Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es war damals, als die Gans noch einen guten Groschen auf dem Markt kostete, und man ein Kalb um fünf Groschen Preußisch Kurant kaufen konnte. So beginnen oft die Geschichten in alten Chroniken.

Nun, eine Gans konnte man »damals« – das heißt in der Zeit, von der ich hier rede, schon nicht mehr um einen guten Groschen kaufen. Der Markt war auch unmodern geworden. Man liebte die Manieren der Marktleute nicht mehr. Man schätzte es nicht als belustigend, Kohlköpfe, Kalbsknochen und Schimpfworte nachgeworfen zu bekommen, wenn man etwa die Preise zu hoch und den jungen Spinat zu alt und zu welk fand.

Man kaufte nicht nur Spachtelblusen, sondern auch Gänse an Ausnahmetagen im Warenhaus. Und sie kosteten – ebenso wie diese – fünf bis sechs Mark. Und, wenn sie besonders reich durchbrochen ... ach nein besonders fett und schwer waren, wohl auch ein kleines Goldstück oder einen Zehnmarkschein – was ehedem (wie man sich wohl nicht mehr erinnern wird!) das gleiche war; weil, wie auf dem Schein zu lesen, die Reichsbank sich für verpflichtet hielt, das Papier jederzeit gegen Gold einzuwechseln. Und so etwas, wenn man sie beim Wort nahm, auch wirklich tat.

Ich will nicht unnütz abschweifen, aber ich habe eigentlich nie recht verstanden, warum eine Spachtelbluse stark durchbrochen teurer sein soll als eine weniger durchbrochene, da man doch den Stoff und nicht sein Fehlen bezahlt. Das wäre doch genau das gleiche, als ob eine Scheibe Schweizerkäse um so teurer würde, desto größer die Löcher wären. Warum aber eine fette Gans mehr kosten sollte als eine magere, das habe ich schon eher begriffen.

Im Augenblick will es mir zwar scheinen, als ob zwischen den beiden Dingen – sofern man eine Gans als ein Ding bezeichnen darf?! – irgendwelche geheimnisreichen Beziehungen wechselseitiger Art sind, indem die Fleischfülle der Gans und die Abmessungen der Durchbrüche der Spachtelbluse ... aber, dieses Trick Track von Gedanken schwebt doch nur wie ein formloser Nebel im Halbdämmer meines Unterbewußtseins, und es weicht immer wieder scheu vor dem klaren Licht einwandsfreier Erkenntnis in sein Nichts zurück. Und besonders deshalb soll es auch unerörtert bleiben. Außerdem aber steht es nicht zur Diskussion und würde uns nur vom Thema entfernen.

Wieviel jedoch »damals« ein Kalb kostete, entzieht sich meiner Wissenschaft. Was aber hätte man auch mit einem ganzen Kalb tun sollen?! Man erstand ein Pfund Kalbsschnitzel oder im besten Fall, wenn Besuch erwartet wurde, ein paar Pfund Kalbskeule. Beides war nichts besonderes. Man zahlte es, sozusagen, mit der linken Hand ... wenn man es nicht beim Schlächter anschreiben ließ und schuldig blieb. – (Eine Tatsache, die weniger bedauerlich für den Schlächter als für den Kunden sich auswirkte, denn der Schlächter kam dabei, durch doppelte Buchführung, zum Schluß immer noch auf seine Rechnung.)

Also, – um es endlich zu sagen! –

»Damals« also war es, ... als viele Leute gerade noch jung waren, sich eben noch so nennen durften, mit ihren Fünfundzwanzig oder Dreißig oder ein wenig mehr, die es heute nicht mehr sind. Und die sich jetzt nur lächerlich machen würden, wenn sie darauf Anspruch erhöben.

»Damals« also war es, ... als viele Leute, die nicht mehr jung waren, doch noch aufatmend, im rötlichen Glanz einer abendlichen Frühlingssonne durch die Alleen gingen ... Leute, die es heute nicht mehr tun, noch je wieder tun werden.

»Damals« also war es, ... als auf den umbuschten Spielplätzen vor roten Dutzendkirchen – das heißt sie heißen so, weil dreizehn aufs Dutzend gehen! – die Jungen, kreischend wie die Mauersegler, wie der Vogel Wupp von Hermann Löns, Jagd, Zeck, Räuber und Stadtsoldat spielten und um die Füße der Spaziergänger tollten ... die gleichen Bengel, die zumeist heute längst – sofern sie nicht auf dem Meeresgrund schlafen – weit abseits von Wilmersdorf und Friedenau und seinen linden- und ulmenbestandenen Straßen unter den Birken Rußlands ... den Steineichen Kleinasiens ... den Platanen des Balkans ... den Tannen der Vogesen und der Alpen ... in dem schweren Boden Flanderns ... in dem kreidigen Lehm der Rebenhügel der Champagne ... und weiß Gott noch wo sonst ... Dauerquartier bezogen haben, vorzeitig und traurig genug.

»Damals« also war es, als der Admiral des Atlantischen Ozeans dem Admiral des Stillen Ozeans seinen Gruß entboten hatte.

Als Nogi seine Netze um Mugden und Port Arthur zog.

Als der kleine Zuckerjunge Lebaudy Jacques I., König der Sahara werden wollte.

Als der Goethe-Bund eine Schiller-Stiftung machte (dreitausend Mark).

Als Wilhelm Busch uns »zuguterletzt« mit seinem müdesten Lächeln grüßte.

Als Ferdinand Bonn im Aufstieg und der Dreschflegelgraf schon im Abstieg war.

Als täglich in Deutschland, allwöchentlich in Berlin, ein Denkmal beschlossen, bestellt, abgeliefert und enthüllt wurde ... das heißt nur selten alles auf einmal.

Als Peter Hille erschlagen wurde und starb, und für Liliencron zum zehntenmal man sammelte.

Als Robl von vielen Tausend dagegen umjubelt, Sieger im Goldenen Rad von Friedenau wurde.

Als Lautenburg Abschied vom Residenztheater nahm, und die Bäckergesellen streikten – ohne, daß sich ursächliche Zusammenhänge feststellen ließen.

Als Leoncavallo auf Befehl des Kaisers den Roland von Berlin komponierte, und das Scheunenviertel, als einer Stadt wie Berlin unwürdig, niedergelegt wurde.

Als der Lippesche Erbfolgestreit die Welt erschütterte und das erste (oder war es nicht das erste? Ich beuge mich gern besserer Einsicht) Automobil-Gordon-Benett-Rennen gefahren wurde.

Als das Kino noch in bescheidenen Sälen hauste und sich »Lebende Photographie« nannte; und der »Kluge Hans« uns staunen machte, bis die Wissenschaft kam und uns nachwies, daß die Pferde keinen Verstand hätten, sondern nur die Menschen.

Als der Straßenbahn zugerufen wurde: »Drunter durch!«, wie sie die Linden überqueren wollte; und als irgend ein Kanzler die Geschicke leitete, den die einen für bedeutend und die anderen für unbedeutend hielten – je nach dem politischen Glaubensbekenntnis.

Als der Expressionismus noch nicht so getauft und kaum erfunden war, und man über Manet und Cézanne und van Gogh doch nicht mehr lachen durfte.

Als jeden Tag ein neues Wunderkind in den Konzertsälen auftauchte, und die Yvette Gilbert, schon etwas ältlich, noch ihre Chansons polterte, trällerte, lispelte und weinte, daß es einem den Rücken entlang lief.

Als es hieß, der Kronprinz sollte eine Weltreise machen, und der Bau des Teltowkanals mache ebenso rüstige Fortschritte.

Als Ibsen schon Abschied nahm und Shaw bei uns die Klinge in die Hand gab.

Als jede Woche ein neuer Straßenzug draußen im Westen, in den Vororten entstand; und jeden Monat ein neues Warenhaus eingeweiht wurde, mit Zeitungsartikeln und Festreden, als wäre es ein neuer Petersdom ...

Damals, als die einen arbeiteten, um zu leben, und die anderen lebten, ohne zu arbeiten – und man eigentlich, gerade wie heute, nur dann wirklich menschenwürdig existieren konnte, wenn man das Glück hatte, zu den letzten zu gehören.

Also damals, damals, damals war es ... so vor achtzehn, neunzehn Jahren, als viele Leute eben noch jung waren, die es heute nicht mehr sind. Und von ihnen wird die Rede sein.

Manche werden sagen, es war noch die guuute, alte Zeit.

Gewiß: die Welt und jeder auf ihr hatte seine schlimmsten Erfahrungen noch nicht gemacht. Das Leben eines jeden lief ab wie ein Eisenbahnzug, von dem man ungefähr im voraus bestimmen kann, wo er hinfährt, wie schnell er fährt, ob er anlangt, und wann er anlangt, und welche Klassen er führt. Das galt für den Einzelnen wie für den Staat selbst. Man glaubte noch irgendwie an das Kursbuch. Es war wie eine geheiligte Überlieferung einer gerechten Weltordnung. Und man hatte das Recht, es zu tun.

Natürlich gab es Reiche und Arme; auch Elende und Obdachlose genug ... aber die hatten sich das selbst zuzuschreiben – warum hatten sie kein Geld?! Und die Krankenhäuser füllten sich auch und lieferten ihre Frachten auf den Friedhöfen ab, um sich wieder zu füllen. Aber endlich wurde niemand angehalten, krank zu sein; und jedem stand, solange er atmete, irgendwie die Welt offen. Da war Paris, da war Italien, da war Kopenhagen und Amsterdam oder Zürich und selbst drüben Amerika. Und wenn man einmal da war, konnte man da ebenso gut essen und leben und sein Heil versuchen, wie wo anders oder zu Hause gerade auch. Es kümmerte sich kein Mensch um einen, wenn man verreckte.

Irgendwie bestand auch noch Treu und Glauben in der Welt. Es war das keine leere Fiktion; nein: man konnte genau das Maß voraus bestimmen, bis zu dem man betrogen wurde. Der Wettbewerb der Betrüger untereinander regelte das. Man entging ihm zwar nicht; aber man hatte auch nicht mit jenen wilden Überraschungen zu rechnen, wie sie nunmehr so verwirrend und alltäglich sind.

Ja, ja, das Leben des Einzelnen hatte eben noch einen bestimmten Wert, Platz und Sinn. Es war das zwar auch nicht mehr als eine Fiktion: aber man tat wenigstens so, als ob es das hätte. Er – der einzelne – fühlte sich auch noch irgendwie wertvoll und singulär und gesichert; und er war noch nicht zur Schleuderware degradiert worden, die die Regierungen verramschten ... und er war noch nicht auf diese Weile – sehr handgreiflich – eines besseren belehrt worden. Der Einzelne hatte auch noch nicht so offensichtlich »Leben und Nichtlebenlassen« sich zum Leitsatz erkoren; wenn er auch insgeheim und, ohne es sich so plump wie heute einzugestehen, danach handelte.

Daher kam es, daß wenigstens von jungen Leuten, nicht von solchen, die wie festgepicht schon auf ihren Stühlen saßen, sondern von denen, die noch vor den Türen rumorten ... – wenigstens von diesen ... viele Dinge, die noch nicht durch Surrogate ersetzt worden waren, ernster genommen wurden, wie man das heute tut ... als da sind: die Liebe und die Kunst und die Sehnsucht und die Leistungen und die Eltern und die Frauen und die Kinder und das Ziel und das Streben und der Weltfortschritt und die Lebensformen und die Schönheit und das Bild der Welt, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Bücher konnten Menschen wandeln, Bilder Schicksale werden. Namen wie Goethe oder Nietzsche oder Schopenhauer oder Manet; van Gogh oder Marx, Hauptmann oder Keller standen ihnen wie Sonnen am Himmel; und von Osterreich lächelten silber-melancholische Sterne herüber. Durch tausend Wirrnisse schien trotzdem der Kompaß eines erzweifelten, herrlich-glaubenslosen und tiefgläubigen Lebens, sicher den Weg zum Sinn zu weisen. Und, ob es einem gut oder schlecht ging, die Magnetsteine, die heute eben jeder in seiner Tasche trägt, machten den Kompaß nicht abirren.

Die Keulenschläge des Lebens waren vielleicht härter als heute. Aber die hunderttausend Nadelstiche fehlten. Wie sehr man auch zu kämpfen hatte, das Leben fing doch erst jenseits des Magens an. Man drehte die Mark dreimal um; aber der Zahlenwahnsinn fehlte. Man ging selten ungesättigt schlafen. Zu einem Bückling, zwei Butterschrippen und einem Dreierkäse reichte es immer noch, auch, wenn man nicht ahnte, woher das nächste Goldstück kommen sollte. Wenn man eine Groschenzigarre rauchte, – nachher – konnte man sicher sein, daß sie in ihren vorwiegenden Bestandteilen Tabaksblätter aufwies. Und die zwei Schrippen waren noch ein Mehlprodukt gewesen und nicht ein Küchlein aus Kleie, Maiskörnern und zerriebenen Hobelspänen.

Man lachte über den Gent, wenn man glaubte geistig zu sein, und war dabei besser gekleidet als heute, wo man gern Äußeres für fehlende Innerlichkeit setzt; denn der Sechzig-Mark-Anzug entpuppte sich doch nicht nach acht Tagen als ein gefärbter Scheuerlappen; und das neue Oberhemd hielt trotz Sonne über den Heimweg hinaus die Tupfen und Streifchen; und die neuen amerikanischen Pflastertreter blieben Stiefel, auch im Regen, und wurden keine Fußbäder.

Damals also, wird man nun sagen, da das Gesicht und das Leben so ganz anders geartet waren, als sie es heute sind.

Gewiß: alles Dasein, das vorübergestrichen ist, wird Geschichte und kehrt so nie wieder. Es schwindet unmerklich. Entgleitet uns, wie die Ufer bei einer Kahnfahrt, wenn wir den Fluß hinab rudern; ehe wir uns eigentlich dessen bewußt werden, ist eine Biegung hinter uns, die Berge der Jugend haben sich in die Hügel des Alters gewandelt; statt der Wälder treiben schon Felder in korngelben Wellen und aus dem Blaugrün der Obstbäume weist und winkt zwischen grauen Dächern inmitten seines Friedhofs ein ängstlicher, halbschiefer Turm einer baufälligen Dorfkirche, die wir noch nie gesehen haben.

Aber warum deswegen nun eigentlich anders? Einigen wir uns dahin: das Leben hatte eine andere Tonart damals. Auch war das Orchester nicht das gleiche, vielleicht altmodischer zusammengesetzt. Viele stümpern jetzt großspurig die erste Violine, denen man ehedem nicht einmal gestattet hätte, die Notenblätter umzudrehen. Xylophon, Pauken und Blasinstrumente drängen sich noch nicht so vor. Wenn man scharf hinhörte, vernahm man noch eher einmal die feintrillernden Geigen, das zärtliche Glucksen der Querflöten und, wie Männertränen, das sonore Schwingen der Celli. Aber dennoch und trotzdem: es hatte genau die gleiche Melodie, das Leben:

Die Abende zogen ebenso bedrängend rätseldunkel herauf. Und die Sterne flimmerten ebenso unerbittlich über den halbbebauten Karrees der Vorstadtstraßen. Die Wolken kamen mal vom Westen und gingen nach Osten, und mal von Osten und jagten nach Westen, und niemand ahnte, warum sie kamen und schwanden. Die Bäume in den Alleen und auf den Plätzen, um die Kirchen und an den Kanälen wurden zu funkelnden Fontänen, die mit tausend grünen Tropfen in der Luft erstarrt waren. Und eines Tages standen da wieder in Reihen nur kahle, nasse Besen und schauderten im ersten Schneetreiben. Immer die gleiche Melodie ...

Das Leben mischte ständig neu die Karten. Aus Kneipen kam ebenso Lärm und Geklimper, und aus Höfen schallte es von Gekeif und Schlägen, daß die Nachbarn die Fenster aufrissen und mit offenen Mäulern in die nasse Nacht hinaus lauschten. Kinder kamen zur Welt. Und, da nicht alle leben bleiben können, starben etwelche auch wieder. Dann jedoch schaffte man den Wäschekorb oder das Bettchen auf den Boden, bis man es wieder herunterholen konnte. Das war alles. Alte Leute fuhr man eines Tages höchst bescheiden hinaus. Sie machten ihren letzten Weg allein und im Wagen; und sie waren morgen vergessen – abgebrauchte Taler, die schon längst aus dem Verkehr gezogen waren, und nun zur Münze zurückwanderten. Ehen wurden geschlossen mit dem Leichtsinn von Turfwetten, schnitten wie Ketten ins Fleisch und zerbrachen wie Ringe, ohne daß ein Fremder vorher den Sprung gesehen hätte. Die Liebe hielt ihr Spinnennetz wie Autofallen, quer über die Straße hingespannt, zog es durch die Lokale und die Salons, durch die Küchen, die Werkstätten, ja, selbst durch die Wartezimmer der Ärzte; und die dummen Fliegen brummten hinein, die singenden Mücken glaubten wunder wie klug sie darüber hintanzten und blieben doch kleben. Nur ein paar robuste Hummeln und die wilden Wespen rissen immer wieder die Fäden durch, und ihnen gehörte die Welt. Immer die gleiche Melodie ...!

Jugend war ebenso verzweifelt und beseligt – aber mehr verzweifelt in Dumpfheit, Dämmer und Bedrängnis – von der Rätselfülle des Seins, rüttelte an den Toren, stand, wie Hamsun sagt, »an des Reiches Pforten«. Sie war eine Schar von Genies, und die Alten waren eine Herde von Eseln. Bis andere die Genies und sie die Esel wurden. Reichtum saß auf seinem Geldsack und pfiff auf alles, wußte genau: komme was mag – mir kann nichts geschehen! Geistigkeit war wohl auch verachtet, wie heute. Ein Rechnungsrat – von einem Regierungsrat, einem Amtsrichter zu schweigen, und zur Sternennähe eines Leutnants nicht den Blick zu erheben – der zählte ... sie nichts. Aber sie glaubte noch fest an ihre eigene Utopie, die Geistigkeit, was sie heute verlernt hat. Unverbrieftes Künstlertum galt als nutzlose Spielerei. Immer die gleiche Melodie ...!

Die Welt, so überreich an Möglichkeiten, schien doch starr und feststehend, überfüllt und unbeweglich. Neulinge wollte sie nicht aufkommen lassen. Jeder sollte langsam im Trott hinter dem anderen hergehen. Und er schickte sich auch darein, wenn man ihm erst ein paarmal ein Bein gestellt hatte – sowie er schneller gehen wollte, als die anderen. Abseits vom großen Weg sich eine Bahn zu suchen, war schwer, glückte wenigen und führte meist in die Irre. Am besten fuhren noch – seltsam genug, oder nicht seltsam? – fuhren noch die, die sich mit wenig Wissen, wenig Können und viel Frechheit durchs Dasein schoben. Man nannte sie »verfluchte Kerle, die ihre Zeit verstanden« und die die Zukunft für sich hatten. Denn Berlin war ja groß und wuchs von Stunde zu Stunde.

Und wenn an Stelle von ein paar Protzenbauten von heute auch noch schmierige, alte Kabachen standen, die von dem Zeitungskonzern (sofern er an den Neubauten geldlich sich beteiligen wollte) alle vier Wochen einmal als Schandfleck im Straßenbild und als einer Weltstadt unwürdig bezeichnet wurde, während der Gegenkonzern sie als Wahrzeichen des alten, echten Berlins pries, an das hoffentlich so bald nicht schnöde Pietätlosigkeit, Geldgier und Ungeschmack die Hände zu legen wagen würde ... und die Besitzer selbst dickfellig blieben und nur schmunzelnd zusahen, wie die Agenten mit stets sich steigernden Angeboten sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten ... soviel machte das auch nicht gerade aus.

Und wenn auch ein paar Autos weniger über den Potsdamer Platz schnoben als heute – so wirbelte dafür Stadtbahn und Straßenbahn, Untergrundbahn und Hochbahn alle paar Minuten die Menschen genau so wie heute, gleich Zehntausendeweise durcheinander, in einem neuen Rhythmus, der sie begeisterte ... würfelte sie durcheinander mit ihrer Armut, ihrer Hast, ihren Sorgen, ihrer Kleinlichkeit und ihrem nie zu bändigenden Leichtsinn, in der ganzen, tiefen Sinnlosigkeit des Lebens, das so bunt und doch so ertötend-gleichförmig, so lang und am Ende so sekundenkurz, so leicht und so tief mühselig, so beglückend und so schwer entmutigend, und über all das hinaus so tief und unersinnbar zwecklos war ... wie nur von eh und je, heute wie gestern, wie ehedem. Immer, immer, immer ... die gleiche Melodie!

Und doch hatte diese fragwürdige Welt Hunderttausende, ja Millionen von Mittelpunkten, um die sie sich vielfach ähnlich und doch immer wieder verschieden gruppierte.

Jeder von diesen Zehntausenden, die da zum Beispiel an einem Spätnachmittag des Anfang Mai – oder war es noch Ende April? – durcheinandergewirbelt wurden, durch die Leipzigerstraße oder die Friedrichstraße hin; die in den Warenhäusern durch die Lifts von Stockwerk zu Stockwerk geschnellt wurden; die in den Straßenbahnreihen, so sich ruckweise und stuckernd dahin schoben und mit Kartaunenlärm über die Notgeleise polterten – denn es wurde an den Schienen geflickt und geschliffen ... – die da in diesen Wagen eingekeilt (andere neben, über, vor und hinter sich), auf die Plakatuhr starrten (die natürlich wieder mal nicht ging); die von den begrünten Schlünden der Untergrundbahn eingetrunken und ausgeworfen wurden ... jeder von all denen war für sich ein Mittelpunkt der Welt, die mit ihm stand und fiel, war das Zentrum, um das Erde und All kreisten.

Und dabei war doch jeder gleichgültig, unausdenkbar-gleichgültig, füllte, so wichtig er sich nahm, doch nur irgendwo in Familie, Beruf und Leben eine kleine Stelle aus, auf die der Zufall ihn geschleudert hatte, und die ein anderer an seiner Statt ebenso ausgefüllt hätte. Bei Lichte besehen, merkte man, wo er auch immer war, sein Vorhandensein ebensowenig, wie sein Fehlen.

Er war eigentlich nur, wie hier im Straßengewirr – ein dunklerer oder ein hellerer, ein auffallender, angenehmer, peinlicher oder leicht zu übersehender Fleck im Bilde. Je nachdem, ob er noch das an den Ellbogen abgewetzte, trübe Winterjackett trug; oder ob ihm schon der Schneider den neuen Frühlingsanzug, zweireihig mit Krempelhosen in der letzten Modefarbe – einem unbeschreiblichen Graugelbviolett mit grünen Sprengseln, wie Heuhupfer – geliefert hatte (zu dem lehmfarbene Halbschuhe, Panama und Binder mit dem Muster platzender Raketen obligatorisch waren) ... oder, ob er gar ein weibliches Wesen war. Dann war es häufig heute ein heller, ja ein angenehmer – neben den Kerzen der Kastanien und den Nizzarosen in den Blumenkörben der Straßenhändler, der augenerfreuendste Fleck im Bild, auf dem man wohl auch gern länger verweilte. Denn für weibliche Wesen bis zu einer gewissen Altersstufe waren nicht nur die durchscheinenden Stoffe mit phantastischen Namen und phantastischeren Mustern ... die neuen Frühlingskleider, die alles erraten und viel erhoffen ließen ... sondern auch das schön durchwärmte und doch noch erfrischende Wetter überaus kleidsam. Während sie sich beide wiederum – die neue, flatternde und dünne Buntheit der Mode und die erste strahlende Helligkeit des Frühlings für jene, die darüber hinaus waren, aber es nicht wahr haben wollten, als vernichtend-unkleidsam erwies. Was trotzdem aber leider von den Betroffenen nur schwer eingesehen wurde.

Und da – wie wir hörten! – nun diese fragwürdige Welt Hunderttausende von Mittelpunkten hatte, von denen jeder sich einzig wichtig erschien, und jeder ebenso gleichgültig und gleich wertlos wie der andere war – so wird es zum Schluß sich ziemlich eins bleiben, wo wir hier einhaken, wo wir beginnen wollen (ebenso wie es nur wenig ausmacht, wo wir später enden werden).

Wir könnten zum Beispiel mit jener Dame anfangen – um gleich mit dem angenehmsten Fleck im Bild uns zu beschäftigen – die zwischen den hohen Masten der elektrischen Beleuchtung und dem roten Schild der Haltestelle der Straßenbahn sich ein paarmal unschlüssig umdrehte und mit der Zwinge ihres dünnen fliederfarbenen Schirms – da man ihn nie öffnete, weder bei Sonne noch bei Regen, aber auf alle Fälle trug, nannte man ihn En tout cas – in den Fugen der Gehsteige stocherte, zwei, drei Bahnen mit einer Lorgnette beäugte und enttäuscht vorüberließ, so als ob gerade 12, 73, 78 und 92 für sie besonders ungeeignet wären ... und die plötzlich sich dann umdrehte (scheinbar den Plan, mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren, ganz aufgab) und nun durch die Tür zurückmarschierte. Sie hatte wohl bei Wertheim noch etwas zu besorgen vergessen.

Der liebe Gott hatte hübsche Dinge in verwirrender Fülle auf diese sehr junge und zierliche Frau gehäuft; ein süßes Meerkatzengesichtchen ihr verliehen mit übergroßen, betörend-traurigen Augen, die doch unter den schwarzen lockigen Haarmengen gesucht werden wollten. Und er hatte ihr einen Hautton gegeben von einer verführerischen Morbidezza ... welche nennen es oliv; ich würde an einen Spätpfirsich denken, in dessen rosige Weiche noch ein mattes, halbreifes Bronzegrün hineinspielt; ... und nicht genug damit, hatte er ihr die Gelenke zum Zerbrechen schmal und die Hände einer Chinesin auf einem alten Rollbild gegeben.

Und all das war irgendwie sehr luftig und sehr zart und sehr geschmackvoll in helle und farbige – sandfarbene und mattviolette Shantungseiden gewickelt. Auch der Hut war nur ein plissiertes Etwas von Seide, das über das zarte Drahtgestell eines Meisenbauers gezogen war, und als Ganzes, lila und rosig und leicht wie eine Abendwolke, über ihr schwebte. Bis zur Handtasche mit Elfenbein und Autolack hielt bei ihr alles schon bei der Mainummer der »Fashion« und war dabei in »persönlicher Betonung« auf Caprice gestellt. Und alles miteinander: Frau und Seide und Vogelbauer und Schirm und Handtasche und Schuh und geschnittene Jadeplatte an Platinkette dufteten diskret wie eine Kleewiese – nicht wie ein Lupinenfeld oder eine Orangerie oder gar wie ein Bahndamm mit blühenden Akazien, das heißt richtiger und botanisch exakter »Rubinien« – das überließen sie anderen. Nein, wie eine rote Kleewiese, wenn des Mittags der Wind über sie hinstreicht. Wirklich, es war schon sehr betörend.

Warum könnten wir nicht hier beginnen?

Und gewiß gebührt ihm auch der Vorzug ... Oder womit wäre besser anzufangen?! Richtig: wir könnten auch mit jenem Dutzend Rosen beginnen, die eine Hand jedem Vorübergehenden unter die Nase hielt.

Es waren sehr schöne, langstielige Rosen, mit bräunlichen, zarten, beweglichen Stengeln, die dabei etwas Künstliches hatten, als wären sie über Draht und Gummipapier zusammengedreht ... und mit wenigen, feingeschnittenen, grünen, schlanken, regelmäßigen Blättern, die hart und blank erschienen, als wären sie mit Stanzen aus Glanzpapier geschlagen. Unwahrscheinlich hoch aber über diesen Blättern, auf zerbrechlich-dünnen Stengeln nickten volle und harte Rosen, sehr schöne Rosen scheinbar, die an der Spitze wie zugedreht waren und dann doch wieder noch einmal – graziös und kokett zugleich – die Schnäbel öffneten. Sie waren auch von einem schönen Rot, das mal nach Kardinal und mal nach Erdbeerfarben spielte. Aber all das täuschte doch nicht darüber weg, daß sie unbeseelt waren, als wären sie auf einem Porzellanteller gemalt in ihrer kühlen, duftlosen und korrekten Schönheit ... Warenhausartikel, Rivierablumen, Massenangebot, Wohlhabenheit für arme Leute, wie sie in Tausenden von Dutzenden in ihren grob geflochtenen Bastkörben täglich nach Norden flogen, in Reihen gebündelt, mal rechts und mal links die Köpfe, damit sie sich doch nicht allzusehr drückten. Um jedoch gerecht zu sein, muß man bekennen, daß hier, wo sie triefend vor Wasser so verlockend zu vielen Hunderten – zudem noch in einem Handkorb – sich drängten, daß sie hier als ein lebhafter und farbiger Fleck sich in all dem Gewühl angenehm genug zu behaupten wußten, und schon von ganz weit her die Blicke anlockten. Mochte man nun vom Potsdamer Platz oder drüben vom Kriegsministerium herkommen. Sie überflammten selbst die gelben Mimosenbündel, die Tazetten und die elfenbeinernen Narzissen, die die dicke Blumenfrau gleich daneben (sah sie so aus, weil sie Zille so zeichnete – oder zeichnete Zille sie so, weil sie so aussah?! – genug, sie war das Beste, was er je gemacht hatte) in ihrer Krippe hatte, die an zwei breiten Riemen vor der mächtigen Wölbung ihrer blauen Kattunschürze hing.

So anzufangen wäre nicht übel.

Oder sollen wir besser doch mit der Hand beginnen, die dieses Dutzend – es waren nebenbei, wie wir noch sehen werden, nur elf Stück! – dieses sogenannte Dutzend von Rivierarosen emporhielt? Sie war gar nicht sehr groß, gar nicht sehr ausgearbeitet, auch ziemlich weich – vielleicht sogar ehedem gepflegt, aber heute war sie das keineswegs mehr. Trotzdem sah man ihr an, daß sie nicht immer langstielige Rosen gehalten hatte, sondern, daß sie in stolzeren Tagen genau gewußt hatte, wie man ganz schnell den Finger durch den Schlagring zieht, die Daumenkuppe dem anderen in die Pape drückt, und wie man ein Messer so zu halten hat, daß es nicht etwa einschnappt oder abgleitet. Und vor allem, wie man Handschellen mit einem Ruck wieder abstreift. Und, wenn man auch all das der Hand heute nicht mehr recht glaubte – sie hatte verloren, war matter und auch etwas zittrig geworden – den Augen, die spitz und starr und steinhart und wässrig und unbewegt in dem blond-gedunsenen Gesicht saßen und gleichsam ohne jede Regung durch die Dinge hindurch blickten, glaubte man es vorbehaltlos und ohne jede Einschränkung.

Der nämlich, dem die Hand gehörte und der nun unentwegt »Langstielige Rosen – man eene Mark det Dutzend, scheene langstielige Rosen, meine Dame ... reizende Kinder Floras« mit einer Stimme rief, die wie aus einem rostigen Abflußrohr kam, war ehedem sehr ein dufter Junge gewesen, in kesser Schale, wie'n echter Graf, immer bei Zaster, berühmt und geachtet von alle Kollejen, vom Belle-Allianceplatz bis weit hinten ans Ende von der Chausseestraße ... bis ihn eines schönen Tages die Diamantenberta hatte verschütt gehen lassen und er beinah auf Arbeit nach Rummelsburg gekommen wäre. Damit hatte das angefangen. Ja, also, und irgendwie Beschäftigung mußte er nun schon angeben können, sonst könnten sie ihn jeden Tag wieder hochgehen lassen. Und es war ja auch nichts mehr los mit ihm. Und krank war er auch durch und durch. Zwei Zehen hatten sie ihm erst vergangenen Herbst in der Charité abgenommen ... und mit dem dritten sah es man auch so so aus, hatte der Karbolfritze gesagt. Und des Nachts hustete er immer. Gewiß von das Blumenausschreien – den ganzen Tag über bei jedem Wetter vor dem zugigen Gang von den Untergrund.

Nee, das war keen Leben mehr. Kaum, daß ihm mal einer von seine alten Freunde bei Gerold, wenn er ihn da gerade traf, einen großen Kognak abbeißen ließ. Det einzige, worauf er noch hielt ... wenn auch der schwarze Cut mit die graue Biese schon halbzerfetzt und abgewetzt war und blank wie 'ne Schlidderbahn dabei ... das einzige war, daß er sich den Scheitel durchziehen und den Schnurrbart brennen ließ. Das gefiel den Damen, und das gab ihm doch so 'was, als ob wie wenn ... Nee, los war nischt mehr mit ihm. Er konnte ruhig abhaun. Lieber heute als morgen. »Scheene, langstielige Rosen, mein Herr, een Emm det janze Dutzend. Ick leje selber bei ßu!«

Warum sollten wir eigentlich nicht mit »Rosen-Emil« beginnen? Wir brauchen uns seiner nicht zu schämen. Er ist genau so wertvoll und genau so wertlos wie andere auch und innerhalb seines Kreises ebenso sittlich wie sie: er hat nie dem Kollegen die Braut abspenstig gemacht, und wenn sie noch so viel verdiente. Er hat sich nie gedrückt, wenn sie für einen Kollegen gesammelt haben, der seine Zeit abgebrummt hatte, und der nun neu eingekluftet werden mußte. Und, wenn er auch heute nicht mehr zählt – er hält immer noch auf seinen Stand, wie nur einer. Da kann sich mancher dran ein Beispiel nehmen. Er hat nie einen Kollegen oder etwa ein armes Mädchen verpfiffen, und wenn ihm der Kommissar auch hundert Mark dafür geboten hatte. Nee, so 'was macht er, Rosen-Emil, nicht. Wofür hat man denn seine Ehre.

»Scheene, langstielige Rosen. Hier noch eene Mark dat janze Dutzend, langstielige Rosen, meine Dame, die letzten!«

Eigentlich also könnten wir ebensogut mit Rosen-Emil beginnen wie zum Beispiel mit jenem jungen Herrn, das heißt ganz so jung ist er wohl nicht mehr, aber er will es sein, er hat sich auf Boy stilisiert – Zwanzig, statt Dreißig – der eben mit dem Beinschwung eines ergrauten Kontrolleurs vom Trittbrett der fahrenden 78 sich abgedreht hat und nun mit Newyorker Kaltblütigkeit durch Droschken, Autobusse, die Straßenbahnen, die vom Spittelmarkt heranpoltern, zwischen sausenden Messengern und Geschäftsrädern mit schwankenden Pyramiden von Postpaketen sich hindurchwindet, um das andere Ufer zu gewinnen, die Buchtung, den stilleren Hafen vor Wertheim. Er trägt den Schnurrbart ganz kurz als Zahnbürste geschnitten über breiten Lippen, hat den blütenweißen Panama (vor acht Tagen konnte man noch eine Pelzkappe über beide Ohren ziehen) vorn übers rechte Auge gedrückt; und der Schneider, der ihm den Anzug in der Modefarbe, grau-gelb-violett mit grünen Sprengseln wie Heuhupfer, geliefert hat, hat ihm die schmale Taille und die überbreiten Schultern dazu gleich mitgeliefert. Ebenso, wie er die Hose gleich in die richtigen Stehfalten und in die vorschriftsmäßige Höhe der Umschläge gebügelt hat, und erklärt hat, daß man hierzu in Strümpfen, Hemd und Hutband und Krawatte ... ja, später auch im Leibgurt ... ein unauffälliges Violett trüge – nichts anderes ... selbstredend bei gelben Halbschuhen, und daß man darin ginge: leger, wie man gewachsen ist!

