in alter Zeit, grad' wie in alter Zeit, grad' wie in alter Zei-zi-zeit‹ ... Man denkt wirklich, wir wären nochmals siebzehn. Café – heute abend? Morgen – gern, sehr gern. Aber ich bin todmüde, weißt du. Ich habe kaum geschlafen. Für euch war's fertig, wie ihr zu Hause war't. Für mich hat's da erst recht angefangen. Ich bin überhaupt nicht zu Bett gegangen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Wohnung aussah: Ein Schlammbad, wie in Dantes Hölle. Bis ich da Grund hereinbekommen habe – und an einem Dienstmädel hat man doch nie viel Hilfe ...«
Fritz Eisner wußte genau, daß er jetzt nicht mehr Lucies Stimme hören würde, und dann hätte sich auch Annchen, wie eine Mattscheibe, dazwischengeschoben. Man hätte doch nichts mehr sprechen, nur noch reden können. Das Parfüm wäre verweht gewesen. Und so wollte er hereingehen. Und das Buch hintertragen. Aber da fiel ihm ein, daß doch noch ein Brief drin läge. Ein Eilbrief. Wohl von der Zeitung. Und er zog ihn aus dem Band und begann ihn zu öffnen.
Eigentlich hatte er ihm bislang keine Beachtung geschenkt. Oder jedenfalls war diese Beachtung durch seine Augen nicht bis in sein Hirn gedrungen; und nun sah er zu seinem hellen Staunen, was für ein höchst absonderlicher Brief es war, den er da in Händen hielt: ein Büttenumschlag. Fünf Siegel hatte er auf der Rückseite. Einen roten, einen blauen, einen grünen, einen silbernen und einen violetten, der mit Gold gesprenkelt war, wie der Glasfluß in einem Jahrmarktsring. Und in jeden war ein anderes Petschaft eingedrückt. Hier ein Stern, hier eine Mondsichel, hier ein Drudenfuß, hier eine Sonne, und da eine Waage. Und zum Überfluß war noch hinten über die Klappe eine kunstvolle und vielfach zerschnittene und zerfaserte Oblate geklebt, die man nicht hätte loslösen können, ohne sie zu zerreißen, und also den Empfänger darauf aufmerksam zu machen, daß unbefugte Blicke Kenntnis von dem Inhalt dieses Schreibens genommen hätten.
Die Titelseite aber trug mit lichtgrüner, metallischer Alazarintinte in großen und fahrigen, zackigen und wildabweichenden Schriftzügen, denen man trotzdem ansah, daß sie mit Mühe und Sorgfalt hingemalt waren, die Worte: »An den ungeweihten Fritz Eisner«. Aber noch mehr erstaunte der, als er den Umschlag aufriß und ihm drei ganz eng beschriebene Manuskriptbogen entgegenfielen, deren Textzeilen von seltsamen Zeichen, Sonne, Sternen, Mondsicheln, langen mathematischen Zahlenreihen, Sinus, Cosinus und Logarithmen, Klammern und sehr komplizierten Bruchgleichungen, wie von Berechnungen eines Astronomen unterbrochen waren. »Manifest« stand darüber. Keine Überschrift, an wen es gerichtet war. Kein Datum. Der erste Satz hatte zweifellos irgendeinen Sinn. Es ging daraus hervor, daß er, der Wiederkehrende, der Gott Merkur, der lang genug im Schatten seiner Wolken geblieben war, nun endlich es bis zum Speien satt habe, diese elenden Anwürfe, die ihn beschmutzen, weiter zu erdulden. Und daß er deswegen die Wand der Nebel endgültig zerreiße, mit der er vor einer jämmerlichen und unwürdigen Welt bisher seine Gestalt verhüllt habe. Das ungefähr war daraus zu entnehmen. Und dann folgte eine jener wundersamen, korrekt hingemalten, von seltsamen und persönlichen Siegeln, wie Fischen und Schlangen, unterbrochenen Gleichungen. Dann war wieder von dem Gewebe persönlicher Machenschaften die Rede, deren geheimste Fäden, die alle an einem gewissen Punkte zusammenliefen, der Gott Merkur nur zu gut kenne, aber wie einen Dorn aus der eiternden Schwäre ziehen würde. Denn, wenn – und es folgten neue und scheinbar weit kompliziertere Berechnungen – dann aber kamen Sätze, die überhaupt keinen Sinn mehr ergaben ... aneinandergereihte Häufungen aglutinierender, ja gereimter Worte und Silben waren. Jede durch ein gemaltes Etwas vom anderen getrennt. Dann schien wieder ein Neues auf der wilden Hasenjagd der Ideen aufzuleuchten, ›von den unverdienten Schmähungen, die nun in der Sonne des Ruhms zerstieben‹. Alles aber war unterbrochen von jenen abenteuerlichen arithmetischen Reihen, deren scheinbare Endresultate je nach der Wichtigkeit, die sie vielleicht haben sollten, ein-, zwei-, drei- oder fünfmal rot unterstrichen waren. Und zum Schluß stand in einem Kreis von kunstvollen Schnörkeln in Antiqualettern: Merkur. Und darunter war Stern, Mondsichel, Drudenfuß, Sonne und Waage gemalt.
Annchen lächelte gerade ein letztes Mal in den Telephontrichter: »Nein, nein, nein – heute nicht! Ich spiele nur noch eine Stunde meinen Beethoven«, als Fritz Eisner ihr den Brief herüberreichte. »Verstehst du das, Annchen?« fragte er. » Wenn das schon ein Scherz sein soll, könnte er witziger sein. Wer hat so viel Zeit, so etwas zu machen?«
Annchen sah den Brief eine Weile an. Plötzlich lachte sie auf. »Hör' mal – ich hab's: das ist von Johannes Hansen! Sicher diese scharfen, dreieckigen kleinen hs und gs hat er immer gemacht!«
Fritz Eisner schien ungläubig.
»Aber ich weiß es doch. Chiffre HH 100. Ich habe doch damals in Potsdam für Hannchen Dutzende von seinen Briefen auf dem Postamt holen müssen.«
»Das ist aber sehr traurig«, meinte Fritz Eisner. »Er war gestern wohl nicht so recht beieinander, etwas verstreut und unheimlich. Aber einen so vollkommen verwirrten Eindruck hat er eigentlich doch nicht gemacht!«
Annchen lachte immer noch. »Ach, der ist heller als wir alle! So war der immer. Doch eigentlich ein genial-begabter Mensch. Und solche Dinge hat er schon stets gemacht. Er hat mal einen fingierten Briefwechsel als Dame mit einem alten Herrn geführt. Und der Mann ist dabei fast närrisch geworden. Das ist doch wieder nur solch neuer Unsinn von ihm.«
»Aber es ist doch merkwürdig, daß er gerade mich dazu aussucht?«
»Weißt du – in so etwas war er immer unberechenbar! Und er glaubt gewiß, man erkennt seine Handschrift nicht, wenn er sie ein bißchen verstellt.«
Fritz Eisner schien diese Erklärung doch sehr unwahrscheinlich. Und er schüttelte den Kopf über das seltsame Elaborat, das da auf seinen Redaktionstisch geflogen war ... während er das Telephon wie einen kleinen Hund, den man in seinen Schlafkorb trägt, unter den Arm nahm, um es an seine gewöhnliche Stelle zu bringen. Aber kaum war er damit im Zimmer, so fing das Telephon unter seinem Arm auch an zu bellen und zu knarren und zu heulen, so daß er es gar nicht schnell genug hinsetzen konnte.
Paul Gumpert erkundigte sich, ob man wüßte, wie es Hannchen ging.
»Oh, soweit sie mir vorhin selbst sagte, vorzüglich. Aber man muß erst mal sehen, ob Doktor Spanier was findet. Hoffentlich nicht.«
»Es war wunderhübsch. Ich erinnere mich kaum an einen lustigeren Abend. Welch ein Unfug sind all diese steifen Abfütterungen, die man so mitmachen muß, und auf denen man schon gähnt, wenn man die Tafel aufhebt. Aber wann wollen Sie eigentlich mal zu mir kommen? Leider hat mir der peinliche Zwischenfall und dann, wenn ich offen sein soll, auch Ihr Schwager dabei – was man einen Gemütsathleten nennt – (Sie nehmen es mir doch nicht übel) ... Ich verstehe schon, daß Ihr Schwager jetzt den Kopf mit eigenen Dingen sehr voll hat, wo doch sein Vater so schlecht steht. Sie glauben es nicht?! Dann natürlich will ich nichts weiter gesagt haben und bitte Sie, auch keinen Gebrauch davon zu machen. Was ich Ihnen hätte sagen können, ist jedenfalls neuesten Datums, nämlich noch nicht eine Stunde alt. Es waren mir da ein paar Akzepte vorgekommen, die ich girieren sollte, und meine Bank ist sonst sehr vorsichtig mit ihren vertraulichen Informationen.« Fritz Eisner haßte solche dicken Worte, die aus dem Lexikon des Mannes mit dem Scheckbuch stammten, wie »meine Bank«, »Akzepte«, »girieren«, »vertrauliche Informationen« gründlich. »Aber nochmals – ich will nichts gesagt haben.«
*
Wirklich, die Reste von gestern waren fast unerschöpflich!
Aber Pauline blinzelte auch, daß sie heimlich verschiedenes vor der Freßgier der Gäste gerettet hätte; denn sie erblickte in jedem Besuch, der zu einer Tasse Tee kam, nur einen gemeinen Menschen, der es berufsmäßig darauf anlegte, ihre Herrschaft, die selbst nicht genug zu essen hatte, zu schädigen und auf Kosten zu treiben. Da sie in sich den Geiz langer, bäurischer Ahnenketten hatte, sah sie nicht ein, warum man fremde Leute füttern müsse, und damit sein Geld vertun, statt das in den Strumpf zu stecken. Sie hatte die ganz richtige Anschauung, daß man ernstlich und im Notfall doch nicht auf sie rechnen könne. Und da ihre ihr anvertraute Herrschaft eben zu dumm und zu unerfahren noch war, um selbst zu handeln, so hielt sie es für nötig, ab und zu für sie einzuspringen, und sie vor Schaden zu bewahren. Und sie tat das mit dem gleichen Instinkt, mit dem sie ein fremdes Stück Vieh von ihrer Weide gescheucht hätte, damit es nicht ihren Kühen das Futter fortfräße.
Annchen nahm nochmals die Tagesereignisse durch, zog die Bilanz: ... das mit der Annahme bei der Zeitung war erfreulich, wenn auch nur eine Aussicht in weiter Ferne ... Das mit Tante Trautchen ebenso erfreulich; aber, da näherliegend, angenehmer. Wann es wohl zur Auszahlung käme?! – Doch, da so etwas gerichtlich ging, dauerte es sicherlich noch zwei bis drei Wochen. Hoffentlich käme es noch zur Zeit, daß man mit L. D. ins Seebad gehen könnte. Es brauchte ja nicht gleich Heringsdorf zu sein, Arendsee täte es auch. Oder – man solle vielleicht in Bukow eine Sommerwohnung nehmen. Das wäre gleichfalls schön, und man brauche nicht so weit und umständlich mit dem Kind zu reisen – (Immerhin: See bleibt See!) ... Mit Hannchen ... das würde aber hoffentlich nicht so schlimm sein ... Der Brief von Johannes Hansen wäre doch sehr verrückt. Auf so etwas zu kommen, das wäre auch nur ihm zuzutrauen ... Lucie hätte sich nicht die Spur verändert: sie wäre aber doch neugierig, wie das mal mit ihr enden würde ... Peter Hille hätte unvernünftig gelebt, und man hätte so etwas mal kommen sehen. Endlich genüge es nicht, ein Genie zu sein, wenn man die simpelsten Pflichten seinem Nachbar gegenüber vernachlässige ... (jedenfalls, wenn du noch weggehen willst, binde dir einen reinen Kragen um!). Die Chose – solche Worte liebte Annchen von einer Studenten-freundlichen Mädchenzeit her – die Chose gestern wäre im Ganzen gelungen, originell und nicht alltäglich gewesen. Und alle, die angerufen hätten, wären ja noch ganz voll davon. »Nun bin ich nur neugierig, wann Rothenbergs sich endlich mal revanchieren werden?! Ich warte schon seit drei Jahren darauf.«
»Höre mal«, meinte Fritz Eisner, »wolltest du nicht noch ein wenig spielen?«
Denn Fritz Eisner hatte das ganz gern, liebte vor allem, es vom Nebenzimmer mitanzuhören. Der Flügel – ein Riese seines Geschlechts, mit Eisenknochen, uralt schon – war ihm etwas zu laut. Und außerdem hatte Fritz Eisner auch langsam eingesehen, daß seine Frau keineswegs, wie er einst geglaubt hatte, und wie sie sich gern Unkundigen gegenüber gab, nun auf ihrem Instrument eine unübertreffliche Künstlerin war; ... sondern, daß es darüber hinaus noch eine hohe Stufenpyramide von Pianisten und Pianistinnen gab, weit höher als die von Sakharah im Ägypterland. Aber endlich: musikalisch war Annchen schon, sogar erfreulich musikalisch von Hause her ... nur, daß sie nie weitergekommen war, da aufgehört hatte, wo andere eigentlich anfangen, und jetzt, verbummelt und ohne Leitung, vom Einst zehrte, von dem von Vor-Zehn-Jahren. Immerhin ... wenn es ihrem Wesen und ihrer Schulung auch nicht lag, das letzte herauszuholen, so war sie doch graziös und begabt genug, daß sie sich bei Schwierigkeiten, technischen wie inhaltlichen, denen sie sich nicht gewachsen fühlte, stets noch mit leidlichem Glück aus der Situation zog. Und wenn etwas eben nicht ganz klappen wollte, dann mogelte sie es so ungefähr doch zurecht, so daß es zum Schluß ganz anständig sich anhörte, und für den Anspruchloseren genügte. Denn für einen Menschen, dem Musik nicht sehr im Blut liegt – wie das bei Fritz Eisner der Fall war – ist ja jede Wiedergabe eines Beethoven oder Mozart, die das Original auch nur noch hindurchfühlen läßt, stets eine neue, nur leider allzu schnell wieder ins Nichts verblassende und entgleitende Offenbarung. Und am hübschesten ist einem solchen Menschen Musik dann, wenn er sie eigentlich ausschaltet, wenn sie ihm nicht Hauptzweck ist ... wenn er etwas dabei lesen, schreiben oder treiben kann, und sie nur noch so dazu mitklingt, ihm nur seelenferne Brandung ist. Und vielleicht ist das auch ihr Ursinn ... von den Fischern, Ruderern und Dreschern her, von den spinnenden und mahlenden Frauen, von den Wäscherinnen her, die den Waschklöppel schwangen und im Takt ihrer Bewegungen, ohne daß sie sich dessen bewußt wurden, lange und melodische Schreie ausstießen.
Nach solch einer halben Stunde am Schreibtisch, in der man in Tönewellen sich hintreiben ließ, hatte Fritz Eisner jetzt Verlangen, wäre ihr und seiner Spenderin dankbar gewesen. Aber Annchen war ungehalten, hatte keine Lust: ... ›sie wäre zu müde, und L. D. könnte aufwachen, und sie müsse diese Nacht wenigstens schlafen. Sie hätte sich die Ruhe verdient‹.
»Ach, ich dachte, wir gehen dann noch ein bißchen. Ich bin den ganzen Tag nicht vor die Tür gekommen. Es ist auch jetzt sehr schöne Luft draußen. Vielleicht ins Café.«
Aber Annchen sagte, sie wolle heute, da Tante Trautchen beerdigt worden wäre, nicht in einem ›öffentlichen Vergnügungslokal‹ gesehen werden.