Das ist die kommende Note. Nicht mehr das alte Gigerl mit Knotenstock. Nicht mehr der Dandy à la Eduard. Nicht mehr preußische Schneidigkeit, verkappte Roheit mit Monokel als Glanzpunkt und Reserveleutnant als Folie, mit barbarischem Gehrock und Schwalbenflügel unter der Nase, überlebensgroß, halb Denkmal, halb Militärkapellmeister. Nein, ganz amerikanisiert. Eher kurz als lang. Scheinbar salopp; aber energiegesättigt ... Klavierdrähte statt Nerven ... unter nicht zu erschütterndem Gleichmut! Immer in Eile. Organisation. Konferenzen. Mit der Ruhe ist es vorbei, in Berlin. Das wird noch ganz anders kommen. Telephon. Bote. Auto. Drüber weg. Unten durch. Dabei jungenhaft. Jovial-manierenlos nach oben, wie nach unten. Mit Gleichgültigkeit bluffen und dann überrumpeln hat sich als Zeitersparnis erwiesen. Auch für Weiber. Harryman und Brown. Stahlkönig und Champion of the world leuchten zur Nacheiferung wie Sterne über'n großen Teich. Das ist die kommende Note.

Und die kommende Note bleibt einen Augenblick stehen, unauffällig sich umschauend im rosigen Abendlicht. Führt die Linke mit schnellender Bewegung vor den Leib, streift den Ärmel kurz auf und sieht auf die breite Armbanduhr. Er hat das eigentlich nicht nötig. Denn geradeüber, die Uhr in der Urania-Säule geht ganz genau – ist zehn Minuten nach halb sieben. Nicht halb, nicht zehn Minuten vor halb – zehn Minuten nach halb sieben. Aber er blickt auf seine Armbanduhr (nur Schweine tragen noch Uhren in der Westentasche).

»Scheene, langstielige Rosen, hier noch die letzten, ne Mark det janze Dutzend, langstielige Rosen, mein Herr!«

Und die Rosen nebst der Hand, die daran hängt, nähern sich der kurzgeschorenen Zahnbürste und dem Auge unter der Beschattung des Panamas. Das abgehalfterte Leben von vorgestern und die kommende Note treten in Verbindung.

Aber die neue Note ist ein Mensch von schnellen Entschlüssen. Zwar ist so etwas wie Rosen vieux genre; aber sie sehen doch nach sehr viel aus, wenigstens die hier. Und schon hat er die Hand in der Hosentasche und zieht sie mit einem Klumpen Hartgeld – echte Amerikaner tragen das Geld stets lose im Sack, verabscheuen Geldbeutel – einen ganzen Klumpen Hartgeld zurück und schnipst dem »Rosen-Emil« ein Silberstück zu. Und das Dutzend – die elf langstieligen Rivierarosen – wandern, noch hastig mit einem Fetzen Seidenpapier umknittert, vom abgehalfterten Leben von vorgestern zur kommenden Note.

Aber schon haben sie Nachfolger. »Langstielige Rosen, det allerletzte Dutzend ... man siebenenenhalben Silbergroschen!« ...

Oder aber warum sollen wir nicht – da doch alles gleich wertvoll und gleich wertlos ist – statt mit jenem leuchtenden und augenerfreuenden, mit einem weit unscheinbareren Fleck im Bilde beginnen, einem jener stumpfen Flecken im Bilde, der noch an diesem Frühlingstage einen abgewetzten Winteranzug trug, dem das neue, helle Licht nicht gut tat?! Lange Zeit schien er möglich, war ganz passabel so mitgegangen neben anderen – aber ganz urplötzlich hatte er seinen Tag von Belle-Alliance erlebt. Gestern glaubte man noch, daß er für gut ginge, und heute kam es heraus, daß der Ärmel, der eine Ellenbogen ganz blank und spinnwebendünn war, und daß der Hosenboden, der neu eingesetzt war, dagegen sich weit dunkler ausnahm, als seine Umgebung, auch in den hellen Streifen nicht ganz korrekt verlief, indem diese ihre Anschlußgleise vergeblich zu suchen schienen. Ferner waren die Beinkleider unten keineswegs vorschriftsmäßig umgeschlagen, und, wenn sie auch keine Fransen hatten wie beim Wedekindschen Dichter, so entging es einem scharfen Auge doch nicht, daß sie über dem Hacken keine Gerade bildeten, sondern in verhängnisvollen Buchtungen verliefen, die von mißglückten Restaurierungen einer weiblichen Hand sprachen: »so – besser kann ich es nicht machen – die Hose müßte eigentlich zum Schneider«.

Und ihre tödlichste Stelle verbarg zudem noch das überfallende Jaquett; denn an jenem Pole, wo sie eine Verbindung mit den Trägern sucht, gab es zwei bedeutende korrespondierende Areale eines schwarz- und weißkarierten Kammgarns, die zu der simpel schwarz- und weißgestreiften Umgebung durchaus im Widerspruch standen. Aber zum Schluß sah man sie ja nicht. Und so warm, daß man etwa auf der Leipzigerstraße in Hemdsärmeln gehen müßte – war es ja auch nicht. Und dann tat man so etwas in der Leipzigerstraße damals überhaupt nicht. Aber wenn man ganz genau hinsah, konnte man doch ahnen, daß da oben in der Hose, unter dem Jaquett, zwei Flicken saßen – denn so etwas prägt sich im ganzen Wesen, im Gang, in der Kopfhaltung, in jeder Armbewegung durch eine leise Unsicherheit irgendwie unbestimmt, aber doch fühlbar aus. Kragen und Krawatte sollten zwar den Anzug herausreißen; beide schienen recht neu. Die Krawatte war sogar sicher recht teuer gewesen – keineswegs ein Selbstbinder für 95 Pfennig – mindestens einen Taler hatte sie gekostet. Dick und schwer und blau, mit weißen Tupfen, wie sie war. Aber sie verfehlte den Zweck und machte durch ihre Divergenz nur mehr auf den Anzug aufmerksam.

Und wenn man es sich weiter überlegte, konnte man aus den beiden Stellen des verminderten Widerstandes – Hosenboden und Ellbogen – ohne allzu große Mühewaltung schließen, daß der Träger des Anzugs vielfach einer sitzenden und schreibenden Beschäftigung oblag ... wenn das nicht eigens die Schulterhaltung – rechte voran, linke zurück – noch einmal verraten hätte.

Und wenn man ihn selbst betrachtete – kam man auch zu keinem anderen Resultat; einfach nach der Methode des Pflanzenbestimmens, die über alle Merkmale, die die Pflanze nicht hat, zwangsläufig auf Gattung und Spezies führt! Er ist wohl Jude von Hause her – hat es aber fast vergessen. Er läßt sich dadurch nicht anfechten und macht keinen Gebrauch davon. Zum Kaufmann und Geldverdiener ist er zu uninteressiert. Zum Beamten zu wenig selbstbewußt, zu sehr sich gehen lassend. Intellektueller – vielleicht? Aber keiner, der mit Leuten in Berührung kommt, die an ihn glauben müssen – also nicht Politiker, nicht Arzt, nicht Rechtsanwalt, nicht Lehrer, Künstler? Ja ... aber ... Zum Maler ist die Hand zu schwer und das Auge nicht sprungbereit, gewohnt zu erfassen, gegeneinander abzuwägen. (Es ist stets ein wenig eingekniffen und ganz leicht lauernd beim Maler.) Für Musik fehlt jeder Rhythmus, fehlt das Lauschen nach innen, auf Klänge neben den Klängen; ist auch die Stirn zu hoch und zu flach über den Augen, der Kopf zu schmal und nicht gerundet. Also – was bleibt?! Schriftsteller – vielleicht Journalist. Aber keiner von den fingerfertigen, den schnellen, den Wichtigtuern und Wichtignehmern, den Politisch-erregten, keiner, der mit der Zeitung lebt und stirbt. Nein, einer, der nebenher läuft, hier und da. Der sich selbst durchsetzen will und insgeheim an eigene Wege denkt, die er sich bahnen möchte. Das Zahnrad hat ihn noch nicht ganz erfaßt und ins Getriebe hineingezogen. Er lebt nicht nur von der Morgenausgabe zur Mittagsausgabe, und von der zum Abendblatt. Er kann diese Dinge doch noch nicht ernst nehmen. Solch einer.

Und verheiratet ist er auch. Man braucht gar nicht den Ring zu sehen, der noch nicht allzu stumpf geworden ist. Aber ein Junggeselle, so zu Beginn, in der ersten Hälfte der Dreißig, stellt sich – ganz gleich wie er aussieht – anders auf die Umgebung ein. Will beachten und beachtet werden. Er weiß, der ganze Abend, die ganze Nacht gehört ihm noch. Und wenn nicht heute mehr, so morgen. Und wenn nicht morgen, so doch nächsten Montag, von sieben Uhr an. Er ist irgend wie immer auf den Zufall wartend, trällert stets innerlich vor sich hin, lebt in Angriffsstellung. Und er weiß, daß an einem Tag wie dem heutigen, die Zufälle, die er sucht, weit wahrscheinlicher sind, als am zwanzigsten November bei Schneetreiben. Und daß die Verteidigungslinien ebenfalls schwächer ausgebaut sind, als sie um jene Zeit zu sein pflegen. Also warum soll er nicht langsam hinschlendern? Und warum soll er nicht siegessicher um sich sehen, um gesehen zu werden? Er spielt mit. Ihm gehört noch alles, was da vorüber treibt, Frauen, Autos, alles, was da in den Schaufenstern liegt. Hier die Porzellane, die aus samtenen Decken emporblühen; da die Wäsche, Berge von Lingerien; da die Schokoladen, zu Bauten getürmt; und die abgeteilten Felder der Pralinés – bis zur »Fürstenmischung« – zum Verschenken. Da drüben die versilberten Aufsätze; der Schmuck; die neuen Schlipse und die Stöcke mit den Hornknöpfen; und die breiten – ach so schön breiten – Messingbetten. All das sind für ihn Zukunftsmöglichkeiten; während der Ehemann doch nur als Zuschauer hastig zwischen den Menschen hindurch läuft, mal hier, mal dahin blickt, einen Augenblick auf einem Gesicht verweilt und auf der silbernen Zigarettendose mit dem blauen Emaillemonogramm haften bleibt. Richtig, das gibt's ja auch noch! ... Ohje – Schon zehn Minuten nach halb Sieben ist auf der Uraniasäule ... wo bloß diese Jungen mit einem Male alle die Armbanduhren herkriegen? denkt Fritz Eisner ... wo sie überhaupt alle mit einem Male herkommen ... diese Jungen: ganz neuer Typ! Und dabei sieht einer wie der andere aus – als ob sie sich das verabredet haben. Das ist so wie Jensen – nicht der weichmäulige von der Waterkant, nein Johannes V. aus Dänemark-Amerika-Indien – wie er erzählt von dem Spinnenmännchen, das plötzlich in sich den unbestimmten Impuls fühlt: es muß fliegen. Noch niemals hat sonst ein Spinnenmännchen ans Fliegen gedacht, meint es; aber es muß gerade jetzt, in dieser Stunde noch, in die Ferne irgendwohin – Und das nun auf einen Grashalm klettert, einen Faden in die Luft wirft, sich an ihn klammert und von ihm sich forttragen läßt. (Ja, wer das auch so einfach könnte!) Und plötzlich zu seinem maßlosen Erstaunen sieht, das Spinnenmännchen, daß es in dieser Art nicht allein durch die Welt gondelt, sondern daß allenthalben über die blühenden Heideflächen hin in der stillen Augustsonne ähnliche Luftdroschken mit den gleichen Insassen treiben. So muß es doch den Jungens jetzt zu Mute sein: wenn sie überall hüben und drüben ihr eigenes Gesicht, die Zahnbürste, die Krempelhosen, den Panama und die gelben Schuhe, den gleichen Gang, den gleichen Stoff und die gleichen Schultern sehen. Wenn sie merken, daß sie Masse sind, wo sie sich Individuen glaubten. Zehn Minuten nach halb Sieben! Es ist verteufelt spät geworden. Ich muß noch eine Menge für heute abend mitnehmen, denn nachher ist sonst doch wieder nichts da.

»Schöne langstielige Rosen – Herr Doktor. Sie'm un halb det Dutzend.«

Eigentümlich, denkt Fritz Eisner, daß meine Frau das nie lernt! Aber jeder muß so verbraucht werden, wie er ist. Das liegt ihr nun mal nicht. Sie stürzt ins Warenhaus, fährt noch um zwölf Uhr eigens herein, eine Stunde vor dem Essen, um wie sie sagt, ganz schnell (adieu – adieu!) – zum Mittagsbrot ein Pfund Reis zu kaufen, weil es dort sechsundzwanzig Pfennig kostet, statt fünfunddreißig. Und zwar der echte Maltareis, den man hier draußen – in diesem gottverlassenen Friedenau! – ja leider überhaupt nicht kriegt. So ist sie. Sie nimmt ein Goldstück aus der Ecke des Wäscheschrankes – wo soll man Geld auch sonst aufheben? – und kommt dann endlich gegen drei Uhr ganz außer Atem wieder angehetzt ... mit einer Bluse vom billigen Tisch ... einer Waltershausener Gelenkpuppe fürs Kind, die doch erst in zwei Jahren richtig damit spielen kann ... einem verschnittenen Stoffrest – (man kann ihn zu allem brauchen!) ... einem Stück angeschmuddelten Hemdbesatz, den sie schon lange sich als Küchenkante gewünscht hatte ... der Patentbohnenschneidemaschine »Irene« – Du siehst doch: so! – (also von ewig-versagender Konstruktion!) ... und zwei kleinen verblühten Primeltöpfchen zu fünfzehn – denk nur fünfzehn –, die noch Knospen haben sollen. – Und ihren Hut hat sie sich auch noch schnell abgeholt: (wie steht er mir?)

Und wenn man sie dann nach dem Reis fragt, den es zum Mittag hätte geben sollen, sagt sie beleidigt und halbvertränt, daß sie ihn nicht mehr hätte schleppen können. Oder, daß überhaupt kein Reis mehr da gewesen wäre – ganz Wertheim ausverkauft, bis auf das letzte Körnchen! – Das zwar nicht, aber wenigstens ihre Sorte ... Ja, den sehr teuren – zu vierzig Pfennig! – hätten sie noch gerade ein paar Pfund gehabt, aber so würfe sie nicht mit dem Geld herum. Das tun wohl andere, die nichts gelernt haben, als sich aufzuputzen (das geht auf Frau Doktor Walter). Und sie begreife überhaupt nicht, warum ich darauf bestehe, daß der Reis im Warenhaus geholt wird ... So gut wie der, ist er hier draußen lange!! Und auf die fünf Pfennig mehr kommt es (weiß Gott!) nicht an. Das ist sie von Hause her nicht gewohnt. Und man verfährt dabei das Vierfache und verläuft mehr an Stiefelsohlen, als die ganze Sache wert ist. Und der drüben vom Kaufmann Müller ist ja das letztemal vorzüglich gewesen. Gar nicht mehr so dumpf und gelb und multrig wie sonst.

Und dann steht sie mit dem letzten Bissen auf und beginnt die Bluse, die – wie sich jetzt herausstellt, drei Nummern zu groß ist – auseinanderzutrennen, läßt sie in Fetzen liegen und setzt schnell die Feder auf dem Hut wieder an die linke Seite zurück, wo sie zuerst war. – Das kleidet sie doch besser; sie kann eben nur links tragen! – Und sie bringt die alte Linie nicht mehr heraus und zerknüllt den Hut vor Unglück darüber, weil er sie ganz schief macht. Little Dorrit oder ist es Klein-Emely? Und niemand kann dabei sagen, daß sie deshalb für ihre Person anspruchsvoll ist. Oder gar, wie Heines Mathilde, eine Verbringerin. Das würde ihr auch schwerfallen bei mir. Nein ... sie verläppert sich und das Geld aus Angst vor Ausgaben in Kleinigkeiten, die sinnlos sind, und fährt zum Schluß aus falscher Sparsamkeit teurer und übler dabei, als wenn sie den Mut gefunden hätte, statt drei Blusen vom ›Billigen Tisch‹ eine aus dem ›guten Schrank‹ zu kaufen. Aber sie nennt das ›sparen‹, und es ist ihr nicht klar zu machen ... Ach Gott, es ist ja ein Unsinn, Menschen ändern zu wollen. Jeder muß so verbraucht werden, wie er eben ist.

Im Augenblick, als er über den Damm ging, stand der ganze Nachmittag vor Fritz Eisner, und er lachte in sich hinein: Heute wäre es ja beinahe unangenehm geworden. Denn er hatte gedacht, es wäre alles besorgt für den Abend (und dabei war es halb Vier schon); oder zum mindesten wäre doch noch Geld im Haus, um es zu tun – und da war kaum ein roter Heller mehr da! Und zur Nacht sollte es bei ihnen voller Leute sein. Er wußte gar nicht, wieviel eigentlich kommen wollten. Jeder, den man aufgefordert, hatte erst abgesagt und dann wieder zugesagt, wenn er noch fünf andere mitbringen könne. Irgendwas wollten sie machen. So etwas Lustiges und Zwangloses, die Einweihung einer Kneipe sollte es werden, einer richtigen Destille ... oder was sonst.

Fritz Eisner sah sich selbst – er hatte kaum Zeit sich genommen, über diese geldliche Offenbarung sein gerechtes Erstaunen zu äußern – die Treppe hinunterjagen, immer zwei Stufen auf einmal; denn bis er auf die Zeitung kam, da vergingen doch mindestens vierzig Minuten. Und wenn die Kasse schon zu war, ... was dann? Dann hätte er wieder mal 'rumpumpen müssen, bei Juden und Heiden. Geldsorgen drückten ihn nie. Er war das nicht anders gewohnt, als von heute auf morgen zu leben. Aber andere anpumpen machte ihm keine Freude. Also, vornherum – so für all und jeden! – war eigentlich die Auszahlung schon zugesperrt gewesen; aber durch die Hintertür war er noch hereingekommen. Und der alte Buchhalter hatte erst nicht so recht gewollt, er hätte schon abgerechnet für heute. Aber endlich hatte Fritz Eisner doch noch (mit Vorschuß) siebenundachtzig Mark und fünfzig Pfennige herausgeschlagen, vier Goldstücke und drei Silberstücke. Und das gab ihm eine beträchtliche Sicherheit. Und dann war er hinaufgegangen, in die Redaktion, um Korrekturen zu lesen. Sie wimmelten von Druckfehlern, Meuzel, sechsmal Meuzel, statt Menzel; endlich war doch Exzellenz Adolf von Menzel gerichtsnotorisch, und man konnte immerhin annehmen, daß man auf der Zeitung schon mal etwas von ihm gehört haben sollte.

Der Redakteur aber, den Fritz Eisner sprechen mußte, der kam erst gegen sechs. Und darum war er noch bis dahin zu den Zeitschriften gegangen, die da im anderen Stockwerk des großen Baues – er fraß ständig um sich, verschlang Nebenhaus auf Nebenhaus, griff um Straßenecken, bekam immer neue Höfe und Abteilungen ... die da an stillen, weichbelegten Gängen, die jeden Schritt, selbst das Gejachter der Botenjungen schluckten ... die da in langen Zimmerfluchten ein ihm höchst rätselvolles Pflanzendasein führten. Er hatte sich einfach durch die Zimmer hindurchgeplaudert, sich hier stundenlang in einen Klubsessel gefletzt, dort die Bilder und Fotos aus der Mandschurei, vom Kriegsschauplatz sich angesehen, dort Witze gehört und dort zahllose Zigaretten von den Zeichnern sich anbieten lassen; und er hatte ausgiebig mit den Damen schöngetan, die nicht immer jung, nicht immer hübsch, aber immer rege und unterhaltsam waren: Frauen von der kameradschaftlichen Art, wie er sie schätzte – um zum Schluß drei kurze Bildertexte für zehn Mark zu schreiben, und ein paar kleine Aufträge nach Hause zu bringen, die eigentlich nicht wert waren, daß man die Feder drum ins Tintenfaß steckte. Aber was tut man nicht alles, damit der Schornstein raucht?!

Fritz Eisner war gern auf Redaktionen. Und er liebte das Summen der großen Maschinen, die irgendwo in Sälen, zu denen man nie kam – Zugang verboten! – schnurgelten, rasselten und stampften und seltsam melodisch brummten, wenn sie ihre Hunderttausende und Millionen von Papierfetzen durch die Zähne zogen und ausspuckten. Dieses Brummen, das er, ohne es doch zu hören, in allen Nerven spürte, sowie er das Zeitungshaus betreten hatte, hatte er gern. Und die Menschen da waren immer freundlich zu ihm und schienen nie etwas zu tun zu haben, trotzdem eigentlich jeder innerlich gehetzt war.

Fritz Eisner liebte sie, die allemal irgend etwas in sich begraben hatten, ehe sie sich in diesen Tageszwang eingefügt hatten. Sie waren witzig, lebhaft – das war unumgänglich; und, da sie dem Weltleben sehr nahe standen, das gleichsam wie das Wasser durch die Röhre eines mittelalterlichen Stadtbrunnens täglich und stündlich zuerst durch sie hindurchfloß, immer neu, ohne Halt und Rast und Wiederkehr, noch ehe es den anderen in die Küchen und Werkstätten kam ... und, da sie doch zugleich, in ihrer einfachen Lebensführung und festgewachsen wie das Korallentier am Stock, ihm auch sehr fern waren, so waren sie in ihrer Art Philosophen geworden ... und wenn sie selbst an noch so bescheidener Stelle saßen, vermischte Notizen zusammenklebten, Sportrekords verglichen, Straßenbahnunfälle glossierten. Sie wußten meist ohne tötende Gründlichkeit, die leicht zur Überschätzung verführt, von vielen Dingen, waren menschlich und angenehm manierenlos, ließen ruhig den anderen armen Teufel in seinem geheimen Größenwahn gelten, und es plauderte sich auch gut mit ihnen.

Und sie hatten ihn auch ganz gern. Das fühlte Fritz Eisner. Und doch bestand ein Unterschied zwischen ihnen, den Fritz Eisner nie vergaß. Er glaubte noch an die Ewigkeit der Dinge, während die schon von ihrer Unewigkeit fest überzeugt waren. Er galt für sie als outsider, als Luxuspferd, das sich nicht vor den Pflug spannen läßt. Doch, da er all diesen Versuchen sich höflich, aber bestimmt widersetzt hatte, und in der Wahl zwischen geldlicher Unsicherheit und Unfreiheit immer noch bislang in fünf und mehr Jahren das erste vorgezogen hatte, so hingen sie irgendwie an ihm wie an einem, der ein Stück ihres besseren Selbst war. Er drängte sich nicht nach Arbeit – das wußten sie –, machte das, was er wollte, und war für mancherlei Dinge zu brauchen, zu denen eine lockere Hand, Geschmack, ein wenig Witz und Wortsicherheit gehörten, und die man doch in den Blättern nicht ganz entbehren kann, ohne Gefahr zu laufen, ledern und langweilig zu werden. Er hatte das, was man in der Zeitung eine Note hieß, und was man ab und an (nur nicht zu oft) gern sah: ein Gemisch von innerer Anarchie gegenüber allem, was Staat, Gemeinde, Gesellschaft und Familie ernst nahmen, und Berlinertum, das sich in einer melancholischen Wurstigkeit kundtat. Und als Gegenpol zu dieser Wurstigkeit hatte er ein plötzliches und unerwartetes Aufflammen von trunkener Anbetung für das, was er an schönen Dingen liebte, ob dies nun ein verschneiter Baum, ein Rembrandt, ein Frauenlächeln oder ein Havelsee, ein Japanlack oder ein Vers von einem Verlaine oder eine blühende Kapuzinerkresse war. Außerdem aber schrieb er – so viel Raum war! – über Kunst und Ausstellungen, und er hatte dazu nicht allzuviel aus den Hörsälen, aber desto mehr aus den Ateliers seiner Malerfreunde gelernt, so daß ihn doch sein Gefühl nur selten falsch leitete.

Und um den Braten etwas fetter zu machen, gab Fritz Eisner noch einmal draußen im Reich seine Weisheit in verschiedenen Blättern zum besten, versah sie mit Berichten über Große und Sezession oder über das, was es sonst an Ausstellungen und Kunststreitereien gab; – so weit man dort Neigung und Geld für solche nebensächlichen Dinge hatte, die nun mehr weiß Gott weshalb (eine blöde und undeutsche Französelei, geschaffen von Juden, Literaten, Ausländern und anderem Gelichter) in diesem Wasserkopf Berlin anfingen Mode zu werden, und von denen der Leser trotzdem nicht völlig ununterrichtet bleiben durfte. Oder er schrieb einmal einen längeren Aufsatz für eine illustrierte Zeitschrift, was stets mit vielen Mühen, vielen Briefen und viel Lauferei durch Sammlungen, Bibliotheken und Ateliers verbunden war, und zum Schluß sich nicht einmal schlecht, sondern elend bezahlt machte. Schätze waren also mit all' dem nicht zu verdienen, und man mußte schwimmen und schwimmen und immer wieder neue Schläge machen, damit der Kopf nicht unter Wasser kam. Aber solange man schwamm, ging's gerade, wenn alles zusammenkam. Es klapperte langsam, aber es klapperte. Dort gab es Außenstände und da und da. Und während endlich das eine bezahlt wurde, lagerte das andere schon wieder in Essen oder in Magdeburg ... so daß es doch wenigstens nie ganz abriß. Die rosa Abschnitte der Postanweisungen aber waren am Ende das einzige, was von durchschriebenen Nächten übrigblieb.

Und dieses Verrinnen, dieses morgen, spätestens in acht, allerspätestens in dreißig Tagen Vergessen-sein – liebte Fritz Eisner nicht. Unentwegte Arbeit, welcher Art sie auch sei, macht auf die Dauer bankrott – das sagte ihm schon Goethe. Er glaubte, daß es seinem Wesen läge, hineinzugreifen, zu gestalten, Dinge und Menschen hinzustellen, die bleiben. Es war ihm nur noch nicht geglückt, sich dem ganz hingeben zu dürfen. Viermal hatte er sich gegen die feste Menschenmauer geworfen. Und viermal hatte sie nicht gewankt und war nicht gewichen. Aber dieses Mal, meinte er, mußte er sie durchbrechen. Und so maikäferte er außerdem in allen freien Stunden an einer sehr großen Arbeit, schrieb langsam und wohlvorbereitet mit der Ruhe eines Saumtieres Seite für Seite. – Viel stand noch nicht da; aber es wuchs; der Vorschuß, den der Verleger ihm gegeben, war längst aufgezehrt. Das war peinlich – aber endlich war die Sache zu wichtig, als daß sie übereilt werden dürfte. Und – wenn es zum fünftenmal ein Schlag ins Wasser gewesen wäre? – Nun schön! – Er schrieb ja doch nicht, weil er sollte oder weil er es wollte, sondern weil er es mußte, weil er einfach sonst zugrunde gegangen wäre, ertrunken wäre in all diesen kleinen Sinnlosigkeiten, mit denen man so ein Tag in den anderen, ein Jahr in das andere lief ... weil ihn das Grausen vor dem Nichts dieses Lebens zwang, ihm Festes entgegenzusetzen. Und, was endlich daraus wurde oder, was die anderen dazu sagten, kam doch erst in zweiter und dritter Linie.

»Langstielige Rosen, Herr Doktor, simnundhalb das janze Dutzend!«

Fritz Eisner blieb einen Augenblick stehen. – Er griff nicht so einfach in die Tasche wie die kommende Note und klimperte mit Talern ... – Er blieb stehen und überlegte. Eigentlich war das doch wirklich nicht viel. Und auf den Tisch im Salon gehörte schon etwas hin, heute abend. Und dann machte so etwas auch Annchen Freude – wenigstens zwei Minuten lang.

»Na, vielleicht auf dem Rückweg«, sagte er sich – »wenn sie dann noch da sind ... So werden sie doch nur welk in der Hand. Und ich muß auch noch viel tragen.« Und er warf Rosen-Emil einen halb entschuldigenden, halb aufmunternden Blick zu, und ging zu dem Klipp und Klapp von divergierenden Glastüren hinüber, die in nie endender Kette (wie auf einem Parquet roulant) Menschen ausströmten und einsaugten ... während sich schon in seinem Hirn ein ganzer Schlachtplan formierte, was er alles kaufen wollte, wo und wie er das ordnen müsse, von Lager zu Lager, damit es schnell ginge, und er nicht unnütz Zeit verliefe. Er hätte einen Führer durch das Haus herausgeben können – so genau kannte er es. Er hätte heute noch Fahrstuhlmann »Aufwärts – nach obän!« dort werden können: »Küchenbesen?« – »Wirtschaftslager dritter Stock, Hintergebäude links!« ... »Japan – im Zwischenstock rechts!« »Herrenwesten im Erdgeschoß und im Neubau!«

Fritz Eisner liebte Warenhäuser sehr: Brennpunkte des Lebens, für die ein genialer Architekt eine neue, mauernlose Gotik ersonnen, ganz Glas, ganz Pfeiler. Er liebte sie aber nur mit den Augen und den Sinnen. Er konnte sie stundenlang durchwandern, ohne sich auch nur einmal über dem Wunsch zu ertappen, irgend etwas von alldem für sich zu besitzen. Er war sich nicht einen Augenblick im Unklaren darüber, daß die Einzelheit meist geschmacklos und wertlos war, nur so viel an Geschmack hatte, wie die unglückselige Zeit, der sie entstammte; und nur so viel an Wert besaß, wie eine Industrie ihr mitgeben konnte, die auf Bruchteile von Pfennigen alles berechnen mußte, um sich gegenseitig und um außerdem noch – trotz Frachten und Zöllen – das Ausland zu unterbieten; und daß gerade hier ferner neun Zehntel von allem Massenware bleiben mußte oder Durchschnitt. Die Einzelheit haßte er eigentlich; aber diese Riesenmengen, diese Berge von Dingen, in denen das einzelne Stück versank ... ob das nun Strümpfe, Stoffe, Handschuhe, Koffer, Geldbeutel, Ampeln, Bananen, Apfelsinen, Küchengeschirre, bunte Lampions und Japantassen, bedruckte Porzellane, Aluminium, Nickelschüsseln und Messinggeräte, farbige Likörflaschen oder Kinderwagen, Korbsessel, Kimonos, Papiermasken, Silbersachen oder Anzüge, Tennisschläger, Klubboote oder Schlitten, Fische oder Photographiealben waren ... ob das anilingefärbte Orientteppiche, Blumen oder Gläser, Möbel oder Gravüren waren ... einfach die Menge, die Buntheit, die Vielheit, die Abstufungen, der Pleonasmus, die Überfülle, das Wandern von einem zum andern – Wechselwelten ... ganze Straßenzüge von Läden in einem Stockwerk zusammengedrängt ... diese Kolonnen, diese Berge, diese Türme, diese Stapel, diese Batterien auf riesigen, vollbestellten Lagertischen, Farbenmassen von Weiß oder Braun, Rosa oder Mattgrün. Oh ... das freute Fritz Eisner unbändig.

Da waren die blödsinnigen Attrappen der Kojen in den Möbellagern ... von »Schmücke dein Heim« bis zum allerletzten England mit fumed oak und rotem Saffian.

Da gab es das Ticktack von dreihundert bleichsüchtigen Stehuhren, die nach Wunsch und Willen erst Farbe bekommen sollten ... genau zum Tone des Herrenzimmers; selbst maulwurffarben und nelkenrot, wenn es gewünscht wurde.

Da standen tausend Blusen auf Büsten, üppig-gefüllt und gespenstig-leblos zugleich. Angezogene Puppen mit Wachslächeln, gestiefelt (und wie gestiefelt!) und gespornt, versuchten in Glaskästen auf ausgestopfte Pferde zu steigen.

Hüte türmten sich: Männerhüte in ihrer seriösen Langeweile, korrekt und fesch ... und Frauenhüte waren in allen Formen ihres Wahnsinns, wie Morcheln, wie Eierkuchen, wie Trichter, wie Schaukeln, wie Feuerräder und Lampenschirme, wie Vogelnester, wie zusammengekehrte Haufen von Herbstlaub, braungelb, mit Krempen verdrückt und zerquetscht, in Kohorten, in Legionen zu zerrauften Blumenbeeten zusammengeworfen. Und einzelne – orchideenhaft-wilde! – wurden in Glasschränkchen – jeder für sich, wie in Miniaturtreibhäusern gezüchtet und hatten eigene Schildchen: Maison Pepita, Rue Lafayette-Paris.

Oh, überall gab es da etwas, was letzte Mode war. Und darum heute charmant und morgen abscheulich war. Oder etwas, das neueste Erfindung sich nannte und Lebensnotwendigkeit schien und deshalb übermorgen schon beim Gerümpel lag. Herrenkragen hingen, zu Ketten verbunden, über Reihen von Oberhemden; Schuhknöpfer als Girlanden rankten sich über Glasbretter.

Und all das gehörte einem, ohne daß man es besaß. Gehörte einem mit seiner Buntheit und seinen Gerüchen, die überall anders waren: Hier roch's wie in Markthallen; dort wie in Zollschuppen (sie haben einen undefinierbaren Geruch von Exotik, Fetten, Gewürzen und den Rohstoffen für die Parfümerie). Dort aber wie in Tabakslagern und in Seidenwarenhäusern (Seide riecht irgendwie ganz hell und klingend, mattgelb, sandfarben). Dort wieder war etwas von frisch gegerbtem Leder oder von tannigem Holz in der Luft. Und dort schwelte es nur wie Staub in der Sonne. Dort kam Meergeruch mit Tang und Strand; Süden mit Mandarinen oder Norden mit Pelzen. Und Drogen und Medikamente, Gummi und Schokolade brachten sich auch ein ganz klein wenig in Erinnerung. Und durch alles muß dann der Duft nach Menschen leise hindurchwehen, nach vielen Menschen, Frauen und Mädchen ... Hearn sagt, daß eine japanische Volksmenge ganz zart nach dem Kraut von Geranien riecht.

Und vor allem ja: es darf nicht leer sein, nicht tot! Man muß fühlen, wie die Berge von Waren zusammenschmelzen, in zehntausend Hände wandern, abbröckeln, sich wieder erneuen. Nicht des Morgens muß man es sehen. Nein, Nachmittag unter Hochflut. Alles muß von Menschen gefüllt sein. Die Treppen müssen sie hinabströmen und sich entgegendrängen – »bitte rechts gehen!« Man muß Tausende von Schritten hören und doch nicht hören.

O man kann dann in diesem Gewühl zwischen all den Millionen von Dingen, die man nicht begehrt, und all den Tausenden von Menschen, die man nicht kennt, und die man nie wieder sehen wird – denn es werden immer wieder andere sein! – o so wunderbar einsam – nur Sinn, nur Nerv – sein. Und so tief wunschlos dabei, als ob man auf dem Grund des Meeres läge.

Die einzigen festen Punkte, die einem immer wiederkehren, sind: die Angestellten; der Abteilungschef als Herrgott im Cutaway; und die Aufsichtsdamen mit dem Maß der Karyatiden des Erechtheions, von pernitiöser Freundlichkeit; und all die Verkäuferinnen, lustige und flinke, langsame und unwirsche, freundliche und schnippische; und die vertrauensvollen Damen von korrekter Kühle, die das Geld an den Kassen buchen; die Mädchen, die packen – »nicht an der Schnur tragen!« – Langsam lernt man die Gesichter kennen, prägt sie sich ein – empfängt hier einmal ein Lächeln, da ein Nicken, wechselt da ein paar Worte (»Brave Mädchen ... brave Mädchen!«). Man begeht kleine Tricks, um beachtet, um eher bedient zu werden; macht Witze, die unter dem Niveau sind, wenn man es eilig hat, nur um sich vorzuschieben.

Aber eins: es darf nicht leer sein! Über Warenballen müssen überall Gesichter sehen; hübschen Frauen muß man einen Augenblick nachblicken, nur, um sie gleich darauf im Getümmel zu verlieren. Um Tische müssen sie sich drängen, daß man an Straßenaufläufe denkt. Die Fahrstühle müssen in den Lichthöfen als schwarze Menschenknäuel hinauf- und hinabbrausen; und ihre Türen müssen umlagert sein von Dutzenden von Ungeduldigen, die nicht mitgekommen sind und auf den nächsten Schub vom Nebenfahrstuhl warten. Es muß Stellen geben, wo die Leute (zehn Mädchen auf drei Männer) sich stauen, einfach nicht weiter können, weil da billige Wäsche, billige Strümpfe, spottbillige Glacéhandschuhe und Reste von Besätzen als Köder liegen, in denen sie wühlen; weil da Lebensmittel in Pyramiden sich türmen, die sie beglotzen; oder weil es da Brötchen und Kaffee und Tortenstücke – zahllose Tortenstücke mit Sahne gibt ... Langgezogene Kachelräume müssen sich auftun, wo alles schmatzt und mit den Tellern klappert, und wo die biederen Ehepaare sich treffen, während die Kinder, jammernd nach einer zweiten Cremeschnitte, mit bloßen Bammelbeinen an die Querhölzer der Wiener Stühle trommeln.