Aber man mochte noch so puritanisch sein, man hätte wirklich diese ziemlich altmodische und verräucherte Bude von Café da am Nollendorfplatz nicht in die Kategorie der Vergnügungsstätten rechnen können.
»Es muß ja nicht gerade das Café sein«, meinte Fritz Eisner, »dann können wir ebensogut noch etwas durch die Straßen bummeln.«
»Nein, nein! Das wäre doch so langweilig, und sie wäre heute wirklich zu abgespannt. – Morgen vielleicht. Und außerdem wisse er ja genau, daß sie heute Stallwache bei Little Dorrit habe. Sehr alt würde sie heute nicht mehr werden.«
Um die Wahrheit zu sagen: diese letzte Frage war auch von Fritz Eisner mehr rhetorisch, und nur um der Form zu genügen, gestellt worden. Denn, wie das nun kam, wußte Fritz Eisner auch nicht: Er hatte es sich so schön ausgemalt (in dem Wunsch nach Verbundenheit und Lebensgemeinschaft, die ihm versagt geblieben waren und ihn immer stärker auf sich selbst zurückgeworfen hatten), endlich einmal jemanden zu haben, der neben ihm Schritt hielt. Aber seit bald fünf, sechs Jahren, seit ihrer Verlobungszeit, waren sie beide eigentlich nie mehr dazu gekommen, so richtig nebeneinander herzugehen, so sich gegenseitig, sans façons und unbeschwert, unter den Arm zu nehmen und loszuziehen, durch die Straßen oder durch die Wälder, durch Nacht oder durch Tag. Annchen lag auch das Gehen nicht, strengte sie an, und ihre Schritte paßten sich nicht recht mehr zueinander, konnten sich nicht einspielen mehr. Und seitdem L. D. in Erscheinung getreten, war davon überhaupt kaum mehr die Rede gewesen. Endlich war Annchen nie die Kräftigste gewesen, und die letzten anderthalb Jahre, die direkt und indirekt unter dem Zeichen L. D. gestanden hatten, hatten sie gewiß nicht fester und widerstandsfähiger gemacht. Merkwürdig war, wie Annchen das Leben unter den Händen wegrann, wie sie alles tun wollte, und eigentlich vor Tun-wollen nichts tat, zu nichts kam, als viel nervös zu sein, und etwas Klavier zu spielen, jahraus, jahrein ... und von den Dingen zu reden, die sie tun würde, wenn sie Zeit hätte, und die nicht zu tun, die Schuld dieser verdammten Hetze wäre, der sie sich eben einmal nicht gewachsen fühle. Hätte sie die Hälfte der Zeit, die sie darüber jammerte, kein vernünftiges Buch lesen zu können, darauf verwandt, solche zu lesen, so hätte sie ganze Bibliotheken bewältigt. Und hätte sie nur die Hälfte der Zeit, die sie darauf verwandte, sich zu beklagen, daß sie nie mehr dazu käme, spazieren zu gehen, dazu genommen, es auszuführen, so hätte sie Sportpreise für Wandern gewinnen können. Aber so wurde nie etwas daraus. Und, wenn es Annchen wirklich schon einmal wollte, oder vorgab, es zu wollen, hatte ihr Mann keine Zeit, mußte noch für morgen eine Plauderei oder Besprechung schreiben, wollte gerade heute mal am Roman weiterarbeiten.
Und langsam war es so fast selbstverständlich geworden, daß er allein ging. Nicht, daß er nun Abende und Nächte aus dem Haus ging – dazu war noch nicht die Zeit. Und dann war Annchen zu ängstlich dazu, als daß man sie lange allein lassen konnte. Auch mit dem Mädchen. Sie zündete sofort sämtliche Kronen an und pendelte rastlos durch die Zimmer und hing vor Nervosität die Bilder gerade, und flog, wenn Fritz Eisner wieder kam: sie hätte deutlich gesehen, daß ihm etwas passiert sei, etwas Gräßliches ... sie kann es gar nicht sagen, und sie wäre nur froh, daß er wieder so da wäre. Und weil sie dann wirklich sehr erregt, sehr unglücklich und kindlich-bemitleidenswert war, so gab sich Fritz Eisner Mühe, zu solchen Angstzuständen ihr möglichst wenig Anlaß zu geben; wie er ja überhaupt in der Ehe der Schwächere war, weil er der Stärkere war.
Immerhin: so des Abends noch eine ganze oder eine halbe Stunde mußte er doch gehen; schon, um, wie einen Hund, seine Gedanken spazieren zu führen, sie vor sich her durch die Dunkelheit laufen zu lassen und wieder zurückzupfeifen. Er versuchte dann, alles in sich abzustellen, sich nicht ablenken zu lassen ... (weder durch Klavierspiel aus offenen Fenstern in stillen Straßen noch durch allzu zärtliche Liebespaare) ... und sich nur auf den einen Punkt seiner Arbeit zu konzentrieren. Er redete laut vor sich hin, schwenkte den Stock, gestikulierte; und hatte nachher natürlich alles wieder vergessen, wenn er nicht ein paar Stichworte unter einer Laterne aufkritzelte. Eigentlich kam nicht viel dabei heraus. Nur, daß er – das hatte er festgestellt! – am nächsten Tag nicht recht den Motor ankurbeln konnte, wenn er vorher zu Hause geblieben war; und daß ferner ihm Verbindungen, Motivierungen, Übergänge, Rede und Gegenrede plötzlich dawaren, die er gestern noch mit aller Mühe nicht hatte finden können, und die nun, wie von selbst, sich boten und aus dem Unterbewußtsein ins Bewußtsein sprangen – ohne daß er eigentlich am Abend vorher nach ihnen gesucht hatte.
Nein, solche Abendwege waren ihm ziemlich unentbehrlich geworden. Manchmal, nicht zu häufig, endeten sie auch im Café, wurden länger; und heute mußte er jedenfalls noch ins Café gehen. Nicht etwa, um Frau Doktor Spanier, um Dju und Lu, dort zu sprechen, wie er es vor sich selbst verteidigte, sondern, um den anderen zu erzählen, daß sein Roman angenommen sei. Das heißt erzählen wollte er es keineswegs. Er wollte es nur so nebenbei erwähnen, beiläufig, im Gespräch hinwerfen, so, als ob es gar nichts besonderes wäre, von vornherein zu erwarten gewesen war ... wollte auch mal ein paar Zeitungen lesen (als ob er das nicht morgen auf der Redaktion tun konnte) und dann mal herumhorchen, ob man etwas Neues über Peter Hille schon wüßte. Er hätte zwar ganz gern noch vorher eine halbe Stunde Musik gehört und ein paar Zigaretten geraucht, wäre wohl auch sonst noch eine Weile geblieben; aber da Annchen erst anhaltend gähnte (wenn Frauen doch endlich mal so klug wären, einzusehen, daß sie den Mann viel weniger beleidigen, wenn sie ihn beschimpfen, als wenn sie in seiner Gegenwart gähnen!) und dann ganz zusammenfiel und plötzlich völlig abgeschlagen war, bis zur Haltlosigkeit, und damit – wie alle Nervösen – welke und fast alte Züge bekam (in Wahrheit hatte sie ja auch wirklich wenig genug geschlafen!) ... so also stand Fritz Eisner mit einem Ruck vom Abendtisch auf, ließ sogar seine Teetasse stehen und sagte, ›daß sie nur jetzt unbesorgt zu Bett gehen möchte. Er würde allen Torfkähnen, die ihn etwa überfahren wollten, geschickt ausweichen, und um jeden Briefkasten einen großen Bogen machen, so daß er nicht hineinfallen könne‹. Und er verabschiedete sich zärtlich und mit dem heiligen Eidschwur, daß er wirklich bald wieder käme (ein Stündchen!).
Trotzdem die Gardinen im Durchzug angenehm wehten, und die letzte Dämmerung, die sich in Nacht wandelte, mit kühlen, zarttastenden Händen in die Zimmer griff, war es ihm doch unerträglich eng und atembeklemmend in der Wohnung, und in allem, was mit ihr zusammenhing, geworden, und er hatte das Gefühl, als ob sich langsam, aber unaufhaltsam die Zimmerdecke auf seinen Kopf hinabsenke, und ihn demnächst platt drücken müsse, daß er aussehen würde, wie aus einem Lachkabinett.
Drunten waren jetzt die langen Baumwege still in später, fast nächtiger Dämmerung. Der Sonntagstrubel suchte sich andere Straßen, um heimzuströmen. Ein junger Herr, mit weißem Strohhut und hellem Anzug kam ihm langsam und flötend entgegen und grüßte höflich, mit einem gewissen Schwung den Hut ziehend, der in Berlin nicht üblich, der undeutsch war ... Italien – Frankreich. – Wer war denn das? Ach richtig, Herr Leonhard, der seltsam-elegante Gärtner aus Liebe, da draußen, mit seiner Champignonzucht, der ihm die blühenden Zweige gestern geschenkt hatte.
Von dem Regen des Tages war noch reichlich Feuchtigkeit auf den Wegen und Dämmen geblieben. Die Sonne hatte sie doch nicht mehr ganz auftrocknen können, und diese Inseln und Flecken und Brücken und Streifen von blankem Naß bildeten zusammen mit den Schatten, die von den jungen, belaubten Zweigen darüber die glimmenden Laternen hinstreuten, auf dem stillen Asphalt der Nebenstraßen die unregelmäßigen Muster alter Vorsatzpapiere. Man ging wie über ein Buch fort, das nie recht aufgeschlagen wurde. Die Häuser, die sonst am Tage so aufdringlich und scheußlich waren, waren jetzt zur Nacht zurückgetreten, wurden hell- oder nur mattschimmernder Hintergrund, blieben draußen von einem. Manchmal vergaß Fritz Eisner sie ganz; und nur ab und zu erinnerten noch ein erleuchtetes Fenster oder lärmende Stimmen von einem Balkon an ihr Vorhandensein, und an ihren Inhalt von Sorgen, Zank, Selbstzufriedenheit und Stumpfsinn in mancherlei Menschenverpackung, die zum Schluß doch sehr ähnlich einander war, ... gerade so, wie in einer billigen Bonbonniere, in der das eine Stück in goldenes und das andere in silbernes Staniol gehüllt ist, dieses eine Bauchbinde mit stolzem Aufdruck trägt, und jenes nur in einen Fetzen armseligen Kantenpapiers geschlagen ist, während zum Schluß alle Stücke fast gleich und nach sehr gewöhnlichen Zutaten schmecken.
Fritz Eisner wollte im Gehen, während er den Weg unter die Füße nahm, mitten auf dem Damm mit langen, klingenden Schritten dahinzog, seine Gedanken fest zusammenfassen, sie hart an der Leine halten (denn nun hieß es weiterkommen!), aber sie irrten immer ab, ließen sich nicht zurückstoßen in eine zu erträumende Vergangenheit, in Sprachweise und Seelenleben verflossener Kultur, sondern sprangen stets wieder in eine erträumte Gegenwart hinüber, in der Lucie, ohne daß Fritz Eisner es eigentlich wollte oder wünschte, in mancherlei Rollen agierte und des Gegenspielers nicht entbehrte.
Das Dämmer eines großen Platzes zog lautlos-verzaubert vorbei. Man sah fast nichts, ahnte nur, daß überall auf Bänken die Liebespaare saßen, und daß hüben und drüben ihre gedämpften Schritte über den Kies schlurften, wie gelähmt und gebunden in jener Weichheit und Sehnsucht und der seltsam-erregenden Traurigkeit, die die Menschen in ihre Netze hüllt, bevor sie zusammentreiben.
Oh, da zogen ja schon im Halbrund an den Feldern und vorgeschobenen Häuserposten drüben die leuchtenden Raupen der Stadtbahnzüge vorbei. Sie sind sehr nüchtern und doch von einer ungesungenen Poesie, in blauen Frühlingsnächten, so gut wie im Dämmer der Novemberabende. Niemand weiß bisher davon zu erzählen, nur Baluschek hat es gefühlt. Sie haben nichts von dem Hinbrausen eines Zuges auf voller Strecke, kein Fiebertempo, sie schleichen lautlos und schlangengleich in ihren Kurven mit ihren stets wechselnden Menschenlasten, und ihrem matten Licht durch die ungekannte Nacht hin ... Jetzt mehr Leben: Elektrische Bälle, hoch oben auf Masten strahlen die blaugrüne, peinliche Helligkeit eines Theatermondscheines herab. Traber hufen auf Asphalt ... sogar schon ein paar schwankende Kremser mit Volksseele und Gesang; Straßenbahn; und dann wieder die Stille von Laubwegen und alten Gärten, in denen sogar plötzlich eine Nachtigall aufschluchzt. Aber als Fritz Eisner stehen bleibt, wird sie mißtrauisch und schweigt von da ab. Vielleicht war es auch nur irgendein Spaßvogel, der seine Fälscherkünste zeigen wollte und sich belustigte, wenn die Leute stehen blieben – denn jetzt hört man laut und unmotiviert lachen.
Ach, da schwamm aber eine Villa, weiß und breit wie ein Salondampfer in einsamer Meeresnacht, in weißem Licht. Aus all den vielen, strahlenden Fenstern und hohen Glastüren warf sie ihre Lichtbalken über Rasenflächen und Büsche und Taxus. Wie eine Fontäne stand eine riesige blühende Magnolie davor. Reiche Leute gaben wieder mal ein Fest. Halt! War das denn nicht Liebenthals neue Besitzung? Er hatte gewiß Rout heute, war ganz schlicht ›Sonntag zu Hause‹, wie es hieß. Ein paar Autos warteten draußen. Nein – das gelbe war heute nicht dabei. Wohl schon weggefahren oder kam noch. ›Ungleich verteilt sind des Glückes Güter.‹ (Oder so ähnlich.)
Fritz Eisner blieb einen Augenblick stehen. Über der Gartenpforte hing eine kunstreiche, schmiedeeiserne Laterne, in der es hell und elektrisch glühte, und es war genau zu sehen: gerade vor ihr, zwischen einem überhängenden Zweig und dem Metall, das die Scheiben einfaßte, hatte eine große Spinne, eine fette, dicke Spinne ihr Netz gewebt, saß in der Mitte. Und was nun nach dem Licht flog, von den dummen Motten und Mücken, fing sie ab. Eine raffinierte Kanaille. Wie sie arbeitete! Mal war sie unten, mal oben. Mal zog sie sich scheinbar ganz harmlos zurück. Und immer wieder schoß sie dann vor, mal hier-, mal dorthin. Ein paar Bewegungen, ein einziger wilder Biß ... und das arme Ding schaukelte in den Fäden, zitternd und machtlos, bis es dran kam, um ausgesogen zu werden.
Er hätte sich nun wirklich kein besseres Wappen aussuchen können, dachte Fritz Eisner im Weiterzuckeln.
Und dann kamen Laternen, Helligkeit, Häuser, Häuser, Straßen – tote, überzuckte Fassadenreihen, Autosausen und Menschen, armselige, dünne Vorgärtchen, abschiednehmende Pärchen in den Hausnischen, Brausen von vielen, überfüllten Straßenbahnen, Lichtfülle und Gedränge vor Lokalen, Menschenschwärme, und all das, was Sonntag abend heißt, und angetan ist, die Gedanken zu verscheuchen. Der Weg war wie ein Roman, der zum Schluß die feinere Eigenart verliert.