Und dann muß es andere Stellen geben: Gänge, Winkel, Treppenabsätze, Inseln, die abgelegen sind, bestellt mit Waren, von denen man nicht begreift, wer sie kauft. Und wo es plötzlich ganz einsam ist und nur ein seliges Pärchen in Verzückung vor einem braun polierten Vertiko mit Messingschlössern steht, als wäre er für sie der letzte Traum unerreichter Glückseligkeit. Oder ein Wintergarten muß sein mit verschnaufenden alten Damen auf niederen Bänkchen, mit Blattpflanzen, Hyazinthenbeeten, Tröpfelbrunnen und geheimnisvollen Nachtigallglucksen aus versteckten Spielwerken mit elektrischem Antrieb. Oder Rendezvousecken mit milder Eleganz müssen hinter Glaswänden sich verbergen, wo man – als letzte Inkarnation Don Juans und Casanovas auf Erden – in tiefen Sesseln, die Beine mit vielfarben gezwickelten Socken über gelben Schuhen auf weichen Strohmatten von sich strecken kann, und den ersten unverbindlichen Notenwechsel mit seinem Gegenüber halten kann, das sehr langsam, in süßer Verruchtheit ein amüsantes Teetäßchen zum Munde führt.

All das muß es da geben. Überall muß es ganz hell sein, aber hier dürfen Vorhänge und Mattscheiben eine trauliche Dämmerung verbreiten.

Und das Netteste bleibt doch: es ist etwas und es wird etwas getan. Man fühlt ordentlich, wie es wächst! Gerade wie bei der Zeitung auch. Es wird täglich mehr, baut ewig, breitet sich aus, spielt auf neue Gebiete über.

Darum vor allem liebte es Fritz Eisner – mehr unbewußt, als bewußt. – Man konnte da hindurch schlendern und herrlich unbeteiligt sein, oder man konnte hindurchjagen, treppauf, treppab, Fahrstuhl rauf und runter, Gänge entlang, an Lichthöfen vorbei ... und es rauschte vorüber. Es war dann nicht viel anders, als wenn man vom obersten Sprungbrett ins Wasser springt. Und in zehn Minuten, statt wie ehedem zehn Stunden, hatte man alles zusammen, was man für drei Tage brauchte. Man mußte nur seine kleinen Vorteile wahren und mit der Bedienung gut stehen.

Ja, wie war doch der Schlachtplan?! Zeit hatte er nicht viel; wenn er alles bewältigen wollte, da hieß es schwimmen, hindurchflitzen, wie die Forellen sich von den Strudeln und Wasserfällen tragen lassen, oder ihnen mit Kraft und kurzen Schlägen sich entgegenwerfen, um sie zu teilen, sich nirgends aufhalten, wo man nichts zu suchen und nichts verloren.

Bei den Papierwaren gab es solche Girlanden aus Laub und rosa Rosen – d. h. niemand hätte geglaubt, daß es Girlanden waren –. Es war eine schmale, zusammengeklatschte Buntheit zwischen zwei Pappdeckeln, die mit Bindfaden umwickelt waren. Und, wenn man sie abband, konnte man die Pappen daran entlangziehen, meter- und meterlang; – und dann war es eben eine Girlande von herrlicher Scheußlichkeit: aus grünem und rotem gefransten Seidenpapier, das sich zu Laub und knittrigen Riesenrosen aufblähte. So etwas war unumgänglich für heute abend. Die Girlanden kosteten so gut wie nichts; und, wenn man eine kaufte, bekam man fast noch drei zu. Und dann gab es Papiermützen und Häubchen – am besten nahm man solche, die zusammenzuklappen waren. Und dann gab es große Plakate mit Eichenkränzen »Herzlich willkommen« und »Neu eröffnet« und gepreßte weiße Kaiser- und Kaiserinnenreliefs aus Pappmasse, klein, mittelgroß und groß. Aber die mittelgroßen genügten völlig für den Zweck. Und bunte Fähnchen und schwarzweißrote und schwarzweiße aus Glanzpapier; sehr groß schon für sehr wenig Geld, und im Halbdutzend einfach lächerlich billig, und zu alledem noch wechselnd mit Buchstaben, Inschriften, Eisernen Kreuzen, Ranken und Eichenkränzen verziert. Oh, das war prachtvoll! Und Fächer gab es, und Lampions – keine raffinierten chinesischen oder japanischen, nein – richtige gekreppte »Lampignons« mit Blechbügel, gelb und rot, für Laubenkolonien-Erntefeste! Und solche, die nachts auf staubiger Chaussee in Kremsern schaukeln. Man sah sie schon ordentlich blaken, Feuer fangen, von beherzten Männerfäusten herabgerissen und von breithackigen Männerstiefeln zertrampelt werden, während die Frauen schrien ... Sie kosteten eigentlich gar nichts. Sie wurden gar nicht einzeln abgegeben. Man rechnete sie nach Dutzenden, wie Stahlfedern. Und zu tun war jetzt überhaupt nichts mehr am Lager. Nur ein paar Jungen begafften unschlüssig einen Tisch mit Soldatenbilderbogen. Es war tote Zeit: Winter mit Festen vorbei – Sommer mit Landpartien noch nicht da.

Ein kleines Fräulein, mit einem Spitzmausgesicht, gallig und magenleidend, der Farbe nach, die vor Wichtigtuerei dampfte, unausstehlich, aber gewiß eine erste Kraft, bediente mufflig den begeisterten Fritz Eisner mit den schnellen Handgriffen der firmen Lageristin. Herrlich! Für fünf Mark und achtunddreißig Pfennige konnte man mit einem kleinen Paket, wenn es sich erst richtig entfaltet hatte, ja ein ganzes Zimmer, eine ganze Wohnung unter ... unüberbietbare Pöbelei setzen!

Also das hätte man. Und was nun? – Zigaretten, Schnäpse, Würste (Landleber- und Jagdwurst und »heiße Wiener« zu Dutzenden). Soleier in breiten Weißbiergläsern ... Aber die konnte man dann zu Hause machen. Weiter: Sylt, norwegische Sardinen in Blechdosen, Heringe in Bouillon, Senf und Tomaten – eigentlich müßten es Rollmöpse sein, durchbohrt mit einem ungebrauchten Zahnstocher oder einem zugespitzten Streichholz; und Butter und Käse und Pumpernickel in Stücken, Liptauer garniert und Gervais, kleinen in Silberpapier, und Creme double, der echt sein wollte, aber es doch nicht war. Und Datteln und Feigen und Paranüsse und Traubenrosinen und Malagabeeren in Korkspänen. Und Mandarinen in ganzen Kisten, gleich mit bunten Bildchen auf dem Seidenpapier der Umhüllung und mit phantastisch-leuchtenden Namen aus südlichen Gestaden. Aber das war wohl alles dicht beieinander oben, ganz oben. Man mußte nur von Tisch zu Tisch gehen – richtig disponieren – sehen, daß man herankam, vorher Sammelbuch nehmen – und da hatte man es in zehn Minuten zusammen; holte sich nachher gleich sein Paket. Es war doch lustig, mit ein paar Goldstücken in der Tasche Herrscher über diesem ganzen Riesenbau zu sein ... was man nur wollte ... und man bekam es noch in Papier geschlagen und säuberlich verschnürt ... »Bitte nicht an der Schnur tragen!« Ho – da sauste der Fahrstuhl ab. Und bis er wieder kam – da geht man lieber.

Also: erst Mandarinen und Trauben? Oder erst Heringssachen? Halt mal: zuerst Sammelbuch. Ein großer Andrang wird nicht mehr oben sein, im dritten Stock, denn eigentlich geht keine Katze mehr nach oben, kommt alles schon runter. Man muß ordentlich aufpassen, daß man weiterkommt, muß sich am Geländer hochtasten, daß man nicht immer wieder die Stufen heruntergestoßen wird. Wie hübsch die Mädchen alle sind und die Frauen heute! Ein Strom von Frauen – nun ja, erster Frühling und gegen Abend! – Pelze und Seide, reich und halbreich, Eleganz und Talmi, runter bis zur Fürsorgeerziehung von übermorgen. Man sieht ihnen so voll ins Gesicht, wenn sie einem von oben entgegenkommen – da nützt keine Schute und kein Rembrandt-Hut. Man hat sie ganz. Und manche sind schon allzu sommerlich und allzu bunt gekleidet ... müssen der Zeit voran sein, als echte Frauen. Das hübscheste ist doch, das Vorübergleiten ... das Ahnen voneinander, das Sekundengrüßen ... der Augenblick brennender Sehnsucht, und dann die Weltgetrenntheit. Und die hoffnungs lose Sicherheit dieser Trennung. Das hat doch nur die Großstadt ... oder vielleicht noch die Eisenbahn. Gott, als Ehemann sitzt man ja eben nur irgendwo am Ufer, statt im Strom sich mittreiben zu lassen. Ja, aber Wurst! So richtige Landleberwurst, echter Destillenbelag für Dreierschrippen – eigentlich müßte man Königsberger Klops haben und Hackepeter – das wäre das Ganzrichtige. Vielleicht wäre es doch das beste, man nimmt die Wurst zuerst und sieht dann zu, wie weit man mit dem übrigen Geld reicht.

Fritz Eisner blieb stehen: hatte er das gesehen – oder hatte er es nur visionär erschaut, wie der Kunstausdruck lautet. – Was war das doch?! Ja – gewiß! – er hatte über die Brüstung der Treppe geblickt, ohne sich dessen bewußt zu werden, hinab in den Stock, der da unten war. Und da war eine Insel ... nicht ein Gebirge von Trauerhüten gewesen; ganze schwarze Stalaktiten mit herabhängenden Kreppschleiern und Atlasbändern, ... sondern eine Insel von Trauerhüten, solche, in Kästen ausgebreitet, wie ein Feld schwarzen Mohns, und solche, die darüber in stillen Reihen hingen, wie schlafende Fliegende Hunde, wie Riesenfledermäuse an einem Baumast. Und Frauen allerhand, helle und dunkle, hatten daran herumgezerrt und gefingert, während stille schwarze Verkäuferinnen mit Trauermienen umhergingen und gewiß jeder melancholisch zuflüsterten: »Dieser Kapotthut steht Ihnen vorzüglich, gnädige Frau.« Und kleine blanke und ovale Spiegel, auf Stelzfüßen, hatten von den Tischen mit hellen glubschenden Augen nach oben geblickt. Und in einem dieser Spiegel hatte er, Fritz Eisner, ein Gesicht gesehen, ganz deutlich – war das nicht Frau Lindenberg, Frau Luise Lindenberg gewesen? ... Aber was hatte sie sich einen Trauerhut aufzuprobieren? – eine Kapotte mit schwarzen Beeren, an der sie erhobenen Armes herumbastelte, und die sie vergeblich auf ihrem schiefen Schädel und dem dürren Knust auszubalancieren suchte?! Sie rutschte immer wieder aufs linke Ohr hinüber. Ja, das konnte doch eigentlich nur sie gewesen sein; – denn das war ein Kreuz: ihr Schädel und ihr Gesicht war irgendwie in den beiden Hälften falsch zusammengewachsen. So merkte man es nicht. – Aber es saß ihr kein Hut richtig. Und ihr Gesicht war es auch gewesen – zerteilt, durch die schwarze Kneiferschnur ... mit den kurzsichtigen kalten Augen unter den Gläsern, mit den ungleichen Falten um den Mund, und mit dem Kinn, das wie eine Nase, und mit der Nase, die wie ein Kinn aussah. Bestimmt war sie es. Sie sah eigentlich der zerknautschten Gummipuppe von zu Hause ähnlich, aus der Dorrit gestern zum Überfluß noch die Stimme herausgepetert hatte und um ein Haar heruntergeschluckt hätte.

Fritz Eisner schätzte – auch wohl nicht ganz ungerechtfertigt! – diese Dame nicht besonders. Vielleicht gerade deshalb, weil er vor einigen Jahren zu ihr in nähere verwandtschaftliche Beziehungen getreten war. Aber warum in aller Welt sollte eigentlich seine Schwiegermutter sich einen Trauerhut kaufen? – nur, weil gerade: – (man hatte wohl die Mortalität unterschätzt und sich in Trauerhüten verdisponiert) – Ausverkauf in Trauerhüten, sozusagen »Schwarze Woche« war?! Nein, er mußte sich geirrt haben! Und Fritz Eisner ging nochmal ein paar Stufen hinab und sah über das Gitter in die Hutinsel hinein. – Sie war wirklich nicht da. Und aus dem Oval des kleinen Stehspiegels lächelte ihm, beglückt darüber, daß schwarz ihr so gut stand, wundervoll rosig, ein rundliches, strahlendes Marzipanschweinchen von junger Witwe in wehendem Krepp entgegen ... wie das blühende Leben. Also die starb sicher nicht in den nächsten fünfzig Jahren ... nein, die würde leben ... leben ... leben!

Es ist nun falsch, anzunehmen, daß dieses Lächeln Fritz Eisner galt! Und er schrieb es sich auch gar nicht zugute. Im Gegenteil, diese junge Witwe sah ihn gar nicht, sie lächelte sich entgegen ... nur sich und allem, was da kommen sollte.

Also, er hatte sich geirrt. Aber nun schnell! Immer zwei Stufen auf einmal! Gott sei Dank, die Verkäuferinnen oben kannte er schon. Naja, und sehr voll war's auch nicht mehr.

Hier oben war's eigentlich am schönsten: niedere Räume und das alles so gestapelt und so reich. Und wo anders gab's nur etwas für die Augen, und hier für alle Sinne; man schmeckte, man trank, man roch – Kolonien, Tropen, Ostasien, Italien: Tee, Kaffee, Schokoladen, Mandarinen – sie schmecken wie ein gezuckertes Nichts und duften wie tausend chinesische Novellen, wie der ganze Kingkikuan. Wo anders waren die Dinge tot oder ... sie waren Unnatur. Aber hier lebte es ja eigentlich noch; zum Beispiel solch Kistchen Sprotten – das war zwar nicht mehr Leben, und es war doch Leben. Und es war zugleich auch Meer und Tang und Geruch und Brise; – oder so Käse, mit Kühen darauf, die in Alpenwiesen muhten und wiederkäuten auf bunten Oblaten – das war alles: Landwirtschaft und Almen und Buttereien, und der Geruch von Viehställen und frischer Hunger nach langen Wanderungen.

Oh, es klappte vorzüglich! Im Augenblick hatte Fritz Eisner solch ein grünes Heftchen in der Hand; und dann in schräger Schlachtlinie, an einem Ende angefangen, von Tisch zu Tisch, hüben und drüben. Warum nicht? es gab auch halbe Likörflaschen und sie sahen genau so lichtgrün und tiefgoldbraun – sicher hat Rembrandt später nur noch mit Pomeranzenschnaps gemalt! – und himbeerfarben und opalen aus wie die großen; und von den Fischkonserven, dem Sylt, den Heringen, den nordischen Sardinen konnte man ganze Stapel übereinander stülpen lassen, und es gab noch kaum ein paar Mark. Und für Leberwurst und Rollschinken waren sogar Ausnahmepreise; und da das Fräulein Fritz Eisner kannte, machte es bei ihm sogar eine zweite Ausnahme – und gab ihm nur einen halben Rollschinken (bei all und jedem tat sie das nicht!). Merkwürdig war aber doch die Vision von vorhin: warum probiert eigentlich seine Schwiegermutter einen Trauerhut auf?! Und das Netteste war, man verausgabte sich nicht. Man blickte immer in sein grünes Heftchen, überflog die Posten und wußte, was man zu zahlen hatte, und was man noch riskieren konnte. Und ferner konnte man sich sagen, daß selbst, wenn man zu viel kaufte, nichts umkäme, sondern für morgen und übermorgen was zum Abendbrot übrig blieb.

Ja, bei der Butter- und Käsedame war viel Andrang. Und es war ein freundliches Fräulein – und es war ein ältliches Fräulein. Ganz und gar indifferent schon. Ausgeschaltet. Saß da in Butter und schönen Dingen und war mager wie Dörrfleisch. Und welk und abgearbeitet. Nur Hände noch und nur Kopf. Maschine. Fragte die Zweite schon, während sie dem Ersten noch zuwog. Fragte die Dritte, während sie noch für die Zweite schrieb. Um sich einen Geruch von Käse, Schweiß und Tüchtigkeit. Kriegte gewiß besser bezahlt, als die anderen. War auch schon endlos lange da. Hatte das Haus groß werden sehen. War sechsmal mit umgebaut worden. Hier war es nicht leicht, einen Scherz anzubringen, meinte Fritz Eisner. Hier herrschte Gerechtigkeit. Die wußte genau, wann jeder kam. Würde bei zwanzig Kunden nie einen eher herannehmen. Aber jedenfalls konnte man sich doch vordrängen und etwas lächeln. Nützte es nichts, so würde es auch nichts schaden.

Aber das steinerne Bild regte sich. Und die fixe, aber ältliche Butterdame lächelte Fritz Eisner zurück mit einem Lächeln – um im Rahmen ihrer Tätigkeit zu bleiben – wie übergegangener Creme double. Und sie gab ihm einen zarten Wink mit den Augen: »Hören Sie«, flüsterte sie ganz geheim, während sie einen Klex Butter auf das nasse Papier schwippte ... »Sie kommen doch noch eher herunter als ich. Könnten Sie unten am Potsdamer Platz vielleicht diesen Rohrpostbrief schnell in den Kasten werfen? Mein Bräutigam soll ihn noch heute bekommen!«

»Ganz gewiß«, versicherte Fritz Eisner und ließ heimlich die Hand über das Messinggitter auf den Tisch nach dem Brief hinabgleiten. »In fünf Minuten schwimmt er!«

Aber innerlich sagte Fritz Eisner sich, daß er sich viel weniger gewundert hätte, wenn der Brief an ihr Enkelkind, als an ihren Bräutigam gerichtet gewesen wäre; denn von dem glaubte er, daß er höchstens noch zu Hause über dem Sofa in einem altmodischen Daguerreotyp vorhanden sein könnte. Gott, wie falsch schätzt man doch die Welt ein! Und da will man Bücher über sie schreiben.

Und dann schnurrte Fritz Eisner, ehe überhaupt noch ein anderer Protest erheben konnte, sein Gebet herunter: Butter und Soldiner Käschen und Schweizer und Tilsiter und Liptauer und Pumpernickel und Schwedisches Brot – von jedem etwas ... was es alles gab. Und die Finger des Butterfräuleins flogen nur so von rechts nach links, und hieben dann Rätselzeichen und Zahlen in einer jagenden Hast auf den Kassenblock hin: »So jetzt kommen Sie, meine Dame!« Und sie entließ Fritz Eisner, nicht ohne einen zweiten freundlichen, mehr als freundlichen dankerfüllten Blick, der ihm zum Bewußtsein brachte, daß der unbekannte Herr dieses Butterfräuleins doch auch nicht gerade zu beneiden war ... und hastete und schwitzte weiter: eine Erste Kraft – das Vorbild aller Verkäuferinnen, oben im Lebensmittellager.

So, nun war ja eigentlich alles erledigt. Der Rest war gleichsam nur noch Formalität. An der Kasse ging die Sache ganz glatt. Nur, daß das Fräulein sich verrechnete; aber dann merkte sie den Fehler gleich. Und die Verpackerin hatte auch schon das Paket fertig gemacht, fest umschnürt und mit einem Holzgriff versehen. Sehr kunstvoll mußte sie alles ineinander geschachtelt haben, denn es war gar nicht so umfänglich, wie Fritz Eisner gefürchtet hatte. Aber schwer ... wie gestampfte Erde. Das Fräulein versicherte, daß es – wenn man es richtig trüge, weder durchfetten noch durchlaufen würde ... Durchriechen tat es jedenfalls. Und in welchen kubischen Formen die Soldiner und Liptauer, in ihrer Persönlichkeitsentfaltung, durch die Sardinendosen behindern, zu Hause ankommen würden, war nicht vorauszusehen. Ebenso mußte auch dann durch den Torfgeruch der frischen Sprotten der Duft der Mandarinen um eine angenehme Nuance bereichert sein.

Aber jetzt war es auch höchste Zeit. Es lag schon so etwas wie Aufbruchstimmung über dem Lager. Die Fräulein fingen an, sich die Schürzen glatt zu streichen und die spinösen Kundschaftsgesichter in ein Lächeln für ihre Freunde umzuformen, damit diese – wie das so die Natur will – über ihren eigentlichen Charakter vorerst im Unklaren gehalten würden!

Nein, nicht nach dem Potsdamer Platz vor – lieber hier herunter und dann durch die Zigarrenabteilung. Richtig, da wollte Fritz Eisner ja noch bosnische Regiezigaretten mitnehmen. Die waren lächerlich billig. Man verstand gar nicht, was daran bezahlt wurde: die Hüllen, die Arbeit, die Verpackung, der Aufdruck, die Schachtel ... oder etwa gar der Tabak? Und wenn man sich daran gewöhnt hatte, schmeckten sie auch ganz gut. Und von den Zigarren aus war man gleich an der Haltestelle der Elektrischen. Und dann waren hinten herüber die Treppen auch jetzt leerer. Es war da alles mehr charmant und auf Luxus gestellt: einsame Läger mit teuren Dingen. Zwar roch es erst peinlich nach Seefischen wie von einer ganzen Fischerflotille; denn es war plötzlich warm geworden und dagegen sind Schellfische empfindlich! Wenigstens, wenn sie der angenehmen kühlen Gewohnheit ihres Daseins und dem Aggregatzustand ihres Elementes entsagt haben. Aber dann ging man auch dafür durch sanft und lautlos schwingende Glastüren in kühle bequem-dämmrige Räume hinein, in denen die bürgerliche Lasterwelt der Großstadt ihre Ehebrüche einleitete und dazu auf erdbeerfarbenen Polsterstühlen um goldene Tische saß; in englischen Sesseln die amerikanischen Halbschuhe von sich streckte, und die scharf gebügelten Beinkleider hochzupfte, auf daß man die bunten Seidenzwickel in den diskret-violetten Socken sah. Und trotz all dem fand sie noch Zeit, aus modernen Schalen Tee zu schlürfen und Tomatenbrötchen zu knabbern, die der Eleganz der Aufmachung entsprechend, fünf Pfennig mehr kosteten, als nebenan, wo sich der Nobody mit Ellenbogenkraft immer noch um die brechenden Tische drängte.

Fritz Eisner warf, hindurchschreitend, einen sehnsüchtigen Blick in diese, ihm verschlossenen Paradiese. Aber er hatte wirklich keine Minute Zeit mehr. Denn, bis er nach Hause kam, war mindestens dreiviertel Stunde noch, und er hatte des Abends das Haus voller Leute. Natürlich, solch ein junger Mann da in Krempelhosen – graugelbviolett und mit grünen Sprengseln wie Heuhupfer – der konnte dort sitzen mit seiner Zahnbürste von Schnurrbart über breiten Lippen, mit dem blütenweißen Panama – ganz leger und doch energiegefüllt – mit Hutband, Gürtel und Krawatte in unauffälligstem Violett ... als wäre das die selbstverständlichste Sache von der Welt. Und er konnte leicht und doch fest eine kleine Hand, die doch täglich eine Stunde bei Jones Bell in dicke Boxhandschuhe kroch, vor sich auf den Tisch neben die Teeschale legen, so daß sich die violette Manschette zurückschob, und man die still tickernde, goldene Armbanduhr sah – natürlich eine vierkantige! (nur Schweine tragen noch runde). Das heißt ganz so brutal war das mit dem Boxen doch nicht. Denn, nachdem der Besitzer dieser Hand herausgefunden hatte, daß einem nach Magenstößen übel wurde, das heißt nicht nach solchen, die man versetzte, sondern nach solchen, die man bekam – auch wenn Mister Jones Bell behauptete, daß er sie nur markierte – hatte er es vorgezogen, seine Ausfälle nur noch gegen den Lederball zu machen, der sich in Seelenruhe alles von ihm bieten ließ, ohne handgreiflich zu werden, weder parierte, noch markierte, und nur ab und zu ein belustigtes Gesicht dazu zog.

Wie gut es solch Bengel hatte! Der schleppte sich nicht mit einem Paket wie drei Quadersteine, das nach Mandarinen, Sprotten und Käse roch ... ließe sich lieber rädern, als daß er auf offener Straße etwas in der Hand trüge! ... Und niemals wird dafür auch unsereiner mit so einer netten, jungen und zierlichen Frau sitzen, die jetzt schon, ganz frühlingsmäßig, in sandfarbene und mattviolette Shantungseiden gewickelt ist. Das heißt nicht ganz: jede Postanstalt würde ein Paket, das so ungenügend verpackt ist, ohne weiteres zurückweisen ... Und die außerdem über dem süßen Meerkatzengesicht mit den übergroßen, betörend-traurigen Augen und den schwarzen, lockigen Haarmengen schon heute einen Meisenbauer von Frühlingshut trägt: lila und rosig und leicht, wie eine Abendwolke. Und die dazu noch wie eine Kleewiese duftet. Aber – von dem Dutzend Rivierarosen – oder sind es nur elf? – ... »Scheene langstielige Rosen, reizende Kinder Floras, man siebenenhalb, det janze Dutzend!« ... mit denen ihre vorgestreckte Kinderhand – sie ist bräunlich, wie alles an dieser süßen Närrin – mit der leicht die Finger spreizenden Gebärde von Seite drei der Mainummer der »Fashion« spielt ... von dem lumpigen Dutzend Rivierarosen kann das nicht sein. Denn sie riechen kaum. Und, wenn selbst der Kleeduft von eben den gleichen Gestaden der Cote d'Azur sich hierher verirrt zu haben scheint, so doch nicht so direkt und ohne Umschweife; sondern keineswegs bevor er vorher erst langwierig und mühsam durch die Retorten von Pivet & Co. in Paris sich hindurchgequetscht hatte.

Es gab scheinbar keinen innerlich-tieferen Gegensatz, wie zwischen diesen beiden Händen: der kleinen bräunlichen, schmalen, mit ihren blanken Nägeln, jeder selbst wie ein Rosenblatt, die so ganz locker mit den roten Gerten der Stiele der Rosen sich verband, und jener drüben, der kurzen, breiten mit der viereckigen goldenen Armbanduhr. Und es schien auch, als ob sie gar nichts miteinander zu tun haben wollten und sich mieden. Es gibt Hände, die zueinander streben, die sich streicheln wollen; die Sehnsucht fühlen, nur die Kuppe des kleinsten Fingers drüben unmerklich zu berühren ... solche, die sich ineinander verhaken wollen; oder welche, die neckisch sind, und miteinander zu spielen wünschen, wie junge Tiere, die sich zufällig begegnen ... solche, die von verhaltener Erregung zittern ... und andere, die aussehen, als ob sie voneinander Abschied nehmen, sich gegenseitig fortstoßen ... Aber von all dem war hier nichts. Sie lagen sich gegenüber, wie zwei Gegner, die einander beobachten, und von denen jeder den anderen glauben machen will, daß er eigentlich schliefe, oder an Gottweißwas denke.

Aber ganz urplötzlich, gerade als Fritz Eisner an den Beiden vorüberging, hob sich die eine Hand – die mit der viereckigen goldenen Armbanduhr – etwas von der Tischplatte und legte sich sicher und fest, ohne Wort und Widerspruch auf die andere, die kleine, bräunliche mit den Rosennägeln ... begrub sie unter sich und ließ ihre Wärme und ihre Werbung zu jener überfließen ... nahm wortlos und selbstverständlich von ihr Besitz, ohne langes Parlamentieren. Und der, dem die Hand gehörte, sprach dabei so ruhig weiter, als ob er einen Witterungsbericht vorläse. Und dieses süße und kokette Ding antwortete so ruhig, als ginge das Gespräch wirklich nur noch um das Wetter. Ja, man gehörte eben zur Gesellschaft.

Fritz Eisner drehte sich noch einmal um, als er schon an dem Ende des Raumes war, so als ob er irgend etwas vergessen hätte, was er noch kaufen müßte; blieb einen Augenblick an einem Schränkchen stehen, hinter dessen messinggeteilten Scheiben ein paar mäßige Fälschungen sich als echte Delfter Fleuten spreizten. Ganz unauffällig, wie er glaubte. Diese junge Frau, die sandfarbene, mattviolette, frühlingsmäßige, mit dem Meerkatzengesicht und den Augen und Löckchen ... die kannte er. Wer war das nur? Gewiß, er hatte von je die Eigenheit, Menschen erst fünf Minuten später zu erkennen. Wenn sie schon am Spittelmarkt waren, und er an der Charlottenstraße, dann wußte er immer genau, wer ihn an der Jerusalemerstraße vorhin gegrüßt hatte. Aber wie Fritz Eisner noch einmal hinsah, da lag diese Hand mit der viereckigen Armbanduhr immer noch ganz fest über der mit den Rivierarosen. Die beiden Köpfe, die jeweils mit diesen Händen durch Personalunion in Beziehungen standen, waren jedoch nicht mehr ganz da, wo sie vordem sich befunden hatten, sondern jeder von ihnen war in gleicher Richtung (auf einen gedachten Mittelpunkt der Luftlinie hin) wohl um ein Viertelmeter näher auf den anderen zugekommen. Und die beiden Augenpaare waren miteinander in innigsten Kontakt getreten, und hatten nunmehr schweigend ihre Blicklinie miteinander vereint ... die aus den tiefblauen mit dem leichtflackrigen Schwermutsglanz, und die aus dem blaugrauen mit dem faszinierenden Eisenblick von dem amerikanisierten Plakatkopf auf der ersten Seite der »Woche«. »Sie fühlen sich matt? Hunderttausende danken mir ihr Lebensglück!«

Wie an unsichtbaren Schnüren wurden die beiden Köpfe aufeinander zugezogen ... kamen sich näher und näher. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: – sie taten es nicht ganz mit gleicher Geschwindigkeit; und es schien fast, als ob in diesem Wettlauf das tiefbraune Paar Sieger sein würde ... Wirklich, es sah fast aus, wie auf den englischen Kitschpostkarten, die jetzt in Mode gekommen waren: da gab es auch immer solche friedlichen Tischszenen ... nur, daß die Gibsongirls eben girls waren ... gertenhaft ... mit langen und doch zu kurzen Oberlippen über weißen, lächelnden Zahnreihen ... aschblond oder nußbraun und apfelrot dabei. Und keine süßen, zerbrechlichen Meerkätzchen: nur Augen und Löckchen!

Richtig, richtig, jetzt wußte Fritz Eisner: irgendwo war ihm dieses Augenpaar ja auch sehr nah gekommen; fast so nahe wie hier oben der kommenden Note. Wo doch nur und wann nur? Und im Moment sah Fritz Eisner einen klaren Mittelpunkt, ein ausgestopftes Äffchen, vor sich, das mit langen Zähnen vergeblich an einer Haselnuß herumknackte; und dann, dämmriger, darum ein Zimmer mit Bäumen vor den Fenstern und mit alt-eingewohnten Chambregarnistenmöbeln voller Vergangenheiten ... und sich selbst sah er dazu in einem kirschroten, abgewetzten Ripssessel und auf der Lehne eben dieses ... Lucie ... Annchens Freundin ... Lucie, mit Augen und Löckchen ... Lucie, deren Wesen im Kern enklitisch war ... Lucie, mit den vier Gesprächen von Frührenaissance und Pietro Lombardi über Schutzimpfung bis zum Terminhandel ... Lucie, die alle zwei Monate an einem anderen Manne seelisch zugrunde ging ... Lucie auf der Lehne des Sessels, von wo sie erst langsam auf seinen Schoß herabrutschte, und dann Augen und Löckchen zu ihm in eine verwirrende Nähe brachte ... damals, da draußen bei Potsdam! Wie lange war das jetzt her? Vier, fünf ... diesen Sommer schon sechs Jahre.

Richtig, das war doch Lucie! Sie hatte sich herausgemacht, war grande Dame geworden ... war kaum vor einem Jahr als Frau Doktor Spanier gelandet; das heißt so, wie man nach Kopenhagen kommt, via Rostock-Warnemünde-Gjedsir. Ohne, daß man Johannes Hansen etwa schon für Rostock setzte. – Der war höchstens Löwenberg in der Mark gewesen. Ja, und der verständnislose Tyrann von Vater, der sie seelisch knechtete, war auch gestorben, ... und zwar überaus günstig für Lucie.

Aber all das wußte Fritz Eisner nur so von einem unbestimmten Glockenläuten her, von Annchen, via Hannchen, die von Lucie immer noch restlos begeistert war, und ihr, wie das so ihre Art war, täglich dreimal die Tugendrose verlieh. Sie hatte das nebenbei von ihrer Mutter geerbt, daß sie den harmlosesten Freundschaften die perversesten Beziehungen andichtete, und wie ein weiblicher Mucius Scaevola, für die fragwürdigsten Kanaillen mit Applomb die Hand ins Feuer legte. Und für heute abend war Lucie auch das erstemal zu ihnen aufgeboten worden. Sollte aber abgesagt haben ... Also das war jetzt Lucie! ... Ich schätzt Euch damals nicht gering – die Puppe schon, die Chrysalyde deutet – den künftigen bunten Schmetterling ... Also das war jetzt Lucie!!!

Aber Fritz Eisner drehte kurz um, strich sich über die Stirn, wie um anzudeuten, daß ihm das eingefallen, was er noch besorgen müsse, und machte, daß er weiterkam; denn es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn Lucie ihn erkannt hätte. Sicherlich mehr, als das Lucie gewesen wäre, denn es gibt so Fälle ... es gibt so Fälle ... die endlich dem dritten Unbeteiligten genau so peinlich sein können, als denen, die es am nächsten angeht. Also – Lucie!

Wirklich diese Teile vom Haus waren fast dunkel, ungenügend erhellt im schon abendlich werdenden, roten Frühlingslicht. Und wenn es nicht hier in ganzen Reihen und Tischen und Schränken allerhand sehr blanke Nickelsachen gegeben hätte, Kaffeemaschinen und Rechauds, Küchenzeug und Bestecke und Tischbesen und verschließbare Likörservice, Butterdosen,Teeier, Gongs- und Zahnstocherbehälter, Menagen, Kabaretts und Jardinieren (alles Dinge, ohne die das Leben unerträglich wäre) und fürder zehntausend messinggelbe, gangbare Hochzeitsgeschenke mit Seerosenpressung ... also lauter Sachen, die von selbst leuchteten ... so hätte man kaum erkennen können, was sich hier befand.

Aber plötzlich blieb Fritz Eisner atonitus, wie vom Donner gerührt, stehen und begann laut und scheinbar grundlos vor sich hinzulachen. Da war ja das, was er seit Jahren suchte. Um das er seit einem Jahr und länger kämpfte, was er täglich beredete, und was nie zu erreichen, zu bekommen und zu beschaffen war. Von dem es hieß, daß man danach geforscht hätte, wie nach einer Stecknadel, in ganz Berlin, in jedem Laden, von einem Ende zum anderen. Nachdem sich seine Frau, wie sie sagte, die Hacken abgelaufen hatte, drei dutzendmal bei Wertheim gefragt hätte. Erst war's nicht da. Dann war's gerade ausgegangen, käme bald wieder. Dann war's zu teuer, unerschwinglich. Auch Pauline, das Mädchen, hatte sich an der Jagd danach beteiligt und war ebenso – wie ihm wortreich immer wieder versichert wurde – fünfzigmal beutelos heimgekehrt. Und da lag das nun. Ganz still, klein und unschuldig. Nicht eins, gleich herdenweise; zu vielen Dutzenden. Ein ganzer Holzkasten voll der kleinen, graublitzenden Dinger. Es war gar nichts besonderes an ihnen. Ja wie soll man sie nennen? Es sind kleine Metallkolben mit ein paar Dornen am Ende. Man tut sie in die Salzstreuer; und, wenn man Salz streut, dann fliegen sie hin und her im Glas und sorgen dafür, daß das Salz, das sich durch die Feuchtigkeit verklumpt hat, verteilt wird, und daß die Löcher im Deckel, die sich verklebt haben, sich öffnen. Daß man also nicht alle Tage mit einem Zahnstocher in ihnen herumpicken muß; und daß man nicht alle drei Tage mühselig den Salzstreuer aufschrauben muß, wobei einem natürlich die ganze Bescherung in Stücken in die Suppe fällt. Ganz kleine, bescheidene Dinger sind das, schlicht und harmlos, aber sie können einem unerhört das Leben erleichtern, wenn man zum Beispiel, wie Fritz Eisner, in einem Mietshaus im Vorort wohnt, das erst vor zwei Jahren fertig geworden ist, und in dem noch die Wände schwitzen, als ob sie Aspirin genommen hätten – selbst oben im dritten Stock! und in dem alles Salz, ganz gleich, wo man es hinstellt, und sollte man es im tiefsten Winkel des Büfetts vergraben, innerhalb von sechs Stunden hoffnungslos zusammenbackt ... Frühling, Sommer, Herbst wie Winter.

Und um solche Salzbüchsenkolben – jedes Restaurant hat sie – hatte Fritz Eisner einen aussichtslosen Kampf zwei Jahre lang geführt. Erst bescheiden, schmeichelnd, zärtlich, humoristisch, ironisch, satyrisch, dann dringlich, knurrig und verbissen. Dieser Salzzerkleinerer war ihm das Symbol seiner Ehe geworden, in der nichts vom Fleck kam. Hundertmal war er nicht zu haben gewesen. Erst war freundlich, lächelnd, witzelnd auf ihn eingegangen worden, dann mit Ausflüchten, halben Grobheiten, kleinen Lügen, und immer dasselbe Spiel mit dem Salz. Zehnmal hieß es, daß man bei Wertheim nachgefragt hätte, ... aber sie sollten eintreffen. Und dann wären sie endlich mal eingetroffen, aber sie wären furchtbar teuer gewesen. Wie teuer, wurde nicht gesagt.

Eine Verkäuferin ging vorüber.

»Hören Sie«, sagte Fritz Eisner, und zeigte auf dieses Gewimmel von Salzzerkleinerern in dem Holzkasten, »was kosten die eigentlich?«

»Drei Stück zehn Pfennig«, sagte das Fräulein und strebte weiter, denn sie wollte heim.

»Ach bitte«, sagte Fritz Eisner, »haben Sie das schon lange?«

»Oh«, meinte das Mädchen erstaunt, »das führen wir auf Lager, solange ich im Hause bin.«

»Und es hat nie gefehlt?«

»Bei uns fehlt überhaupt nichts«, meinte das Fräulein leicht angebrannt, mit jener schnell umschlagenden Freundlichkeit der Berliner Ladnerin.

»Ach dann«, meinte Fritz Eisner, »dann geben Sie mir doch schnell drei ... nein lieber sechs Stück davon, das wird wohl vorerst reichen.«

Und eine Minute später hatte er das Päckchen schon in der Westentasche. So nun bloß noch Zigaretten. Also die für eine Mark gab es nicht, nur noch die teuren, einsfünfundzwanzig das Hundert. Aber dafür hatten sie auch mehr Tabak, und waren bedeutend kräftiger, wie der Verkäufer hervorhob ...

Luft ... Clavigo!

Natürlich gerade da fuhr die Sechsundsechzig hin – der Ton ihres Abschellens lag noch in der Luft – schob sich mit nennenswerter Geschwindigkeit nach dem Potsdamer Platz zu. So ist das immer. Die Direktion scheint es in arg genauer Berechnung so einzurichten, daß man noch gerade die Straßenbahn fahren sieht, die einen hätte mitnehmen sollen; damit man nicht etwa falschen Hoffnungen sich hingibt, daß man weniger als zehn Minuten warten müsse, bis die nächste für uns kommt.

Fritz Eisner überlegte, ob er ihr nachlaufen soll. Aber erstens sieht ein Mensch, der einer Straßenbahn nachläuft, immer lächerlich aus. Zweitens kommt er meist mit fliegenden Pulsen an und japst, wie ein verbellender Jagdhund. Und drittens bedeutet ihm dann der Schaffner, daß die Bahn überfüllt wäre, zuckt abweisend und beamtenstolz die Achseln, nimmt einen nicht mit; und man hat zur Freude der Fahrgäste, die von der Plattform herabgrinsen, seine sportlichen Leistungen umsonst verschwendet. Und viertens hatte Fritz Eisner die Hände wirklich ziemlich voll. Nein, da war's schon besser, er ging ruhig das Stückchen bis zum Potsdamer Platz vor. Vielleicht wurde die Bahn da aufgehalten, daß er sie noch einholte. Oder er könnte da auf die nächste warten. Voller wie die hier würde sie auch nicht sein. Im Gegenteil, es war dort eher die Hoffnung gegeben, daß einiges von dem Menschenwall hinten auf der Plattform abbröckelte, und man könnte dann leichter sich irgendwo in die Bresche schieben.

Der weite Platz war jetzt von angenehm-rötlichem Licht erwärmt, und die Menschen, die in breiten, aber lockeren Strömen zum Westen, zum Potsdamer Tor vorquirlten, waren alle ein wenig lieb und himbeerfarben davon angeschminkt; was sich bei Jugend, Blondheit und hellen Kleidern ganz erfreulich darbot, und an jene Titelblätter der »Jugend« erinnerte, die in ihrer breiten, aber frohen Bewegtheit das Entzücken aller Chambregarnistenbuden bildeten ... während es wieder über die Gestalten älterer, grauhaariger und schon mehr leicht-verschrumpelter Menschenkinder jene milde, aber rosige Melancholie breitete, die Fritz Eisner von der Lehrter Bahn her aus drei Dutzend Großen Kunstausstellungen als »Letzte Strahlen«, »Abschied«, »Das Alter«, »Verklingende Töne« oder »Der Abend naht« hinreichend bekannt waren.

Aber hinter den Lanzenreihen der Eisengitter schwammen ruhig die großen, smaragdenen Rasenflächen im rötlichen Gold, und die Schwarzdrosseln ließen durch all den Bahn- und Menschenlärm sich in ihrer Regenwurmjagd keineswegs beirren, sondern trippelten hastig in kurzen Schrittchen über die geschorenen Flächen und standen dann plötzlich regungslos auf beiden Ständern mit seitlich gedrehtem Kopf und dem unentwirrbaren Blick ihrer großen runden Vogelaugen. Und die alten prächtigen Linden über ihnen schlossen – vielleicht zum erstenmal seit diesem Winter wieder – den noch flockigen Schaum ihres jungen Laubes zu stolzen und phantastischen Rokokokonturen zusammen, die als fontaines illumineuses in den grünlichen, roten und leicht malvenfarbig durchschwelten Abendhimmel stiegen ... der ja, wenn man den Pincio in Rom gerade nicht zur Hand hat, endlich über dem Leipziger Platz zu Berlin auch ganz hübsch ist.

Die Steinfiguren hie und da, in Gruppen sich emporwindend, alte Kandelaberträger wohl aus des großen Friedrichs Tagen, die man da irgendwie einmal hingebracht hatte, weil man sie doch für zu schade hielt, um sie ganz verkommen zu lassen, schienen unter dem lichtgrünen und goldroten Schirmdach der Linden sogar jetzt ganz bunt und farbig aufzuleuchten, als wären sie nicht mehr nur alter, vermorschter und vermooster Sandstein, sondern richtige große Porzellangruppen. Und Fritz Eisner dachte daran, daß sie ja eigentlich einen Modelleur von der manufacture du roi zum Vater hatten, der gewohnt war, reizende bewegte Püppchen, als Elemente oder Monate oder Jahreszeiten, als Schlittschuhläufer, Neger oder Venus, als Luna und Endymion und Paris auf dem Ida für das blendende Weiß oder die zierliche, sparsame Buntheit des Porzellans zu formen; und der heute sicher vor seinen spröden Steinschöpfungen über diese wundersame Metamorphose einer kurzen Viertelstunde glücklich gewesen wäre, wie über einen endlich erfüllten Traum.

Die Häuser aber, rechts und links hinter dem Grün, im weiten Bogen – so verschiedenartig sie auch waren – leuchteten da hüben und drüben in stiller, reservierter Kühle alter Tage, oder in breiter Protzigkeit der säulen- und figurenüberladenen Steinfronten mit zart angeglühten Fensterreihen ... in einer vornehmen Einsamkeit, die ihnen sonst gewiß nicht eigen war ... durch die breit hingepinselten Baumgruppen. »Merkwürdig«, dachte Fritz Eisner, und blieb einen Augenblick stehen. »Paris ist die Stadt der Impressionisten. Überall sieht man Monets und Pissarros und Raffaelis mit seinen Boulevards und seinen lebendigen Brücken über dem Lichtblau der Seine. Berlin aber kommt in seinen besten Stunden nicht über eine Serie von bunten altmodischen Lithographien aus Schinkels und Persius Tagen hinaus.« Und er wechselte dabei mühselig die Pakete um, denn er hatte ungeschickterweise den Wackerstein aus Sardinendosen und Likörflaschen in die linke Hand genommen. »Merkwürdig!«

»Scheene Rosen, Herr Dokter! Entzickende Kinder Floras! Man fufzig Pfennig das allerletzte Dutzend. Da leg' ich selbst bei zu«, und ein Büschel dieser mattroten, zierlich gedrehten Blumenballen auf ihren wippenden Gerten näherte sich mit ihren knospig geöffneten Schnäbeln, von Rosen-Emils energischer Hand geschickt dirigiert, der Hutkrempe Fritz Eisners.

»Das ist wirklich sehr preiswert«, sagte sich Fritz Eisner unschlüssig. Aber er wäre sicher wieder dem Rosen-Emil ausgebrochen, wenn der ihm nicht ... mit einem, einst viel erprobten Blick seiner wässerigen Augen, und mit einer letzten schwingenden Betonung »Nur fufzig Pfennig! Eene halbe Mark man!« aus der rostigen Dachrinne seiner Kehle, und mit einer nochmaligen suggerierenden Bewegung der Blumen ... gehalten hätte. Rosen-Emil kannte die Psychologie der Straße und beherrschte sie souverän. Das brachte sein Beruf von einst und jetzt so mit sich. So einen, wie den da, steckte er zehnmal in die Tasche.

Und Fritz Eisner hatte noch nicht das Geldstück aus der Westentasche genestelt, da hatte ihm Rosen-Emil – er verstand einen Kunden zu behandeln – schon das schwere Paket abgenommen und hatte mit einem Griff die Rosen durch die Schnur gezogen.

»Na, da wird Ihr Fräulein Braut sich mal freuen«, sagte er herablassend und schüttelte dann seinen leeren Korb aus. Von Haus her war er ein umgänglicher, höflicher und herzensguter Mensch.

»Durst hab' ick jar keenen«, setzte er noch, mehr für sich, hinzu, während er sich langsam und schwerfällig umdrehte, denn ein paar Zehen hatten ihm doch diese blöden Jungens von Karbolfritzen einfach, als ob das so jar nischt wäre, ritsch ratsch wegjeschnitten.

»Na, schreien Sie mal den janzen jeschlagenen Tag über in den Staub Blumen aus«, schloß er im Ton eines milden Vorwurfs, und humpelte, mit einem letzten verständnisheischenden Blick auf seinen Kunden, davon. »Meinen Se vielleicht, det is 'n Vergniegen?!«

»Gewiß nicht«, sagte sich Fritz Eisner. »Na, da habe ich wenigstens gleich was heute für Annchen. Es sieht doch zu dumm aus, wenn man immer mit leeren Händen kommt. Und für die blaue Vase braucht man sowieso etwas heute abend.« Und damit balancierte er weiter hinten auf die hohe Häuserwand von Josty zu, die das Gewühl der Straße und des Platzes mit all seinem leichten, lichtdurchtränkten Staub zwischen den Wagen und Autos und Straßenbahnen und Menschenscharen abschloß, den geröteten Himmel mit seinen malvenfarbenen Streifen über sich ... in den noch – wie zum Überfluß! – ein schwarzes Gerüst mit Längs- und Querstangen und allerhand Kreisen und Platten, hoch über dem Dachfirst, hineinschnitt mit rotsprühend umzogener Kontur. Grad wie von Thomas Theodor Heine für den Simplizissimus gezeichnet. Wie ein phantastischer Galgen für Massenbetrieb.

Aber plötzlich begann das da oben an einer Ecke Leben zu bekommen. Gelb, rot, grün marschierte es los in bunten, aufzuckenden Flämmchen. Glühte auf wie Eisenbahnsignale im Grunewald. Setzte sich zusammen zu einer Flasche. Natürlich Kognak. Was gab es Wichtigeres als Kognak? Wie heißt er doch? Ja, und dann Champagner. Das heißt echter deutscher Schaumwein. Lebensfreude für Provinzler auf Flaschen gezogen. Und dann war's gleich wieder ... Phuit! wie weggespuckt. Und sofort fing's an der anderen Ecke von neuem an. Diesmal gab's einen Riesenstiefel. Groß genug für Mammon, die Gottheit dieser Stadt. Und dann folgte ein Wort. Brenn's dir ins Hirn! ... nirgends sonst darfst du kaufen. Phuit! Weggespuckt! Und was wäre das Leben ohne Zigaretten? Nur thebanische Ziegenhirten rauchen eine andere als Sulima-Kork. Riesig glüht sie da gegen den Himmel. Läßt sogar in Kringeln bläulichen Rauch flackern. Phuit! – weggespuckt. Und Automarken flammen auf; und Gesundheitswein; und Naturkorsetts, in denen selbst eine Schlächtersfrau die del Era beschämen würde. Und andere Feuerräder, von anderen Dächern rechts und links, sagen sich, daß ihre Stunde nunmehr gekommen ist und heben ihr kreisendes Spiel an. Sie übernehmen das Leben der Straße, verpflanzen es in ihre Höhe. Und der Himmel über dem Potsdamer Platz glüht dazu, immer sehnsüchtiger, brennender und unerfüllter.

Fritz Eisner ging an einer ganzen Kette von Straßenbahnwagen entlang, die sich da aufgestaut hatten, und die ordentlich umweht waren von der Mißlaune und Nervosität ihrer Insassen, und aus denen hie und da, wie fragend und rufend, die Schelle der Fahrer klang, die unwillig oder gleichgültig – damit doch was geschähe! – oder gottergeben mit dem Fuß auf den Knopf der Klingel stampften.

»Was ist denn da vorn wieder los?« zwitscherte die Schelle von fünfunddreißig. »Geht's denn nun noch nicht weiter? Ich habe keine Zeit.«

»Wirklich, das ist nun jedesmal jetzt hier so«, schepperte die zweite von siebenundsiebenzig. »An mir liegt's gewiß nicht. Aber der Esel von Vordermann.«

»Ich?« meinte die dritte von dreiundachtzig, ganz hoch, hell und gekränkt. »Ich? Ich etwa? Ich habe schon zehn Minuten Verspätung; und nachher haben wir es auszubaden, wenn wir nicht zu Ende kommen und vorher umlegen müssen.«

»Vielleicht ist's Militär«, mischte sich wieder eine von ganz hinten her ein. »Moabiter, die noch vom Tempelhofer Feld kommen.«

»Unsinn«, antwortete die siebzehn, die vorn an der Schinkelschen Wache hielt, »da müßtest du ja Tschingtsching hören! Hörst du etwa was? Ich nicht!«

»Ach«, kam es wieder zurück von ganz hinten, »ich begreife es nicht. Früher ging's ganz gut, aber seitdem die Polizisten in London waren, um den Verkehr zu lernen, kommt man auch nie mehr über den Potsdamer Platz.«

Richtig, das war ja seine Sechsundsechzig, genau die gleiche von vorhin. Fritz Eisner erkannte es an dem einen Mann, der hinten auf der Plattform stand und eine dicke Nase im Gesicht hatte. Solche mit allerhand Schwellungen und Filialen und Nebengebirgen. Ein blaurotes, knolliges Ding, harmlos und belustigend, grotesk und gutmütig. Die war ihm noch aufgefallen, hatte ihm zugeleuchtet, als vorhin die Bahn wegfuhr. Und als firmer Mann der Kunst war ihm sofort dabei in Erinnerung gekommen, daß der eine Bischof auf dem einen van Eyk auch solch einen Knollenblätterschwamm von Nase hat, und trotzdem das Christkindchen herzt, das gar keinen Anstoß daran nimmt, sondern ganz freundlich und zutunlich zu ihm ist. Dieser Leuchtturm also stand hinten immer noch auf der Plattform, wie festgerammt. Und gerade neben ihm sprang jetzt einer ab und lief an der Wache vorbei zum Wannseebahnhof herüber. Er hätte zwar weiterfahren können bis zur nächsten Haltestelle, aber da hätte er sicher seinen Zug versäumt. Zu Fuß geht's immer am schnellsten. Fritz Eisner aber nahm seinen Vorteil wahr und schwang sich in die Bresche.

Plötzlich jedoch hob sich von einem Pfahl von Schutzmann, der, sehr viel leeren Raum um sich, ganz einsam inmitten des Platzes stand, ein weißer Stock; und sehr viel schrille Pfiffe trillerten von verschiedenen Ecken; und wie der Teufel und die wilde Jagd rasselte der ganze Straßenbahnzug über den Platz, angefeuert durch beschwingende Zurufe des Gewaltigen mit dem weißen Marschallstab, der mit der Miene eines Souveräns, der Parade abnimmt, Wagen auf Wagen an sich vorbeirollen ließ, und dabei, wie ein Männchen auf einer Uhr, jeden ein Stück mit den Augen begleitete, um sofort wieder zurückzuschnappen.

Der, der erst zum Wannseebahnhof wollte, lief nun nebenher, in der Absicht wieder aufzuspringen; aber ein Blick des Schaffners warf ihn gleichsam hinab, ehe er's noch versucht hatte. Erstens Polizeistrafe; und Lebensgefahr noch nebenbei.

»Herrgott«, sagte sich Fritz Eisner und sah auf das Schinkelsche Wachtgebäude zurück, »da sollte ich ja den Rohrpostbrief von dem Butterfräulein einwerfen; ich vergesse es aber sicher nicht bei uns draußen.« An der Normaluhr warten gut zwei Dutzend Damen und Herren, spähen unruhig nach rechts und links, nach dem Partner oder der Partnerin. Warum nur? denkt Fritz Eisner ... es ist doch noch nie jemand dort zurückgeblieben. Zum Schluß hat er immer noch einen anderen Partner oder eine andere Partnerin gefunden. Dafür sorgt schon der liebe Gott. Also wozu erst diese angstvollen Blicke?! Und der Kastanienbaum, der eine da an der Ecke, blüht auch schon. Jedes Jahr blüht er am allerehesten von allen. Wegen der Bogenlampen ... schreiben die Zeitungen. Eigentlich habe ich ja noch gar nicht in die Abendblätter gesehen!

Gewiß doch ... man schlug sich ja immer noch im Osten, in der unvorstellbaren Öde Sibiriens, bei Mukden und Port Arthur millionenweise die Schädel ein. Tat es seit einer ganzen Weile, so daß der erste Reiz der Neuheit also verflogen war. Es war auch ein bißchen sehr weit ab. Man kümmerte sich deshalb nicht so recht mehr darum. Was ging's uns an?! Hatte auch keine Vorstellung, was da eigentlich geschah. Man las noch gerade mit einem Auge die Schilderungen von Kriegsberichterstattern über giftige Gase. (Richtige Gase. Wie machte man das eigentlich?) Nachtangriffe; Stacheldraht; Gräben und Wolfsgruben; von dem unheimlichen Vorrücken der kleinen Asiaten, die selbst im dicksten Kugelhagel keinen Laut von sich gaben. Nur wie die Sperlinge manchmal zwitscherten. Pries ihre Asepsis, die Papier in die Wunden stopfte. Man gab auch das Wort eines gelben Diplomaten weiter: »Solange der Westen nur unsere Kunst und unsere Philosophie kannte, nannte er uns Barbaren; jetzt, wo wir ihm bewiesen haben, daß wir auch morden können, sind wir für Europa zum Kulturvolk avanciert.« Aber man hatte trotzdem keine rechte Vorstellung, was da geschah, und las es zum Schluß mit nicht mehr Anteil als einen spannenden Sportbericht. Die Russen waren eben Wutkitrinker und Muschiks, und die Japs gelbe Affen. Das stand fest. Was gehen sie uns an? Die Japs waren unheimlich gescheit, bienenfleißig, aber doch nur eine besondere Spezies hochentwickelter Affen. Und die Russen hatten ja auch gewisse Urkräfte, die wir nicht mehr hatten, und ein Dostojewski sang von ihnen, ein Tolstoi und ein Gorki; aber ... sie blieben für Deutschland deshalb doch verlauste Schnapstrinker und Analphabeten. Und beide – Japs wie Muschiks – lagen sehr ... sehr fern.

Intellektuelle und Kunstfreunde insbesondere waren zwar für die gelben Affen. Auch Fritz Eisner. Denn er kannte mindestens zwanzig Namen von japanischen Malern. Nicht nur Hokusai und Utamaro, die Mode waren. Und er liebäugelte in allen Japanhandlungen mit kleinen metallisch-gepuderten Lackdosen und mit schweren, eisengerundeten Schwertblättern. Auch wenn ihm der Taler dafür unerschwinglich schien.

Einsichtsvollere hingegen – also keine belächelnswerten Idealisten, die dazu da waren, den Pöbel bei Laune zu halten mit Kunst, Witz, Kritik und anderem Dreck; sondern wirklich politisch geschulte Journalisten von Überdem-Strich – waren nicht für die Japs und sprachen in dicken Tönen von der Vormachtstellung Europas ... und so. Und sie waren deshalb für die Russen. Das heißt ... das ist zu viel gesagt, sie waren keineswegs schlankweg für die Russen; sondern sie gönnten den Russen von Herzen zuerst die Hiebe (was für idiotische Vorstellungen doch ehedem noch Menschen vom Krieg haben konnten!). Siegen würden sie ja endlich doch. Der Affe könnte eine Weile lang noch so verblüffende Sprünge machen, der Bär würde ihm zum Schluß doch die Knochen zerbrechen. Aber er würde dann für eine Weile selbst müde und außer Atem sein; und somit wäre man sie beide los. Und das wäre der Humor von der Sache. Und sie lachten sich dabei nur ins Fäustchen, daß der gutmütige Russe dumm genug war, für Europa die Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Die meisten gingen aber nicht einmal so weit, sondern nahmen das Ganze mehr als Sensation, und begnügten sich damit, vom Stammtisch (oder selbst schon von der Gymnasialbank aus!) huldigende oder anfeuernde Postkarten an Nogi oder Kulenkamp oder Rostschetzwenski – eigens des komischen Namens wegen! – zu schreiben, und die Antwort als Autogramm unter Glas und Rahmen zu setzen.

Also: die einen waren für die Japaner, die anderen für die Russen. Für den Menschen war keiner. So weit war man um 1905 noch nicht.

»Ja, ob die Japaner heute wirklich so große Verluste gehabt hätten, wie die Mittagszeitung behauptete?!« dachte Fritz Eisner. »Gewiß war's wieder mal übertrieben. Die rottete auch immer gleich die ganze Rasse auf dem Papier aus. Nur um fette Überschriften für die Straße zu kriegen. Und immer gerade die Japaner! Warum nicht, der ausgleichenden Gerechtigkeit wegen, auch mal die Russen. Es genügte doch nicht, daß der Konzern stark in Russen engagiert war, um diese Politik zu rechtfertigen. Hoffentlich hatten wenigstens die Abendblätter die Gefallenen auf das normale tägliche Maß reduziert.« Da brüllte sie ja schon der eine Zeitungshändler aus. Fritz Eisner kannte ihn; da stand er immer: ein Rebell, ein unleidlicher Radaubruder, geschworener Feind der Schutzleute. Jede Minute wollte man ihn arretieren. Aber er machte Geschäfte, war hinterher. Er stürzte vor vom Eingang der Zylinderhalle, wo er seinen Stand hatte, durch das Wagengewühl gegen die Straßenbahn, und er lief dann noch ein Stück nebenher, fing die Sechser wie ein Seehund die Fischstücke im Zoo. Und schon war er bei der nächsten und tobte wie ein Brüllaffe. Es hieß, er hätte bessere Tage gesehen. Wäre sogar Student gewesen. Könne Latein und Griechisch. Aber er machte keinen Gebrauch mehr davon. Und wohl mit Recht. Denn man hätte ihn am Potsdamer Platz doch nicht verstanden. Jetzt war er grauzottelich und ziemlich zerfetzt und braunrot gegerbt. Luft, Sonne und Regen und Schnaps hatten sich redlich in das Zustandekommen dieser Färbung geteilt. Das heißt, nicht ganz redlich, denn dem letzten war wohl doch der Löwenanteil dabei zugeschoben worden.

Immer also stand er da vor dieser Zylinderdestille mit ihren berühmten großen Kognaks von wildem Fuselgeschmack und ihrer Parfümiertheit ... dieser neuen, fragwürdigen, von übelsten Handelsleuten, geschaßten Offizieren, entgleisten Beamten frequentierten, die hier ihre Halsabschneidergeschäfte berieten und falsche Wechsel kursieren ließen. Oder Tombakringe mit Glassteinen als Diamantschmuck russischer Fürstinnen, die in Schwierigkeiten geraten wären (und Geld für die Rückreise brauchten), an Dumme anboten. Da stand er für gewöhnlich, der Zeitungsmann, wenn keine Bahnen kamen, und fing an der Tür die Kunden ab. Zwischen ihr und der Haltestelle schoß er dann, so wie es nötig war, hin und her. Gegen abend aber pflegte – das hing so mit seinem Standplatz zusammen (wir sind ja alle keine Heiligen!), meist die Lärmfreude seines Mundes zu- und die Sicherheit und Beweglichkeit seiner Beine abzunehmen. Und er traute sich deshalb nicht mehr sehr gern ins Wagengewühl vor. Man mußte ihm schon rufen. Oh, da war er ja schon wieder.

»Abendblatt«, rief Fritz Eisner.

Aber in dem Augenblick schwang gerade die Klapptür der Zylinderdestille, und ein Kunde trat heraus und blieb vor dem Zeitungsmann stehen, um mit ihm sein Geschäft abzuwickeln. Und der Zeitungsmann, der um so vorgerückte Zeit – wie schon erwähnt – nicht gern seinen Geh- und Gleichgewichtszentren allzuviel zumutete, sah nur mit einem glasigen und doch sehr verachtungsvollen Blick zur Sechsundsechzig und dem Störer seiner Ruhe hinüber.

»Hallo, Abendblatt!« rief Fritz Eisner nochmals – weniger für den Zeitungshändler, denn daß der nicht käme, wußte er – sondern, um seinen Kunden aufmerksam zu machen; denn war das nicht? ... ja, richtig, das war doch? ... ja, da drehte er sich auch schon zu der Blicklinie der Straßenbahn um ... das war doch Egi, Fritz Eisners Schwager, der Mann von Hannchen, der Schwester von Annchen, von ... von Fritz Eisners seiner Frau.

Was hatte Egi in solcher Zylinderdestille zu suchen?! In diese Lokale ging man nicht; man ging überhaupt in keine Lokale. Höchstens, daß es alle vier Wochen mal zu Kempinski reichte, wo man sich dann bei einer ganzen Flasche Macon und einem halben Hummer (eine Mark fünfunddreißig) fetter Bourgeois fühlte. Aber man kam doch nicht – mir nichts, dir nichts – am hellerlichten Tage aus solcher üblen Schnapsbude, und besonders, wenn man, wie Egi, wie Doktor Eginhard Meyer allen Grund hatte, auf sich zu achten ... gerade hier, wo man gesehen werden mußte ... zu achten, seiner Stellung, seiner Schwierigkeiten und seiner Aussichten und seines umkämpften Rufes wegen. Na, vielleicht hatte er nur telephonieren wollen!

Denn Egi befand sich wirklich in peinlicher Lage. Er mußte doppelt vorsichtig sein. Um es nur einzugestehen – er hatte Pech gehabt, war aus der Bahn geworfen worden, und es hing von tausend Zufälligkeiten und Kleinigkeiten ab, ob er je wieder den Weg zurückfinden konnte. In der Wissenschaft – und Egi war ja ein Mann der Wissenschaft! – in der reinen, ehrenvollen, brotlosen Wissenschaft, ist es nämlich endlich auch nicht viel anders als beim Sport, allwo ein Champion, der einmal disqualifiziert wurde – und wenn er noch so aussichtsreich war – eigentlich für alle Zeiten erledigt ist und kaum je wieder den Anschluß findet.

Und Egi war disqualifiziert worden. Und er war erledigt. Oder schien es doch zu sein. Und er suchte wieder verzweifelt den Anschluß.

Schade drum! Er hatte mit erstaunlichem Glück begonnen. Kaum, daß er damals seinen Doktor gebaut und sein erstes Rechtsexamen so nebenher noch geschmissen hatte – da hatte ihn auch schon eine knappe Zusammenfassung seiner ganzen Wissensmaterie, eine großzügig und neuartig gegliederte Übersicht in Fachkreisen bekannt gemacht, und ihm eine Dozentur eingetragen. Wenn auch etwas abseits, an einer kleinen Schweizer Luxusuniversität, wo man nach Menschen mit neuen Gedanken suchte – im Gegensatz zu Deutschland, wo man solche fürchtete und fernhielt. »Das ist natürlich nur ein Sprungbrett«, sagte sich Egi, als er in einem Alter, da die meisten noch die Hörerbänke drückten, schon oben auf dem Katheder stand; »na endlich hat ja Nietzsche auch nicht viel anders seinen Weg begonnen.« Denn trotz aller Klugheit und eines amüsanten Witzes, der vor nichts haltmachte, liebte bei aller scheinbaren Bescheidenheit der Privatdozent Doktor Eginhard Meyer durchaus nicht, sich zu unterschätzen. Er fühlte sich Geistesheroe und vergaß täglich fünfmal, daß der Mensch auch im besten Fall noch ein Esel ist.

Und diese verschiedenartigen Eigenschaften – ungewöhnliche Begabung, Witz und Überheblichkeit – hatten Egi auch sofort Reibereien mit älteren Kollegen eingetragen, die aus einem Nichts, einer lächerlichen Belanglosigkeit ins Gigantische sich auswuchsen, und zu einem Riesenskandal, wie ihn diese bescheidene Kultstätte deutscher Wissenschaften in partibus infidelium noch nicht erlebt hatte, sich entwickelten. Ein Stunk, der von den Universitäten in die Zeitungen ... von den Zeitungen in die Behörden ... von den Behörden bis in den Reichstag übersprang ... nach allen Seiten Dreck, Schaum und Wellen warf ... politische Tendenzen annahm ... antisemitisch gefärbt wurde – Egi war also doch nicht lichtecht getauft! – und zum Schluß eigentlich gar nichts anderes war, als ganz alltäglicher und kommuner professoraler Brotneid, wie er überall vorkommt, wo der liebe Gott Universitäten wachsen läßt.

Ein paar Semester hatte sich das hingeschleppt, und dann hatte Egi – halb freiwillig, halb gezwungen (oder richtiger: freiwillig, ehe er gezwungen wurde), das Feld geräumt und war wieder nach Berlin gezogen. Daß man den anderen schon etwas früher zur Tür hinausgekehrt hatte, war für Egi viel, für die um ihn wenig Genugtuung gewesen.

Man konnte damals vielleicht noch glauben, daß das alles Pech von Egi war. Aber es lag – das sah man bald ein! – in Doktor Eginhard Meyers Wesen, solche Zusammenstöße zu haben. Ebenso wie es in ihm lag, ihnen mit den Nerven nicht gewachsen zu sein.

Und wie das dann stets bei Menschen dieser Art geht – war dieser Kampf zu einer Art fixen Idee für Egi geworden, zu einer Michael-Kohlhaas-Sache, die ihn nicht losließ, und für die er mit Artikeln, Eingaben, Broschüren immer noch focht, als sie schon halb vergessen war, und kein Mensch mehr von ihr hören wollte. Für Egi jedoch schien sie der Sinn des Lebens geworden zu sein, der ihm alle Energien fraß. Und, wenn Egi deshalb seine Abkommen über die Lieferung von Büchern, die wissenschaftliche Verleger auf seine ersten Erfolge hin mit ihm abgeschlossen hatten, von Jahr zu Jahr hinausschob; und, wenn die Verleger, die ja bei Wissenschaftlern gewiß manches gewohnt waren, ihn endlich drängten, ... wenn Egi dann im besten Fall unter Hängen und Würgen einen Fetzen Manuskript ablieferte, der nie eine Fortsetzung fand, so hieß es: er könne doch nicht eher an diese Arbeiten herangehen, ehe der Kampf seines Lebens nicht entschieden sei. – Wie ja gemeiniglich eine unproduktive Tätigkeit eines Mannes stets alles produktive aufsaugt.

Nun muß man aber nicht etwa glauben, daß Egi deshalb für andere Dinge Zeit hatte, oder sich angenehmem Nichtstun mit Behaglichkeit hingab (denn es ist falsch, anzunehmen, daß der Mensch zum Arbeiten da ist, und ich möchte alles vermeiden, was mir auch nur den Schatten eines Vorwurfs eintragen könnte, als ob ich dieser lächerlichen Theorie etwa hier das Wort redete); nein, im Gegenteil: da Egi also nie etwas Nennenswertes tat, hatte er infolgedessen auch nie – weder Tag noch Nacht – Zeit, und stöhnte stets über diese Ossa und Pelion von Arbeit, die gerade auf ihn gewälzt waren, und die von Tag zu Tag sich höher emportürmten. Und das tat Egi mit vollem Recht, wenn er an die Berge von Arbeiten dachte, die er übernommen hatte, und die ihm täglich unüberwindbarer erschienen. Das armselige bißchen Muße von achtzehn bis vierundzwanzig Stunden aber, das Egi sich täglich gönnte, wurde von ihm und Hannchen mit reichlichem Wortgeklingel verteidigt: Egi sei eben kein Schuster! ... und ein geistiger Arbeiter brauche das zur Entspannung, um mit neuem Blick und frischen Kräften ... nachher, beim »Werk«, frage ja niemand mehr: ob er kurze oder lange Zeit daran gearbeitet ... und so weiter und so fort.

Außerdem jedoch hatte Egi noch irgendwo das Wort Emersons erwischt: Ich will über meine Tür das Wort »Laune« schreiben und hoffe, daß zum Schluß doch mehr als »Laune« dabei herauskommt. Und nun sorgte er dafür, daß das Wort »Laune« nicht etwa ausgelöscht würde. In Wahrheit hieß das Wort bei Egi aber gar nicht Laune, sondern Mißlaune; und er hatte ein ganzes, wohlassortiertes Lager von Depressionen, in allen Abmessungen, Tiefen und Ausdehnungen für seine Freunde, seine Frau, seine Familie und für sich selbst. Und die stufte er so: daß er sich selbst mit dem geringsten begnügte, und seine Frau mit den in jeder Weise ausgiebigsten bedachte. Seinen Freunden, Vertrauten, seiner weiteren Familie ließ er davon so viel zukommen, wie sie gerade verdienten, und wie er gerade für nützlich hielt. Wenn zum Beispiel Fritz Eisner zu ihnen kam – dann bat Hannchen, daß man Egi nicht stören möge; er wäre tief verzweifelt ... und das müsse er mit sich abmachen, und selbst sie – nicht nur seine Frau, sondern seine vertrauteste Freundin – wage sich nicht einmal zu ihm herein. Und, wenn man dann doch zu ihm drang – dann lag Egi mit Wattebäuschen im Ohr drin auf dem Sofa mit einem Band Mark Twain vor den kurzsichtigen Augen und lachte und quiekste, daß ihm der Bauch wackelte, und das ganze Sofa nur so flog. Denn Lachenkönnen war eine seiner besten Seiten. Aber fertig wurde dabei nichts, gar nichts ... außer ein paar abstrusen Zeitschriftenartikeln – über die Rechtsbegriffe der Ameisen oder so ähnlich – an die er Monate und Monate verschwendet hatte, und die dabei meist in irgendwelche anderen Gebiete übergriffen, in denen Egi doch nicht eigentlich zu Hause war: ... Gewiß er wisse es ja, er könne eben nicht mehr, wäre fertig: geistig und seelisch und mit den Nervenkräften zu Ende.