»Seltsam«, sinnierte Fritz Eisner (er war noch im Banne Schnitzlers), »Paris ist eine Stadt doch zum Flanieren ... und ist ja auch nicht viel anderes als ein Sammelsurium von Häusern, Bäumen, Lokalen, Menschengewühl, Kinos und Lichtlinien und Musik von irgendwo. Wien ist eine Stadt zum Flanieren; selbst Kopenhagen ist es ... aber Berlin ist es nicht! Und deshalb hat es auch keine Literatur. Es hat vielleicht den Rhythmus der Arbeit, aber nicht die selbstgewachsene Linie und Lässigkeit und Schönheit für den Nichtstuer. Es wird immer gleich so krampfhaft und geschmacklos, am geschmacklosesten da, wo es Geschmack vortäuschen will. Da drüben und da unten ist eben Kultur ein Kleid, und hier in diesem Kolonialland im besten Fall eine Tätowierung. Und doch manche Dinge sind auch hier nett ... Tiergartenviertel, selbst noch in seinen äußersten Vorposten, da wo Altes sich in Neues auflöst – das hat an manchen Frühlingsabenden fast etwas Pariserisches ... diese Ecke am Nollendorfplatz hier, wo solch ein Tub, wie ein leuchtendes rotgelbes Insekt, ein Glühkäfer mit Feueraugen mit Phosphorkopf, -brust und -leib aus einer schwarzen Höhle herausgekrabbelt kommt und auf schräger Bahn, wie mit vielen Füßen, unwahrscheinlich und doch selbstverständlich sich hastig emporschiebt, und ein anderes dieser Wundertiere, gleichfalls ganz phosphorleuchtend, daneben so rasch herabkriecht, als würde es verfolgt und könnte nicht schnell genug in seinen Bau sich flüchten. Und dazu allerhand Großstadtlärm, Autosignale. Und doch etwas von der Stille alter vornehmer Gärten noch, die aus der Ferne und Geborgenheit herüberweht, mit Laub und Duft, ... und das einem sogar Aussicht auf einen vorgeschobenen blühenden Kastanienbaum gewährt – wenn man Glück hat und im Café draußen einen Sitzplatz bekommt. Das heißt das Draußen, das ist ja nicht so wie in Paris auf dem Boulevard, wo die Leute, die vorbeigehen, einem in die Tasse niesen; sondern man ist – dafür lebt man ja in einem Kaiserreich! – getrennt als Zahlender vom niederen Volk der Passanten durch Zäune. Und man hat oben noch statt des Himmels eine graue, halbaufgerollte Leinenbahn überm Kopf; aber man ist doch nicht ganz abgesperrt von der Allgemeinheit und dem Hauch des Frühlingsabends.
Natürlich jedoch war draußen kein Platz mehr; und dann war Sonntagspublikum da, fremde Gesichter, Spießer mit Frauen und Töchtern und Zufallsliebsten, die man sonst nicht sah. Die Stammgäste, Literatur, Musik, ein paar Sonderlinge der Nachbarschaft, alte Fräuleins mit Pompadours, ältere Herren mit Hypochondrie und grauen, zerfledderten, halbblinden oder hinkenden Pudelhunden und Spitzen (wie der Herr so der Hund) waren heute in der Minderzahl und erfreuten sich bei der Bedienung nur geringer Gunst.
Aber richtig – noch halb im Freien, aber doch halb schon im verräucherten Lokal, mit seinem Cuivre-poli-Stil, mit seinem zehn Jahre alten Musterlager einer Stuckfirma und einer Spiegelmanufaktur auf Decke und an den Wänden, saß – wenn auch etwas unbequem – der Alte mit der Sammetjacke. Eine breitgeschwungene Treppe mit blumigem Goldgitter führte hinter ihm in einen oberen Stock, von dem das Zusammenprallen der Billardbälle bis herunter klang. Da oben war nebenbei eine Welt für sich, in die sich die von unten nie herauf verirrten. Und auch die, die nach oben gehörten – manche sogar von namhafter Eleganz und selbst solche von exotischem Aussehen – kamen keineswegs nach unten hin, und beeilten sich stets möglichst schnell hinaufzukommen, wo ihre Freunde und sehr saubere Spielkarten ihrer und ihrer Geldbörse schon voller Sehnsucht warteten. Doch so, wie diese Welt da oben es nicht liebte, gestört zu werden, so störte sie auch niemanden. Ja, es war sogar anzunehmen, daß sie die da unten kaum beachtete, und jedenfalls tief verachtete.
Also – halb noch im Lokal, halb im Freien – saß der Alte mit der Sammetjacke. Und er hatte es verstanden, den Tisch trotz des Andrangs für sich zu bekommen, und fast ganz frei zu halten; indem er – vielleicht als Trick, vielleicht absichtslos – die Stühle ringsum mit Zeitungen belegt hatte. Was ihn nicht davon abgehalten hatte, auf der Marmorplatte des Tisches außerdem die Zeitschriften von der »Jugend« und dem »Simplizissimus« an, bis zum »Gemütlichen Sachsen«, »Buttericks Modenjournal« und »Die Feine Küche« aufzustapeln. Nur ein harmloses, simples, vom Leben arg zerknautschtes Männchen, mit einem zerfransten Ziegenbart und mit einem Gummikragen, den er anscheinend des Sonntags wegen umgedreht hatte (denn hinten im Genick über dem Rockkragen war, merkwürdig genug, ganz unvermittelt »Scipio 37« in Antiqualettern zu lesen) ... nur dieses Männchen hockte, klein und verschüchtert in einem sehr faltigen, kaffeebraunen Anzug, neben dem Alten und sah mit ängstlichen Augen auf die ihm ungewohnte Umgebung, in der er sich sehr unwohl zu fühlen schien. Er hatte breite, nach außen stehende Daumen, die sich an seinen Händen, wie mit einem überspannten Scharnier, nach oben klappten. Und man hätte gar nicht die unverwüstlich-schwarzen Einlagen in seinen Nägeln und Handrillen zu sehen brauchen, um richtig zu mutmaßen, daß man einen echten Mann des Pechdrahts und Knieriems vor sich hatte ... ein lebendes Fossil von einem altmodischen Kellerflickschuster, der hochmütig, aber armselig, auf seine Kollegen aus den Schuhfabriken und an den Goodyearweltmaschinen hinabsah.
Fritz Eisner blickte sich noch einmal suchend um – (Doktor Spaniers waren also noch nicht da!) – und ging dann zu dem Alten mit der Sammetjacke, der ohne allzuviel Freundlichkeit für ihn die Zeitungen eines Stuhles noch auf den anderen legte, den papierenen Ossa auf den Pelion türmte. Der Kellner, der herankam, um sie wegzunehmen, wurde angeknurrt und weggescheucht.
Und Fritz Eisner wollte gerade unbekümmert Platz nehmen, als ›Scipio 37‹ aufsprang, und dadurch kund tat, daß er zum Tisch gehörte, und nicht einfach zugelaufen war, und dann nach einer schüchternen Pause förmlich, aber ostpreußisch sagte: »Mein Name ist Franz Adumeit«.
Doch der Alte mit der Sammetjacke meinte weiter nichts zur Erklärung, als kurz und bündig »Er ist ein Genie«.
Fritz Eisner stellte sich dumm. »In welchem Handwerk?« fragte er.
»Franz Adumeit ist Lyriker«, sagte der Alte mit der Sammetjacke mitleidig, und dieses Mitleid galt scheinbar nicht Franz Adumeit, sondern Fritz Eisner ... »Ich habe ihn entdeckt ... ich habe sein Talent gefördert und ich werde ihn in die Literatur einführen. Er hat noch nicht die Form. Aber Form ist etwas, was jeder Esel lernen kann – hier, hier!« ... und er klopfte sich auf die scheckige, in ihrer Jugend einst geblümte Sammetweste, die er trug, wohl um im Stil zu bleiben ... »Hier muß man es haben! – Wollen Sie mal etwas lesen. Der Herr versteht viel, Herr Adumeit, und hat großen Einfluß bei der Zeitung.«
Fritz Eisner bestritt das eine wie das andere. Aber es nützte ihm nichts. Schon war ihm ein Haufen von Formularen zugeschoben, die alle am Kopf Franz Adumeit, Schuhmachermeister, Ziethenstraße zwölf trugen und sicher als Rechnungen und bezahlt für Herrn Adumeit viel besser und glücklicher ihren Zweck erfüllt hätten. – Aber wer kann das wissen und mit Bestimmtheit sagen? denn schon Goethe meint, daß er den Pilger nicht ohne Tränen sehen könnte. Weil nichts den Menschen so beseligt, wie ein falscher Begriff. Und hier waren nicht nur falsche Begriffe, sondern auch falsche Orthographie und falsche Verse. Aber warum sollte Franz Adumeit nicht trotzdem sein Leben zu einem Lied machen. Und wenn er das getan hätte, hätte niemand etwas dagegen einzuwenden gehabt, und Fritz Eisner am allerwenigsten. Aber das war ja eben das Erschütternde: auch diesem simpeln Mann war aus hundert Kanälen der abgeblaßteste Schaum von Gefühlen und Floskeln zugeströmt, die er nun traurig und unbeholfen nachstammelte, eine Parodie der Parodie. Und nun saß er da mit der unverschämten Bescheidenheit des hoffnungslosen Dilettanten und erwartete zitternd das Gutachten des Fachmanns, wie er sagte. Wenn man ihm wenigstens hätte sagen können, daß er schon ›das dritte Genie‹ aus dem Volke war, das der Alte mit der Sammetjacke in diesem Jahr entdeckt und gefördert hatte.
»Machen Sie so etwas schon lange?« fragte Fritz Eisner vorsichtig tastend.
Und nun kam es an den Tag, daß »Scipio 37« in dem Hause Portier – oder wie er sagte: Verwalter – war, in dem der Alte mit der Sammetjacke jetzt hinten bei Frau Neumann sein Domizil hatte, und daß anscheinend zwischen der Lyrik von Franz Adumeit und der Fußbekleidung des Allen mit der Sammetjacke irgendwelche reziproken Beziehungen entstanden, daß jener ihn eigentlich erst dichterisch richtig erweckt hätte ... das vorher in seiner ersten Periode wäre nichts gewesen (nur weniges ließ er heute noch gelten), und daß er ihn vorerst noch leitete, ohne doch seine Entwicklung zu beeinflussen, bis er über ihn hinaus wachse (denn er hoffe da, wo er heute stand, nicht stehen zu bleiben). Höchstens, daß er ihm einmal die Versfüße etwas vorschuhe, eine geplatzte Steppnaht zwischen zwei Strophen nachzöge, die Brandsohle etwas schwungvoller zurechtschnitte, ein paar Flecken auf die Sohle setze oder einen Rüster so anbringe, daß man ihn kaum sähe und das Oberleder etwas zurechtklopfen müsse ... und, daß sie die gegenseitigen Mühewaltungen dann einander aufrechneten.
»Ja«, meinte Fritz Eisner nachdenklich, »mein lieber Herr Adumeit, wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf – arbeiten Sie erst mal ruhig an sich weiter. Gehen Sie nicht so früh an die Öffentlichkeit. Der erste Eindruck, den das Publikum von Ihnen hat, der bleibt. Und wenn Sie nachher ein D..., also ein Heine oder ein Goethe werden sollten ... ja mehr als das«, eigentlich hatte Fritz Eisner Dehmel und Liliencron sagen wollen, aber er besann sich, und nahm Namen, von denen er glauben konnte, daß wenigstens ihr Schall schon bis nach Pillkallen oder der Ziethenstraße zwölf gedrungen war ... »man wird immer sagen ...« was man sagen würde, ließ Fritz Eisner unausgeführt. »Wenn Sie noch eine gewöhnliche Durchschnittsbegabung, so ein Wald- und Wiesenlyriker wären, Herr Adumeit, würde ich rufen: treten Sie morgen heraus! Aber ein Mensch, wie Sie, darf nicht vorzeitig seinen Ruf verscherzen. Sie haben Zeit, mindestens noch zwei bis drei Jahre. Man muß ruhen. Von mir ist auch seit sechs Jahren kein neues Buch herausgekommen.«
Scipio 37 war sehr zufrieden, wenigstens im Augenblick, und spielte mit einem Kinderlächeln in seinem verknautschten Gesicht an seinem Ziegenbärtchen. Aber der Alte mit der Sammetjacke war gar nicht zufrieden, denn er fühlte, daß sich Fritz Eisner über ihn und seinen Freund Adumeit lustig machte; und es war zwar nicht richtig, wenn man behauptete, daß er Herrn Franz Adumeit ernst nahm; aber – um vor sich selbst zu bestehen – liebte er es doch, sich einzureden, daß er es täte.
»Sind Sie nebenbei ...« fragte Fritz Eisner, um vom Thema loszukommen, denn Scipio 37 hatte noch verdächtig dicke Brusttaschen ... »sind Sie gestern gut heimgekommen?«
Aber der Alte mit der Sammetjacke knurrte nur etwas wie »leidlich«. Er empfand das von gestern scheinbar nur als eine peinliche Störung seines Alltagslebens.
»Hatte ich Ihnen gestern schon erzählt«, sagte Fritz Eisner, mehr zur Tischplatte, als zu einem Zuhörer, »daß sie meinen Roman zum Vorabdruck angenommen haben?! Nun muß ich ihn aber wirklich endlich fertig machen!«
»Wo denn?« fragte der Alte mit der Sammetjacke, scheinbar ebenso beiläufig und gleichgültig, und dabei mit einem ersten, so ganz fernen Klang von Feindseligkeit im Ton, den Fritz Eisner vordem noch nie an ihm bemerkt hatte. Denn der Alte hatte das Gefühl, daß jeder, der irgendeinen Erfolg hatte, ganz gleich wo und welcher Art, sich widerrechtlich vor ihn schob und ihn verdunkelte; trotzdem sein Stern eigentlich schon seit zwanzig Jahren erloschen war, und heute selbst den feinsten Instrumenten völlig unsichtbar blieb.
»Ach Gott«, meinte Fritz Eisner und zuckte die Achseln, »eigentlich gibt es doch nur eine Zeitung in Berlin, die dafür in Betracht kam ... Bemerkte ich Ihnen nicht mal, daß ich das Manuskript dort liegen hätte?«
Der Alte mit der Sammetjacke schüttelte nachdenklich und mitleidig den Kopf. »Ich würde da nichts mehr hingeben!« sagte er. »Das Feuilleton ist da doch sehr heruntergekommen ... seit meiner Zeit.«
Fritz Eisner empfand diese letzte Bemerkung als ungenau. Seines Wissens hatte zwischen dem Alten und dieser Stelle nie eine Verbindung bestanden. Sie lagen geistig auf verschiedenen Ebenen.
»Und wissen Sie«, fuhr der Alte fort, »ich persönlich mache mir aus Romanen nichts, und sehe auch nicht ein, welchen Zweck und Sinn sie haben. Ich denke sehr gering von dem Roman an sich als Genre. Das ist doch keine ernst zu nehmende Wortkunst.«
»Da bin ich nicht Ihrer Meinung. Und ich bin ganz im Gegenteil felsenfest überzeugt, das einzige, was sich die letzten zwanzig, dreißig Jahre erobert haben, und in dem in der Welt – nicht nur in Deutschland (ja da vielleicht noch am allerwenigsten) Großes geleistet wurde, ist überhaupt der Roman. Das, was Sie heute noch Wortkunst nennen, sind doch nur ein paar Hobelspäne, die wir als Abfall unter den Tisch werfen, weil sie uns zu abgebraucht sind, oder nur noch benützen, um eine schadhafte Stelle am Furnier auszuflicken, oder im besten Fall, um daraus ein Blümchen als Intarsie zu machen.