Nun ja – es kam eben alles bei ihm zusammen: sein Mißgeschick in der Schweiz, seine Ehe und die hoffnungslose Abhängigkeit von seinen Eltern, wie von den paar armseligen Kröten, die seine Frau ihm eingebracht hatte, die zusammengehalten werden sollten, und doch nicht zusammengehalten werden konnten. Und um das Elend vollzumachen, wohnte jetzt Egi noch, damit die Miete gespart wurde, im Hause von Frau Lindenberg, seiner Schwiegermutter. Und das soll man nie tun.

Ja, solange Egi eben noch ein blutjunger Kerl gewesen war, und es so schön glatt ging, hatte das ja alles nichts gemacht. Da war Egi der Stolz und die Hoffnung seiner Familie, und war voll berechtigt, etwas sonderlich zu sein: Gelehrte sind nie anders. Ja, man hätte es ihm verargt, wenn er es nicht gewesen wäre. Und da war es eine Ehrensache für ihn und alle, daß er mit so plumpen Sachen, wie Geldverdienen, und für Frau und Kind zu sorgen – denn die Vaterschaft hatte er nicht umgangen, es war das einzige Mal im Leben, wo er zur Zufriedenheit aller, seiner Eltern und Frau Lindenberg, pünktlich gewesen war – mit so materiellen Amerikanismen wie Geldverdienen sich nicht abgab. Und auch, daß er die soziale Frage für sich von anderen lösen ließ, sah Egi durchaus als den ihm schuldigen Tribut für sein Genie an.

Aber jetzt näherte Egi sich doch schon bedenklich den dreißig, oder war sogar darüber hinaus, und irrlichterierte nunmehr so seit drei, vier Jahren haltlos umher. Er verlief seine Zeit mit Schlächtergängen bei Professoren, die ihn fördern sollten, aber nicht fördern konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten, weil sie ganz einflußlos waren. Denn ein energischer Herr am Kultusministerium, ein Feldwebel der Wissenschaft, hatte es gerade mit viel Erfolg unternommen, die Selbstbestimmung der Fakultäten abzuschaffen, und hatte dafür einen militärischen Drill an preußischen Universitäten eingeführt, mit je nachdem »Marsch, marsch – hurra!« oder »Langsamen Schritt«, mit »Rechtsum« und »Kehrt marsch!«, sowie irgendeiner sich etwa erfrechte, auch nur die Absicht ahnen zu lassen, »Augen links« oder »Linksum« zu machen ... oder etwa im dritten Gliede der vorschriftsmäßigen Religion entbehrt hätte. Und in ein halbes Dutzend von Bibliotheken rannte Egi ebenfalls, die stets bösartig gerade das Buch verliehen hatten, – da saß natürlich wieder solch Esel von Dozent drauf! – ohne das er in seiner Arbeit nicht weiterkommen konnte ... Und auf Zeitungen antichambrierte er, die weder Verwendung für seinen »Fall«, noch – was keineswegs gegen Egi sprach – für seine Anregungen und Vorschläge hatten.

Kurz: wenn ein Jahr herum war, war es (genau wie seine Vorgänger) wie weggeblasen, und es war nichts von ihm übrig: weder Stellung, noch neue Arbeiten, noch ein Groschen Geldes; nichts, als ein Sack voll von Plänen und eine Handvoll zerflossener Hoffnungen. Und das ging nun schon eine ganze Weile so. Und der arme Egi war gemach, ohne daß er es recht merkte, damit in das Alter der Enttäuschungen, an die Schiffbruchsecke des Lebens gekommen, war leicht glatzköpfig, hatte ein Dutzend grauer Haare, und hielt sich nicht allzu adrett und ziemlich verloddert ... wohl auf jedem Gebiet. Und, wenn man geglaubt hatte, die Ehe würde so kleine, unrasierte Eigenheiten von ihm fortnehmen, so schien sie sie nur noch bedeutsam vertieft und verewigt zu haben; wie ja überhaupt Menschen nie geändert werden können, sondern höchstens dahin gebracht werden können, sich für einige Monate oder Jahre zu verstellen. Und diese Zeit des Sich-Verstellens war in Egi schon sicher vorüber. Das sah selbst ein ungeübter Beobachter auf den ersten Blick. All das aber war ihm und den anderen, die auf seine Karte einst gesetzt hatten, doch recht peinlich geworden. Freunde schwiegen wohl. Aber mit der Zartheit, die der Familie eigen ist, gab sie ihm das natürlich in feiner Weise täglich zu verstehen. Grade zu, was verwunden werden konnte; – insgeheim, durch Mißachtung und Zurücksetzung, was Dornen und Widerhaken in Egi zurückließen, die nie mehr abfielen, sondern sich immer tiefer einbohrten.

Man konnte eigentlich trotzdem nicht recht sagen, was am meisten daran mitarbeitete, ihn mit der Unaufhaltsamkeit einer mathematischen Progression weiter und weiter aus der Bahn zu drängen; denn von Hause her war Egi ja doch – wie alle zugaben – ein famoser und hochbegabter, wenn auch etwas wunderlicher Mensch. Den Frauen seiner Schicht, die sonst doch jeder irgendwie zärtlich und sehnsüchtig umflatterte, kam er zwar nicht recht nahe, und sie machten sich auch nichts aus ihm. Seinem Wesen fehlte eben der ästhetische Sinn und mit ihm die Bezauberung durch die Frau. Oder ... er war noch ungeweckt. An dieser Stelle war ein Loch in seinen Gaben. Das fühlte Egi wohl selbst. Und vielleicht war es nur ein unbewußtes Surrogat, wenn er deshalb – ein stromernder Hund – insgeheim nächtelang durch die Straßen lief, vorgab, sich Arbeitsruhe zu ergehen, aber statt dessen sinnlos mit Prostituierten niedrigster Stufe schwatzte, um die jeder andere einen weiten Bogen gemacht hätte. Und die – merkwürdig genug! – ihn auch aus ihrer unbewußten Menschenkenntnis heraus, ohne Forderungen zu stellen, annähernd als ihresgleichen nahmen. Das war ihm Zwang und seelisches Bedürfnis, ein gesuchter Ausgleich für etwas, das ihm ermangelte.

Die Frauen seiner Schicht liebten ihn also eigentlich nicht, weil sie fühlten, daß er nicht durch sie vibrierte, weder offen noch versteckt um sie warb ... Die Männer dagegen hatten Egi meistens vorbehaltlos gern; denn er tat ihnen leid; und außerdem war er ihnen ein stets diskreter, unterhaltsamer, nie lästiger Gesellschafter, und sie waren sich zum Schluß darüber einig, daß es doch nur seine Ehe wäre, die ihn so herunterbrächte. Sie machten Hannchen gar keine Vorwürfe (im Gegenteil, man hatte sie ganz gern) ... aber er wäre nun mal für so etwas nicht geeignet, und sie schon gar nicht.

Und da mochten sie rechthaben. Denn Egi war als ewiger Student, der ganz unvorbereitet, von der Universität weg, geheiratet hatte, zwar unsagbar anspruchslos und dankbar für eine Käseschrippe und ein Glas Bier. – Er war ganz auf Budendasein eingestellt; und er war, wie man das oft findet bei Leuten, für die nur eine geistige, aber keine ästhetische Welt besteht! – tief bedürfnislos, inmitten aller Wohlhabenheit aufgewachsen. – Aber er war dabei – oder vielleicht gerade deswegen! – (denn Ehe ist ein Übereinkommen mit gesellschaftlichen Voraussetzungen) – gerade deshalb war er also einer der eheunmöglichsten Menschen, die ersonnen werden konnten. Er wäre unweigerlich eine Krux für jede Frau und für jeden Haushalt gewesen: nicht nur für Hannchen und ihre nie ruhende Betriebsamkeit. Ein Mensch war er, der den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tage machte. Der vom Chaiselongue nicht fortkam, gähnte und sich lesend sielte, und der zudem noch das ganze Haus ständig unter der Tyrannis seiner Arbeit, die nie vom Fleck kam, seufzen ließ. Der für sich Pünktlichkeit verlangte, aber der sich ebensowenig an eine Zeit band, wie er sich kontrollieren ließ, wo und wie er außer Haus seine Stunden verbrächte. Er betrachtete die Ehe jetzt nur noch als eine unangenehme Zufälligkeit, mit der man sich am besten abfände, indem man von ihr keine Notiz nähme. Das war wohl nicht immer so gewesen – im Anfang hatte er vielleicht noch guten Willen gehabt. Aber man erinnerte sich nunmehr kaum noch, daß es je anders gewesen war. Wie weit beide noch jenes Band aneinanderhielt, das Blüten und Dornen und dann nur Dornen, Dornen, Dornen trägt, und das sich so zwei Menschen doch nicht vom Leibe reißen können, ohne zu bluten und meist zu verbluten, war schwer zu sagen.

Und dazu kam noch: es ging Egi und Hannchen nicht gut geldlich – und das halten die allerwenigsten Ehen auf die Dauer aus. Weiß der Teufel, wie es ging, daß der Vater gerade von all seinen Kindern für Egi nie Geld hatte (die paar Tausende im Jahr durften doch eigentlich keine Rolle spielen für Leute, die als Millionäre in Villen wohnten). Wirklich, sie mußten schon manchmal recht knapsen, die beiden. Aber in Wahrheit wußten sie doch eigentlich noch nicht, was so richtig schlecht gehen heißt; wie das zum Beispiel im wortwörtlichen Sinne Fritz Eisner und Annchen kannten, bei denen jedes Goldstück neu geboren werden mußte, noch bevor das alte gestorben war. Und das war eben das Schwierige. Aber Annchen trug so etwas ohne Nachdenken mit fröhlicher Gelassenheit. Das lag in ihrer Art.

Hannchen jedoch, die den Nimbus liebte, trompetete dafür ständig ihr Elend in die Welt, und betonte dabei, wie sie es doch verstände, mit geringsten Mitteln ein »entzückendes Haus« zu machen. Denn sie kannte sich ebenso auf Dornenkronen und Märtyrer blicke, wie auf Heiligenscheine aus, und ganz besonders auf das anregende Wechselspiel dieser drei. Hannchen schwankte zwischen den Rollen der »Stummen Dulderin«, der »Heiligen Mutter« und der »Geistigen Mitarbeiterin ihres Mannes«. Sie führte die drei Rollen mit jener nennenswerten Energie durch, die ihr gegeben war, und mit der sie allen Dingen gegenüber trat. Und sie war erst vollends glücklich, wenn die Leute sagten: »Die arme Frau!« Ihr Wahlspruch war: Lerne zu klagen, ohne zu leiden.

In Wahrheit aber hatte sie sich – hinter all diesen Masken – als eine überaus schwierige und keineswegs lautlose, sondern recht lärmende Weggenossin erwiesen, die zudem noch mit dem Hunger nach »wertvollen« Menschen, und mit dem Drang, sich ständig seelisch und ideell (ich bitte: nur seelisch und ideell) zu expandieren, Egi so lange in Atem gehalten hatte, bis er ganz in Sarkasmus, Gleichgültigkeit und Gehenlassen verfallen war.

Also: sie hatten sich beide hoffnungslos auseinandergelebt; trotzdem Hannchen – das sei zu ihrem Lobe gesagt – eigentlich immer noch, ungeachtet aller Mißerfolge, Egi vor der Welt anhimmelte, und auch wohl insgeheim sogar noch fest an seinen Stern glaubte. Und trotzdem auch Egi manchmal – in seltenen Stunden – einer staunenden Mitwelt verkündete, daß Hannchen die klügste und tüchtigste Frau sei, der er je begegnet sei, daß eine andere überhaupt nicht zu ihm passe ... und so fort. Und das dann auch wirklich selbst zu glauben schien.

Jaja, was so alles ein gutes halbes Dutzend von Jahren aus zwei zusammengekoppelten Menschen machen können!

Mit Egi war es Fritz Eisner sonderlich ergangen. Solange Egi eigentlich im Aufstieg noch war, hatte Fritz Eisner sich nicht recht viel aus seinem Schwager gemacht. Er konnte solche reichen Jungen nicht leiden, solche Hochbegabten, Glücklichen, Klugen, die sicher ihren Weg nahmen. Die Schule schon hatte sie ihm gründlich verekelt. Er konnte überhaupt keine Leute ausstehen, die zu gescheit waren. Und er war auch nicht umsonst sein Lebtag gedrückt, gestupst und mittellos gewesen, um jetzt noch eine Brücke zu ihnen finden zu können. Und die hatte er auch nicht schlagen können, solange Egi nur sein Kontrebräutigam war. Aber merkwürdig, je mehr Egi nun herunterkam und von seiner Bahn abirrte, desto näher rückte er Fritz Eisner. Egi gewann gleichsam für ihn am Menschentum mit jedem neuen Fehlschlag. Und das hing wohl damit zusammen, daß Fritz Eisner, der auch ein Outsider war, sich ihm damit innerlich mehr und mehr verwandt fühlte. Er mochte keine Unproblematischen, keine Arrivierten, keine Menschen in Stellungen oder in Berufen; für ihn galten nur die, die draußen standen und auf ihren eigenen Wegen heute noch nicht wußten, was morgen sein könnte. Und nur kein Gelingen! Und nur keine Zufriedenheit! Weder mit sich noch mit irgendwem oder irgendwas. Und dann hatte Fritz Eisner noch eine tiefe Zuneigung zu jeglicher Gebrochenheit, für jede Schwäche, die er im Kern verstand und innerlich miterlebte; und vor der ihn selbst eigentlich nur seine Verbissenheit bewahrte: ... Das Nungerade ... den Hunden es zeigen!

Instinktiv aber liebte er trotzdem jene Müden, Halben und Lässigen und Unentschlossenen; wie solche, die besser waren als er, weil sie dadurch eben den Mut zu sich selbst fanden, den ihn sein Haß nicht aufbringen ließ ... Und endlich macht Unglück, Elend, Zerrissenheit, Unzufriedenheit und Mißlingen Menschen stets sympathischer und für andere verständnisvoller, als etwa Glück, Reichtum, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Gelingen. Und es liegt in unserer tiefsten Wesenheit, daß unsere Zuneigung sich dort steigert, wo sie ergänzen kann; und daß sie abgleitet und ins Wesenlose hinausirrt, wie ein Strahl von allzu blankem Metall, wo sie auf Vollkommenheiten trifft.

»Hallo – junger Mann«, rief Fritz Eisner nochmals so laut es ging. Und Egi Meyer erkannte über die Kneifergläser fort seinen Schwager, setzte sich eiligst in Bewegung und trabte heran, während der Schaffner oben am Strang schon das Signal gab. Fritz Eisner aber zog Egi herauf, so gut es in dem Gedränge und mit seinen Wackersteinen von Paketen ging und schubste ihm neben sich noch mühselig auf dem Hinterperron ein Plätzchen zurecht. Merkwürdig, woher roch das eigentlich so übel hier nach Kognak? Ob vielleicht eine seiner Flaschen entzweigegangen war in dem Paket? Nein, aber da müßte es doch tropfen. – Oder man hätte etwas knirschen gehört. Das war's wohl nicht.

»Du hast ja da einen ganzen Laden ausgekauft«, sagte Egi langsam und blinzelte kurzsichtig mit schiefem Kopf über den Rand des rechten Kneiferglases, wie das so seine Art war. »Du mußt doch eigentlich ekelhaft viel Geld jetzt verdienen!«

»Beinahe«, knurrte Fritz Eisner und dachte daran, daß er natürlich weit mehr ausgegeben, als er gewollt hatte, und also schon wieder fast blank und bar war.

»Laß nur – ich nehme dir was ab; das macht mir gar nichts.« Und damit schubste Egi die Bücher – man hatte ihn noch nie ohne solche gesehen, er bemächtigte sich der Welt nur durch das Medium der Druckerschwärze – ein paar anständige Folianten der Königlichen Bibliothek, mit einem geschickten Ruck nach oben und klemmte sie unter der rechten Achsel fest, um die rechte Hand freizubekommen. Im Büchertragen, Bei-Sich-Verstauen war er ein Künstler; er schien eigens dafür ersonnene Anzüge und Mäntel zu tragen, mit Geheimfächern, wie ein alter Schreibschrank ... er hätte mühelos ein ganzes Konversationslexikon samt Supplementbänden in, um und an sich untergebracht.

»Alles für heute abend«, meinte Fritz Eisner.

»Ach richtig!« Egi strahlte; denn so hypochondrisch und so unglücklich er war, und so sehr er dafür sorgte, daß ihn seine Mißstimmungen nicht verließen – er hätte das als eine Berufsschädigung empfunden! – so gern vergnügte er sich im Grunde doch. Von Hause aus war er nämlich ein lustiger Bruder. Und nur das Leben, seine Ehe, sein falscher Ehrgeiz und seine leidigen Nerven hatten ihn in diese fatale Lage gebracht, für die er solche seelische Schutzfärbung brauchte. »Was macht ihr denn ...?«

Fritz Eisner unterbrach ihn. »Ja, du mußt mir überhaupt helfen, denn wir haben gar nicht viel Zeit mehr.«

»Ich wollte mich aber eigentlich noch umziehen und rasieren lassen«, rief Egi unschlüssig – während der Wagen, der an der Eichhornstraße wieder gestoppt hatte, nun zitternd anruckte – und er es versuchte, dem Ansturm der Menge standzuhalten, die sich am Trittbrett immer noch emporpreßte, und sich nur widerwillig vom Schaffner durch ein schmetterndes »Besetzt, Vorderperron!« und durch eine unerlernbare Buddha-Gebärde, eine flache wegschiebende Handbewegung über die Nutzlosigkeit ihres Beginnens belehren ließ.

»Umziehen?!« meinte Fritz Eisner (während der Wagen nun doch langsam ins Rollen kam) und verweilte nicht ohne Wohlgefallen auf den Fusseln des leicht angegrauten Stehkragens, auf dem zerknautschten Schlipschen, auf der Staubschicht auf den Rockpatten und auf den kräftigen dunklen Stoppeln des kleinen runden Kinns, die alle unter der pittoresken Beschattung eines zu großen, arg verbeulten, leicht vergrünenden Hutes lagen. »Nein, mein Sohn, das würde ja nur stören. Für die Einweihung einer Destille bist du gerade so, wie du bist, ganz stilecht kostümiert« (»und sogar parfümiert«, aber das letzte verschluckte Fritz Eisner).

»Nun schön«, schmunzelte Egi, der sich gern über sich selber lustig machte, und zog sich heringsdünn und bedrängt noch mehr in sich selbst zusammen. »Auch gut – dann gehe ich als das, was ich bin – als heruntergekommener Privatgelehrter. Man muß sich immer schon für das Asyl für Obdachlose vorbereiten. Zwar Hannchen wird eigentlich toben. Sie will mir Sachen herauslegen. Das hat sie mir noch nachgerufen.«

Fritz Eisner horchte auf. »Wie geht's eigentlich Hannchen?« fragte er, als ob er sich plötzlich an etwas Peinliches erinnere.

»Ich denke – ganz gut«, versetzte Egi erstaunt und gleichgültig. Das Wohlbefinden oder Mißbefinden anderer Menschen stand bei ihm nie zur Debatte. Und er sah gar nicht ein, warum er gerade bei seiner Frau hierin eine Ausnahme machen sollte.

»Hustet sie eigentlich noch?« meinte Fritz Eisner und bemühte sich, seine Frage ganz belanglos und in Parenthese zu geben, um den anderen nicht etwa unnütz kopfscheu zu machen. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen.

»Oh, das ist mir nicht aufgefallen«, Egi lächelte leise vor sich hin, wie immer, wenn er seiner Rede irgendeinen Schnörkel geben wollte. »Ein höflicher Chinese würde sogar sagen, das alte Luder platzt vor Gesundheit.« Nein, Egi konnte und konnte solche Redeschnörkel nicht lassen, auch wenn sie ihn immer wieder an die Grenze der Geschmacklosigkeit brachten. »Aber wer kommt denn eigentlich alles?«

Ja, wer würde wohl kommen?! – Das konnte man nicht so genau vorher wissen; sicherlich mehr als eingeladen wären; und sicherlich nicht alle, die eingeladen waren. Man würde ja sehen. Er hätte es auch noch auf der Redaktion dem und jenem gesagt. Die, denen man zuerst telephoniert hätte, hätten behauptet, sie wären schon lange für den Abend versagt. Und kaum hatte man wieder andere dafür genommen, so hätten sie nochmal ganz fidel angerufen: sie hätten es sich überlegt, sie kämen doch gern ... wenn sie vielleicht noch ihre heutigen Wirte mitbringen könnten. Und Annchen hätte auch noch hinterrücks diese und jene angerufen, denen sie, wie sie behauptete, verpflichtet wäre. Weiß Gott – weshalb. Und die würden ihm nun so tropfenweise beigebracht. Aber die meisten hiervon wären ihm, Fritz Eisner, wohl noch bislang unterschlagen worden, damit er nicht dagegen protestieren könne. Das wäre nun mal ihre Art. So würde es also etwas bunt sein. Nun, man könne sich ja an die halten, die einem paßten.

»Sage mal«, begann Egi wieder, scheinbar ganz nebensächlich, so, als ob es plötzlich aus einem Gewirr unkontrollierbarer Gedanken, ganz ohne sein Zutun in ihm aufschoß; und in diesem Sagemal lag es doch schon, daß er eigentlich die ganze Zeit nichts anderes hatte denken können: »Sa-ge-mal, da habe ich doch mal bei euch eine Malerin getroffen, vor Jahr und Tag, mit der ich mich so gut unterhalten habe. Wie hieß sie doch?«

Fritz Eisner stutzte. Hatte das dumpfe Gefühl, als ob er hier etwas nicht richtig gemacht hätte. »Die wird wohl auch kommen«, meinte er.

Merkwürdig. Vorvorgestern, bei der Sezessionseröffnung, wo man so alle Leute wieder trifft, die man ewige Zeiten den ganzen Winter über nicht gesehen hatte, hatte sie ihn nach Egi gefragt. Und er hatte ihr gesagt, ob sie heute zu ihnen kommen wolle. Sie war ein lustiger und origineller Kerl. Und tüchtiger in ihrer Kunst, als das sonst so die Art der Malerinnen war ... Sie war schon für so etwas zu haben, würde seine selbstgewählte Rolle mit Laune durchführen. Auf jemand mehr käme es wirklich nicht weiter an, heute abend.

Egi schüttelte betrüblich seine Bartstoppeln. »Weißt du, mein Junge«, sagte er gähnend und langsam, »das war eigentlich das, was wir gemeint hatten, als wir damals auf die überraschend merkwürdige Idee kamen, zu heiraten. Aber vielleicht gab es so etwas von Mädchen damals noch gar nicht ... oder ... es lebte in Welten, mit denen man nicht in Berührung kam«, setzte er nachdenklich hinzu.

An der Potsdamer Brücke bröckelten schon so die ersten wieder ab. Damen von einer etwas altmodischen und auffälligen Vornehmheit. Keine trug ein Päckchen. Hier trägt man nichts nach Hause, läßt es sich bringen. Solche in Schneiderkostümen – eigentlich unmodern mit ganz bescheidenen Hütchen dazu, lächerlich klein, nicht mal mit Pleureusen. Und fast ganz ohne Schinkenärmel, die doch weiter draußen obligatorisch waren für die Damen des neuen Westens, die sich ernst bewußt waren, was sie der Mode der kommenden Saison schuldig waren. Die Kastanien hüben und die Rüstern drüben warfen in langen Hängezweigen ihr erstes, fast rührendes, nochzaghaftes Grün über die Böschungen des alten, schwarzziehenden Landwehrkanals ... brandeten in langgezogenen Wellen (die so lange sie Fritz Eisner kannte, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt höher gestiegen waren), diesseits und jenseits an den Häuserfronten entlang, so daß sie nunmehr nur noch mit Dachfirsten und angeglühten obersten Scheibenreihen über sie weglugten. Und über dem Wasser, über dem öligen, angefärbten, spiegelnden Wasser, im klaren, überhauchten Abendhimmel, hinten vor der sinkenden Sonne, schwamm eine einsame, köstlich geballte Wolke, ein Wunder in Purpur und Nelkenfarben und mit Gold umzogen.

»Sieh mal, die Wolke – da merkt man doch, daß es Frühling wird! Im Winter hat man in Berlin eigentlich keine. Ich weiß nicht, woran das liegt. In München gibt es doch auch im Winter Wolken – in Berlin nicht. Da ist immer der ganze Himmel nur grau in grau. Ohne Formen. Ruskin sagt irgendwas, daß neben Blumen und Schmetterlingen Wolken die schönsten Farbenträger dieser Erde sind. Das fehlte einem eigentlich«, sagte Fritz Eisner, und hatte plötzlich die Empfindung, als ob da, in dieser goldenen Purpurwolke für ihn die ersten fünfzehn, sechzehn Jahre seines Lebens schwämmen nur noch ganz kurze Zeit, vergehend wie auf Nimmerwiedersehen.

Warum hatte er diese Gegend so gern? Es war ihm, als ob er aussteigen und nach Hause gehen müßte. Überall wo anders war er seitdem, seit bald zwanzig Jahren immer nur noch auf Besuch. Und gar ganz da draußen, im »Letzten Hause«, wo er jetzt wohnte, bei diesen Sechserrentiers, zweiten Buchhaltern und Postassistenten. Eigentlich war es doch hier auch nicht besonders schön. Ein bißchen Grün, ein bißchen Vorgarten hinter Eisenstäben von Zäunen (wie Tiere im Zoo) heuchelte eine Ruhe, die lange verloren war. Und dahinter dann gelbgraue, eintönige Häuserreihen aus armseliger Zeit, die auch nur noch wie in einem Traum die Erinnerung an Besseres bewahrt hatte, und in die jetzt mehr und mehr sich die breiten Sandsteinkästen von Amtsstellen und reichen Leuten einschoben. Und doch schien es Fritz Eisner wie ein reines Florenz gegen diesen Wahnsinn wildgewordener Maurermeister da draußen. Und dann: hier kannte er jede Laterne, jedes Straßenschild, jeden Torweg; die paar Läden und Kellerkneipen waren ihm Individuen. Hier war ein Halteplatz für vier Droschken zweiter Güte. Und an der nächsten Ecke für sechs. Niemand begriff, warum nicht umgekehrt; aber – es war mal so. Da drüben, vor der Apotheke war an Kaisers Geburtstag – natürlich des alten, der neue zählte nicht, war nach der Zeit – ein richtiger Geheimrat, der sonst ein ganz harmloser und freundlicher grauer Mann in einem speckigen Gehrock war, mit Pelerine und Dreispitz (wofür war man denn im Geheimratsviertel?) laut singend in eine Droschke geklettert, und sofort auf der anderen Seite wieder herausgefallen. Worauf er weiter singend auf der anderen Seite hineinkletterte und auf der einen hinausfiel. Bis es dann beim dritten Versuch gelang. Aber dafür war auch Kaisers Geburtstag. Und Fritz Eisner sah sich plötzlich selbst im schwarz-weiß-karierten Anzug, mit Kniehosen, wie er neben der fortzuckelnden Droschke herlief und geschickt den Dreispitz, der auf der Walstatt zurückgeblieben war, in kühnem Bogen durch das herabgelassene Fenster hineinwarf. Und Fritz Eisner lachte in Erinnerung daran leise vor sich hin. Aber da schwand schon das Wunder von Wolke, und mit ihm Gegend, Kanal und fünfzehn Jahre hinter den breiten Fassaden der Potsdamerstraße, wurde ihm weggezogen wie ein Bild in der Laterna magica.

»Ja«, meinte Egi, »ich finde es auch sehr lustig, ja fast lächerlich, daß nun Frühling wird. Ich habe sogar den Frühling heute selbst schon in Form von hundert grün angestrichenen Tischen und Stühlen in die Stadt fahren sehen, auf einem Rollwagen für einen Biergarten. Und dann habe ich auch heute mittag, bei Kempinski wieder die erste Fliege in der Suppe gefunden. Das ist immer das sicherste Zeichen.«

»Warst du denn bei Kempinski?« fragte Fritz Eisner ungläubig ... denn Egi rechnete stets mit Pfennigen, auch wenn er mit Goldstücken hätte klimpern können. Und so sehr er auch der Völlerei in Form von einer halben Portion Hummermayonnaise zugetan war. und so beseligt er und wahrhaft kindlich-glücklich sich solchen opulenten Genüssen dann hingab – noch stärker war doch sein ihm eingeborener Sinn für Sparsamkeit. So daß es, wenigstens für eigene Rechnung, in Wahrheit doch nur sehr selten bei ihm zu solchen kulinarischen Exzessen kam.

»Ja«, meinte Egi – sah schräg und lustig über das rechte Kneiferglas und fuhr wie im Nachgeschmack mit der Zungenspitze an den hängenden, wildwachsenden Borsten seines Schnauzbartes – nein, er machte diese neue englische Sitte nicht mit! auch nicht die royalistische, emporgewirbelte, trotzdem ihm diese für seine Karriere hätte von Nutzen sein können! ... Nietzsche aber hatte sich den Schnurrbart doch auch nicht schneiden lassen! – an ... seinen langen, über den Mund hängenden Schnurrbartborsten entlang. »Ja ... ich habe sogar heute Traueraustern gegessen!«

»Traueraustern?« Fritz Eisner kannte Holsteiner und Holländer und Natives und sogar Limfjords ... wenn auch mehr par renommée als persönlich; aber diese Sorte war ihm entgangen.

»Mit unserer gemeinsamen Schwiegermutter, die ich zufällig traf.«

Fritz Eisner schien die Sache immer unwahrscheinlicher zu werden. Denn, wenn auch bei Frau Luise Lindenberg ebenso wie bei Egi unleugbar die Neigung zu Kempinski bestand, ja, Kempinski – um in der Sprache der Wissenschaft zu reden – bei ihr ein eingeklemmter Affekt war, der sich langsam zu einem Komplex verdichtete, so waren doch auf anderer Seite die gleichen Hemmungen bei ihr dafür unverhältnismäßig viel stärker, als bei Egi, verhielten sich wie Stahltaue gegen deutschen Twist. Aber zugleich stieg in Fritz Eisner das visionäre Erlebnis am Hutlager von Wertheim schattenhaft empor, und erleuchtete insgeheim beziehungsreich die unglaubwürdige Situation.

»Ja, die Tante Trautchen – du weißt doch, sie sah genau aus wie die Königin Likataua von Hawaii, aus Schaubecks Briefmarkenalbum, zwei Cents, weinrot, Emission von 1868.«

Fritz Eisner lachte in Erinnerung an damals.

»Ist sie etwa wieder hier aufgetaucht?« fragte er erstaunt; denn in letzter Zeit hatte er nichts von neuen Schreckschüssen, die sie sonst in regelmäßigen Abständen aus ihrem Hinterhalt in Melsungen abzufeuern pflegte, gehört.

»Lache nicht – die Angelegenheit ist leider sehr ernst. Die Gute hat nämlich gestern in Melsungen dieses Erdendasein mit einem anderen vertauscht, von dem wir trotz jahrhundertelangen Bemühungen der theologischen Fakultät noch weniger wissen.« Egi liebte, wie gesagt, Umschreibungen. »Heute früh, um halb fünf ist eine Depesche mit dieser traurigen Mitteilung an unsere Schwiegermutter gelangt.«

»Oh«, meinte Fritz Eisner – »das ist aber peinlich.« Und es war nicht ganz ersichtlich, ob das auf den Tod von Tante Trautchen oder auf die frühzeitige Störung durch den Depeschenboten ging. »Gott, endlich war sie hoch in die Achtundsiebzig.«

»Ja, und da wir uns zufällig vor Kempinski getroffen haben, sind wir gleich hineingegangen und haben Traueraustern gegessen und Tante Trautchens in Wehmut gedacht. Aber ich gebe zu: Frau Luise Lindenberg hat durchaus recht: bei den Aufregungen und Anstrengungen der nächsten Tage kann man ihr diese kleine Stärkung nicht verargen. Sie ist nebenbei sehr traurig, aber gefaßt. Und ... außerdem ... soweit ich weiß – ich stütze mich da auf die Angaben der Vorgenannten! – sind die Schwiegermutter, sowie Annchen und Hannchen in Tante Trautchens Testament für ihre bescheidene materielle Lage sogar recht anständig, ja überraschend und großzügig bedacht worden.«

»Das mag für Annchen überaus nett sein«, sagte Fritz Eisner mit mehr Schroffheit, als das Thema erforderte. »Aber ich persönlich finde alles Erben unmoralisch.« Das war so eine soziale Marotte von ihm.

Solch eine wissenschaftlich unbegründete Anschauung war Wasser auf der Mühle von Egi, der nur mitleidig lächelte. »Es ist zweifellos, und es ist ernstlich nie bestritten worden, daß sich das Erbrecht aus dem Eigentumsrecht entwickelt hat. Selbst bei den heidnischen Eskimos Nordgrönlands, die kaum ein Eigentumsrecht kennen, geht der Kajak des Vaters, wenn er nicht zur Bestattung der Leiche benutzt wird ...«

Weiter kam er nicht. Denn an der Haltestelle der Ecke Lützowstraße war ein wilder und wohl organisierter Sturm derer, die schon von drei Wagen zurückgewiesen waren, und nun durchaus nach Hause wollten. Und diese trafen sich wieder mit jenen, welche hier den Wagen an diesem wichtigen Kreuzungspunkt: hie Schöneberg, hie Wilmersdorf ... wechseln und deshalb aussteigen wollten. Und da die einen erst einsteigen wollten, weil sie eben schon dreimal sich geprellt fühlten, und die anderen erst aussteigen mußten, damit die einen hineinkonnten – jene aber, die consecutio temporum der beiden Handlungen durchaus nicht einsehen wollten, so pufften, knufften, drückten, bohrten sich die beiden Parteien unter reichlichen Injurien auf dem Trittbrett und dem Eckchen Perron herum, das für diese Zwecke zur Verfügung stand; und bedrängten ganz besonders Egi, den die Angelegenheit doch gar nichts anging, da er ja bislang weder aus- noch einsteigen wollte, nur einen unglückseligen Platz gewählt hatte. Und diese Bedrängnis tötete zur großen Beruhigung Fritz Eisners Egis Vortrag über das Erbrecht im Naturrecht schon in den ersten Atemzügen.

»Zum Donnerwetter, lassen Sie mich doch erst aussteigen! Gehen Sie doch vom Trittbrett«, brüllte der oben. »Sie Oberidiot!«

»Zum Donnerwetter, lassen Sie mich doch erst einsteigen«, schrie der andere puterrot und hing quer vor, mit beiden Händen fest an der Griffstange, so daß kein Aal aus dem Wagen sich hätte herauswinden können. »Warten Sie mal ne halbe Stunde! Sie ... Sie ... Sie ... Sie Kuhkopp!« (Schon an der Wahl der Schimpfworte konnte man sehen, daß die beiden Kontrahenten verschiedenen Bildungsstufen angehörten. Der Oberidiot schien ein Akademiker, während der Kuhkopp ein schlichter Mann aus dem Volke war. Der Schaffner, der drinnen im Wagen knipste, hörte nichts, oder wollte nichts hören; denn er gedachte der Weisung der Direktion bei ernsteren Streitfällen der Fahrgäste von seiner Autorität sparsam Gebrauch zu machen. Endlich jedoch trat er würdevoll in die Türöffnung: »Besetzt – Vorderperron!« schrie er – sonst nichts und zog die Schelle. Und die Sache löste sich nunmehr von selbst. Nur, daß der, der vorher vom Wagen heruntergeschimpft hatte, zum Wagen heraufschimpfte und umgekehrt.

Und, während sie doch unaufhaltsam auseinander gezogen wurden, wuchs ihre Stimmkraft mit der Zunahme der Entfernung; trotzdem wiederum, was die Bildungsschichten anbetraf, sich beide Parteien nunmehr energisch zu nähern begannen, um alsbald auf jenem Punkt sich zu finden, wo sich die Pöbel aller Stände die Hände reichen. Und jeder schimpfte sicher noch, als die Biegung um die Ecke Lützowstraße sie doch schon auf Nimmerwiedersehen getrennt hatte. Das heißt, bei dem Kuhkopp hörte man es laut, klar und vernehmlich; bei dem Oberidioten weit hinten konnte man es nur als Wahrscheinlichkeitsdiagnose feststellen.

Egi, der ziemlich zerknautscht bei dem Hin und Her geworden war – auch war ihm das Paket fast aus der Hand gerissen worden – die Schnur hatte dabei unnötig in die Finger geschnitten, und seine Oberarmmuskulatur, die die beiden Folianten eingeklemmt hielt, hatte trotz ihres Trainings leichte krampfartige Erscheinungen bekommen – Egi plusterte sich auf und legte wieder seine Federn zurecht und philosophierte dabei halblaut und brummig vor sich hin. »Warum beschimpfen sich die Leute? ... Eigentümlich – man schätzt nun mal Menschen, die einsteigen, weniger, wie solche, die aussteigen ... aber am wenigsten die, die drinnen sind!«

»Sage mal«, begann Fritz Eisner – nach einer kleinen Pause stiller Sammlung, etwas unsicher. »Höre mal meinst du, daß man doch vielleicht noch absagen sollte, für heute abend, wegen Tante Trautchen?! Das wäre doch wirklich unangenehm, wo man so schon alles vorbereitet hat. Und ich weiß ja gar nicht, ob man alle Leute noch erreichen kann. Mich geht es ja gar nichts an; aber Annchen hat doch in früheren Jahren ... immerhin so nahe hat sie ihr doch zuletzt auch nicht mehr gestanden. Sie hat doch, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, abscheuliche Klatschereien gemacht.«

»Wir haben diese Frage bei Kempinski auch ventiliert«, sagte Egi in jenem Ton, den er so gut beherrschte, und von dem selbst seine ältesten Freunde nicht sagen konnten, nach welcher Seite er schillerte. »Aber unsere Schwiegermutter meint, daß die Tote im Leben doch so ein heiterer Mensch gewesen wäre, daß ihre Nichten auch heute ruhig ihren Schmerz zurückstellen könnten, und ihr Andenken nicht besser, als so ehren könnten. Wenn man sie selber noch fragen könnte, so würde sie, bescheiden, wie sie immer war, und aus voller Überzeugung sagen: Kinder ...«

»Verzeihung«, unterbrach Fritz Eisner, »soweit ich an Hand der beiden Lindenbergschen Photographiealben in die verzwickte Genealogie der Gegenpartei eingeweiht bin, kann man die Bezeichnung Nichten für das kaum noch erkennbare Verwandtschaftsverhältnis von Annchen und Hannchen zu der Verstorbenen doch höchstens noch nach dem eigentümlichen Familienaufbau der Weddas gelten lassen.« Und damit nahm Fritz Eisner Egi das Abendblatt aus der Hand, das der trotz Büchern und Paketen und in allen Stürmen geschickt immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

»Darüber steht mir hier keinerlei Urteil zu«, sagte Doktor Egi Meyer ernst. »Relata refero. Die Schwiegermutter sagte sogar, daß sie selbst heute, trotzdem ihr nicht so ums Herz wäre, einen Augenblick zu euch kommen würde, um euch die Freude nicht zu stören.«

»Oh!« meinte Fritz Eisner.

»Sie fährt heute nacht noch nach Melsungen. Von ihren Schwiegersöhnen, meinte sie, brauchte keiner mitzufahren. Wir wären durch unseren Beruf entschuldigt; und Annchen und Hannchen durch ihre Mutterpflichten.«

Also die toten Japaner der Mittagszeitung waren im Abendblatt auf das normale Tagesmaß reduziert worden; aber die Russen schienen statt dessen wirklich vor dem Zusammenbruch zu stehen. Weshalb wurde nur so berufsmäßig gelogen in den Zeitungen. Egi wußte merkwürdig gut Bescheid, hatte die ganze Geographie bis auf jedes unmögliche, kaum aussprechbare Dörfchen und Wäldchen im Kopf, redete fachmännisch von Taktik, Einkreisen, Telephonnetz und Umgehungsmärschen, als ob er täglich da in der Mandschurei mit dabei wäre. Egi erkannte den Krieg an, und nahm ihn, ebenso wie den Frieden, als eine höchst verwickelte und noch ständig sich umformende Rechtslage. Während Fritz Eisner den Krieg innerlich verabscheute, aber nicht allzusehr an sich heranließ. Aus Angst, sich darüber Gedanken machen zu müssen – machte er sich keine. Und dann war es ja sehr, sehr weit weg, eine ferne Sensation. Man konnte nicht mal mehr mit dem Finger hinzeigen.

Für den Russen hatte er nicht viel übrig. Aber wozu mußten diese gelben, kleinen Leute, die so hübsche Holzschnitte machen konnten, wie bunte Blumen, ... und so zierliche, kunstvolle Lackdosen mit solch winzigen Schnitzereien von allerhand Männchen und Getier, Muscheln, Affen und Fischen, an Seidenschnüren daran, ... die so schöne Stoffe webten oder druckten, ... und so geschickt Bronzen gossen ... dieses Volk von Impressionisten totgeschossen werden, oder selbst mit Kanonen schießen?! Das gefiel ihm gar nicht. Das sollten sie anderen überlassen. Und Fritz Eisner setzte seinem Schwager das auseinander.

Aber Egi war gegenteiliger Ansicht. Hearn wäre Schwindel. Vielleicht schöner, aber nichtsdestotrotz: Schwindel! Das Japan Fritz Eisners wäre genau so tot, wie das Deutschland Dürers oder Goethes. Und außerdem wäre es zehnmal so kriegerisch gewesen, wie das von heute mit seinem Schwertkult, seinen Gotomeistern und seinen Shogunen und Samurais, seinen ewigen Verschwörungen, seinen Teezeremonien, wo man diese vorbereitete, seiner Blutrache, und seiner Vasallentreue und Herrscherundank. Man brauche nur einen Blick auf seine Geschichte zu werfen, oder auf seine, wenn auch spärliche Literatur, wie die vierzig Ronins ... ein einziges Gemetzel! Heute aber mache Japan seine Feuerprobe als Kulturvolk durch, trete ein in den Kreis der Weltgeschichte, und er, Doktor Eginhard Meyer fühle sich glücklich, daß er diesen Moment erleben dürfte. Daß Japans alte, vielleicht wertvolle Überlieferung zerbräche, wäre demgegenüber belanglos, und es wäre eine falsche Sentimentalität, ihr nachzuweinen.

Fritz Eisner sah während dieses ganzen Vortrages fast neidisch zu seinem Schwager herüber: Wie gut es doch solch Jurist hat! Er nimmt die Dinge, die da sind, als gegeben hin, und die Dinge, die werden, als gottgewollt und richtig ... (so oder so: er verträgt sich mit der Einquartierung), er findet sich immer ab, er findet sich stets zurecht; während solch Kerl, wie unsereiner, der draußen steht, der Bücher und Romane schreibt, und Essais und Feuilletons und Kunstkritiken, und mal in siebzig Zeilen still vor sich hinlacht, doch nur innerlich egalweg »Ihr Schweine!« brüllt. Und was kommt dabei heraus?!

»Schade«, sagte Fritz Eisner endlich träumerisch und nickte traurig vor sich hin, »schade, daß es einem unmöglich ist. Aber jetzt müßte man nach Japan fahren können und alte Kakemonos kaufen! Ich glaube, da könnte man für ein Spottgeld herrliche Dinge kriegen. Da ist sicherlich gleich nach dem Friedensschluß viel zu haben.«

Am Lützowplatz war eine Stockung. Es war gerade nichts passiert, aber es wickelte sich nicht so glatt ab. Die Elektrische kam nicht voran; und sie hatte schon drei Minuten Verspätung. Das konnte noch mehr geben. Der Fahrer stampfte mit dem Fuß nervös auf die Klingel, einmal, zehnmal, aber es nützte nichts. Denn da war ein Möbelwagen von Knauer, grün, breit und selbstbewußt, vorn mit einem Kutscher, der auf die Brabanter Gäule herunter knallte; und außerdem noch mit einem Mann, der sie am Zaum führte. – Warum, war nicht recht ersichtlich; denn, weder ging es bergan, noch war das Pflaster aufgerissen, noch konnte man befürchten, daß die Gäule etwa durchgingen. Davor bewahrte sie schon ihr Temperament. Wirklich, es fiel ihnen nicht schwer, tugendhaft zu bleiben ... Und hinten, mit den breiten, halboffenen Türen, durch deren Schlitz man gerade auf drei Möbelleute sehen konnte, die gemütlich und in Hemdsärmeln drinnen im Wagen auf einem roten Ripssofa saßen und Mundharmonika bliesen und die schöne Luft genossen, die hier, schon ganz anders wie am Potsdamer Platz, leicht abendlich und baumfrisch angeduftet, vom unfernen Tiergarten herüberzog ... das heißt, einer blies nur, und die beiden Kollegen genossen.

Und an der scharfen Ecke bog der Möbelwagen langsam und gemächlich um und zwar so, daß er mit dem einen Viertel seiner schönen Breite auf den Schienen lief, und mit den übrigen Dreivierteln fast die ganze Seite des Dammes sperrte, die in der Biegung sowieso nicht allzu breit war. Naja, ein Radfahrer wäre vielleicht gerade noch vorbeigekommen; ein Handwagen vielleicht auch; aber ein schönes, neues, zitronengelbes Auto, solch langer, blödsinnigteurer Sechzig-PS-Wagen, wie es letzter Schick war für die Leute im Grunewald oder um den Kurfürstendamm – der nicht. Und deshalb ließ der Chauffeur den Motor schnurrend fast leer laufen, hatte abgedrosselt, rückte nur ganz langsam und gelangweilt zentimeterweise vor, saß vornübergebeugt und spannte auf den Augenblick, wo er durchwutschen konnte. Er gab keine Hupentöne, er rief keine Schimpfworte – Droschkenkutscher schimpfen, für Herrschaftschauffeure ist es Energieverschwendung – er wartete. Und der junge Mann – auffallend jung für einen Mann, der in einem Auto sitzt – wohl kaum Mitte der Zwanzig ... der im offenen Wagen saß ... ebenso. Nur, daß er sich nicht vorbeugte, sondern eher leicht in den Ledern sich zurücklehnte, die Hand mit den Ringen an dem Wagenschlag, die andere auf dem Achatknopf des Stockes. Und daß er dem Hindernis aus leicht zusammengekniffenen Lidern kaum eine lässige Aufmerksamkeit schenkte.

Fritz Eisner sah zu ihm herüber und hatte plötzlich das Gefühl, als ob jener der Doppelgänger wäre, irgend jemandes, den er flüchtig kenne ... weil seine Bekannten nämlich naturgemäß bislang nicht im eigenen Auto fuhren. Das tat man meist auch erst in höheren Altersstufen und dann in anderen Schichten. Der da aber sah eigentlich genau so aus, wie man aussieht, wenn man in Berlin ein gut angezogener, hübscher junger Mann aus reichem Haus ist, sauber gebadet, leidlich durchsportet und tadellos frisiert ist, und außerdem gewohnt ist, die Dinge an sich herankommen zu lassen. So etwas kann auch jeuen, sich erschießen, mit Frauen anderer Leute durchgehen, Referendar beim Kammergericht sein, oder zweiter Direktor an der väterlichen Fabrik. Und er wird nie anders aussehen. In keiner Lage des Lebens. Im Pyjama so wenig, wie beim Rennen, beim Offenbarungseid so wenig wie beim Sekt. Zwanzig illustrierte Blätter, in denen alle Frauen in Spitzenhosen auf Seidenkissen sich räkeln, nährten sich von ihnen; wie sie sich von jenen nährten. Das war nicht die »kommende Note« – nein, es war ›der‹ Typ, dachte Fritz Eisner. Er variierte – je nach Abkunft und Rasse – kaum so viel wie Syntomis phegea aus Finkenkrug, die mal sechs und mal sieben Glastupfen hatte auf den Vorderflügeln, und mal einen schmalen und mal einen breiteren Goldring hat, aber doch eigentlich zum Schluß eine wie die andere aussieht. Aber irgend etwas stimmte da doch nicht. Ein Zug, der zwischen Nase und Mund saß, und Energie vortäuschen sollte, war unsicher. Und die Augen markierten nur Gleichgültigkeit. Alt war weder die Geste noch die Aufmachung. Und plötzlich schoß es Fritz Eisner durch den Kopf: war das nicht eigentlich? – aber wie er ihn das letztemal sah, war er wohl noch Gymnasiast, oder gerade Abiturient gewesen bei Egis Hochzeit.

Aber, da hatte der Möbelwagen sich auch nur fünfundzwanzig Zentimeter gedreht; und der Chauffeur hatte sich schon ganz leise, wie geduckt, an ihn herangepirscht, ... noch ein abschätzender Blick hinüber und herüber, nur mit den Pupillen, ohne auch im geringsten den Kopf zu rühren ... und das Auto schoß pfeilgerade zwischen Möbelwagen und Bordschwelle hindurch und hupte aus, und sauste am Ufer, unter den Bäumen, entlang – ein gelber, schreiender, tutender Fleck.

Auch Egi war im letzten Augenblick auf das Auto aufmerksam geworden, gerade, wie es abratterte.

»Ja, ja«, sagte er langsam und in seinem Ton – »wir sind doch eine stinkend-vornehme Familie ... schade, daß ich meinen Herrn Bruder nicht eher bemerkt habe. Er hätte uns mitnehmen können. Denn etwas muß man doch zum Schluß für sein Geld davon haben.«

»Hat denn dein Bruder den Wagen schon lange?«

»Na – seitdem er jetzt mit meinem Vater die Baufirma aufgeklappt hat. Er hat uns vorgerechnet, wieviel er dadurch spart – in acht Tagen hätte er es wieder heraus. Ich habe meinem Bruder Arthur gesagt, er könnte uns gar keinen größeren Gefallen tun, als sich noch ein paar Autos anschaffen. Hosenträger kauft man sich nämlich – ein Auto schafft man sich an.«

Fritz Eisner verstand nichts von geschäftlichen Dingen, trotzdem er sich gern von ihnen erzählen ließ ... er wußte, daß jedes Haus und jeder Güterwagen voll Eisen, Kohle oder Kartoffeln jemand gehörte, nur ihm nicht! Jede Wiese und jedes Geschäft – nur ihm nicht! Und daß es dann noch Orte gab, Riesenbauten aus Granit und Sandstein, wo man überhaupt keine Ware sah, wo das Geld selbst Geschäft war. Und zwar das ausgekochteste. Es machte ihm Spaß, daß es Leute gab, die nicht, wie er und andere anständige Menschen, zehnmal die Feder eintunken mußten, um zehn Pfennig zu verdienen; und wieder zehnmal, um noch zehn Pfennig zu verdienen; und so weiter und so fort, dreißig Tage im Monat, mit Pausen des Sammelns, Sichtens, Sehens ... immer von neuem. Es machte ihm Spaß, daß es auch so etwas gab, das so ganz anders und scheußlich unvernünftig war, ohne daß irgend jemand daran Anstoß nahm. Daß man zum Beispiel etwas kaufen konnte zu zwei Mark und verkaufen zu drei Mark, genau die gleiche Sache eine Stunde später – ohne ins Gefängnis zu kommen. Er tat das nicht, hätte es auch nie getan; aber die Skrupellosigkeit, mit der das andere taten, wurde insgeheim von ihm bewundert. Es war soviel Romantik darin, daß jemand morgen oder in einem halben Jahre fünfzig und hunderttausend Mark mehr haben wollte, und manch einer auch bekam. Und alles, was sich dafür umsetzen ließ: eine schöne Frau, eine Reise um die Erde, ein Auto, ein Bild von Tizian oder eine Villa von zwölf Zimmern mit Gärtnerhaus. Einfach, weil er hunderttausend Mark, die vielleicht nicht einmal ihm gehörten, auf eine Karte setzte. Oder weil er zufällig erfahren hatte, daß die Schiffahrt neue Aufträge gab oder bekam; und daß man im äußersten Westen am Bahnhof Schmargendorf fünf neue Straßen bauen würde; also, daß das seit zwanzig Jahren wie Sauerbier dort angepriesene baureife Terrain endlich nun doch wirklich baureif würde.

Bei so etwas roch Fritz Eisner gern herum, ließ sich erzählen, hatte Beziehungen durch die Zeitung, privat, saß mal des Abends mit Kaufleuten im Café zusammen – es war so eine Puschel, eine geistige Balzaciade von ihm, eine platonische Leidenschaft. Und da war es ihm auch nicht entgangen, daß Egis Vater seit vier, fünf Jahren immer wieder schief lag, immer sich an neuen Dingen beteiligte, zubutterte, an Vermögen abbröckelte. Hier dreißig-, da achtzigtausend Mark reingab, unbrauchbare Erfindungen finanzierte, und von halben Schwindlern und ganzen Bankrotteuren hereingelegt wurde. Wenn dieser alte Knabe, der so schön ruhig zu Hause sitzen konnte, nur endlich mal die Finger davon gelassen hätte! – Aber je mehr er verlor – desto mehr wollte er verdienen, und desto unsicherer waren die Sachen, in die er sich hineinziehen ließ. Und jetzt war er mit seinem Jungen zusammengegangen, der sich plötzlich »Herr Baumeister« nannte – er hätte sich ebensogut zum Allah erheben können – und mit Grundstücken und Neubauten freihändig zu jonglieren begann. Und das war bekanntlich nicht einfach. Man mußte genau die ungeschriebene Standesunehre wahren. Man durfte bei solchen Geschäften weder ein kleinerer noch ein viel größerer Gauner sein als die anderen, die seines Klientel, und die seiner Konkurrenz. Beides war gefährlich. Das eine kostete meist Geld und Existenz; und das andere kostete leicht Geld, Existenz und Zeit. Indem es sich dabei unschwer ereignen konnte, daß einem der Staat das Verfügungsrecht über sechs Monate oder gar ein Jahr seines Lebens sperrte.

Was mit Egis Bruder war, wußte Fritz Eisner noch nicht. Man hatte ihn zwar als geschickt und unternehmend bezeichnet; doch, ob er zur ersten Gruppe auf die Dauer gehören würde, oder zur zweiten, war noch nicht feststehend. Ebensowenig, ob er klug genug sein würde, nur kaufmännisch genau so unmoralisch vorzugehen, wie es die Moral seines neuen Berufes erforderte. Über all das bestanden bislang nur Vermutungen. Solche jungen Herren haben entweder noch zu viel Idealismus dann zieht man ihnen auch schon, ehe sie den dritten Sherry getrunken haben, das Fell über die Ohren. Oder sie wollen zu schnell reich werden, und dann lernen sie nachher Tüten kleben.

Naja, zum Schluß hatte der Junge mit seinem Auto ganz recht: so blieb es wenigstens in der Familie, und bisher hatten doch nur fremde Leute etwas davon gehabt. Nur, daß Egis großmütterliches Vermögen und Hannchens paar Kröten an Mitgift in der Sache mitarbeiteten – aber wer gibt sonst fünfzehn Prozent im Jahr?! Und solch junges Unternehmen braucht die erste Zeit Geld, Geld und nochmals Geld ... nachher werden einem die Bankkredite nur so nachgeschmissen und aufgehalst ... nur das schien Fritz Eisner nicht ganz in der Ordnung.

Die Bahn schlug sich jetzt in ein paar stille Straßen, mit hohen duftenden Bäumen, spiegelndem Asphalt und grauen Kästen unter buntem Himmel ... letzte Ausläufer vornehmerer Zeiten ... durchbrauste ihre Ruhe, als ob sie ja recht schnell sie hinter sich lassen wollte.

Egi sah ganz erstaunt auf sein Paket herunter.

»Wo kommen denn die Rosen her?!« – sagte er plötzlich. »Die waren doch vorher nicht da? Das ist doch das wahre Rosenwunder der heiligen Elisabeth!«

»Ach, die paar Blumen. Die habe ich für Annchen gekauft. Die bringe ich meiner Frau mit«, sagte Fritz Eisner nachlässig, als ob er das alle Tage dreimal täte. Er hing gerade in Gedanken Plakate im Eßzimmer auf und zog die Papiergirlanden von »Lucie« in die vier Ecken des Zimmers. »Lucie« hatte Annchen die eine Messingkrone getauft, weil sie gleich jener Lucie von ehedem, wie Frau Doktor Sowieso von heute (richtig ja: Spanier), auch nur aus gedrehten Messingglöckchen bestand. »Sie sind nebenbei spottbillig, einfache Rivierarosen.«

»Dann könnte man für Hannchen auch mal vielleicht welche besorgen«, meinte Egi, nach einer ganzen Weile langsam. »Das wäre sogar ein Gedanke.«

Fritz Eisner sah prüfend zu seinem Schwager herüber: war es denn schon so weit mit ihnen, daß er, daß sogar Egi, darauf verfiel, seiner Frau Blumen mitzubringen, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen?! Dann mußte er ihr doch sehr weh getan haben; – ob sie es nun wußte, oder nur fühlte ... oder nicht mal das.

Aber da hub Egi – man konnte nie lange mit ihm zusammen sein, ohne daß es geschah – an, Neues von seinem »Fall« zu erzählen. Er hatte sich, wie gesagt, darein verbissen, wie die angeschossene Wildente bei Ibsen in den Meertang. Er kam nicht los davon; irgendwie schmeckte es schon nach Verfolgungsvorstellungen. Alle Welt wollte er dahinein ziehen, beurteilte sie nur nach ihrer Stellungnahme, beschimpfte sie, wenn sie nicht Partei ergriff. Dabei tat er es geschickt, wortgewandt und nicht ohne jene gefährliche Klugheit, die ihm eigen war, und die er hinter seinen Marotten und seiner Nachlässigkeit, seiner vorgetäuschten Verträumtheit und seiner Manierenlosigkeit gut zu verbergen wußte.

Fritz Eisner verstand das nicht; er war gewohnt, daß ihm Dinge mißlangen, auf die er gesetzt hatte. Jetzt hatte man ihm gerade ein Stück verboten, auf das er gehofft hatte. Der Zensor hatte ihm – als ob er, Fritz Eisner, mit den Säuen der Halbwelttheater aus einem Trog fräße – die jener nebenbei doch unbehindert und frei herumstromern ließ, soviel es ihnen und dem Publikum behagte! – vielleicht damit ein für allemal den Zugang zur Bühne verrammelt. Nun ja, war das vielleicht ein Grund, daß er an seinem Roman nicht weiter arbeitete, so ganz still nebenher, sowie ihm die Zeitungsschreiberei Muße ließ?! Und wenn er auch erst in einem Jahre fertig würde! – Wenn ein Reagenzglas zersprang, verband man sich den Finger und nahm man eben ein neues. Leiste etwas und niemand wird dann, wenn das Experiment geglückt ist, mehr fragen, ob das Glas damals durch eigene Schuld sprang oder böswillig von einem anderen zerschlagen wurde ... Nein, die Phasen posthumer Ehrenrettungen Egis, eingebildeter Aussichten einer Wiederaufnahme des »Falles« interessierten Fritz Eisner nicht im geringsten mehr. Und heute abend würde er gewiß wieder fünf Leute, die er das erstemal sah, nacheinander in eine Ecke nehmen, um ihnen seinen »Fall« vorzutragen, und sie um Rat zu fragen: ob sie eine letzte Eingabe ans Kultusministerium oder eine Broschüre für richtiger hielten. Bei Dickens gab es auch so einen, der fertigte zum Schluß Bittschriften an für die Begnadigung Karl II., und ließ sie mit Drachen zum lieben Gott aufsteigen.

Fritz Eisner hörte kaum hin. »Vielleicht wäre ein bißchen Grün ganz hübsch«, dachte er. »Man sollte noch schnell mit dem Mädchen heruntergehen, drüben in die unbebauten Straßen, da konnte man ruhig von den Hecken irgend etwas abschneiden, wenn gerade keiner kam – ein paar Zweige Faulbaum – der blühte wohl schon – und Gaisblatt und Goldjohannisbeere; und von den Birken auch, wenn man so hoch langen könnte. Und die dann in Vasen stellen und über die Türen nageln. Aber Eier müßten noch geholt werden; Annchen hatte gewiß keine im Hause. Das dürfte man nicht vergessen. Und ob man richtige Kaiserbüsten – aus weißem Gips – oder vielleicht sogar goldbronzierte, echte, Schmücke-dein-Heim-Kaiserbüsten aus der Kneipe von nebenan geliehen bekäme?! Das wäre vielleicht doch noch stilvoller als nur Reliefs aus Papiermaché.

Nun hatte man die Tauentzienstraße gekreuzt. Mit ihrem Gewühl und Getriebe. Die Gedächtniskirche stand als plumpe Silhouette im Himmelsrot. Die Menschen schoben dahin. Die bunten Lichter der Reklamen kreisten schon. Hübsch, wie auf einem Bild von ... nein, nicht von Lucien Simon ... von: Hoeniger. Alles staute sich vor einem neuen Kinematographentheater – das mußte man gesehen haben. »Von Stufe zu Stufe« – erschütternde Sensationstragödie in sieben Akten. Auf einem Riesenplakat kauerte eine Frau in grauem Kopftuch, so wie nur Verzweiflung im Kino kauern kann: unten in der linken Ecke vom Bild; und blickte aus Taleraugen, so wie nur Verzweiflung im Kino blicken kann der Menschheit ganzer Jammer ins Quadrat erhoben.

Langsam bröckelte es aus dem Wagen ab. Jetzt stiegen immer weit mehr aus, als ein. Man hätte sich wirklich ruhig schon hineinsetzen und die Pakete neben sich legen können ... aber es war zu schöne Luft draußen.

Die Bahn schoß jetzt wie in grünausgeschlagenen Korridoren unter den vier Ulmenreihen der Kaiserallee dahin, hatte freie Fahrt, holte auf, ließ die graubraunen Stämme vorbeitanzen wie Zaunpfähle; immer neue warf sie hinter sich, fraß sie gleichsam weg. Man merkte ihr an, wie sie dahin wollte, wo die Baumreihen und die Straße, Gehwege und Dämme ganz eng hinten in der Ferne zusammengingen, leicht bergan klimmend; und wie sie gleichsam darüber ärgerlich war, und immer ungehaltener wurde, immer hastender, daß ihr das nicht so gelang, wie sie es wünschte; und daß es gar nicht zu merken war, weil die Straße ... immer gleich breit blieb.

Die kaum eben fertig gewordenen Nebenstraßen – noch naß! – waren hier schon stiller, lagen, wenn man in sie hineinblickte, gleichmäßig in ihrer asphaltenen Melancholie mit ihrer neuen Buntheit von kirschroten Dächern und grünen Regenrinnen, von rosa Stuckvoluten und goldigen Eckkuppeln, oder von dem raffinierten Schlingeling von weißen Seerosen und resedafarbigem Schilf, die ornamental (in der Sprache Eckmanns und des Jugendstils) die Giebel und Bodenfenster umrankten und verschönten (mit Sonnenblumen faunistisch vergesellschaftet). Jedes Haus war hier anders, wie das andere. Jedes wollte vornehmer sein, als sein Nachbar. Und doch sahen sie alle so ungefähr gleich aus – grade wie die Nischen im Irrgarten von Kastans Panoptikum. Immerhin versöhnte der heraufrückende Abend mit seiner purpurenen Weichheit in Luft und Himmel, die er gutmütig auch über diese neuen Straßenschluchten breitete ... mit dem leichten, sinnlichen Duft, der in seiner verglühenden Stille lag, und der die Menschen schon zu Paaren zusammentrieb, daß sie nur noch im gleichen Takt des Blutes wortlos nebeneinander schreiten konnten, ganz ruhig und wie von einer sammetweichen Hand gestreichelt, so brutal und leichtfertig sie auch sonst sein möchten ... immerhin versöhnte das all diese im hellen Licht des Tages zum Himmel aufkreischenden Stillosigkeiten mit dem ästhetischen Gefühle Fritz Eisners; ... ja es ließ sie heute ihn irgendwie schön und sogar zauberhaft-rührend erscheinen.

Und dazu kam auch noch, daß hier schon jene Mischung von Stadt und Land begann, die sich von da weit, weit hinauszog, bis nach Steglitz hin, und die er, Fritz Eisner, so liebte. Wenn er Maler gewesen wäre – er hätte nur Bilder aus der Lisiere der Großstädte gemalt, London, Berlin, Paris, Baluscheks, Raffaelis ... ja, ... oder auch Blumen; gewiß: – Blumen! Oh, man ahnte ja auch hier schon plötzlich, daß es etwas anderes gab, als Pflastersteine, Gullys, Granitplatten, Fassadenreihen, Telephonmaste, Asphalt, Zement, Backsteine und Vorgärten. Und gerade diese Ahnung, diese Ungewißheit müßte man malen können – sie ist reizvoller als alle Bestimmtheit eines Kornfeldes, eines Waldes oder eines Flusses, der durchs Hügelland zieht. Das Land, was man so Land nennt um Berlin, brachte sich in Form eines ersten leeren Bauplatzes zwischen zwei kahlen Brandmauern schon ganz vorsichtig wieder in Erinnerung, tat es mit einer lichtgrünen alten Weide, die nur noch eine Platte zerschliffener Borke und ein paar Hände voll hängender grüner Gerten war. Eine alte, zerspaltene Baumruine, die sich von einer ganzen Kette ihrer Schwestern noch als letzte in die Gegenwart gerettet hatte, und immer noch lebte, lebte – gerade wie der alte Gaul da, der, zerschunden und mit eingesunkenem Kreuz, auch dieses Jahr wieder an dem einzigen Grasbüschel auf dem schwarzen, zertretenen Boden zupfte.

Von der letzten Sonne, rot und riesengroß, fiel ein breiter goldiger Lichtbalken darüberhin, klemmte sich zwischen den langen teergeschwärzten Brandmauern hindurch. Und wie Fritz Eisner herüberblickte, sah er plötzlich, wie einen Funkenregen beim Feuerwerk, in diesem letzten Lichtbalken Hunderte und Aberhunderte, Tausende und Abertausende von Insekten schwirren, Mücken, Käfer, Myriaden kleiner, winziger Wesen, die emporstrebten, jedes einen Augenblick aufblitzend, und alsbald im Schatten wieder schwindend – das andere umwerbend, suchend, in Liebestänzen mit ihm vereint, hingezogen auf ihm unbekannter Bahn, ein zielloser, losgerissener Lebensfunke im All, getrieben vom Pulsschlag unbekannter Mächte. Jede Handbreit Luft war erfüllt von ihnen und ihrer taumelnden Trunkenheit, ihrer dumpfen und beseligten Hingegebenheit, sang die gleiche Melodie, wie sie durch die Menschenpärchen da harfte, die wortlos Hand in Hand unter den langen Laubgängen aus der Stadt hinausstrebten.

Tausendmal kann man an so etwas vorbeisehen, gleichgültig, ganz unberührt davon. Und plötzlich – zufällig erhascht von einer fahrenden Bahn aus – nach langem Wintertod, in dem Sonnenrot eines Frühlingsabends, ganz urplötzlich kann dieses Lebensgewimmel da einen überfallen und überwältigen, als fühlte man im Augenblick alle Breite und Ewigkeit des Seins bis in die fernsten Zonen und bis auf den Grund hinab.

Fritz Eisner zeigte herüber. »O sieh nur, wie das da oben schon wieder alles lebt und wimmelt!«

Egi unterbrach seinen Vortrag, aus dem eben zur Evidenz hervorging, – es war sozusagen gerichtsnotorisch – daß der Andere ein wortbrüchiger Hochstapler (diesen Ausdruck hatte Egi gebraucht), ein schwerer Scharlatan auf jedem Wissensgebiet war, ... und sah erstaunt und mißbilligend herüber.

»Ich habe darin merkwürdiges Pech«, sagte er – »wenn auf dem ganzen Tempelhofer Feld auch nur eine Mücke ist, kommt sie mir sicher in die unrechte Kehle oder ins Auge. – Ich kann mich in acht nehmen, soviel ich will. Ich scheine überhaupt auf die Insektenwelt eine große Anziehungskraft auszuüben!«

Oh, und da in dem schönen Garten, vor der alten, einsamen, weißen Villa, die so lange leer gestanden hatte, war in den drei Tagen, die Fritz Eisner hier nicht entlang gefahren war, fast alles ganz grün geworden, waren die Büsche und Kastanien am Aufbrechen, und eine Drossel flötete überlaut von der obersten Spitze einer Blautanne ihren Abendsegen darüber hin. Es war eine schöne, vornehme Besitzung mit großer, grüner, ansteigender Rasenfläche vor den weißen Säulen der Anfahrt, in der jetzt, wie um die Einsamkeit ringsum zu betonen, ein leicht vor sich hinsummendes Auto wartete. Irgendwie zu schön und zu vornehm war sie für diese Gegend, die nun um sie herum gewachsen war, sie mit ihren Straßenzügen langsam eingekreist hatte, und jetzt ganz eng schon umklammert hielt. Aber das Allerschönste und Allervornehmste an ihr war und blieb doch die große Magnolie – für diese kalte Zone ein Wunder an Wuchs – die ganz einsam, herrlich und unnahbar, mitten auf dem Rasen stand, und völlig verschwand in den weißen, rosig überhauchten stolzen Porzellanvasen ihrer Blüten, die noch nicht ganz sich geöffnet hatten, und noch keinen einzigen ihrer weißen Scherben in den Rasen gestreut hatten. Und vor dem Baum stand, mit einer Aktenmappe unter dem Arm, und dem Hut in der Hand wohl der Besitzer dieser Villa, dieses Autos, dieser Magnolie – denn wer hätte es sonst gewagt, einfach quer über den Rasen zu gehen? – ein schlanker, noch gut aussehender, noch besser und sicherer unauffällig gekleideter älterer Mann, dessen spiegelblanke Glatze im Abendlicht erglühte, und warf dem Baum einen ihn aufmunternden Blick zu.

Fritz Eisner konnte zwar im Vorbeifahren das Gesicht nicht erkennen, aber irgend etwas in Kopf, Haltung, Gestalt und dem Gehaben eines falschen Diplomaten weckte in ihm vage Erinnerungen. Auch Egi hatte aufgeschaut, als die Besitzung kam, und mit mehr Interesse für Botanik nach dieser breiten, schweren Blumenfontäne herübergeblickt, als das sonst seine Art war, die, wie gesagt, das Visuelle ablehnte.

»Siehst du, da ist er!« sagte er befriedigt – »der hat das jetzt gekauft!«

»Wer denn?« meinte Fritz Eisner.