Der Alte fuhr auf – das war ja offene Palastrevolution. »Ich höre so etwas gern«, sagte er, mit der Miene eines Chevaliers zu einem Jakobiner, »reden Sie also nur ruhig weiter!« Jetzt fühlte er sich auch schon sicherer, wie mit Scipio 37 allein, denn zwei Jünglinge seines lyrischen Klientels waren inzwischen zu ihm gestoßen.
»Schön«, sagte Fritz Eisner, »wenn Sie mir nicht zugeben wollen, was diese Dinge für die Welt bedeuten, so werden Sie mir vielleicht zugeben, was die Welt ohne sie ist. Da ist zum Beispiel ein Land, das heißt Rußland, und ein anderes, das heißt Frankreich und ein anderes, das heißt Dänemark ... das Osterreich – und alle wären sie nur für uns heute ein geographischer Begriff, oder ein Dutzend Schlachtennamen oder Zahlen, eine Jugenderinnerung aus der Schule; und über sie selbst, ihre Seele, die letzte, feinste Eigenheit ihrer Menschen, über jede Schattierung ihrer Landschaften, über die tausend Imponderabilien, die erst den Geschmack ihres Wesens ausmachen, würden wir gar nichts wissen; sie wären ohne jeden Ton in der Welt, wenn sie ihr Schrifttum, ihre Romane nicht hätten. Was wissen wir von Wien, von Osterreich ohne Schnitzler?«
»Also ist das ein Ersatz für die Geographiestunde«, bemerkte der andere. Aber es unterbrach Fritz Eisner nicht.
»Alles, was wir nämlich über ein Land wissen, danken wir seinen Romanen, und was es selbst über sich selbst weiß, verdankt es ihnen ebenfalls. Sie sind das einzige, in dem das Leben sich dauernd bewahrt. Wie von Registriermaschinen werden die letzten und feinsten Seelenschwingungen eines Stammes, einer Epoche von ihnen aufgezeichnet. Das einfache, vorüberfließende, tägliche Dasein mit all seinen hunderttausend kaum deutbaren Nuancen wird in ihm zum Rang der Historie erhoben.«
»Da wäre also der Roman Ihrer Ansicht nach«, meinte der Alte mit der Sammetjacke lächelnd und überlegen, »ein Geschichtsstundenersatz für große Kinder.«
Der lyrische Klientel, der neuen Zuwachs bekommen, jubelte seinem Führer zu.
Aber irgend etwas war in Fritz Eisner, das ihn fühlen ließ, daß er hier nicht klein beigeben dürfe, daß er endlich einmal seine Sache führen müsse. Es war plötzlich eine Stimmung, als ob zwei Bullen gegeneinander die Hörner senkten, um auszumachen, wer von nun an als der Stärkere die Herde führen sollte.
»Sollte ich wirklich eine solche Dummheit gesagt haben?« meinte Fritz Eisner, »oder habe ich nicht vielleicht davon gesprochen, daß in den Romanen die Selbstbewußtheit der Völker liegt? – Ein Tolstoi, Dostojewski, Fontane, Hamsun, Flaubert – was ist denn ihr eigentlicher Sinn? Nicht, daß sie Ausnahmemenschen sind, sondern daß sie das feinste Sprachrohr der Massenseele ihres Volkes, ihres Landes, ihrer Zeit sind, und zugleich das, in dem diese sich selbst erkennen und fühlen.«
»Was hat denn das mit der Kunst zu tun?« sagte der Alte achselzuckend und sah sich dabei im Kreis seiner Anhänger um, um Zustimmung zu heischen, aber an Gesicht und Ton empfand man, daß die ihm nicht ganz nach Wunsch ausfielen.
»Sehr viel: denn es ist ihr Inhalt und schafft ihre neuen Formen und verändert sie ständig. Was ist denn Kunst letzten Endes anders als die Wissenschaft von der erkannten und geträumten Seele des Menschen. Muß ich Ihnen denn das wirklich auseinandersetzen?! Aber der von Ihnen so mißachtete Schriftsteller ist ja nicht nur das Bewußtsein seines Volkes, er ist sein Gewissen. Ich erinnere mich nicht, durch welches Gesetz in England man den Schuldturm abschaffte und eine Schulreform durchführte. Aber ich weiß, daß es Dickens war, der es bewirkte. Und die russische Leibeigenschaft – eigentlich hat sie Turgenjew aufgehoben. Und als er bei einem Brande auf dem Newski-Prospekt war, riefen ihm die Bekannten zu: sehen Sie, das haben Ihre Nihilisten gemacht. Denn er hatte in ›Väter und Söhne‹ diesen Begriff zuerst vor das russische Bewußtsein gestellt. Ach Gott, soll ich Ihnen noch weiter erklären, warum der Schriftsteller nicht nur das Bewußtsein und das Gewissen eines Volkes, sondern auch die Zukunft der Welt ist, daß er der einzige Siegelbewahrer der Menschlichkeit ist, den wir kennen. Nicht der Pfaffe ist das, und nicht der Richter, nicht der Kaiser und nicht der Staat. Die ahnen ja kaum den Inhalt des Wortes Menschlichkeit. Heine spricht in seinem ›Deutschland‹ von der vermummten Gestalt, die hinter ihm stand, wenn er schrieb, nennt sie ›die Tat von seinen Gedanken‹ die das ausführt – wann ist Nebensache – was er ersonnen hat. Aber nicht nur Bewußtsein ist der Roman, Gewissen der Zeit, Zukunft. – Er wird auch einmal, was wichtiger ist, die festeste Brücke sein, die von Land zu Land führt, über alle Grenzpfähle fort, das einzige, wodurch die Völker überhaupt miteinander reden können, untereinander sich verständlich machen können. Glauben Sie denn, durch unsere Esel von Diplomaten ginge das? Oder durch die Granaten, die um Port Arthur jetzt heulen? Oder durch die tausend Wissenschaftler, die auf Kongressen sich gegenseitig anprosten? Oder durch die Kaufleute, die sich untereinander begaunern und sich durch Zölle zu erdrosseln suchen, die in England oder in Amerika zehn Kunden besuchen und dann schreien: ›deutscher Fleiß – deutsche Tüchtigkeit – deutsche Hosenträger in der Welt voran‹!? Ein guter deutscher Roman, der ins Ausland dringt, besucht tausend Kunden da, und er sagt ihnen Besseres über sein Ursprungsland, als Hemden, Hosen und Dreschmaschinen ... und Wichtigeres. Denn das dürfen Sie nicht vergessen: durch solch einen Roman spricht nicht ein zufälliger Einzelner zu dem anderen, sondern durch solch ein Buch – wie eins von Fontane, Keller, Zola, Maupassant, Thackeray, Bang, Geyerstam, Kielland oder Lie – bringt das Beste, Letzte und Sublimierteste, und auch Augenblicklichste, was ein Volk dem anderen Volk zu sagen hat, herüber. Ich werde in England zehn Jahre leben, und ich werde weniger über den Engländer in Erfahrung gebracht haben, als mir draußen in Friedenau an meinem Schreibtisch auch nur drei englische Durchschnittsromane sagen würden. Und so verschieden sie auch alle sein mögen in aller Welt: diese – nun nennen Sie es der Einfachheit wegen: Romane – sie stehen nicht gegeneinander, sie sind miteinander verbündet, weil sie nur einen Mittelpunkt haben – den Menschen – und weil sie das Letzte geben, was der Mensch über den Menschen weiß.«
»Aber die Kunst, die Kunst«, schrie der Alte und schlug auf den Marmortisch, daß der Löffel in der Kaffeetasse eine Melodie hüpfte.
»Wer sagt Ihnen denn, daß das nicht alles eine höhere Kunst offenbart als dieser ganze, veilchenblaue, gereimte Unsinn und ihr ewiges Kling-klang-Gloribusch, das Sie für Kunst und Poesie halten! Sehen Sie, ich will Sie in Ihrem eigenen Gebiet schlagen. Gottfried Keller hat schöne Verse geschrieben, oder glauben Sie nicht, ›Augen, meine lieben Fensterlein‹ und so und hat trotzdem gefühlt, wie eine neue Kunst aufkommt. Wissen Sie, was er Justinus Kerner entgegenrief, als der behauptete, daß die Eisenbahn die Poesie aus der Welt vertriebe?!
›Schon schafft der Geist sich Feuerschwingen
Und spannt Elias Wagen an
Willst träumend du im Grase singen –
Wer hindert dich, Poet, daran?‹
und wissen Sie, daß er sagt, daß es doch noch schöner wäre, vom Bord eines Zeppelin aus einen Becher Griechenwein in das von Schiffen verlassene Meer zu gießen, fünfzig Jahre vorher?! Da haben Sie es, daß der Schriftsteller an die Zukunft der Welt denkt. ›Die Tat von unseren Gedanken‹ ...«
Aber der Alte war ein geschickter Kerl. »Lieber Freund«, rief er plötzlich begeistert und legte Fritz Eisner die Hand auf die Schulter und hatte dicke Rührungstränen in der Stimme ... »wenn ich Sie so reden höre meine Jugend! ... meine Jugend! ... genau so, ganz genau so habe ich vor fünfundzwanzig Jahren auch gesprochen. Und wenn Sie so alt sein werden, wie ich, so werden Sie reden, wie ich jetzt rede. Und vielleicht haben wir beide recht; jeder von sich aus.«
Fritz Eisner wollte noch antworten, daß er viele Gründe hätte, daran zu zweifeln, und daß die Besten in der Welt, je älter sie werden, desto jünger werden – nicht nach rechts, sondern nach links rücken. Aber er fühlte plötzlich, daß er schon viel zu viel gesprochen hatte ... sich viel zu weit vorgewagt hatte, und daß er ja vielleicht ebenso in seinem Kartenhaus lebe, wie der andere, und daß es doch ein reichlich kindliches Vergnügen wäre, dem anderen sein Kartenhaus über dem Kopf zusammenzublasen. Narren muß man gelten lassen, denn zum Schluß besitzen sie nichts, wie ihre Narrheit.
Aber da gab Scipio 37 durch ein verlegenes Zupfen an seinem Ziegenbart Kunde, daß er auch ein gewichtiges Schlußwort in die Debatte werfen wollte. »Hören Se, Mannchen«, sagte er, »jeder Schuster tadelt die Stiebel, die der andere macht. Und de Hauptsache bleibt doch, daß se gut sitzen und den Kunden nich drücken. Und frieher hat man Stulpenstiebel jetragen ... und dann hat man Zugstiebel jetragen ... und jetzt trägt man Schnürstiebel. Und trotzdem ham de Menschen frieher jenau so gut drauf laufen kennen, wie heut.«
Fritz Eisner hatte das Gefühl, als müsse er Scipio 37 umarmen und dem Alten hinter die Ohren schlagen. Denn das, was er da eben gesagt hatte, war viel handfester und vernünftiger, als all der gereimte Unfug von Grabesnacht, Herzentrauer, Rosen und Mägdelein, in die ihn der Alte hineingehetzt hatte.
Aber Fritz Eisner kam nicht dazu, seinen Gefühlen nachzugeben (und das hätte ihm auch gar nicht gelegen; er war weder für umarmen noch für Ohrfeigenausteilen; und Scipio 37 hätte sich auch über die Sitten der Großen Welt sehr gewundert, wenn ihm plötzlich jemand offensichtlich, so mir nichts dir nichts, um den Hals gefallen wäre – sicher viel mehr als der Alte über eine Ohrfeige) ... also Fritz Eisner kam in mit Mietze Strehl da gesessen; und nun schimmerte Lucies Seidenhut herüber, und das Mattviolett und Sandfarbene ihres Kleides, und die grünliche Bronze ihrer halbfreien Schultern und Arme. Die waren fast wie von einer Malaiin in Farbe und Formen – so schlank und so gerundet, als ob sie eben von der Drehbank kämen so beweglich und so schmiegsam. Lucie hatte eigentlich einen viel zu kleinen Kopf, den nur die Haarmassen größer erscheinen ließen, hatte ein sehr gerades, sehr ziseliertes, bewegliches Schnuppernäschen und ein paar übergroße, leicht schrägstehende, fast bis zum Winkel noch breit geöffnete, vielleicht meergrüne Augen, von einer seltsamen und undefinierbaren Färbung. Man glaubte, daß es irgendeinen Halbedelstein von ähnlicher, schwimmender Tönung geben müsse, aber man kannte ihn nicht. Fritz Eisner hatte sie immer früher mit einem Äffchen verglichen, das närrisch, verzärtelt, fröstelnd und absonderlich durch die Gitterstäbe des Käfigs blinzelt, als ob es sagen will: was habe ich denn von den paar Zuckerperlen, die ihr mir zuwerft – meint ihr etwa, das sei Ersatz für Urwälder, Lianen und Cateleyen? Aber plötzlich sah er, daß dieser Vergleich falsch, grundfalsch war. Daß er das nicht schon gestern, nicht schon ehedem erlebt hatte?! Es gab eigentlich nur ein Tier mit diesen Bewegungen, diesen langen Gliedern, diesem schmalen, wie federnden Rücken und diesem kleinen Kopf mit den großen, grünlichsprühenden Katzenaugen. Wie hieß es doch – die Ginsterkatze oder Gepard. Es gab kein Wesen, das so pfeilschnell dahinschießen konnte; es war nicht groß, aber man hielt es dafür, denn es war sehr vornehm, sehr schmal, sehr lang, sehr hochbeinig, gar nicht katzig und schleichend, eher wie ein edler Jagdhund im Gebaren; aber doch Katze dabei, rassig, federnd, unberechenbar, ohne Hundetreue. Persische Könige haben sich einst zur Antilopenjagd solche Ginsterkatzen abgerichtet und sind mit schnellsten Pferden hinter ihnen durch die Wüste gehetzt. Wirklich so sah Lu aus!
Und noch eines entzückte Fritz Eisner an ihr: alle anderen jungen Frauen, die er kannte, zogen sich an – diese kleine Ginsterkatze kleidete sich ... war zwar keine Modedame, aber stimmte sich so sicher ab, wie ein Maler sein Stilleben.
Aber alles in allem, paßte sie doch eigentlich vorzüglich zu Dju, der gleichfalls sehr gut gekleidet war, der gleichfalls sehr schlank war, brünett und irgendwie exotisch – ein guter Typ mit seiner freien, schon etwas zurückgedachten Stirn. Heute sah ihn ja Fritz Eisner weder körperlich noch seelisch maskiert, und war erstaunt, daß er eigentlich doch mehr war, als nur der Sohn aus gutem Haus, das nun reich genug geworden ist (durch Generationen), um seine Enkel in die Wissenschaft hineinzuschicken; mehr als jener Typ, der gerade in Berlin so häufig ist – diese klugen, feinen, netten, jungen Menschen mit Manieren und Witz, die schon in der Schule die guten Schüler stellen, die überall zu brauchen sind, wie man sie hintut, und mit denen dabei doch nichts los ist, weil sie eben nie über den guten Schüler hinauskommen.
Lucie winkte Fritz Eisner. »Wir kommen so spät«, sagte sie, »aber meine Mutter war noch da, und die haben wir dann erst nach Hause gebracht. Gehen Sie, setzen Sie sich hier ein bißchen zu uns her!«
Es war ein guter Platz. Man überblickte alles. Man konnte ins Freie hinaussehen, wenn die Untergrundbahnzüge ihre Kletterübungen machten, sah auch von drüben einen Kastanienbaum mit all seinen weißen Blütenkegeln zwischen den grünen, breiten Fingern seiner Blätter ... seit gestern wohl erst waren sie ganz auf (was so ein paar warme Nächte und so ein warmer Regentag doch alles bewirken können!) ... ahnte sogar durch das aufgezogene Leinendach zwischen Eisenrippen so etwas wie Sterne hoch oben im Dunst … war also mit der Stadt und der Natur und dem Weltall in Beziehung. Und übersah zudem fast, ohne sich zu wenden, die Terrasse und fast das ganze Lokal mit seinen Tischen, seinen Menschenknäueln darum, und mit denen, die kamen, Platz suchten, sich verzweifelt umblickten und wieder gingen. Ja, Fritz Eisner war aber noch besonders bevorzugt, denn die Spiegelmanufaktur, die anscheinend dieses Café zum Musterlager gemacht hatte, hatte es sich nicht nehmen lassen, eines ihrer Hauptstücke so anzubringen, daß es halbschräg Fritz Eisner gegenüberlag und ihm so noch vieles offenbarte, was sich ansonsten seinem Gesichtskreis entzogen hätte.
»Nun will ich Sie aber dingfest machen«, sagte Lucie, »erstens meinen Glückwunsch zur Annahme. Ich bin gespannt, was aus Ihnen geworden ist inzwischen. Sie müssen doch all Ihren alten Bekannten ganz neu sein – so lange hat man nichts mehr von Ihnen gelesen. Aber seien Sie vorsichtig! – denn Ihre Bekannten sind auch nicht mehr die gleichen wie früher und, ›das Täfelein, das mir vor zehen Jahren so gefallen, gefallet mir gar nicht mehr‹.«
Fritz Eisner lachte. »Mir auch nicht!«
»Mit achtundzwanzig darf man noch ›begabt‹ sein mit fünfunddreißig darf man es nicht mehr sein! Also, wann geht es auf unseren Kunstbummel? Diesen Mittwoch? Denn wer weiß, wie lange wir noch hier sind nicht, Dju? – es sind große Dinge im Gange (darf ich es ihm sagen, Dju? Aber er ist Presse ... er schwört Diskretion und morgen steht es schon im Blättchen!).«
»Gott, Lu – die Universität ist eine ziemlich alte Institution«, meinte Doktor Spanier lachend. »Und jede Universität hat seit Urzeiten so und so viel, sagen wir X ordentliche Professoren und X Quadrat außerordentliche Professoren und X hoch fünf Privatdozenten. Einer muß es doch sein. Ich habe noch nie gesehen, daß die Weltkugel auch nur ein Hunderttausendstel Drehung schneller rollt, wenn es nun ein anderer ist. Das glauben nur die, die draußen stehen, und noch nicht in den Betrieb hineingeguckt haben. Und ob ich mir wirklich in Bonn so schnell wieder eine Praxis aufbauen könnte ... und wie das mit meiner ganzen Apparatur dann werden soll ... es läutet so etwas, daß ... nicht wahr? ... man hat mir einen Wink gegeben ... aber es kann auch ganz anders kommen! Nebenbei, Herr Wirt«, jetzt war er wieder der Stammgast der Destille von gestern, »wollten Se doch mal zu mich kommen. Und sie sich bei mir bekieken. Wat ick Ihnen schon enmal jesagt habe. Also – wann? Das nächste Mal forder ick Ihnen jar nicht mehr uff – da gibt's einfach Eene rin!« – Er demaskierte sich wieder. »Und Ihre Frau Schwägerin wollten Sie bei der Gelegenheit gleich mitbringen. Lu sagte mir, sie will nicht recht. Bei solchen Erkrankungen geht es ja auch nicht von heut auf morgen; – aber sie muß mir schon vor den Schirm. Wenn eben nicht diese Woche, so in vierzehn Tagen da können wir ganz unbesorgt sein!«
»Wissen Sie«, meinte Fritz Eisner, »meine Schwägerin ist nun natürlich voll Eifer für die große Arbeit, die meinem Schwager zugefallen ist, und redet, als ob sie Tag und Nacht ihm helfen müsse ... als ob es ohne sie überhaupt nicht ginge. Heut wollten sie schon die Nacht drangehen. Aber es wird alles nicht so heiß gegessen. Sie liebt es eben, sich so ein ganz klein bißchen aufzuspielen. Sie ist gewiß ein hübscher, tüchtiger, nicht ganz uneigenartiger Mensch, von einem ungewöhnlich starken – wie soll ich das sagen? –: Lebenswillen ... Lebensmotor.«
Doktor Spanier hörte scharf zu. »Oh«, unterbrach er, »das verbessert die Prognose bedeutend!«
»Aber – wie soll ich das höflich umschreiben? – ihr Intellekt, einfach als Aufnahmestelle im Kopf, ihre Hirnmaschinerie ist nicht sehr bedeutend.«
»Das könnte ein großer Vorzug für sie sein! Denn die reizendsten Frauen sind ja die, deren Verstand das Gefühl ist.«
»Aber so liegt es doch wieder nicht! Ihr Verstand ist doch wiederum nicht so unbedeutend, daß er es nicht selbst merkte, wie unbedeutend er ist. Und das ist eben ihr Unglück. Und deshalb, weil sie das weiß, manscht und panscht sie in allerhand geistigen Dingen umher, mit dicken Tönen, deren einfachste Anfangsgründe schon nicht mehr in ihren Kopf gingen, und spielt sich und der Welt Theater vor.«
Aber Doktor Spanier schien das gar nicht mehr so sehr zu interessieren. »Ja, meinen Sie denn, daß Geld aufgebracht werden kann, um Ihre Schwägerin vielleicht – sagen wir mal – in die Schweiz zu schicken? Das ist natürlich das Alpha und Omega. So etwas kostet doch allerhand. Und zu Hause kann darum dann doch nicht gespart werden!«
»Warum nicht?!« meinte Fritz Eisner. »Meine Schwiegermutter hat zwar gerade so viel, um selbst notdürftig zu existieren. Daher wäre also kaum etwas zu erwarten. Und dann wollen sie ja gerade, wie sie annehmen, etwas geerbt haben, von einer alten Dame ... Sie erinnern sich, Lu? – Tante Trautchen aus Melsungen, Likataua, die Königin von Honolulu, die man heute nachmittag, wie der Geistliche sich wohl geäußert haben mag, dem Melsunger Boden wieder zurückgegeben hat, dem sie entsprossen ist. Mir ist das ja etwas zweifelhaft. Immerhin wär's möglich. Rechnen – rechnen möchte ich aber eigentlich nicht damit. Aber – so weit ich weiß, sind doch Egis Eltern immer noch, sagen wir ruhig: reich! Und dann wird den beiden ja auch ihr Geld – es ist zwar nicht besonders viel! – das sie im Geschäft mit drinhaben, wohl sehr gut verzinst. Da habe ich eigentlich keine Angst!«
Doktor Spanier hatte wieder sehr aufmerksam zugehört und das Eis auf seinem Teller mit dem Löffel zu kleinen Kegeln aufgemauert. Er hielt den Kopf schräg und sah über die Kneifergläser von unten her zu Fritz Eisner herüber. »So etwas«, sagte er, »ist genau wie Eheirrungen: sie sind meist ganz offensichtlich und alle Leute wissen sie. Und nur der, der es wissen müßte – nicht. Ich glaube nämlich nicht, daß Ihre Frau Schwägerin noch sehr auf ihren Schwiegervater rechnen kann, denn es sieht da sehr schlecht aus. Wir erzählten eben Lus Mutter, wie reizend und anregend es gestern bei Ihnen gewesen wäre. Und da fragte sie, wer alles da war, und meinte dann, sie begriffe nicht, wie Ihrem Schwager in diesen Tagen der Kopf noch danach stehen könnte, Vergnügungen mitzumachen!«
»Ach Gott«, sagte Fritz Eisner verschüchtert, »ich hörte es heute auch schon von anderer Seite. Aber hoffentlich ist es nicht so schlimm, wie sie sagen. Wir sind ja beide, Gottseidank oder leider Gottes, keine Geschäftsleute, und wie ich die kenne, haben sie zum Schluß, wenn sie nichts haben, immer noch mehr, wie wir, wenn wir viel haben. Im Jahrmarkt des Lebens hat sich der Geschäftsmann ein Abonnement auf die große Luftschaukel genommen; wenn er auch scheinbar ganz parterre ist – er kommt immer wieder 'rauf mit gesetzmäßiger Notwendigkeit. Die Hauptsache ist nur, daß er nicht ganz rausfällt. Aber das kommt ja nicht alle Tage vor. Ich hörte mal: ›Ein guter Stolperer fällt nicht‹ und ein guter Stolperer ist der alte Herr M., Egis Vater, ja immer gewesen.«
Doktor Spanier war schon wo anders und sinnierte vor sich hin. »Es wäre ja auch hier auszuhalten und ganz schön, wenn man wo anders wohnte; und vielleicht auch mal einen grünen Baum vorm Fenster haben könnte. Eigentlich soll man doch von Berlin erst weggehen, wenn man es nicht mehr braucht, und wenn es uns nicht mehr braucht. Ich habe in der Schule immer etwas vom steinernen Meer gelernt. Ich habe keine rechte Vorstellung mehr, wo es liegt. Das eine aber weiß ich: ich wohne mitten drin. Ich habe vierzehn Fenster und nicht von einem Fenster aus sehe ich auch nur ein grünes Blatt. Wenn man wenigstens solche Kastanie wie da drüben hätte. Sie ist zwar keine von den schönen, so wie zwischen Bonn und Poppelsdorf – kennen Sie die Allee? – aber sie ist doch wenigstens ein Baum. Solch Großstadtbaum erinnert mich immer an die arme Verkäuferin von Jordan weißt du, Lu, die in die Sprechstunde kam, das junge, kranke Mädchen, das ich dir mal zum Kaffee reinschickte ... schön und rührend zugleich.«
»Ja«, sagte Fritz Eisner, »das ist merkwürdig, es gibt eigentlich keine großen Landschafter, die vom Land kommen; immer sind es Städter, da sieht man, daß die Sehnsucht doch zuletzt die Mutter aller Kunst ist! Erinnern Sie sich, Frau Doktor, wie einer der Fontaineblauer – ja, wer war es? – als sie beide alt und berühmt geworden waren, an den anderen schreibt: »Weißt du noch, wie wir oben als Jungen von unserer Dachkammer immer über Höfe und Dächer fort nach der einen Baumkrone blickten, die da aus dem Gewirr der Hinterhäuser hervorragte?« Durch den einen Baum sind sie Landschaftsmaler geworden. Weil er für sie das Seltene, Ferne, Unerreicht-Schöne war. Und er hat ihnen den Unterton später für jeden Baum gegeben, den sie malten.«
»Oh«, sagte Lucie ziemlich unvermittelt, »das ist hübsch«, und zeigte lächelnd ihre schönen breiten Zähne, wurde von einer leichten Röte angeflogen vor hastiger Interessiertheit. »War das Daubigny oder Rousseau?« Aber irgendwie glitt dieses Lächeln doch über Fritz Eisner hinweg, ebenso wie der Blick. Fritz Eisner lag zwar noch im Gesichtsfeld, aber nicht im Zentrum, und er spürte das, und es machte ihn unbehaglich, wie ein plötzlicher kalter Wind in einer Sommernacht; und es ließ ihn aufblicken, und es zog seine Augen, ohne daß er eigentlich wußte weshalb, schräg vor sich zu dem großen Spiegel herüber, in das Prunkstück der Spiegelmanufaktur hinein. Und in diesem Spiegel schritt gerade ein junger Mann, das heißt die Vision, das Abbild von ihm, durch das Lokal auf die Treppe zu, die sich dort mit ihrem Goldgerank des Gitters in jenem schönen breiten Schwung (der rote Plüschläufer erfordert, und in der Gründerzeit das Letzte an Vornehmheit ausdrücken sollte) gleichfalls visionär nach oben, in die vornehmeren Regionen, verlor. Der junge Mann im Spiegel trug einen rauhen und gesprenkelten Anzug, grün-gelb-violett, mit Tupfen, wie Heuhüpfer, sehr hoch aufgeschlagene Beinkleider, gelbe Schuhe, lila Strümpfe, einen leuchtenden Panama ... war eher klein als groß ... und zeigte durch Arm- und Schulterbewegungen selbst von rückwärts her und schon beim Gehen, daß er durchaus nicht mit dem niederen Volk verwechselt sein wollte, welches hier unten die Wiener Stühlchen drückte, sondern nach oben gehöre. An irgendjemand erinnerte Fritz Eisner dieser Herr. Zwar liefen jetzt hier viele solcher herum, je mehr, desto später es wurde. Und sie sahen alle ungefähr so aus, wenigstens sechzig Prozent von jenen, die nach oben wollten; aber war das nicht etwa?! – Richtig – da drehte er sich auf der Treppe einen Augenblick um, wohlberechnet nicht lange, blieb stehen, warf einen Blick zurück, in dem deutlich stand: ›Siehst du, mein Kind, wenn ich sage, ich komme, um dich heute nochmal zu sehen, so tue ich es auch. Ich halte immer Wort.‹ Und schon hatte die Kommende Note den Kopf gewendet und stieg weiter empor. Nun war er nur noch bis zum Genick sichtbar ... nun bis zu den Schultern ... nun sah man die gekrempelten Beinkleider, die gelben Schuhe auf dem roten Plüsch ... und nun war er ganz fort. Und die Treppe lag still, lichtübergossen, rot, golden und schwungvoll, wieder allein im Spiegelglas, gerade wie auf einem schlechten Bild von Knud Ekwal.
Lucie nahm hastig das Gespräch auf, fing irgendwie an zu diskutieren, lachte ihrem Mann zu, begann nach L. D. zu fragen, ob es etwa neue Klugheiten kenne. Wartete die Antwort kaum ab. Sie möchte ja auch ganz gern ein Kind haben, aber später. Man soll den Baum da drüben fragen, was schöner wäre: zu blühen, oder Früchte zu tragen. Plötzlich unterbrach sie sich, wollte mit ihrem Manne den Platz tauschen, irgend jemand starre sie frech an ... und sie liebe es nicht, mit jener Gruppe von Damen verwechselt zu werden, von denen schon ein berühmter Professor der Archäologie behauptet hätte, daß sie im alten Athen zwar geistvolle, aber auch oft recht leichtlebige Damen gewesen wären. Sie fände es überhaupt empörend, daß jeder Mann das Recht hätte, in einer Weise an sie zu denken, die sie nicht wünsche. Die Voltspannung war plötzlich umgeschaltet, durch einen Transformator gegangen. Das fühlte man. Auch Doktor Spanier wurde unruhig, sagte, man müsse bald gehen, er hätte fast nicht geschlafen. »Zahlen!« Doch machte der Kellner Schwierigkeiten, war weder mit Höflichkeiten noch mit Grobheiten herbeizulocken. Um die ersten kümmerte er sich nicht, die zweiten strafte er mit stummer Verachtung; stürzte nur vorüber wie ein angeschossener Eber, drehte zwar ein wenig den Kopf, zeigte jedoch keine Lust, den Feind anzunehmen, sondern zog sich brummend gegen das Innere des Cafés zurück, und wandte sich von der Terrasse fort (mit der Sicherheit, die sein Beruf gibt, ein Tablett mit zehn leeren Tassen wie einen Tomahawk dabei schwenkend) den pendelnden Flügeln der Glastür zu. Allwo es, da er immer noch halb zurücksah, beinahe zu einem Zusammenstoß mit zwei Herren und einer Dame gekommen wäre.