»Ach, der Direktor Liebenthal! Mein Bruder steht in geschäftlichen Beziehungen zu ihm. Er war sogar vorletzten Sonntag mit seiner Braut bei ihm zum Diner eingeladen. Zur Einweihung. Er hat erst den ganzen Kasten innen von Peter Behrens zeitgemäß ausbauen lassen.«

»Was denn für ein Liebenthal? – ach gewiß, ... jetzt weiß ich! Der mit der Frisur nach dem Defizitsystem? Na, das hat er ja nun nicht mehr nötig. Natürlich der, der damals draußen mit uns bei Potsdam wohnte. Das heißt: seine Frau. Ihn haben wir weniger genossen. Er war damals gerade – nach Ansicht der Schwiegermutter! – im ... Sanatorium.«

»Ja, aber man hat ihm doch eigentlich nichts nachweisen können«, fuhr Egi leicht verärgert dazwischen. »Und die Revision des Staatsanwalts ist dann später auch noch verworfen worden.«

›Vor Tische las man's anders!!‹ dachte Fritz Eisner, ›Welche sittliche Kraft geht doch von Kaviar, Hummern und Austern aus.‹ »Ach Gott«, sagte er laut, »warum soll man dem Mann Übles nachreden?! Endlich hat er uns doch damals auch schon den Sekt zu deiner Doktorbowle geschmissen. Und so etwas ... sind eigentlich sehr versöhnliche Züge im Charakterbild. Und außerdem bei Sekt und Geld fragt zum Schluß ja doch keiner, wo es herkommt.«

»Jetzt soll er ganz groß und ganz solide sein – mein Bruder meint, er habe es nicht mehr nötig. Er ist jetzt eigentlich so ziemlich der erste im Baugeschäft hier; und mein Bruder hofft, daß er ihm außerordentlich von Nutzen sein kann.«

Der Wagen hatte nun die Höhe erreicht, wo die breite Straße sie kreuzte, und hielt kaum an, raste weiter, hinaus und hinaus, dahin, wo es schon ländlicher, freier wurde, die Häuser nur eigentlich erst gerade geduldet waren. Hier waren noch alte Gartenlokale, aus denen Militärmusik scholl. Hier ein See, der von Jahr zu Jahr mehr abnahm und versumpfte und mehr stank, dessen roter Spiegel aber jetzt fast idyllisch (wie auf einem Bild im Jugendstil) durch die Bäume leuchtete: Tennisplätze gab es, schon leer bis auf ein paar letzte Unermüdliche; und Laubenkolonien und Gärtnereien mit dampfenden Mistbeeten; – und dann wieder drei, vier Eckhäuser, wieder eine halbe Straße, alles voll roter Mietszettel; und dahinter weite Sandplätze von schwarzen Lattenzäunen umrahmt, oder schon richtige, bestellte Felder. Noch nie hatte zwar jemand gesehen, wie diese Felder bestellt wurden. Aber eines Tages wurden sie wirklich grün, und im August leuchteten sie wirklich gelb, und zu Oktober waren sie wirklich voll Stoppeln und kahl. Also gehörten sie doch wohl noch einem richtigen Bauern, der so lange mit ehrlicher, tränenverschleierter Stimme sagte: »Min Jroßvader hed hier sein Roggen jebaut, min Vadder hed ihn jebaut, un ick un min Mudding will nu man det ooch tun, solange wie unsre ollen Knochens noch zusammen halten ...« das solange sagte, bis ihm die Bodengesellschaft, die ringsum schon alles aufkaufte, den Preis zahlte, den er sich vorgesetzt hatte. Daß außerdem die Geschichte mit dem Großvater ein aufgelegter Schwindel war, wußte jeder. Denn er selbst hatte erst vor zwanzig Jahren das ganze Stück hier bei einer Subhastation für einen Taler die Quadratrute erworben und warteten nun bis er tausend dafür bekam.

Da waren hinter dem Platz die roten Bogen der Ringbahn, und von fern dröhnte es schon von der Friedenauer Radrennbahn herüber. Gerade hatte Robl »das Goldene Rad von Friedenau« vor ein paar Tagen gewonnen, und die ganze Gegend war deshalb noch voll Aufregung, stand unter dem Zeichen der Rennfahrer. Die Beamten an der Sperre der Ringbahn hatten noch verbundene Finger, weil sie Blutblasen von dem Knipsen bekommen hatten. Heute trainierte man nur. Aber trotzdem waren die Menschen hingeströmt, und brüllten ermunternd im Takt den Fahrern ihr »Feste, Willem! Treten, Müller!« zu, so daß man es straßenweis hörte.

»Siehst du«, sagt Egi, »so berühmt wird keiner von uns je werden! – Weder ich noch du. – Das ist uns nicht gegeben.« (Was hatte er nur mit der Berühmtheit immer)?!

»Na, vielleicht mal dein Herr Sohn!«, meinte Fritz Eisner; ihn vertröstend. »Wie geht es ihm nebenbei?«

»Nur, wenn er Rennfahrer wird – sonst nicht«, versetzte Egi traurig, »und das liegt ihm nicht. Er ist feige.« Egi verstummte. Man hätte sich auch schwer verständlich machen können, denn die Menge weit drüben auf der Radrennbahn brüllte gerade fanatisch, und der Wagen quietschte jämmerlich in der Kurve.

»Weißt du«, begann er dann wieder, als der Lärm etwas verebbt war, »weißt du – so überbegabte Menschen, wie du und ich, sollten wirklich nicht heiraten, oder wenigstens keine Kinder bekommen; die Kinder von ihnen werden meist Idioten. Ich sehe das auch bei meinem Sohne kommen. Und der Gedanke ist doch nicht gerade tröstlich.«

Fritz Eisner hatte den Jungen von Egi gern. Er war zwar reichlich ungezogen und arg verwöhnt von der Großmutter und von der Mutter, die all ihre mühsam akquerierten Erziehungssysteme gegen ihn sich austoben ließ, und trotzdem, oder gerade deshalb, ihm gegenüber völlig hilflos war. Sonst jedoch war er ein putziges und gewecktes Kerlchen mit seinen drei Jahren.

»Na«, rief Fritz Eisner, lachend, »bei deinem Herrn Sohn magst du vielleicht mit deiner Diagnose nicht ganz fehl gehen. Bei meiner Tochter habe ich jedenfalls Anzeichen von Verblödung bisher nicht bemerkt. Sie lassen sich auch wohl noch nicht so leicht bei einem Kinde von acht Monaten feststellen.«

»O doch«, meinte Egi, und das war ihm wirklich ernst, er hatte so seine Marotten.

Nun jagte die Bahn durch die hohen Rüstergänge auf die rote Kirche zu, inmitten ihres Laubplatzes, unter dem die Kinder noch tobten, trieb in die wieder erwachenden Gärten hinein. Denn, man mochte gegen Friedenau sagen, was man wollte, es hatte in seinem alten Kern schöne Gärten mit Obst und Sträuchern, und reizende Vorgärten dazu, das Eldorado für Tonzwerge und weißgetupfte Tonrehe vor der Tropfsteingrotte. Aber die Natur ist darin komisch: im Winter überläßt sie diese Dinge ihrer eigenen Lächerlichkeit; aber, sowie es Frühling wird, macht sie mit einer Handvoll Krokus und Szyllen und ein paar Tupfen Aurikeln und mit ein, zwei blühenden Goldlackstauden das alles wieder wett. Die Häuser in diesen Gärten und diesen baumbestandenen alten Straßen mochten klein, altmodisch und ärmlich sein, Vorstadtvillen; jedenfalls waren sie um so netter und harmloser und puppenhafter, je älter sie waren. Die späteren schienen schon aus einer Konkurrenz von Ankers-Steinbaukasten hervorgegangen zu sein und in den Entwürfen von den begabtesten Kindern Deutschlands, zwischen sieben und neun Jahren, herzurühren. Denn, je kleiner sie waren, desto mehr Türmchen und Erker hatten sie und bunte Fenster, mit Diaphanien aus dem »Trompeter von Säckingen« beklebt, nebst anderen köstlichen Schmuckteilen. (Zusatzkasten III b.)

Aber in so etwas wohnten nur die Ureingesessenen; und auch nur sie durften in die Gärten gehen, und, eine Pfeife im Mund, ein Mützchen mit einer grünen Eichelquaste auf dem Kopf – so etwas gab es! – die Stachelbeeren und Rosen beschneiden, und später den Apfel am Spalierobst zählen ... oder sich an Gemeinderatssitzungen beteiligen – was auf eines herauskam. Die meisten waren früher ... die anderen waren noch Rechnungsräte in irgendeiner Form, die dieser Beamtenklasse entsprach; oder sie hatten einmal ein Geschäft gehabt; oder eine Schlächterei; oder eine Mützenschirmfabrik in der Neanderstraße. Auch gab es als Honoratioren sieben Herren Hauptleute, vier bürgerliche und drei adlige, die trotzdem miteinander verkehrten. Das heißt, so lange sie Vorgesetzte und noch im Dienst gewesen waren, wurden sie nur mit Herr »Premierleutnant« angeredet; den Titel Herr »Hauptmann« nahmen sie als Trostpreis erst mit in die Pension. Sie waren die wichtigsten Stützen des Kriegervereins, der Feuerwehr, des Schützenvereins, und all dessen, was damit zusammenhing, und mit dicken Reden bei sehr viel Patzenhofer mindestens monatlich einmal die vaterländische und kaisertreue Gesinnung pflegte, seinen Treueid in Nöten und Gefahren für außen und innen betonte und feierlich erneute, und vaterlandslose Gesellen aus tausend Gründen tief verachtete.

Die anderen aber wohnten nur in den Mietshäusern, die in halbfertigen, langen Straßenzügen um diesen Kern sich zogen, ja, sich schon hie und da mit breiterem Erfolg erfrecht hatten, sich zwischen die Häuschen und ihre Gärten zu drängen, um nun, wie Goliaths, von ihren vier, fünf Stockwerken auf sie und ihre Tonzwerge herunterzusehen. Diese Mietshäuser aber, meist noch naß und kaum fertig, imitierten anreißerisch die Talmieleganz ihrer Brüder im »neuen Westen«. Man möchte es so definieren: daß die im neuen Westen sich wenigstens bemühten, bei der Betonung des Wortes Talmieleganz den Hauptton auf die zweite Hälfte des Wortes zu legen; während die Maurermeister von Friedenau den Ton auf die erste legten. Das sind so Gradunterschiede. Die Einen ahmten die Eleganz nach, und schufen eine Talmieleganz, die sich bis zu dem Wintergarten, bis in die goldgepreßte Linkrustatapete der Diele und den elektrischen Zigarrenanzünder im Lift (die beide nie gingen) erstreckte. Und die Anderen imitierten nun nach dieser Talmieleganz nur das Talmi und sparten sich die Eleganz.

Aber eins mußte man zugeben: die Häuser hier draußen mochten ärmlicher, noch löckriger gebaut sein, als die anderen ... ohne alljene kleinen Annehmlichkeiten, die der vornehme Bewohner des Berliner Westens so liebt – vom Kühlschacht bis zum Müllschlucker, vom Warmwasser bis zur Zentralheizung – selbst Badezimmer war hier oft nur eine dunkle Mythe, Tapeten wie Decken waren grotesk ... aber in Einem war der Baustil des neuen Friedenaus allen anderen Stadtteilen und Vororten des Westens voraus: in farbigen Glasfenstern auf den Treppenfluren. Da gab es hundertfünfzig schmiedende Bismarcks, siebenhundertneunzehn Weiher mit Schwänen zwischen Pappeln, dreihundertachtundsechzig italienische Landschaften mit düsteren Zypressen, zweihundertsiebenunddreißig Wassernixen, bekränzt, aber sonst nackt; und achtundzwanzig Barbarossas. Während Karl der Große siebenmal und Hermann der Cherusker neunmal auftrat. Andere Häuser lehrten sogar die Geschichte des Deutschen Reiches in Glasfenstern, indem man über Wilhelm den Großen und Kaiser Friedrich zu Wilhelm II. im dritten Stock emporstieg. Es ersetzte den Schülern direkt ein Geschichtsbuch. In farbigen Glasfenstern marschierte Friedenau an der Tete.

Lebte aber im Kern – in den Puppenvillen! – Würde, Behäbigkeit und Angejahrtheit mit erwachsenen Söhnen und heiratsfähigen Töchtern, so herrschten in der Schale – im Kranz der neuen Mietshäuser – die jungen Ehepaare vor, und liehen sich die gerade vorhandenen Ehemänner gegenseitig, um die Kinderwagen die vier Treppen hinunter zu tragen und herauf zu schleppen.

Es wohnten also da so zweite Buchhalter, Eisenbahnbeamte, kleine Kaufleute, Sekretäre und Bankmenschen, und was für tausend Berufe zwischen hundertfünfzig und zweihundertfünfzig Mark Monatsgehalt es noch gibt, die den Mann, solange er einen von ihnen ausführt (aber auch nicht acht Tage länger!) vor dem Verhungern notdürftig schützen, und die ihm außerdem gestatten, dreimal in der Woche einen reinen Kragen umzubinden, und der Frau eine Zugeherin, oder gar ein Dienstmädchen von fünfzehn Jahren zu halten, das noch lernen will, und dessen Leistungen im Einklang mit der Behandlung und der Bezahlung stehen; (»aber das Kind hat sich so an sie gewöhnt«). Und dann gab es hier Witwen in vier Zimmern, die von möblierten Herren lebten, und deshalb in der Mädchenkammer schliefen, hungerten und froren. Dabei hätten sie in Zimmer und Küche ganz anständig von ihrer Pension bestehen können. Und dann gab es jüngere Söhne guter Häuser, die gegen den Willen der Eltern ein Mädchen mit gefärbtem Haar geheiratet hatten, oder die Empfangsdame bei ihrem Zahnarzt; und die nun hier, im Exil, schlicht und kleinbürgerlich, die Versöhnung abwarteten, die spätestens nach dem zweiten Kinde einzusetzen pflegt. Und so allerhand andre junge Ehepaare waren auch geduldet – Künstler, Musiker, Journalisten, die vorgaben, daß die Ruhe und Ländlichkeit hier draußen sie gelockt hätten, die Abgeschiedenheit, die der Künstler zum Schaffen brauchte, und was man sonst noch alles für Umschreibungen für billigere Mieten macht. Nebenbei waren sie immer noch sündhaft teuer. Und die im neuen Westen kamen mit ihrer Zentralheizung, mit ihren größeren und angenehmeren Räumen, weniger Fahrten, mehr Ruhe – denn es wimmelte doch nicht derartig von Kindern! – viel, viel besser weg. Wie ja überhaupt Kein-Geld-Haben das Teuerste ist, was es auf der Welt gibt, und der reiche Mann immer billiger lebt, als der arme. Am teuersten aber der arme Mann, der glaubt, daß er verpflichtet ist, den reichen zu spielen.

Daß dazwischen auch mancherlei Fragwürdiges, durchaus Unbürgerliches saß, von privilegierten Sirenen, bis zur kleinen Schauspielerin und zur großen Choristin, die das Doppelte ihrer Gage verwohnte; und daß sogar nachts manchmal von freundlichen Jünglingen mit Knüpftüchern um den Hals, die an Laternenpfählen lehnten, langgezogene Pfiffe durch die stillen, laubüberdachten Straßen gellten – war weder zu übersehen noch zu überhören. Aber es war doch nur eine leise Schattierung nach unten, die sich nicht vordrängte in all dem Kleinbürgertum.

Fritz Eisner zeigte auf das große Rondell vor der Kirche, durch das gerade eine Kavalkade von Russen und Japaner spielenden Jungens tobte, – über die niedrigen Zäune, Rasen und Bänke fort, um die Bäume herum, und quer durch die Büsche – während die Allerkleinsten, von ihnen aufgescheucht, auf den Sandplätzen angstvoll ihre Eimerchen, Backformen und Schippen zusammenrafften. Die ersten Liebespaare aber, die schon in seliger Benommenheit mit leisen Schritten über die Wege schlichen, um sich vorzeitig auf den Holzbänken einen möglichst abgelegenen Platz zu sichern – denn die waren nachher die gesuchtesten; und Vorverkauf, wie bei Bote & Bock, war dafür noch nicht eingeführt! – die ließen sich durch diese tobende und »Bansai« brüllende Rotte Korah keineswegs beirren. Ja, man konnte, da sie völlig von anderen Dingen erfüllt waren, nicht einmal feststellen – selbst, wenn sie von ihr fast umgerannt wurden – ob sie sie überhaupt bemerkten. In Fritz Eisner schoß so etwas wie Neid auf, denn eigentlich war er ein gehetztes Wesen und lechzte nach Ruhe, Selbstbesinnung und Selbstvergessen. »Die da sind die Glücklichen«, sagte er.

»Ja«, meinte Egi, und zog die Lippen kraus, wie immer, wenn eine seiner verkappten Zweideutigkeiten kommen sollte. »Die einen sind es jetzt; und die anderen werden es nachher!«

Wieder in die Baumketten der Allee hinein. Nur noch zwei Haltestellen. – Weiter ging es nicht mehr. Dann war man zu Hause.

»Hör mal«, begann Egi, »mir ist da etwas angeboten, weißt du; da ist doch diese große Sammlung internationalen Rechts bei Puttkamer ... sie ist auf zehn Bände berechnet ... der letzte, der es redigiert hat, Professor Ernecke in Greifswald, ist jetzt endlich an Verkalkung gestorben – ich glaube – er ist einhundertundzehn Jahre alt geworden. Und nun sucht man ...«

»Eine andere professorale Mumie mit Dementia senilis.« (Diese Bezeichnung hatte nämlich Egi bald über ein halbes Dutzend Jahre, noch von Potsdam her, seinem Schwager nicht verziehen.)

Egi war leicht gereizt.

»Eben nicht. Sondern einen Mann von der neuen Richtung. Und da ist der Verlag jetzt an mich herangetreten. Gott, viel wird wohl dabei nicht herausspringen. Es ist eine Hundearbeit. Ich muß überall, bis nach Japan und Südamerika hin noch neue Mitarbeiter werben. Und in allen möglichen Sprachen korrespondieren. Na, das ginge ja wohl vielleicht« – denn Egi war zwar nicht polyglott, wenn man es wörtlich nimmt, das heißt vielzüngig, aber er las und schrieb eine ganze Anzahl von Sprachen, immer gerade eine mehr, als man brauchte. »Und mindestens drei Bände, die veraltet sind, muß ich selbst überarbeiten.«

Fritz Eisner fing nur abgerissene Satzfetzen auf, da der Wagen sehr rüttelte und lärmte – es war wirklich nötig, hier einmal die Schienen auszuschleifen. – Aber immerhin hörte er genug, um erstaunt festzustellen, um was es sich eigentlich hier drehte.

»Die Sache ist gewiß sehr verlockend – aber sie bindet einen zu lange, absorbiert einen ganz, auf Jahre hinaus. Ehe diese Angelegenheit mit diesem Halunken nicht geordnet ist, möchte ich nicht gern ... ich habe einfach abgeschrieben.«

»Ist der Brief etwa schon fort?« schrie Fritz Eisner, um das Rattern des Wagens zu übertönen. »Das wäre aber schade.« Im stillen rechnete Fritz Eisner damit, daß es nicht der Fall wäre; denn Egi gehörte zu jenen, die jeden Brief erst eine Woche in der Tasche tragen, ehe sie ihn dem Kasten anvertrauen. Nicht etwa aus Aberglauben oder Unschlüssigkeit, sondern aus Vergeßlichkeit. Er hatte das sogar einmal mit Einladungen getan; und als der Sonnabend kam, saßen Egi und Hannchen verstimmt und allein vor zwölf leeren Stühlen und vor zwölf vollen Teetassen – es wurde halb neun, neun, halb zehn, ohne daß sie sich das Phänomen des plötzlichen gesellschaftlichen Boykotts ganz erklären konnten – einer hätte doch wenigstens absagen müssen! – Bis Egi nach tausend gegenteiligen Eiden aus der geheimsten seiner siebenunddreißig Taschen den ganzen Packen von Einladungen herauszog, die da seit vorigem Dienstag ungestört geruht hatten. Seitdem aber wurde ihm die Beförderung der Post vom Familienkreise seltener anvertraut. Aber man konnte nicht wissen, gerade dieses Mal, wo er eine Dummheit enthielt, konnte er – principiis obsta! – von seinem Prinzip abgegangen sein, und den Brief sofort spediert haben.

»Ist der Brief fort?« rief Fritz Eisner nochmals, denn der Wagen heulte wie eine Dampfpfeife.

»Fort?« meinte Egi erstaunt und fast beleidigt. »Noch nicht!«

»Dann schick ihn ja nicht ab. Ich verstehe zwar davon nichts, aber doch gerade soviel, um zu sehen, daß du damit eine Riesendummheit machen würdest. Ich glaube nicht, daß du noch ein zweites Mal in deinem Leben in die Verlegenheit kommen wirst, so etwas auszuschlagen.« Innerlich sagte er sich: Donnerwetter, es muß also doch an dem Jungen einiges dran sein, denn sonst bieten sie ihm so etwas nicht an bei seinem lachhaften Alter. »Ich würde sofort zusagen. Niederlegen kannst du später immer noch. Oder würde mir mindestens sofort drei Tage Bedenkzeit ausbitten. Und es vielleicht mal mit Kohler besprechen. Ich geb dir oben gleich einen Briefbogen. Dann geht es heute auch noch mit« ... (Briefe! Postkasten! Briefbogen? Briefbogen???) »Um Himmels willen! Der Rohrpostbrief von dem Butterfräulein – den habe ich ja auch immer noch in der Tasche!!«

Egi hörte das letzte nicht mehr, sondern lutschte an seinen Schnurrbartborsten. »Gewiß – das könnte man vielleicht auch tun«, sagte er nachdenklich, aber doch wie alle Neurastheniker froh, daß ein anderer ihm den Entschluß abnahm. »Kohler hatte mich nebenbei empfohlen. Ich könnte dann auch vielleicht gleich definitiv zusagen, und um den Vertrag bitten ... aber was macht in letzter Zeit dein Roman eigentlich? Der zweite Vorschuß muß doch nun endlich auch verpulvert sein?! Wird er bald fertig?«

Fritz Eisner waren Gespräche dieses Tenors nicht angenehm. Er liebte es nicht, wenn man ihn in solchen Dingen auf den Zahn fühlte.

»Wirst du uns heute was vorlesen?!« setzte Egi noch etwas schüchtern hinzu, als der Wagen hielt.

Aber Fritz Eisner war nun schon ganz in seiner Rolle von heute abend als Destillenwirt. »Mensch – du bist wohl bräjenklieterig!« brüllte er und kletterte vom Wagen herunter, zwei Pakete in den Händen, und den Rohrpostbrief des Butterfräuleins von Wertheim, den er inzwischen in der oberen Westentasche gestellt hatte – nie hatte er ihn dort oben verfrachtet! – den Rohrpostbrief, wie ein apportierender Hund zwischen den Zähnen: aber nun nicht mehr vergessen! Und Egi folgte, kaum minder bepackt.

Jetzt gab's noch viel zu tun.

Das Haus, in dem Fritz Eisner wohnte, stand allein, war das letzte – das hatte ihn gelockt – hatte kein Gegenüber mehr, auch kein Nebenan; weder rechts noch links; war ganz ohne Tuchfühlung; auf Horchposten; am weitesten vorgeschoben; dann kam eben eine ganze Weile gar nichts; bis die weißen Hausklötze von Steglitz in ihren langen Quadern wieder anhuben. Felder, Grundstücke, Laubenkolonien, Gärtnereien, ferner Gasometer, ein Netz gezogener Straßen, mit Lindenreihen, ja sogar die dunkle Linie des Grunewalds schloß den Blick ab, stets in luftige Bläue getaucht, und überragt vom Aussichtsturm am Großen Fenster auf den Havelbergen.

Das war gewiß recht schön. Aber dafür stand auch, was die Flurfenster anbetraf, das Haus gar nicht an erster Stelle. Es hätte bei einer internen Konkurrenz mit seiner Zypressenlandschaft, seinen Normalschwänen und seiner Normalnymphe mit Seerosenkranz kaum gut abgeschnitten. Der Besitzer, ein biederer Bäckermeister, war mehr für das Idyllische als das Patriotische gewesen, und außerdem war vor zwei Jahren Bismarck als Schmied nicht mehr modern; man hatte sich das übergesehen. Man muß nun aber nicht glauben, daß deshalb das Haus besonders neu aussah, weil es erst vor zwei Jahren fertig geworden: es war innen, wie außen schon reichlich ramponiert, ja auf seiner Hofseite fiel wirklich schon der Putz in großen Platten von der Wand ab. Denn der Wirt sagte sich: wozu habe ich den Neubau eigentlich, als dem Maurermeister die Puste ausgegangen war, auf Subhastation gekauft, wenn ich noch etwas machen lassen soll?! Und neue Tapeten und Küchenstreichen kosten nur Geld. Und wenn wirklich mal einer auszieht, da kriege ich schon immer einen andern. Und damit hatte er recht. Das Haus war wie ein Taubenschlag. Fritz Eisner war schon mit seinen zwei Jahren der Meergreis unter den Mietern.

Natürlich lagen auch heute wieder keine Läufer auf den Treppen. Sie wurden anfangs immer abgenommen, wenn einer aus- oder einzog. Und, da bald fast immer einer ausziehen oder einziehen wollte, hielt es der Portier für ratsamer, sie von einem zum anderen Mal gar nicht mehr hinzulegen. Man erinnerte sich kaum noch, daß sie sehr schmal und sehr rot, mit sehr grünen Kanten gewesen waren ... Und wodurch hätte man sonst beweisen können, daß man in einem herrschaftlichen Hause war, als dessen besonderer Vorzug vom Wirt betont wurde, daß es keine Hintertreppe hätte, und somit nur von besseren Leuten bewohnt werden könnte. Daß die Mülleimer und so weiter über die Vordertreppe getragen werden mußten, und, da das zu jeder Zeit geschah, sich reichlich Unzuträglichkeiten daraus ergaben, verschwieg er den Mietenwollenden, wenn die nicht selbst darauf kamen; was natürlich weder Fritz Eisner noch Annchen eingefallen war. Ja, aber der Eingang zu einer Destille durfte auch gar nicht so vornehm sein ... das paßte ja für heute abend gerade ganz gut.

Gegen die Wohnung selbst hingegen war eigentlich nichts einzuwenden, so wenig, wie gegen die Fächer eines Taubenschlages. Es waren vier Zimmer; – es waren die vier Zimmer. Ein kurzer schmaler Korridor mit Türen gepflastert stieß gegen sie vor. Rechter Hand hieß der Vers: Küche, Kammer, Badestube – das Reich von Pauline. Jedes war so, daß man sich gerade angenehm auf den Hacken drin umdrehen konnte, für Kabinenstil gedacht. Die Kammer war an der Küche als Blinddarm. Und in der Kammer stand ein Bett, wie der Kruzifixus in der Flasche: Wunder und Rätsel, wie es da hineingebracht worden war.

Wer war Pauline?! Das ist schwer zu sagen: ein kleiner, draller, nie müder, immer lachender, alles selbst ausführender, alles bedenkender General von achtzehn Jahren, der zufällig ein Dienstmädchen war, und statt zwanzigtausend Mark und Dienstwohnung und Aufwandsgeldern nur fünfzehn Mark und eine Kammer hatte. Aber noch schwieriger wäre es gewesen, sich vorzustellen, wer wären Fritz Eisner und Annchen und Little Dorrit ohne Pauline gewesen? »Bei dem letzten Nordweststurm strandete auf den Seehundsbänken, fünfzehn Kilometer östlich von Friedrichssand, der Schoner Hiddigeigei. Wenn der Sturm anhält, müssen Schiff und Mannschaft als verloren betrachtet werden.« Das ungefähr hätte dem entsprochen. Annchen hätte es nie zugegeben, und sich stundenlang und wortreich dagegen verwahrt. Und Fritz Eisner wäre das gar nicht so zum Bewußtsein gekommen; aber, als Pauline im vorigen Jahr einmal – das erstemal, seit sie miteinander verheiratet waren, denn Pauline hatte ihnen schon den ersten Kaffee gekocht auf der Eycke (der nach Nickel schmeckte) – auch nur ein einziges Mal auf drei Tage nach Beeskow gefahren war, hatte er mit Schrecken bemerkt, wie schnell, von einer Stunde gleichsam zur andern, solch ein Schiff, dessen Gang man vordem gar nicht gespürt hat, haltlos in der Dünung rollen und schlingern kann, wenn nervöse und ungeübte Hände sinnlos am Steuer herumfingern. Und damals hatte das Schiff doch nur eine zwiefache Bemannung; heute aber, da es drei trug, und der dritte Passagier sozusagen ständig seekrank war, jede halbe Stunde Bedienung und Umbettung, Beruhigung, Luft auf Verdeck oder besondere Schonung, Schlaf oder Wachen forderte, und, wenn ihm etwas nicht gefiel, außerdem noch brüllte, bis er braunrot wurde, und dadurch Verwirrung stiftete und Angst um sich verbreitete: was hat denn das Kind nur? ... und all dem Annchen wirklich nicht gewachsen war ... nicht aus Nachlässigkeit oder bösem Willen – es ging eben nicht ... jetzt aber wäre die Katastrophe noch viel schneller eingetreten. Seit Beeskow also war Pauline für Fritz Eisner mit einer Aureole umflossen, war ihm wie ein geheimer Verbündeter geworden, jemand, der ihn verstand, seine Leiden mitfühlte, aber diskret genug war, nicht darüber zu reden. Und es war ihm plötzlich aufgegangen, daß es für gewisse Dinge ganz gleichgültig war, ob man eine Höhere Töchterschule besucht hatte, oder Klavier spielen und Karmina dichten konnte, und, daß das eine Frau weder klüger noch umsichtiger machte, nur hilfloser und redseliger. Und außerdem in ihr die falsche Meinung aufkommen ließ, daß man doch eigentlich zu solchen niedrigen Dingen nicht geboren sei, und daß man deshalb etwas Unwürdiges täte, wenn man einfach das täte, was man gerade notwendig tun müsse. Auf Pauline rechnete Fritz Eisner jetzt – denn es war höchste Zeit. In einer Stunde kamen vielleicht schon die ersten Gäste; und vorbereitet war gewiß noch nichts – Annchen aber hatte sicherlich den ganzen Nachmittag zu tun gehabt, wäre nicht zum Sitzen, nicht zum Atmen gekommen. So war es immer.

Und der andere Vers im Distichon, der Annchens, sein und Little Dorrits Reich umschloß, war etwas größer. Hexameter und Pentameter waren ausgewechselt. Da war das Eßzimmer gleich, ziemlich dunkel, weil es im Knick des Hauses lag, ein Berliner Zimmer war, in der äußersten rechten Ecke ein Fenster hatte, und mit Lichtbrechungsverhältnissen rechnete, die es vielleicht auf andern Sternen gab, die auf unserer Erde aber nur in der Phantasie genialer Physiker bestanden. Aber der Baumeister hatte darauf keine Rücksicht genommen, und den Raum zudem mit einer Tapete beklebt, die im Muster den byzantinischen Granatapfel mit dem »Laufenden Hund« der alten Griechen vermählte, und die in der Farbe doch mehr an eine Moorleiche, denn, wie es vielleicht beabsichtigt war, an einen schönen alten Nußbaumschrank erinnerte. Daß auf einem solchen Grund die sonoren, glatten Eichenmöbel, die für Fritz Eisner ein kunstgewerblicher Freund entworfen hatte, sich besonders vorteilhaft machten, war kaum anzunehmen. Sie wirkten feierlich, aber beklemmend. Und dabei waren diese Möbel wirklich nicht übel. Mächtige Holzmassen (die alten Germanen verehrten ihre Götter ja auch in Eichenwäldern), und in der Zeichnung hatten sie sogar noch besser ausgesehen. Schmucklos, gut abgewogen, nur schwere Formen mit Bronzebeschlägen, schlicht oder behämmert, in Urlinien, wie die Ornamente auf Latêne-Töpfen und aus Mykene. Ein Büfett mit einem mächtigen Unterkasten und Fliesen; und dann kantige Säulen mit jonisch-ägyptischen glatten Kapitellen, die seufzend den Oberbau stützten. Stühle, ähnlich denen, auf denen Hegeso und andere göttlich-schöne Frauenbilder in schweigender Gelähmtheit, traumumfangen auf attischen Grabstelen sitzen ... und so fort. Jemand hatte den Stil als grönländische Frühgotik bezeichnet; doch das war gelästert. Eigentlich hatte der Künstler das Zimmer ja gar nicht für Fritz Eisner, sondern – und das war die Tragödie! – für sich selbst entworfen. Aber – wie das bei Künstlern so geht – es haperte dann mit dem Geld, es bauen zu lassen; und da hatte er dann die Entwürfe Fritz Eisner geschenkt. Der Künstler hatte die Möbel sozusagen mit Liebe für seinen Leib zugeschnitten, wie der Schneider ein Kleid. Zu jedem Stuhl, jedem Sessel, zu jeder Tischhöhe und jeder Schlüsselplatte hatte er sich Maß genommen. Und er war ein Riesenkerl. Als Mensch eine Symbiose zwischen der Cheopspyramide und dem Ulmer Münster, ein Walfisch, breit, groß und schwer – eine Tischplatte von normaler Dicke wäre zusammengebrochen, wenn er die Hand darauf gelegt hätte. Er brauchte fünf Zoll starke. Was sollte er mit so einem Eßzimmerstuhl machen? – Er benötigte eine Sella curulis, einen Gargantuasessel, wenn er sich da behaglich hinein setzen, schmausen und pustend weit hintüberlegen wollte. Und, wenn er oben einen Schnaps sich aus dem Büfett dann nehmen wollte, dann konnte er ruhig fast bis zur Decke herauflangen, sonst hätte er sich mühsam bücken müssen.

Aber von all dem war auf der Zeichnung nichts zu bemerken gewesen. Da sah das sehr hübsch, gefällig, gegliedert und harmlos aus. Es standen zwar ein paar Zahlen daran, sauber und originell hingemalt; aber das war nur Dekoration, verschönte gleichsam noch, hob den ornamentalen Reiz der Blätter. Nein, die Zahlen hatten gewiß gar keine Bedeutung. Fritz Eisner jedoch war eher gerade klein als groß, kaum über mittel. Und Annchen war ja, das war ihr Stolz – deswegen hatte man sie ja auch schon in einem ihrer Vorleben in der französischen Revolution guillotiniert – überhaupt ein Rokokopüppchen. Und als nun der Eichenwald in Eßzimmerform bei ihnen angerückt kam, da war das gewiß sehr feierlich und rührend, daß das nun ihnen gehören sollte. Aber sie verloren sich in den Sesseln, konnten auf keinem Stuhl sich anlehnen, sprangen nach den Schlüssellöchern in dem Schrank und oben im Büfett, verrenkten sich die Arme, wenn sie einen Tisch auch nur einen Zoll breit von der Stelle rücken wollten. Annchen meinte, es wären die schönsten Eßzimmermöbel, die sie je gesehen – aber sie bedrückten sie etwas. Sie hockte auf den großen Stühlen wie ein niedlicher Zwergpapagei auf der Stange, kam mit den Füßen nicht auf den Boden, und saß stocksteif; denn sonst hätte es doch ausgesehen, als ob sie in einer Badewanne läge. Aber originell waren die Stühle jedenfalls, und ihr Stolz; denn keiner von Annchens Bekannten, selbst die, die später geheiratet hatten, als das moderne Kunstgewerbe schon stärker zu grassieren begann, hatte Stühle, die annähernd so schön und schwungreich in der Linie waren; und gar die Sessel mit den Messingmonogrammen von Hausherr und Hausfrau waren in sich ein Unikum. Und, daß man an den Schräubchen, die sie hielten, leicht hängen blieb, und sich dann die seidenen Blusen zerriß, war doch nur ein kleiner Tribut, den man der Schönheit zollte.

Und auch in Bekanntenkreisen waren diese Möbel nicht nur ein vielbeachtetes, sondern geachtetes Kuriosum. Man selber mochte ja nicht in so etwas wohnen, dazu war man zu bürgerlich. Aber für Künstler, wie die, – mit solchen Verbalinjurien liebt man es derartige verirrte und abgehungerte Schafe zu belegen! – wäre das gerade das Rechte. Sie durften einfach gar kein anderes Eßzimmer haben. Denn, man muß ja nicht vergessen, daß um diese Zeit, um die Jahrhundertwende, deutsche Renaissance gemildert durch Muschelaufsätze im Abzahlungsstil, noch für alle Kreise bis dreißigtausend Mark Mitgift obligatorisch war. Und auch die Radierungen und Zeichnungen an den Wänden paßten vorzüglich dazu. Man erkannte zwar nicht recht, was darauf war; – aber in der Sezession wäre das nie anders. Und außerdem wäre zum Beispiel Liebermann sehr berühmt und wohl auch schön ... aber ihr Geschmack wäre es eben nicht.