Die Dame erkannte Fritz Eisner zuerst. Es war Lena Block. Sie war besonders groß und schön heute und mit einem elektrik-blauen Kleid aus einem ganz sich anschmiegenden Seidenstoff; sie war von Kopf bis Fuß angezogen, prüde fast, und doch eigentlich nackt. Das war Pariser Schneiderkunst. Der eine der Herren war auch sehr französisch gekleidet, mit fliegendem Lavallier, überbreiten Hosen, die nach unten ganz spitz und eng zuliefen, einem ganz winzigen, gradkrempigen, blauen Filzhütchen, überaus salopp und dabei sehr sauber und gepflegt. Man konnte ihn der Aufmachung nach für einen Pariser Maler vom Montmartre halten. Aber, wenn man schärfer hinsah, so erkannte man doch, daß er nur der junge Pariser Künstler aus dem »Fall Clemenceau« in der Aufführung des Ostend-Theaters in der Frankfurter Allee war. Zudem war er pockennarbig, unerhört lebhaft und so abenteuerlich-häßlich, daß man es ihm übelgenommen hätte, wenn er nicht noch ein bißchen geschielt hätte. Es gibt so Gesichter, die einfach schielen müssen. Seine Haut war tiefbrünett und grünlich. Und sein Haar strähnig und von dem stumpfen Schwarz echter chinesischer Tusche. Sein Alter aber war ein Preisrätsel.
Der dritte aber war Egi, ganz blank rasiert heute, wie ein Baby; und noch angepudert von dieser Manipulation, wie L. D. nach der Trockenlegung. Egi mit einem schwarzen Rock, dessen Sauberkeit über die Kürze der Ärmel und die Enge in den Nähten hinwegtäuschen sollte, und mit weit vorgerutschten, weißen, leuchtenden Manschetten und einem – wenn möglich – noch reineren Kragen. Vielleicht war beides gar nicht so auffallend und nur der spezielle Fall machte, daß es so erschien. Sein Gesicht war gegen gestern vollkommen ausgeplättet. Und aus seinen Kneifergläsern strahlte Glück, Lustigkeit und ein ganz klein wenig amüsanter Verschlagenheit.
Man konnte nicht an Doktor Spanier, Lu und Fritz Eisner vorüber, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Sie lagen zu direkt am Wege. Und man war überaus erfreut, sie zu sehen. Man stellte mit vielen Förmlichkeiten vor: der seltsame Herr war ein Professore Toxeira aus Cordoba und Pariser Pensionsfreund von Lena Block, Spezialkollege von Egi, und ein ganz amüsanter und gesellschaftlich gewandter, unendlich liebenswürdiger Mann. ›Er spräke, wenn er darum ersuchen dürfe, gerner fransösik, jedennoch er auch dem Deutschen sich mächtig fühle.‹ Und er sprak fransösik. Mit jener Schnelligkeit, mit der eine Herde wildgewordener Mustangs über die Pampas flieht, mit der ein Zug der Pacificbahn durch die Nacht jagt. Die Unterhaltung mit ihm war relativ einfach. Man brauchte nur ›Guten Tag‹ zu sagen – das übrige übernahm für die nächsten zwei Stunden Professore Toxeira. Ohne Zweifel war er sehr rege, sehr dekorativ geistig, schönrednerisch, sehr vital und lustig. Nicht einmal witzlos. Aber er war ganz anders, als wir. Und Fritz Eisner hatte ihm gegenüber das Gefühl, wie bei einer absonderlichen Taschenuhr, daß er ihn aufmachen müsse und in das Werk gucken.
»Sie sind aus Cordoba in Uruguay?« fragte Fritz Eisner, um wenigstens etwas zu sagen, denn, daß er ein Rasta, ein Maccac, war unschwer zu sehen. Nebenbei: Fritz Eisner hätte ebensogut Honduras, Ecuador, Bolivia sagen können – er sagte es zum Schluß nur, um irgend etwas zu reden ... und die nächsten Minuten waren furchtbar! So ungefähr muß der Ausbruch des Mont Pelée gewesen sein! ›Nein! Cordoba läge in Argentinien! Und das einzige Land der Welt, wo es nicht liegen dürfe, wäre Uruguay! Nur grenzenlose Unkenntnis (caramba), eine eingefleischte Bestienhaftigkeit (caramba), tiefstes Barbarentum könne zwei Länder wie Uruguay (maledetto) und Argentinien miteinander verwechseln.‹ Und nun stimmte Professore Toxeira einen homerischen Gesang auf die geographischen und klimatischen Verhältnisse dieses Landes an, dessen Capitale ja schon Buenos Aires heiße; gab einen kurzen, aber trefflichen Überblick über die Geschichte, Entwicklung, das Zusammenschmelzen aus soundsovielen Provinzen, welche vordem in feindlichen Kämpfen sich wütig zerfleischt hätten, um nun in herrlicher Einheit in der Welt ein Hort des Friedens und des Fortschritts zu sein ... pries die Ritterlichkeit, menschliche Gesinnung und Gesittung ... Sie sollten nur alle herüber nach Argentinien kommen, um erst die Herrlichkeit, Gastfreundlichkeit, Freiheit und Großzügigkeit dieser »Blume Südamerikas« kennen zu lernen – dann würden sie nie wieder eine Stadt dieses strahlenden Staates mit der tiefen Finsternis verwechseln, welche über den vermaledeiten Gauen jenes Räuberstaates wie eine dicke Wolke sich breitet, jenes Staates, den er hier nicht einmal bei Namen nennen wolle.
Hätte Fritz Eisner Ecuador oder Peru gesagt, so hätte Professore Toxeira nur mitleidig aber höflich gelächelt – aber Uruguay war eine Gemeinheit ... Uruguay war für ihn das Stichwort, auf das er tobsüchtig wurde ... denn, was soll man eigentlich als glühender Patriot hassen, wenn nicht seinen Nachbarstaat. ›Und ob hier etwa jemand am Tisch meine, daß es eine Schande sei, ein Argentinier zu sein? Er wenigstens wäre stolz darauf, ein treuer Sohn dieses Landes genannt werden zu können.‹
Und in diesem Stile ging es fort, bis nur noch letzte, langsame, verglimmende Lavaströme der Krafteröffnung dieses Mont Pelée entglitten, und Egi geschickt – er war überhaupt sehr geschickt – das Gespräch auf einen der beiden Folianten lenkte, die er – jedenfalls wohl aus Gewohnheit – unter dem Arm trug.
Lena Block sagte, daß Professore Toxeira im vergangenen Jahre drüben Dekan der Universität Cordoba gewesen wäre, und jetzt vom Staat auf ein halbes Jahr nach Europa geschickt worden sei; erst wäre er in Paris gewesen, bliebe nur noch einige Wochen in Berlin, um dann nach London zu gehen. Er beabsichtige vor allem, hier wie dort, Studien über das Universitätswesen zu machen, und seiner Provinz Vorschläge zu ihrer Umorganisation zu unterbreiten. Außerdem sei er Kunstfreund und selbst Maler, weit über das Dilettantenmaß hinaus und habe auch in Paris fast nur mit Künstlern verkehrt. (Doktor Spanier lächelte verständnisvoll.) Ob man nebenbei noch mit hinauf in ihr neues Atelier kommen wolle. Sie hätte doch wider Erwarten schon heute einziehen können, es wäre zwar noch nicht alles in Ordnung, aber eine Tasse Tee traue sie sich trotzdem zustande zu bringen, denn sie hätte sich genau gemerkt, wo die Dinge verstaut wären.
Aber man lehnte allseits ab: sehr nett ... ein andermal, es wäre heute zu spät ... man wäre noch zu müde von gestern, oder richtiger von heute früh ... wolle nicht wieder sich eine Nacht um die Ohren schlagen ... doch freue man sich wirklich sehr, wenn man einmal ihr neues Atelier und ihre Arbeiten sehen könne.
Während der Kellner herankam, der sich doch endlich genötigt sah, einzukassieren (niemand verstand, warum er es nicht vor einer Viertelstunde schon getan hatte, denn er war so lange völlig unsichtbar und unbeschäftigt im Hintergrund geblieben), erhob sich Lena Block, schüttelte allen mit ihren großen Bewegungen die Hand und verabschiedete sich. Egi und Professore Toxeira blieben noch einen Augenblick sitzen.
»Hör mal Fritz«, sagte Egi, »wenn ich mich nicht sehr täusche, war das doch gestern der Direktor Liebenthal, den wir da in der Gloriole mit seiner Glatze vor seiner blühenden Magnolie leuchten sahen?«
»Gewiß!« meinte Fritz Eisner, »eben bin ich sogar wieder da vorbeigekommen – und heute war anscheinend großer Empfang; denn die ganze Bude war hell ... wie ein Salondampfer illuminiert, vom Maschinenraum bis zum Toppmast.«
»Sooo ...« Egi schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht. Denn mein Bruder hat doch heute bei einer ominösen Familienkonferenz fest und steif behauptet, daß dieser Ehrenmann gerade verreist wäre.«
»Hören Sie«, unterbrach Doktor Spanier, während er aufstand und Lu ein seidenes Cape um die Schultern hing. »Ihre Frau sollte mal ganz freundschaftlich zu meiner Frau zu einer Tasse Tee, und zu mir anbei gleich in die Sprechstunde kommen – ich glaube, es ist sehr nötig. Und vielleicht kommen Sie dann nachher auch heran, um sie abzuholen, damit ich Ihnen sagen kann, ob ich etwas gefunden habe oder nicht. Wann kann ich wohl damit rechnen?«
Egi blickte Doktor Spanier belustigt, wie es schien, über die Kneifergläser an. »Man sieht«, sagte er, lächelnd und mit jener Langsamkeit, die er liebte, wenn er seine Worte witzig oder ironisch formen wollte ... »man sieht, daß Sie als strahlend-junger Ehegatte mit der Psychologie älterer Ehen noch recht wenig vertraut sind, und daß Ihnen Lucie sehr wenig über meine Frau Gemahlin erzählt hat. Sie ist nämlich eine überaus selbständige Dame. Und die Erfahrung hat gelehrt, daß es stets praktischer ist für die Umgebung, sie über solche Dinge allein bestimmen zu lassen. Die einzige Möglichkeit, sie zu Ihnen zu bringen, wäre noch, wenn ich ihr verböte, zu Ihnen zu gehen. Wenn Sie wünschen, werde ich davon Gebrauch machen. Doch ist auch hierauf bei der Unberechenbarkeit unserer Gegenpartei ein sicherer Erfolg nur in dem Maße zwei zu eins zu erwarten.«
Doktor Spanier schüttelte den Kopf. Hörte der da wirklich nicht, oder wollte er nicht hören? Gott, er ist wohl auch – wie so viele – der Meinung: was man wegdenkt, ist nicht vorhanden!
Fritz Eisner überlegte, ob er schon mitgehen solle. Aber drüben, am Tisch des Alten mit der Sammetjacke hatte sich noch ein ziemlicher Schwarm zusammengefunden und vielleicht könne er doch noch mal fragen, ob irgendeiner etwas Neues über Peter Hille erfahren hätte. Merkwürdig eigentlich: den ganzen Abend hatte er nicht mehr an ihn gedacht – was doch ein Frauenlächeln uns alles aus dem Hirn wischen kann!
Doktor Spanier und Lucie gingen ja sowieso nach der anderen Seite, nahmen wohl gleich ein Auto oder stiegen erst in die Hochbahn ... Egi hatte gewiß auf dem Heimweg mit Professore Toxeira zu sprechen; und das war zum Schluß wichtiger und vielleicht nützlicher für seinen Schwager, als von ihm sich über seinen neuen Roman und dessen Annahme breitspurig erzählen zu lassen ... – Also wäre es schon das Beste, er ginge noch einen Augenblick zu seinem Freund mit der Sammetjacke herüber. Eigentlich hatte er diesen alten amüsanten Kindskopf doch vorhin verärgert. Und wozu das? Wo käme man in der Welt hin, wenn man etwa begänne, an seinen Bekannten Kritik zu üben?!
Aber Egi verabschiedete sich gleich vor der Tür ... Doktor Spanier und Lucie hatten ihm schon den Rücken gekehrt ... mit tiefem Hutziehen und langem Händeschütteln und nochmaligem Hutziehen und lächelnden Verbeugungen beiderseits von Professore Toxeira und verschwand eilends durch den kleinen Rundbogen, der unter der Rampe der Hochbahn hindurchführte. Und alsbald sah Fritz Eisner, wie drüben auf der anderen Seite aus dem Schatten der blühenden Kastanien eine große, stattliche Person, in elektrikblauem, anliegendem Kleid sich löste und ihm entgegenflog. Ein paar Schritte sah man Egi noch: unter dem einen Arm die paar dicken Folianten, unter dem anderen eben jene stattliche und elektrikblaue Person; aber gleich verschimmerten sie in der Dämmerung der Straße, in dem Licht der Bogenlampen, das aus den hohen Kugeln wie Schnee und Mondschein herabfegte. Und dann nahm hastig und willkommen sie links drüben das junge Laubdunkel auf.
Fritz Eisner wandte sich um und ging zum Tisch des Alten mit der Sammetjacke herüber. Er hatte das Gefühl, als ob der da drüben jetzt, vielleicht in diesem Augenblick, einen Gipfelpunkt seines Seins erklommen hatte ... das größte Glück seines Lebens erfuhr: die Befreiung und Lockerung seines Ichs, etwas Unvergängliches, das ihn umformen und umgestalten und umkneten müsse. Denn diese Lena Block war schon keine Alltäglichkeit, mit der stolzen Freiheit ihrer Sinne und ihrer Glieder ... mit ihrer Klugheit und ihrer ganzen hohen und beweglichen Kultur. Sie war schon so etwas wie ein Göttergeschenk für jeden Mann ... wie eine Revolution für einen Staat. Und warum sollte man es Egi verargen, wenn er für das Elend seiner zerrütteten Ehe sich einen solchen Traum von menschlichem Glück eintauschen konnte, von gesunder, strahlender Schönheit? Und doch preßte Fritz Eisner zugleich eine tiefe und entmutigende Traurigkeit das Herz zusammen. Denn ganz gleich, was nun kam: über Egis Ehe, so brüchig sie auch sein mochte, war das Todesurteil gesprochen; – ob jene einen Tag zusammen sich schmiegten, monate- oder jahrelang, war gleich, zu Hannchen würde er innerlich nie mehr zurückfinden. Und mochte sie auch noch zehnmalsoviel für ihn lügen, wie sie schon jetzt tat ... und alles in allem war Hannchen doch ein Mensch, der Besseres verdient hatte; auch genügte es ja eigentlich schon, daß sie jetzt krank auf der Strecke liegen geblieben war.
Drüben um den Alten mit der Sammetjacke hatten sich jetzt mehr gesammelt. Man hatte sogar einen Tisch noch heranrücken müssen, um der ganzen Korona Platz zu schaffen, und da war er nun in seinem Element. Er brauchte Menschen um sich, um selbst einer zu werden. Er sog gleichsam die Energien auf, rieb sich an ihnen, belebte sich am Widerspruch und Jugend, schlug desto mehr Funken, je mehr er sich rieb, lächelte Erinnerungen, trieb Anekdoten wie Knospen, sprühte Aphorismen, seufzte Elegien. Für zwei bis drei war er schon kein Gesellschafter mehr ... allein aber fiel er stumpfsinnig in sich zusammen; wenn er durch den vorgehaltenen Kneifer in ein Zeitungsblatt blinzte, hatte er sein Zuhausegesicht. Und das war nur nichtssagend und versorgt.
Seine Korona waren um diese Stunde meist sehr junge Leute, von denen doch schon manche einen Gedichtband im Selbstverlag hatten erscheinen lassen, andere krampfhaft noch nach einem Verleger für ihren Gedichtband suchten; oder gerade – wie sie äußerten – noch die letzte Feile an ihren Gedichtband anlegten. Denn wie Schopenhauer sagt: »Der Jüngling hat Freude an Versen als solchen – im Alter zieht man die Prosa vor.« Und wenn Schopenhauer weiter sagt, daß die Poesie vom Leben sich dadurch unterscheidet, daß die Poesie interessant und doch schmerzlos vorüberfließt, während das Leben, sobald es interessant wird, nicht ohne Schmerzen bleibt, so waren jene gleichfalls ein Beweis für diese Behauptung. Denn trotzdem sie Genies waren und durch die weite reibungslose Traumwelt der Poesie mit einer Sicherheit wanderten, wie unsereiner am hellichten Tag durch die Potsdamer Straße, so waren sie doch blaß und zerwühlt dabei und trugen ihre jungen Jahre mit Grabesmiene, wie eine schwere Bürde.
Man kann nicht sagen, daß sie einander gleich waren. Sie waren sehr verschieden an Gesicht, kamen aus sehr weit voneinanderliegenden Gauen Deutschlands. Und doch waren sie alle einander sich ähnlich, Melodien vom Leben gespielt über der gleichen Dominante.
Scipio 37 war gerade im Gehen. Ob er nicht noch bleiben wolle, meinte Fritz Eisner, denn dieser Franz Adumeit war ihm, wie Paris, mehr als eine Messe wert. »Najn, Sonntag wär es ihm unmäglich – jerade Sonntag wäre er nätig – es könne ins Haus was passieren ... dem könne der Schlüssel abbrechen, der könne gestochen werden ... das wäre in de Ziethenstraße sojar ziemlich heifig ... und da misse er da sein. Vor zwelfe kam aber selten was vor. Das hätte er so fastgestallt.« Und damit ging er.
Aber auch ein paar andere der Älteren hatten sich heute eingefunden. Mitläufer, Leute heimlicher Sünden: ein sehr alter hypochondrischer, überängstlicher Geheimrat, der nicht darauf Wert legte, daß man ihn stets mit dem vollen Titel Geheimer Rechnungsrat ansprach, und der vielleicht wirklich durch eine alte Liebe zur Dichtkunst – denn vor fünfunddreißig Jahren sollte ein Band Verse von ihm erschienen sein, und von Geibel, Freiligrath, Hoffmann von Fallersleben sogar in wohlgehüteten Autogrammen gelobt worden sein ... der also vielleicht durch reingeistige Neigungen, vielleicht aber auch durch andere Neigungen in diesen Kreis junger Leute gezogen wurde, die ihn ziemlich rücksichtslos anpumpten. Genau war das nicht klar. Es blieb ein non liquet.
Dann ein kleiner, zu allen freundlich-grunzender, dicker, sehr phlegmatischer Rechtsanwalt, der der Poesie insofern verbrüdert war, daß er, als Sohn seiner Eltern, irgendwo in der Provinz Mitinhaber einer Druckerei und einer Zeitung war ... der jedoch an Poesie und Versen weit weniger gelegen war, als an den Nachrichten und Veröffentlichungen des Lebuser Kreises »Betreffend den Triftweg von Neuzestow nach Köseritz« und die »Sperre, die über die Stallung des Landwirts Wilhelm Jädicke wegen Maul- und Klauenseuche verhängt werden mußte.«
Und dann noch ein Arzt mittlerer Jahre, der als solcher beruflich den Zyniker spielte, aber es heimlich noch von der Studienzeit her mit den Musen hielt. Er wohnte schrägüber, war nicht unwohlhabend, alter Junggeselle, und kam nie aus seinem engsten Bezirk heraus. Er sagte stets, er sähe nicht ein, warum er hier weggehen solle. Überall würde er sich nur Gefahren aussetzen. Es wäre das gesündeste Viertel Berlins; Krankheitsfälle kämen in diesem Quartier nach seiner Statistik seit Jahren überhaupt nicht vor; auch Kinder würden nicht geboren, was auch ihn, als Junggesellen, vor üblen Komplikationen nur schützen könne. Und man möchte ihm irgendeinen Platz der Welt nennen, wo das sonst der Fall war. Es kam vor, daß er oft sehr rege war, überaus lebhaft, sprühend und wirklich amüsant, sich überschlagend an Einfällen und Zynismen, dann aber plötzlich ganz zusammenfiel, fast wie das sterbende Schweinchen auf dem Weihnachtsmarkt. Aber ehe er noch ganz runzlig seinen letzten Quieklaut aushauchte, erhob er sich, entschuldigte sich: er wolle mal sehen, ob zu Hause ein Rohrpostbrief für ihn gekommen wäre, und langte dann nach zwanzig, dreißig Minuten wieder an, und war wieder ebenso vital und sprühend, wie nur eh und je. Oder auch er zog sich nur eine Viertelstunde in die geheimeren Räume des Lokals zurück. Und auch das hatte eine ähnliche Wirkung. Einige behaupteten sogar, daß er Morphinist sei. Aber eine rechte Vorstellung davon, was das war, hatte man meist nicht. Jedenfalls etwas Sehr-lasterhaftes.
Oh – da war ja auch Johannes Hansen. Am letzten Ende des neu herangeschobenen Tisches. Er gehörte hier eigentlich weder ganz zur ersten Gruppe, noch zur zweiten. Weder zu den Outsiders noch zu den Jährlingen. Er hatte den Stuhl zurückgeschoben, die Beine gekreuzt, hielt mit der linken Hand den Schuh, saß auch ziemlich allein, hatte gleichsam einen Kranz von Leere, einen Wall von Hochmut und Absonderlichkeit um sich. Er hatte wieder die zitronengelben Handschuhe an wie gestern (die ja da als Maskerade ganz amüsant waren), aber über das rechte Handgelenk fiel ihm – was gestern nicht gewesen war – ein breites, sehr altmodisches goldenes Kettenarmband. Wenn Fritz Eisner nicht irrte, sogar mit ein paar sehr großen Smaragden (es konnten auch andere Steine sein, vielleicht nur Jettplatten). Sie saßen in breiter Fassung zwischen den Gliedern. Sicher hatte er es von seiner Mutter, von Frau Jakob, geerbt, denn es war durchaus kein Herrenarmband – ein schmaler Reif oder ein Kettchen, wie es eben bei Gardeoffizieren in Mode gekommen war. Es war ein richtiges Erbstück von einem Armband, wie es unsere Tanten und Großmütter noch manchmal vor zwanzig Jahren bei Einsegnungen und Hochzeiten umgebunden hatten. Später fanden sie es plump, auffallend, und schämten sich, es anzulegen. Und so blieb es im Kasten. Nur auf Familienbildern über dem Sofa sah man es noch alle Tage. Und das trug nun Johannes Hansen. Wohl aus Pietät. Wer weiß, was er sich dabei vorstellte. – Er sah noch blasser, noch gedunsener aus, als gestern, noch zerzackter und unzusammengefügter. Und hinter allen Zügen lauerte eine merkwürdige, fast unheimliche Starre. In seinen wie gequollenen Augen, mit kleinen, zusammengezogenen Pupillen lag etwas ganz Unenträtselbar-Starres ... etwas von jenem Blick, der den Tyrannen von Syrakus einst in den Tod getrieben hat, und den man in den Augen großer, gekochter Fische findet ... oder in den Augen der grauen, zottigen chinesischen Hundchen, mit den Quäkeschnauzen ... oder in denen halbblinder, rippendürrer und abgetriebener Pferde.
Als Johannes Hansen Fritz Eisner erblickte, stand er auf, winkte ihm, und brachte den Kopf ganz nah an den seinen und schüttelte ihm dann, mit einer schrägen, seltsam vertrackten, fast symbolischen Bewegung die Hand. »Manifest!« sagte er geheimnisvoll. »Nachher. Aber nicht hier. Man spioniert hier schon auf jedes Wort von uns.« Vom Büfett schrillte eine Klingel, die wohl dem Kellner melden sollte, daß Bestelltes dort für ihn bereit stünde: »Hören Sie, da telephonieren sie ja schon wieder!! Immer, sowie ich ein Wort spreche, wird es an ihre Zentrale weitergegeben. Aber jetzt«, er schnalzte glücklich mit der Zunge – »seit heute bin ich der Organisation sicher auf der Spur. Ich warte nur noch wenige Stunden – dann aber habe ich alle Fäden in der Hand. Und ich werde meine Feinde genau so vernichten, wie ich dem Atta ... Allah ... Abarah ... jaja, Argus hieß er ... und er war viel wachsamer als sie, den Kopf heruntermähte. Damals war's zwar nur einer, heute sind es viel. Aber der eine hat ja auch hundert Augen gehabt. Noch spreche ich nicht. Hören Sie? hören Sie, wie sie wieder telephonieren? Lassen Sie nur. Sie wollen mich beobachten, mir das Netz über den Kopf werfen. Aber ich beobachte sie besser. Sie liefern sich nur mir damit aus. Ich neige nicht zu Gewalttätigkeiten. Ich habe bisher noch niemand etwas getan. Ich habe ihnen hundertmal vorsichtig, aber bestimmt geschrieben, sie sollen mich gehen lassen. Ich habe ihnen implizite ausführlich bewiesen, bewiesen, warum sie in ihrem Reich bleiben müssen, und ich in meinem herrschen will – und ich ... werde ... herrschen ...! Sie haben nicht auf mich hören wollen. Nachher werden sie wieder ihren Gesandten schicken, wie jetzt da oben die Russen. Nachher werden sie flehen jammern, betteln. Aber ich kenne das. Und dann werde ich sie zertreten.« Er zog ein sehr buntes, seidenes Tuch, wischte sich über die Lippen und setzte sich sehr förmlich wieder. (All das hatte er ganz leise, aber scharf betont, Fritz Eisner zugetuschelt.) Und er legte dann ebenso förmlich wieder den rechten Unterschenkel über den linken Oberschenkel und nahm wieder mit gespreizten, zitronengelben Handschuhfingern die Spitze seines Schuhs und schien von da an an nichts mehr teilzunehmen.
Fritz Eisner wurde es unheimlich. Und er hatte das Gefühl, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er nach Hause gegangen wäre. Was hatte er eigentlich hier noch verloren. Aber da zog ihn auch der zynische Junggeselle und Doktor neben sich auf den Stuhl. »Na«, sagte er, »Jungeken, wer war denn die seidene Dame, mit der sie da vorhin saßen? Nicht die, die zuletzt kam! War das die Frau vom Kollegen Spanier? Wirklich?! Richtigjehend?! Jott, hat der aber Jlück jehabt! Kennen Sie Kollegen Spanier? Seit jestern? Soll 'n tüchtiger Mann sein. Macht so lauter neue Sachchens, von denen bei uns so in de Blätter steht. Glauben Sie et nich? Zeig ick Ihn mal schwarz auf weiß! Bei uns in de Medizin ist et nämlich jenau wie bei Ihnen uff die Zeitung: Aktualität! Imma wieder jibt's neue Sachens. Und denn sollen mit einem Male die alten nischt mehr taugen (tun es och nich, unter uns! Aba sagen Sie's nicht weiter, sonst verklage ick Sie wegen Jeschäftschädigung.) Und morgen, verstehen Sie, und so ... sind die neuen Sachen auch wieder alt. Und mit einemal sind wieder andere neu. Und das heißt denn Wissenschaft. Und wer das treibt, das ist ein ernster Wissenschaftler. Ick zum Beispiel wäre jetzt nur ein janz simpler Arzt, wenn ich nicht zufällig in einer so verflucht jesunden Jejend wohnen würde.«
»Hören Sie, Doktor«, sagte Fritz Eisner leise, denn Johannes Hansen saß zwar ganz starr, ohne einen Blick nach rechts oder links, aber es schien doch, als ob er angespannt auf jedes Gespräch lauschte, das an sein Ohr drang. Vielleicht jedoch vernahm er auch nur etwas, was die anderen nicht hörten. »Verzeihen Sie, haben Sie mal jetzt in letzter Zeit auf Herrn Hansen geachtet?«
»Jeachtet – is jut!« sagte der Doktor. »Nanu wird's Tag. Noli turbare circulos meos! Meinen Sie etwa auch, wie die anderen, ich habe nischt jelernt. Lieber Herr – ich war mal ne Hoffnung. Jenau so jut wie Ihr Doktor Spanier jetzt, und wenn ick nich in eine so verflucht jesunde Jejend jezogen wäre ... Sehen Se, es jibt so drei Hauptsorten in unsere Branche. Erstens solche die 'ne Hoffnung sind. Zweitens solche, die ihr Lebtag 'ne Hoffnung bleiben. Und drittens solche, die es denn wieder aufjeben. Und außerdem gibt's noch Professoren. Und zu die dritte von die Sorten jehör ick ... Hat er Ihnen denn ooch schon geschrieben?«
Fritz Eisner fühlte, daß Johannes Hansen aufmerksam geworden war, und nickte nur, und wandte sich dann an den Alten mit der Sammetjacke, richtete gleichsam durch ihn die Frage an alle: Hat eigentlich jemand etwas Neues von dem Ärmsten, dem Peter Hille noch gehört? Hoffentlich ist es nicht ganz so schlimm, wie es die Zeitungen machen?
Man hatte zwar schon davon Notiz genommen; aber es doch nicht zu tief unter die Epidermis dringen lassen. Einige aber waren erstaunt, fragten hastig erschrocken, wußten nicht, was los war; wollten erzählt haben (wo es stände?!), riefen nach Blättern. Denn, wenn Peter Hille eigentlich doch in andern Zirkeln war, nicht zu diesem geistigen Pauperismus gehörte, weiter links stand, nicht im juste milieu, mehr an der Peripherie beheimatet war, wo Bohème und echtes schöpferisches Künstlertum sich berühren, wenn man ihn sich auch nur mit einer gewissen Scheu zeigte, wie etwas Unheimlich-Wunderliches, und auch ein eigentlicher Zusammenhang zwischen ihm und jenen nicht war – so kannte, so kannte man ihn doch, hatte ihn wohl öfter gesehen, auch öfter gesprochen. Der oder jener ihn auch mal bei Dalbelli vorlesen hören. Und, wenn man ihn auch mehr lächerlich als bedeutsam fand, so fühlte doch plötzlich hier jeder, daß er es war, der ihrer aller Schicksal jetzt erlebt hatte, vorweggenommen hatte, ihnen vor Augen geführt hatte. Und all das war Grund genug, sich darüber zu erregen.
Der Alte mit der Sammetjacke meinte zwar, daß er schon immer so etwas geahnt hätte (er liebte es, die rückläufige Kassandra zu spielen), und er für sein Teil wundere sich nur, daß ihm nicht früher das passiert sei. Hille wäre sein bester Freund gewesen (nebenbei: ein ganz unzuverlässiger Mensch!), er hätte ihm dreimal ein Zimmer verschafft, aber der gute Peter wäre nicht zugezogen, hätte lieber die Nächte im Freien kampiert, wäre eben ein unverbesserlicher Vagabund gewesen. Aber darauf war nicht viel zu geben, das erzählte zum Schluß jeder hier. Es war Legende in diesen Kreisen, geradeso wie es Dutzende von alten Gräfinnen gibt, die noch heute behaupten, daß in ihren Armen Chopin gestorben ist. Das wollte man jetzt auch gar nicht mehr hören. Ob es ein Überfall oder ein Unglücksfall gewesen sei. Wer das wüßte? Wie es ginge. Ob jemand direkt, oder indirekt durch Freunde vielleicht etwas aus dem Krankenhaus gehört hätte.
Der Geheime Rat meinte andeutungsweise und sehr leise und schüchtern meckernd (er hatte ein Organ wie ein feines Weinglas mit einem Sprung), daß es doch nicht so klar wäre ... er wolle nichts sagen, aber er habe die Empfindung, daß Hilles Anhang pervers und nicht einwandsfrei gewesen sei.
Irgendjemand, ein ganz junger Mensch kam jetzt herein von der Straße, wie ein Stafettenreiter gleichsam. Jedenfalls: er hatte gehört von solchen, die draußen im Lichterfelder Kreiskrankenhaus gewesen wären: es stände schlecht, und ob ein Überfall oder Unfall vorläge, wäre ...«
Viel weiter kam er nicht in seinem Bericht. Denn am Ende des herangerückten Tisches war plötzlich Johannes Hansen aufgesprungen, stand ganz steil, reckte sich auf, warf den Kopf mit einer wilden, unendlich hochmütigen Gebärde zurück. Die Leere, die ihn umgab, wurde im Augenblick gleichsam größer und tiefer, und schon hatte er die beiden Arme mit den zitronengelben Fäusten hoch emporgehoben und schmetterte sie in der gleichen, in eben der Sekunde, taktmäßig, wie zwei Stampfhämmer, wie Rammklötze auf die Marmorplatte nieder, daß der Eisentisch fast kippte, auf seiner Seite sich senkte und drüben ordentlich hochflog, so daß die Tassen und Teller beinahe herabfielen. Aber, als der Tisch dann doch wieder von seinen zwei Beinen auf alle seine vier Beine zurückfiel, war merkwürdig wenig geschehen; und Jegliches stand so ungefähr noch da, wo es gestanden hatte. Alle waren unwillkürlich zurückgewichen. Es hatte sich plötzlich eine neue Aufteilung gebildet: der Redner und die Hörer. Nur der zynische alte Doktor war halb hinter Johannes Hansen getreten und sah ihm mit zugewandtem Kopf und ganz freundlichen und sehr interessierten Blicken in das starre und zugleich zerrissene Gesicht. Mit Blicken, auf deren Grund eine tiefe, weiche Gutmütigkeit stand, und in denen zugleich doch eine gewisse kindliche Freude an der Sache lag, so ungefähr, wie ein Junge einen Hirschkäfer betrachtet, auf den er schon lange Tage und Wochen Jagd gemacht hat, und der nun endlich in seine Griffnähe kommt.
»So«, sagte Johannes Hansen, nach einer kalten Pause, »ich rede zu Ihnen, jawohl! Ich werde es Ihnen sagen: Der Organisation« (er sprach sehr prononziert, jede Silbe einzeln) ... »ist der Arme zum Opfer gefallen. Sie wissen es nicht ... wollen es nicht wissen, grinsen, feixen, fletschen mir die Zähne, tun, als ob Sie nie davon gehört haben. Weswegen nicht? Weil Sie jetzt mit einemmal Angst haben. Weil Sie das Gericht fürchten. Das Gottesgericht, das auch Melittas Melittas, Lometheus ... Prometheus an den Kaukasus, ja, so war es damals! geschlagen hat. Und nun hören Sie: diese Organisation, die trachtet ja auch seit Jahren schon mir nach dem Leben.« Er pochte wild mit dem steilen Finger nach unten. » Ich habe mich erst verkrochen, denn ich kannte sie nicht. Ich habe meine Wohnung immer wieder verlegt. Von Straße zu Straße. Kaum war ich eingezogen, so haben sie schon wieder an den Ecken gelauert ... haben telegraphiert ... Boten geschickt ... geklopft ... so ganz feine Signale ... an den Ecken haben sie gestanden und ausgespuckt ... pfui, pfui!« Er weinte fast. »Bis es mir kam, wie eine Vision, das Erlebnis ... das Gotteswunder. Was wollen sie denn dir tun? Du sollst dich ängstigen. Den da konnten sie morden. Aber dich?! Wer soll dir deine Unsterblichkeit etwa nehmen!«
Der Kellner wollte an ihn herangehen, denn überall an den Tischen ringsum hatten sich schon die Leute erhoben und starrten nun auch schon ganz angsterfüllt herüber. »Sie dürfen hier nicht lärmen!« sagte der Kellner bescheiden. Irgendwo schwirrte das Wort »Krankenwagen!« Wo anders das Wort »Schutzmann!«, »Sanitätswache benachrichtigen!«
Aber Johannes Hansen lachte laut. »Sie denken aber, ich weiß nicht, wie weit verzweigt diese Mordbande ist; wie mit einem Schlag ist mir das ganze Gewebe klar geworden. Ich bin heute auf die Knie gesunken vor Glück.« Er riß einen Bogen Papier aus der Tasche, knitterte ihn auf. »Hier ist der ... Ma ... pl ...« an dem Wort ›Plan‹ schien er zu scheitern. »Retorte!« brüllte er plötzlich. Er hatte ihn vor sich ausgebreitet und hämmerte auf das Papier mit seinen zitronengelben Fäusten. »Und ahnen Sie nicht, wissen Sie nicht, wo all diese Fäden zusammenlaufen?! Von wo sie ausgehen, von wem sie in der Hand gehalten werden? Nein? nein? nein? Nein? Von euch, ihr Zinsinger!« brüllte er überlaut. »Ihr! Ihr! Ihr! Ihr hier! Ihr habt mir ... aber ich habe getan, als hörte ich nicht! Zerbrechen! Jetzt weint ihr! Flieht! Winselt Gnade! La – La – Grabmal meinen Ohren!«
Johannes Hansen richtete sich auf, stand so, wie ein Prophet. Ohne Zweifel hatte er etwas Großes, Bildhaftes, Statuarisches. Erlebte sich. Und das war eigentlich, so traurig es war, doch schön.
Irgendwelche Leute, Hausdiener, ein paar Gäste wollten in diesem Augenblick auf Johannes Hansen eindringen. Denn so lange hatte er sich wild aufgebäumt, getobt, mit den Armen wie Dreschflegeln hantiert, und niemand hatte sich an ihn herangewagt.
Der ältere zynische Doktor jedoch war plötzlich ganz dicht an Johannes Hansen herangetreten. »Oh«, sagte er devot und ergriff den einen der Arme von Johannes Hansen, der es merkwürdig ruhig geschehen ließ. »Der Gott Merkur hat heute ja eine herrliche goldene Armspange umgetan. Ist es ein Geschenk der Aphrodite? Darf ein Eingeweihter ihr bewundernd nahen?«
Und ein leichtes glücklich-stolzes Lächeln, der verirrte letzte Abglanz von Grazie und Courtoisie zuckte in Johannes Hansens verwirrtem, stierem, schweißbetropftem Gesicht mit den kranken, funkelnden, unglücklichen, angstgehetzten Tieraugen auf. In der gleichen Sekunde aber schon hatte der Doktor den steifen geraden Arm wie ein Holzscheit heruntergezogen, und den Ärmel etwas zurückgestreift. Und man sah weniger, als man es ahnte, wie ein kleines, spitzes, nadelhaftes Etwas sich in das Fleisch senkte und wie ein Druck da Flüssigkeit hineintrieb. Es ging wunderbar glatt und ganz still und lautlos vor sich, und war wohl von allen ärztlichen Handreichungen die einzige, der man sich als Patient diesem Arzt bedingungslos auch anvertrauen konnte. Denn – ganz gleich, was sonst an ihm war! – das hatte er vor anderen Kollegen voraus: er hatte eine unerhörte Übung darin, solche kleinen, subkutanen Einspritzungen zu geben.
Johannes Hansen blickte sich um, lange, fast hoheitsvoll. »Ein einziger Blitz von mir könnte sie zerspellen, die Jämmerlichen. Ein Blasen meines Mundes – sie wären nicht mehr! Sitzen in Pelzen, Göttinnen auf dem Ida ... wie ich den Paris ... ganz nackt sein! ... Alle werden wir wieder. Der Stern ... Die Jungfrau.« Plötzlich begann er mathematische Formeln zu lallen. Zahlenreihen ganz schnell herzubeten, als läse er sie aus irgendeinem Buch ab, das man ihm hinhielte. Sicher waren sie ihm etwas, dachte er etwas dabei. Man merkte, wie er schläfrig wurde, ruhiger, ihm die Glieder, die eben noch die Wahnsinnskraft durchtobt hatten, nicht mehr zu gehorchen begannen.
Der ältere zynische Doktor schob mit einer unendlich milden und weichen Gebärde, als ob er eine Wöchnerin beim ersten Ausgang stütze, seinen Arm unter den von Johannes Hansen und führte ihn ganz langsam fort, an den Menschen vorbei, die scheu und schweigsam ihnen auswichen. Immer noch lispelte er mathematische Formeln, Zahlenreihen und, schwächer lallend und halb stecken bleibend, jetzt ganz und gar unverständliche Worte.
»Was soll die hehre Gottheit«, sagte der alte Zyniker ganz in der Rolle des Dieners, »hier bei den armen Sterblichen länger weilen? Was kann es für sie eigentlich bedeuten, noch weiter ihren verpesteten Atem zu trinken?! Darf ich heute einmal den Gott Merkur in den Olympos bringen? Der Wolkenwagen wartet schon!«
Fritz Eisner ging auf der anderen Seite neben Johannes Hansen. Vor der Tür (oh, was für eine schöne kühle Luft plötzlich – und Sterne wie Nadelstiche, und der Duft der Bäume von drüben ... eine letzte Untergrundbahn kletterte aus ihrer schwarzen Höhle) stand schon ein Auto. Ein paar Leute ... aber die taten mit einem Male, als ob sie nur so zufällig da waren, gar nichts sehen wollten. Und Johannes Hansen kletterte ganz allein, mit steifen, müden Beinen hinein, die schon so etwas wie ataktisch waren und nicht so recht mit wollten.
Fritz Eisner wollte einen Augenblick noch zurückgehen; aber da gerade seine Straßenbahn kam, vielleicht sogar die letzte (er mußte schon anders herumfahren, als sonst), sprang er schnell auf. Was hatte er eigentlich auch noch da drinnen verloren?! Ein paar Sekunden fuhren sie noch nebeneinander her, die Straßenbahn und das Auto. Fritz Eisner sah noch einmal, wie in dem Wagen Johannes Hansen steif neben dem Doktor saß, mit glasigen, müden Augen, ganz empfindungslos schon. Aber da bog der Wagen ab und entschwand ihm.
Und er mußte an Goethes »Harzreise im Winter« denken: »Hinter ihm schlagen die Sträucher zusammen ... das Gras steht wieder auf ... die Ode verschlingt ihn.« Eigentlich hatte er diesen Johannes Hansen ja kaum gekannt. Immerhin – es war doch traurig. Und Annchen und Hannchen würde es sicher sehr aufregen. Der alte Knabe von Doktor hatte sich nebenbei tadellos gehalten.
Eigentümlich! die letzten Bahnen fahren doch gar nicht schneller als andere und doch jagen sie so, um heimzukommen, poltern wie wild durch die stillen verliebten Straßen hin. Fritz Eisner achtete eigentlich gar nicht darauf, wo er war. Nur ab und zu guckte er von der Plattform hoch und jedesmal schien es ihm, als ob die Sterne zahlreicher und heller zwischen den dunklen Dachfirsten geworden waren. Und das war auch Maßstab genug, wie weit man schon draußen war. Und am Ende wäre er beinahe noch eine Haltestelle weitergefahren, sprang erst ab, als es schon wieder anruckte. Seine Baumreihen lagen ruhig und dämmerig; drüben Baustellen und Gärtnereien waren etwas heller, aber noch geheimnisvoller. Es war doch schon sehr still hier draußen. Vorort geht früher schlafen als Großstadt, ist bürgerlicher, muß auch früher wieder heraus. Alles war ganz verstummt schon. Man hörte es gleichsam schweigen. So lautlos schon war es, daß man den Hall seiner Schritte mit dem Schlag seines Herzens verwechselte. Nur vor Fritz Eisners Tür pendelte noch ein einsames Pärchen. Ein schlanker junger Herr war jenes, was aus dem Doppelschatten sich deutlicher abzeichnete. Das andere schmolz darin. War das nicht dieser französische Herr Leonhard?
»Ach, lassen Sie ruhig auf«, kam es Fritz Eisner ganz leise von Pauline nach. Sie hatte so eine gefällige Weichheit in der Stimme, eine purpurfarbene und doch wie keusche Verliebtheit. »Ich schließe dann ab. Ich komme gleich rauf.«
Oben tappte Fritz Eisner vorsichtig im Schlafzimmer nach den Streichhölzern (unverständlich: woher eigentlich roch es stets multrig bei ihnen im Schlafzimmer, wie in einer Portierloge?), tappte nach den Zündhölzern, wollte nicht anknipsen, denn man schlief schon beiderseits ganz fest. Besonders L. D.s wegen nicht, die zwar leicht aufwachte, auch keineswegs dann schrie, aber der Meinung war, daß sie vorerst genug geschlafen hatte, daß es Tag schon wieder wäre, und ihre Angestellten anbrüllte, sie sollten mit neckischen Scherzchen für ihre weitere Unterhaltung Sorge tragen. Aber in sieben Achtel der Fälle liegen nun einmal die gesuchten Dinge nicht da, wo man sie erwartet, und trotzdem ist es einem immer wieder von neuem peinlich und erstaunlich; während es doch eigentlich nur peinlich und erstaunlich sein müßte, wenn die gesuchten Dinge wirklich da lägen, wo man sie erwartet. Und so begann Fritz Eisner auch schnell unwirsch umher zu tappen im Dunkeln, und warf allsogleich irgend etwas herunter, was laut schepperte – eine Uhr, einen Kneifer oder einen Kamm. Annchen fuhr entsetzt aus dem Schlaf auf. »Ha – halt wer ist da? Pauline?«
»Ich bin's«, meinte Fritz Eisner etwas schuldbewußt und schlug Licht, denn gleich daneben hatten natürlich doch die Zündhölzer gelegen.
»Warum kommst du denn wieder so spät?« sagte Annchen lächelnd und schlafrosig und folgte damit nur einem geheimen Naturgesetz. Denn, wenn man einen Mann nachts aus dem Schlaf weckt – flucht er; wenn man aber eine junge Frau nachts aus dem Schlaf weckt, lächelt sie. »Du weißt doch, solange du nicht da bist, kann ich kein Auge zutun. Ich habe die ganze Zeit bis jetzt wach gelegen. Wo warst du denn? Im Café? Hast du jemand gesprochen?«
»Oh«, sagte Fritz Eisner, »Doktor Spanier und Lucie. Und nachher kamen noch unser Herr Schwager Egi mit einem Macaccen von Professor aus Argentinien und Lena Block.«
»Und ich natürlich darf nie mitgehen. Als ob ich zu schlecht für die wäre!«
»Ja, und dann war noch Johannes Hansen da. Es war schrecklich. Der arme Mensch hat doch einen Tobsuchtsanfall bekommen. Und sie haben ihn wegbringen müssen. Zu grausig.«
»Ja, denke dir! Wirklich? – Aber hab' ich das nicht gleich heute prophezeit, wie der verrückte Brief kam. Erinnerst du dich nicht, wie ich geschrien habe: paß auf, der wird sicher bald geisteskrank ... Aber erzähl doch: wie ist denn das bei ihm gegangen. Woran hat man es denn gemerkt?«
»Ach weißt du, Annchen, morgen früh – wir machen bloß L. D. wieder ungnädig ... eigentlich sollte man doch das Schlafzimmer nach hinten legen ... es riecht hier stockig! Ich möchte lieber jetzt noch etwas drin an dem Roman arbeiten. Es ist immer so schön ruhig um diese Zeit, denn in spätestens vier Wochen wollen sie doch da schon anfangen.«
»Komm lieber jetzt schlafen«, sagte Annchen, »gestern haben wir uns auch schon für nichts und wieder nichts die ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Und morgen mußt du um zehn Uhr drin sein. Das kann keinem Menschen auf die Dauer gut tun!«