Von all dem war der Salon, das heißt, das Wohnzimmer, die Gute Stube – Salon wäre bourgeoishaft gewesen – das Gegenteil; er war ein Liebesbrief sozusagen. Nicht etwa à la Pompadour ... mit Rokokoschnörkeln, Venussen und schnäbelnden Tauben über Eckspiegeln, und Amoretten, die Konsolen hielten, und schwellenden Polstern unter Aubussons, und Schreibsekretären aus Rosenholz mit Bronzeecken (nur für Billetdoux und galante Memoiren), Bergeren und Causeusen – die eigentlich Kußeusen heißen müßten – dieses wäre keine Zweckkunst gewesen, und hätte nur unlautere Nebenabsichten in den reinen Sinn getragen, der einem Möbel an sich inne zu wohnen hat, und der in den einfachsten Lösungen am klarsten sich zu verdeutlichen mag. Und es wäre deshalb von Fritz Eisner nur innerlich abgelehnt worden; wenigstens damals, als die Möbelfrage für ihn akut war. Annchen hätte sich vielleicht darin aus präexistenter Erinnerung heraus ganz gut behagt. Aber da sie damals noch in dem Stadium war, in dem sie alles schön fand, was Fritz Eisner schön fand, und noch nicht in jenem, da ihr das schon genügt hätte, um es häßlich zu finden, so hätte sie ebenso auch die Innenausstattung eines Wigwams begeistert. Überhaupt war sie für seelische Mimikry.

Nein, die Wohnstube oder der Salon war ein Liebesbrief, weil er ganz im Gegensatz zum Eßzimmer – nur aus Diminutiven bestand. Die Stühle waren Stühlchen; die Sessel schienen aus dem Gontardschen Puppenhaus gestohlen, das Sofa – ein kaum gepolstertes Bänkchen. Und der Tisch ließ sich nur von einem geübten Kennerauge vom Nähtisch unterscheiden. Verloren sich Fritz Eisner und Annchen in dem Mobiliar des Eßzimmers, so verlor sich der Salon unter ihnen. Selbst Annchen mußte die Beine über die Lehne hängen, wenn sie mal versuchte, sich nachmittags aufs Sofa zu legen. Richtig, es waren ja moderne Möbel, zweckentsprechend auf die einfachste Lösung gebracht, und ein echter Möbelarchitekt – Spezialität: Inneneinrichtungen – hatte dabei seine Hand im Spiele gehabt. Und ihre Brüder waren von rechts und links photographiert und ästhetisch in Zeitschriften dieser Art besungen worden. Aber die hier sollten eben etwas billiger sein. Nicht viel teurer als solche bei gemeinen Möbelhändlern, diesen Volksverderbern. Und da waren sie etwas dürftig ausgefallen. Holz ist teuer, und Stoff auch. Und Polsterung erst recht. Dabei kann man gar nicht sagen, daß alles erste Qualität war. Oder gar das Holz besonders kostbar ... etwa eine seltene Sorte von Palisander aus den schönsten Bergwäldern des östlichen Sumatra stammend ... im Gegenteil, es war ganz simples Buchenholz aus Tegel, das man rot gefärbt hatte. Und nach den Gesetzen der Komplementärfarben mußten die Bezüge natürlich aus grünem Tuch sein. Denn so will es die Harmonie.

Eigentlich konnte man wirklich gegen diesen Salon nichts sagen. Aber für ihn noch weniger. Er fror Sommer wie Winter, klein und dürftig, mit seinen steifen Stühlchen und den Puppensesseln und den Tischchen aus gefärbten und polierten Eierkisten, ganz schwächlich und müde in einem halbhellen Raum. Man mochte es gruppieren, wie man wollte: jedes Möbelstück stand für sich und schlotterte ordentlich in den Gelenken, so fror es. Und durch den Flügel am Fenster – Annchens Stolz und Labsal – ein alter, schwarzer, ererbter Koloß, abgespielt im Diskant, aber schön in den Bässen, wurden sie nur noch puppenhafter. Und die paar Bilder an den Wänden, in simplen Goldleisten, Arbeiten eines Jugendfreundes, dessen hohe Begabung auf dem schmerzhaften Weg über die Berliner Akademie innerhalb eines Jahrfünfts kurz und klein gebrochen war, Landschaften: Frühling, Buchenweg, Klippe im stahlgrauen Gewitter tüchtig und nüchtern dabei ... schienen hier genau so, wie die Stühle und der Tisch Zweckkunst, aller Laune, aller Wärme entkleidet, frostig und lehrhaft, wie Lesestücke für Quartaner in Bildform. (Nun gingen wir durch einen grünen Buchenweg, durch dessen hohe Laubwölbung das Gold der Sonne in einzelnen Strahlen fiel und runde Lichter auf den Boden warf, auf dem noch das welke Laub des vorigen Jahres ...) Fritz Eisner stimmten diese Landschaften immer traurig, denn er hatte an ihnen das erstemal erfühlt, was es bedeutet, über einen Menschen hinwegzuwachsen. Draußen aber, von der Loggia herab, über die Baumkronen fort, ging es stundenweit ins Land hinein, über die ganze breite Linie des Grunewalds hin, mit untergehenden Sonnen allabendlich, unendlich in Luft und Licht. – Nicht Dresden und Amsterdam hatte eine so schöne Kollektion von Radierungen des Herkules Seghers, wie es diese ungezeichnete Privatsammlung hier barg. »Das Haus wird gelobt werden, von dem man einen weiten Blick hat!« Und den hatte man hier.

Demgegenüber ist weniger wichtig, daß das Schlafzimmer nebenan grün war und schon verblaßte (da Kiefernholz sich schlecht einfärbt) und gleichfalls von der koloristisch-symbolischen Laune des Innenarchitekten ersonnen war; und daß im Arbeitszimmer, das wieder sich klein und eng hinten an das Eßzimmer anschloß, also gerade an der anderen Ecke der Wohnung, der Schreibtisch und der Bücherschrank und die Regale aus den Privatwünschen des Erbauers des Eßzimmers entsprossen waren. Was es wiederum mit sich brachte, daß für Fritz Eisner die Schreibplatte einen Fuß zu hoch war; und was weiter im Gefolge hatte, daß ihm beim Schreiben die Arme bald einschliefen, so viele Kissen er sich auch unterlegen mochte. Und was wiederum es bewirkt hatte, daß er sich eines schönen Tages eine Säge genommen, das Untier auf den Rücken gequält hatte, und ihm ritsche-ratsche die Klotzfüße abgesägt hatte. Jetzt konnte er zwar an dem Schreibtisch schreiben; aber er sah aus, wie aus dem Krüppelheim. Leicht und zierlich war er nie gewesen, doch nun lastete er fußlos wie ein Hünengrab auf dem Boden; und man konnte ihn nicht ansehen, ohne sich zu fragen: wann wird er durch die Dielen brechen?

Gegen die Chaiselongue aber mit dem Kelim ließ sich gar nichts einwenden; sie waren gemeinste Massenartikel aus einem Warenhaus; eine plumpe, unwürdige Pöbelei für einen feinfühligen Menschen, wie Fritz Eisner, der das Wohnen zu einer Kunst und einem ästhetischen Genuß ausgebildet hatte. Aber ... man mochte es sich eingestehen oder nicht: man konnte köstlich drauf liegen, ein Buch schmökern oder mit Little Dorrit spielen.

Und sonderbar: nicht nach der feierlich, sybaritischen Schwere des Eßzimmers, noch nach der komplementären Harmonie des Salons, sondern gerade nach der Chaiselongue und der biederen Rauheit des Kelims, dem Buch und Dorrit hatte Fritz Eisner Sehnsucht, als er die Treppen hinaufging. Er war reichlich müde und abgehetzt, wollte sich gern mal für eine Stunde gehören, ihm graute vor den Leuten; er hatte genug von dem Lärm da draußen, von dem Jagen durch die Zeitung; immer wieder heute das vergessen, was gestern war – und morgen wieder etwas Neues. Und was gingen ihn denn alle die Menschen an, die da nachher kamen? Nun ja, er hatte den und jenen ganz gern. Es waren auch wohl alte Freunde dabei. Und Annchen sagte auch: ›man müsse sie endlich mal bei sich sehen – solange wäre es nicht gegangen – und man lebe doch nun mal in der Welt, und wenn man das wolle (was das Das war, war nicht genau zu definieren), könne man gleich in ein Kloster gehen‹ ... Aber nur einmal, eine Stunde, einen Tag, einen Monat, in diesem Leben sich selbst gehören! Und, hingegeben, die Dinge aus sich herauswachsen und sich formen lassen, nicht so kärglich sich das immer nur abjagen müssen. Früher hat man gelebt wie ein Hund, heulend vor Einsamkeit, jahrelang in Fünfzehnmarkbuden hier draußen ... und es war nicht recht. Man hatte von Gemeinsamkeit und Zweisamkeit geträumt. Und jetzt war man hineingezogen in dieses Räderwerk, das sich Familie, Leben, Beziehungen, Beruf nannte ... und es war auch nicht recht. Er wohnte natürlich ganz oben. Und das war ihm angenehm so. Nur keine Leute, die einem über dem Kopf herumtrampeln. Und dann sah er vorn direkt ins flache Land, über die Baumwipfel fort, die jedes Jahr etwas heraufrückten. Man konnte im Sommer denken, daß man in einem Vogelnest saß, wenn man auf der Loggia war. Und wenn der Wind über die Wipfel fuhr, daß sie schwankten, so konnte man glauben: man schwanke weit oben in der höchsten Spitze in seiner luftigen Wiege.

Pauline hatte sich schon in Weiß geworfen. »Sie kommen sehr spät«, sagte sie, sonst nichts.

»Ach, wir werden schon noch fertig!« sagte Fritz Eisner. Und dieses Mal war das Wir wirklich nicht pluralis majestatis. Denn wenn's drauf ankam, konnte Pauline die Hände laufen lassen wie ein Flügelrad. Und jetzt ging es drauf und dran.

Auf dem Büfett standen schon die Teller in Bergen. Klein, groß, mittel, das gute und das Alltags-Geschirr ... was da war. Und die Messer und Gabeln lagen in den Körben, und die Tassen waren im Hintergrund gestapelt. »So, Pauline, nun packen Sie alles aus, ich komme gleich wieder herein! – Kommst du mit ins Schlafzimmer rüber, Egi, oder willst du lieber gleich den Brief aufsetzen, dann geh drin an den Schreibtisch. Nimm keinen Bogen mit Aufdruck, die Bogen ohne Aufdruck sind oben links im Rollpult.«

»Gewiß«, sagte Egi und reichte Pauline, nicht ohne wenigstens mit den Augen ihrer drallen und schnippischen Lustigkeit zu huldigen, (man denkt immer die Männer schlafen, aber sie schlafen nicht, keiner schläft, nicht der verträumteste), gab ihr sehr langsam seine Pakete, nestelte sie so los, daß sich irgendwie ihre Hände unbeabsichtigt berühren mußten und lächelte dabei still und unrasiert vor sich hin. »Gewiß, nicht wahr, Pauline?« Und Pauline hatte ihm doch gar nichts gesagt. »Wenn du aber meinst, werde ich doch erst den Brief an diese Leute schreiben.« Und damit ging er hinter ins Arbeitszimmer.

Richtig, die Rosen ... für Annchen! Beinahe hätte ich sie vergessen. Die ganze Zeit hatte man vom Schlafzimmer her nämlich ein eigentümliches Geräusch gehört, das zweifellos aus menschlichen Kehlen kam; sogar der Höhe nach aus weiblichen. Es war von Gelächter und Gekrähe unterbrochen. Und eine dieser beiden Stimmen bediente sich hin und wieder, wenn auch zusammenhanglos, gewisser Worte, die wenigstens in den Stämmen, aber sicher nicht in den Zusammensetzungen und Abwandlungen entfernte Ähnlichkeiten mit solchen der deutschen Sprache hatten, während dann eine ganze Weile andere Laute oder vielleicht auch Worte folgten, deren Zugehörigkeit zu irgendeinem bekannten Idiom kein Mezzofanti, der an siebenzig solcher kannte, hätte feststellen können. Annchen war über den Wickeltisch gebeugt, in dem rosigen Licht von draußen – wie lange es heute hell blieb! – in einer rosa Matinee mit vielen Spitzen, ein besonderer Stolz ihrer Aussteuer, der in klugem Vorbedacht schon auf passive Wochenbesuche einst gewählt worden war. Und auf diesem Wickeltisch räkelte sich, auf dem Rücken liegend, Dorchen, bekleidet mit einem Zahnring, lachte, krähte, kakelte für sich, streckte die runden, kurzen Beinchen mit den Zehen nach dem Mund und strahlte selig aus großen schwarzen Augen, wenn es einen erwischt hatte, und riß Annchen dabei in den Haaren, ... denn damals trug man solche Löckchen auf der Stirn. Und Annchen tippte in den kurzen Abständen eines Pizzicato ihr mit dem spitzen Zeigefinger auf den Bauch und redete unendlich schnell das Kauderwelsch jener Sprache, in hohen quieksenden und lachenden Fisteltönen, die kein Sprachforscher je hätte enträtseln lernen oder verstehen können, ja, die wohl in den genauen und logischen Begriffen und Bindungen sie selbst nicht verstand, die aber Dorchen fließend beherrschte und bis in die letzte belustigende Nuance nachempfand. Ein Mann mit einem kleinen Kind ist immer ein wenig deplaziert; jeder Mann, auch der eigene Vater, wirkt etwas wie Josef; aber über das dreckigste, roheste und verkommendste Frauenbild mit einem Kind zittert Wehmut, Lächeln und die Göttlichkeit aller Marien. Denn jede Frau und jedes kleine Kind sind verbunden, verknüpft, sie gehören zusammen, als ob sie es noch im Schoße trägt, als ob sie noch eins und beieinander sind, nur räumlich entfernt; aber was ist ihnen Raum? Jede Sekunde überschmiegen und überfliegen sie ihn, und Herz und Seele des einen flüchtet sich in die des anderen. Und gar solche jungen Mütter! ... immer sind sie bildhaft, Ergänzung zueinander.

Mann und Frau mögen gegeneinander noch so hart kämpfen: sie gehören zusammen wie zwei Bildhälften, bluten immer, wenn sie sich auseinanderreißen. Frau und Kind gehören ebenso zusammen; auch Mann, Frau und Kind tun es noch, schmiegen sich ineinander in natürlichen Linien. Aber ein Mann und ein Kind ist stets verbindungslos, ein Nonsens, etwas Künstliches, das nicht zusammenpaßt: nie empfindet man so die Plumpheit des Mannes und die Hilflosigkeit des Kindes. Man glaubt ihnen die Brücken nicht. Und sie glauben sie selbst nicht. Man sehe nur, wie dumm so ein Mann ist, wenn er ein Kind halten soll, und wie angstvoll ein Kind, wenn es sich ihm anvertraut fühlt.

Annchen war ja eigentlich gar nicht so jung, als sie heiratete; sie war nur mit dem Kind wieder rührend jung geworden. Und außerdem war sie von einer nicht alternden Rasse, die nie über eine gewisse Stufe der Kindlichkeit hinwegkommt. Ich weiß nicht, ob auch andere solche Menschen kennen; mir sind sie jedenfalls oft begegnet, Männer wie Frauen. Sie sind stationär, geistig wie körperlich, in einer gewissen erstaunlichen Jugendlichkeit. Man kennt sie zehn, zwanzig, dreißig Jahre, sie bleiben unverändert, entfalten sich nie, werden nie reifer oder älter, dann aber gleichsam über Nacht schrumpfen sie ein, verbittern, verkrusten, verkrumpeln, verhärten, innerlich und äußerlich, wie Kamelienknospen, die nicht geblüht haben und nun plötzlich abfallen wollen, – aber bis dahin eben noch als Knospen zählen. Aber nun hatte sie auch viel und schwer durchgemacht, und das lag noch wie ein Schleier von Anmut und Wiedergegebenheit über ihr.

»Höre mal«, sagte Fritz Eisner, »ich glaube, du mußt dich umziehen!«

»Du siehst doch, daß ich das Kind zurechtmache«, meinte Annchen leicht gereizt und schon mit Tränen an den Wimpern. »Ich kann mich doch nicht zerreißen!« Aber im gleichen Augenblick begann sie wieder auf dieser länglichen, rosigen Walze von Menschenfleisch mit den Fingern ihr Pizzicato zu spielen, und mit einer Reichstagsstenographengeschwindigkeit (dreihundert Silben in der Minute), eine längere Ansprache an das quietschende und kakelnde Wesen zu halten in jenem Idiom, das mit seinen reichen Schnalz- und Quäklauten kein Mezzofanti selbst verstanden hätte.

Und auch Fritz Eisner vergaß ganz seine Eile und was es noch alles zu tun gab, und beugte sich gleichfalls über den Wickeltisch. Das Kind aber wandte den Kopf mit den runden, schwarzen Augen ihm zu, mit einem Blick, der deutlich sagte – ach Gott, nochmal, da ist ja diese komische Sache, mit der Haarbürste im Gesicht, schon wieder, dieses Etwas, das so ganz anders riecht, als dieses andere Etwas, von dem aber trotzdem gleichfalls anzunehmen ist, daß es hier in meinem Hause, bei mir, zur Erhöhung meines persönlichen Wohlbefindens angestellt ist. Nur scheint es einen weniger wichtigen Posten zu bekleiden. Naja, guck du nur! Hab' ich nicht recht? Es scheint angenehm davon berührt zu sein, wenn ich freundlich zu ihm bin, und angstvoll Zischlaute auszustoßen, wenn ich es anbrülle. Beide Dinge jedoch, das mit der Haarbürste und das ohne, scheinen wieder dem Wesen mit der weißen Schürze unterstellt zu sein, das mich tragen muß, wenn ich nicht einschlafen will, das sich immer vor meinen Wagen spannt und die Flaschen an die Backen halten muß, um dafür zu sorgen, daß ich die Milch nicht zu heiß bekomme.

Fritz Eisner aber brachte immer wieder vorsichtig und spielend die kühlen, halb offenen Rosenschnäbel gegen die kleine Nase, als ob das Kind daran riechen sollte, und in seinem Blick stand: solch Kind ist doch etwas zu Merkwürdiges – beglückend, zerbrechlich aber eigentlich unheimlich. Das lebt nun. Und wenn man ganz gewiß der Vater ist, man versteht doch nicht recht, wie man dazu kommt, und was man damit soll. Ehe, Vatersein, Familie haben, alles kommt einem doch nur so vor, wie ein Spiel, wie ein Traum, nicht Ernst, ganz und gar unwirklich, ein Ziel irgendwelcher Art, das man, ohne uns zu fragen, für uns wählte. Es mag reizend, rätselvoll, erschütternd sein: aber was habe ich, mein letztes Ich dadrin, damit zu tun?!

Ja – und was dieses Etwas jetzt da in der Hand hat und mir mit auf die Nase stukt und Hatschi, Hatschi! dazu schreit, das riecht nun wieder auch ganz anders wie der Streupuder. –

»Wo hast du denn die Rosen her?« fragte Annchen plötzlich sehr erstaunt und hielt einen Augenblick in ihrer Daueransprache an Little Dorrit inne.

»Die hab' ich dir mitgebracht, liebe Frau!«

»Ach, wie nett«, rief Annchen beglückt und griff sogleich mit beiden Händen nach ihnen. »Die sind ja entzückend.« Aber insgeheim klang doch etwas mißtrauisch dazwischen, als hieße es: was ist los, daß du mir Rosen mitbringst?

»Höre mal«, begann Fritz Eisner wieder, ja wie sollte er das am besten seiner Frau beibringen, es würde Jammer und endlose Tränen setzen, und der ganze Abend wäre hin. »Eigentlich wollte ich es dir erst morgen sagen: ich dachte, es könnte dir heute irgendwie den Tag verstören; aber da ja deine Mutter kommt, so würdest du es ja doch heute erfahren und deshalb ...«

Annchen war schon wieder mit Dorrit beschäftigt; und sie hatte eine kleine Merkwürdigkeit, einen leichten geistigen Defekt, wie sie sagte – sie konnte nicht zwei Dinge auf einmal tun: reden und hören, oder hören und reden, oder lesen und hören; eins drang dann nicht in ihr Hirn, blieb draußen, der Schalter war abgestellt. Und da Annchen jetzt wieder mit Dorrit schäkerte und sie wie ein Bäcker den Teig zu einem Fünfgroschenbrot unermüdlich hin- und herrollte auf dem Wickeltisch, – eine Massage, die Dorrit jeder anderen, selbst dem Kitzeln an den Füßen vorzog, – so hatte sie, (und das war gut so), keineswegs alles verstanden, was ihr Mann gesagt hatte, sondern nur irgendwie aus der Klangfärbung entnommen, daß es da etwas Besonderes gäbe.

»Ja, also deine Mutter will nun, wie mir Egi sagte, – er schreibt nebenbei drin einen wichtigen Brief, – heute noch nach Melsungen fahren. Weil nämlich Tante Trautchen plötzlich erkrankt, ja wohl schon ...« meinte Fritz Eisner zaghaft, »Gott, sie war ja hoch in die ...« versuchte er abzuschwächen, trotzdem er sich innerlich sagte, daß das doch nur ein sehr dürftiges Argument gegenüber der Grausigkeit plötzlich schmerzvoll zerrissener Familiengefühle war. Und die waren gerade bei Lindenbergs sehr fest, sehr heilig, sehr zärtlich und sehr wortreich.

»Ach, das gute, arme, alte Tier ist nun auch tot«, rief Annchen lachend und piekste dann unvermittelt Dorrit mit spitzem Finger auf den runden Bauch. »Kieks!« – »Gott«, sagte sie dann, und stellte langsam den Gefühlsschalter auf Schwachstrom um, »sie war nebenbei eine Riesenkanaille ... Also Klatschereien hat sie gemacht. Du weißt doch, mit Hannchen damals! Und dabei haben wir euch noch nicht mal alles erzählt. Es war teilweise beim besten Willen nicht zu erzählen. Und voriges Jahr wieder, da hat sie über mich in Melsungen die ungeheuerlichsten Dinge verbreitet. Ich sehe gar nicht ein, wozu Muttchen dahin fährt.«

»Ihr sollt aber, wie deine Mutter meint, und sie behauptet, daß sie es mit ihren eigenen Augen im Testament gelesen hat, sogar sehr ordentlich von ihr geerbt haben!«

»Ach«, meinte Annchen ungläubig. Aber, da sie es stets liebte, ihre Wünsche schon als Wirklichkeiten zu sehen, so kämpfte sie diesen Zweifel sehr schnell in sich nieder. »Ja, Tante Trautchen war immer eine liebe Person«, sagte sie schluckend und gerührt. »Was habe ich früher für reizende Monate bei ihr verbracht. Na, du hast sie ja in ihrer besten Zeit nicht mehr gekannt. Da war sie schon durch diesen Kerl verdorben. (Wer dieser Kerl war, wußte Fritz Eisner nicht genau, aber er hatte mal etwas von einem abgeschminkten Mimen läuten hören, der von einer Wandertruppe in Melsungen und bei ihr hängen geblieben war ... Man hatte nämlich in der gegnerischen Familie viel Herz fürs Theater, das Fritz Eisner haßte.) »Wenn ich nicht hier angebunden wäre, Dorchens wegen, möchte ich eigentlich auch zur Beerdigung fahren.« Hier trat in Annchens steigender Rührung eine kleine Unterbrechung ein, und es kam mehr der Märtyrereinschlag zur Geltung. »Aber – wenn man verheiratet ist, hat man eben kein Verfügungsrecht mehr über sich.«

»Hör mal, mein Schatz«, unterbrach Fritz Eisner (denn gerade bei diesem Thema war mit längeren Ausführungen zu rechnen), »du mußt dich aber bald umziehen. Nimm dir von Pauline ein blaues Waschkleid und frisiere dich anders. Die Haare glatt rausstreichen und oben einen Dutt. Du kannst vielleicht auch eine weiße Haube aufsetzen, wenn du willst, oder einen großen Kamm in den Dutt stecken. Das genügt. Und eine große, weiße Schürze mit dem Schlüsselbund. Und dann sieh mal, daß du dich noch drin um etwas kümmern kannst. Ich muß noch 'ne ganze Menge holen. Und in einer Stunde spätestens sind doch die ersten Leute da. Und weißt du, mach' ein bißchen das Fenster da auf. Es riecht eigentlich multrig hier, nach roten Rüben, nicht wie im vierten Stock, sondern wie im Keller. Draußen ist wundervolle Luft. Ich verstehe gar nicht, was das ist. Da kann es doch nicht durchregnen. Da geht doch die Tapete über dem Wickeltisch ab. Und es ist ganz wie feucht und grau. Ich glaube, man sollte den Wickeltisch doch lieber nicht an eine Außenwand stellen!«

»Aber wo soll er denn sonst hin? ... in dieser Wohnung!« rief Annchen. Denn sie hatte aus tausend Gründen einen Dégout gegen die Wohnung. Sie war ihr nicht fein genug. Während Fritz Eisner mit ihr recht zufrieden war, und es überhaupt als ein nicht genug zu bestaunendes Wunder empfand, daß er eine richtige Wohnung von vier Zimmern hatte, in der er von einem Zimmer zum anderen gehen konnte, ohne von der Zimmervermieterin einen ernsteren Verweis zu erhalten; und daß er bisher immer, wenn auch nicht ganz pünktlich, die Miete bezahlt hatte. Und außerdem: wie konnte eine Wohnung häßlich sein, die eine so köstliche Aussicht hatte, und gleich mit solch einer Masse Himmel dazu, wie man in Berlin in zwanzig Straßen nicht hat.

Aber heute wollte er das Thema nicht von neuem mit Annchen zur Debatte kommen lassen. Sie begriff das doch nicht. Entweder wohnte man so, wie es einem Menschen zukommt: im Sommer in einem alten Landhaus mit einem alten Park, und im Winter dann in seinem Stadthaus mit den hohen Empirefenstern, die es innen ganz hell und weiß machen, wie einen Schneetag, wie ein Bild von Hammershoj. Oder aber, es war völlig gleichgültig, wie man untergebracht war, wenn die Nachbarn einen nicht zu sehr belästigten, man es leidlich warm kriegen konnte, ein Bett zum Schlafen, einen Tisch zum Schreiben, einen Platz, um gemütlich ein Buch zu lesen hatte, und vor allem ein Fenster, durch das man in die Welt hinaussah, und das einen jederzeit darüber belehrte, daß Erde, Luft und Wasser noch vorhanden war, auch wenn man nicht bei ihnen war. Und all das war doch hier geradezu vorbildlich vereint. Das andere, um das Annchen sehnsüchtig und wortreich rang, das Zimmer mehr, die Zentralheizung, der moderne Komfort, das Haus mit Fahrstuhl waren doch nur Schattierungen einer bürgerlichen Dürftigkeit, die ernstlich nichts bedeuten. Das jedoch sah Annchen nie ein. Und es war unklug von Fritz Eisner, einem Gespräch dieser Art, wenn er es lawinenmäßig heranrollen sah, nicht auszuweichen. Vor allem jetzt, da sie wirklich keine Zeit mehr zu diesen Diskussionen hatten. Und so ging Fritz Eisner zur Tür.

»Leg' dann aber bald das Kind hin und mach' dich fertig, mein Liebling!« sagte er, »du mußt dich doch auch noch etwas um die Dinge kümmern!«

»Hinten liegt ein Brief und ein Paket für dich, von einer Zeitung«, rief ihm Annchen nach.

»So?« – meinte Fritz Eisner langgezogen (wirklich, das war nicht schön!).

Pauline war Feuer und Flamme. So etwas lag ihr. Machte ihr Freude. Es stellte sich bald heraus, daß sie, was eine Destille anbetraf, eine viel bessere Milieukenntnis hatte, als Fritz Eisner. Auf dem Büfett und der Anrichte hatte sie schon kenntnisreich ganze Schanktische zusammengebaut mit allem Schönen, das Fritz Eisner herangeschleppt hatte; Sardinen-, Sylt- und Heringsdosen geöffnet; an die Zigarettenschachteln sogar Schildchen mit phantastischen Preisen geheftet; und eine Terrine für die Knobländer in die Mitte gestellt. »Hätte ich das gewußt«, sagte sie, »so hätte ich ja Königsberger Klopse und kalte Bouletten gemacht. Und Weißbiergläser hole ich auch noch herum. Da koche ich eine Zwiebel mit, dann sehen die harten Eier aus wie Soleier.«

Sogar die Likörflaschen hatte sie schon alle aufgezogen, den lichtgrünen, der wie Curaçao schmecken sollte, den braunen mit den durchsichtigen Rembrandtlasuren, den himbeerfarbenen (mehr für die Damen), und den glashellen, scharfen, luftklaren, Scheidewasser für ausgepichte Kehlen – brrr! Das war doch wirklich noch nicht notwendig. Sie hätte es auch ein wenig geschickter machen können; muß wohl hie und da etwas vergossen haben. Man kann eigentlich nicht sagen, daß viel fehlt. Aber die Flaschen sehen nicht mehr so ganz gefüllt aus. Schade drum!

Und auch an die Ausschmückung war sie mit einer Sachkenntnis herangegangen, die von vielen Tanzabenden bei Schramm und Kreideweiß Zeugnis ablegte. Papier-maché-Reliefs hatte sie mit Reißzwecken über die Radierungen von Liebermann gepinnt, als ob sie damit beweisen wollte, daß die offizielle Kunst über die Rinnsteinkunst triumphiere. Und mit Egis Hilfe wohl – anders war es kaum zu denken – hatte sie auch schon die köstlichen Papiergirlanden mit ihren blauen und roten Rosen, in Strahlen von der Messingkrone ausgehend, durch den Raum gezogen. Und die Plakate »Frisch eröffnet« und »Herzlich willkommen« prangten schon über jeder Tür. Und wo es eine Ecke gab, an den Mammutmöbeln des Eßzimmers und an den komplementären Puppenmöbeln der guten Stube, da war sie von schwarzweiß-roten Fahnen mit Eisernen Kreuzen und Adlern geschmückt. Und zwischen den Papierrosen und an der überschüssigen Schnur, die man durch das Arbeitszimmer geleitet hatte, waren schon die bunten Lampions aufgehängt. Nun ja, Fritz Eisner sah es selbst ein: er hätte vielleicht noch ein halbes Dutzend mehr nehmen sollen. Aber ein Lampion, der erleuchtet ist, macht ja dreimal so viel von sich, wie einer, der noch nicht brennt. Und so wird es wohl nachher schon ganz gut aussehen.

»Ich stelle den Küchenstuhl später ... mit einer weißen Schürze dann vor die Wohnungstür«, rief Pauline; sie war hochrot, fuhr herum und kletterte auf die Möbel, um noch Staub zu wischen. »Damit die Gäste denken, es gibt auch frische Wurst.«

Was hat sie nun davon? Nichts, wie Arbeit. Muß draußen in der Küche nur das Geschirr spülen, während die drin johlen. Und ist doch mit Leib und Seele dabei.

»Ja, Pauline – was fehlt eigentlich noch? Wir müssen heruntergehen und sehen, ob wir drüben uns grüne Zweige räubern können. Denn das gehört dazu. Dann müssen wir noch gehörig Bierkannen uns heraufschicken lassen, aber ausmachen, daß wir die nicht-getrunkenen zurückgeben können. Die Wiener erst nachher warmmachen. Und – aber die Eier müßten jetzt hartgekocht werden. Und – ob der Wirt uns eine Kaiserbüste borgt und noch ein paar Mampe-Plakate bis morgen? Und ob er vielleicht eine weiße Schürze hat für mich oder eine weiße Jacke?«

Pauline sah ihren Brotherrn prüfend an. »Die Jacke von Reinecke wird Ihnen zu groß sein«, sagte sie langsam. »Ach nee, Sie haben doch wohl so ziemlich seine Statur.«

Das aber gefiel Fritz Eisner gar nicht. Wie alle Leute, die eher untersetzt, als schlank sind, sah er sich lieber mit einem Herrenreiter verglichen, als mit Gottlieb Reinecke, der die Kneipe an der Ecke Rönnebergstraße hatte, und manchmal wie der Swinegel im Märchen vor seiner Tür saß, und wenn auch nicht wörtlich, so doch deutlich genug: ick bin all do! zu sagen schien.

»Hör mal«, rief er zu Egi hinein, der mit gebeugtem Rücken vor dem Schreibtisch kauerte. »Hör mal – eigentlich sollte man eine gelbe Jacke haben, und ein schwarzes Käppchen. Und dann könnte man als der Wirt Kanaillenvogel aus Glasbrenners ›Nante vor Gericht‹ gehen. ›Herr Kriminell, ick melde – ich habe mir gemolden!‹

Aber Egi konnte zugleich schreiben und hören und vielleicht noch eine Zeitung dabei lesen. »Ach«, rief er zurück, während seine Feder unentwegt weiterflog, »nur nicht literarisch ... das versteht doch keiner. Ein richtiger Wirt muß mit einer weißen Schürze, mit 'nem dicken Bauch und mit aufgekrempelten dicken Unterarmen begabt sein – das alles bist du ja.«

Fritz Eisner war ärgerlich hinter Egi getreten (dazu gab man sich die Mühe!). Ach, da lag ja der Brief und das Paket. Es war anscheinend – oder sagen wir ruhig: bestimmt, eine Absage von der Zeitung, der er die zweihundert Seiten gegeben hatte, die von seinem Roman schon standen. Na, man konnte ja daran natürlich noch nichts sehen. Es war ja höchstens erst ein Drittel der Arbeit. Ganz im Anfang. Es war auch eine Dummheit gewesen, es schon so unfertig anzubieten. Nun hatte man sich natürlich auch diese Chance verdorben. Wenn's überhaupt mal fertig wird, was höchst zweifelhaft ist, liest es doch der Mensch gar nicht mehr! Ach, was soll ich mir heute den Abend mit kaputtmachen. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich werde das noch früh genug erfahren. Und damit schob Fritz Eisner den Brief, den er aufgenommen hatte, uneröffnet in die Tasche und schloß das Manuskript in das Rollpult. »Wenn du fertig bist, kann ich das gleich mitnehmen«, sagte er zu Egi.

Wirklich – Egi war fertig. Er hatte in den paar Minuten ein ganzes kleines Buch mit A. B. C und Paragraph eins bis zwölf zusammengeschrieben. Er las es Fritz Eisner schnell und tonlos, um es selbst nochmal zu hören, vor. Zusagend war es – aber ganz sachlich; höflich – ohne sich etwas zu vergeben, oder gerade Befriedigung zu verraten. Sehr klug, sehr diplomatisch, sich alle möglichen, eventuell später bestreitbaren Rechte, an die ein anderer, als ein Jurist, kaum im Augenblick gedacht hätte, sichernd.

Fritz Eisner bewunderte immer Egi. Er sah aus, als ob er träumte und war sehr wach. Er sah aus, als ob er stets taub wäre und hörte verdammt scharf. Er sah aus, als ob er die Realitäten nie in Rechnung zöge, und ließ sie nicht eine Minute aus den Augen. Er sah aus, als ob ihn jeder einwickeln würde, ein reiner Tor, und er war unheimlich geschäftsklug. Vielleicht für Fritz Eisner etwas zu sehr.

»Na, denn nehme ich den Brief gleich mit«, sagte er; bei sich aber dachte er: nun bin ich aber neugierig, ob er die Sache in Angriff nehmen wird? Denn um eine so gewaltige Arbeit durchzuführen, oder auch nur zu beginnen – dazu ist er doch eigentlich schon zu herunter, zu verbummelt, zu lange aus der Bahn gerissen. Und wie soll er zu Hause, bei Hannchen und Frau Lindenberg, und all dem, was da an ihm zerrt, die Ruhe dafür finden. Aber ablehnen durfte er es keinesfalls. Das wäre noch unklüger gewesen, als es anzunehmen.

Pauline stand schon in der Tür mit zwei Marktkörben. »Es ist höchste Zeit, sonst machen die Läden zu.«

»Hör' mal«, rief Egi nach, während er zum Bücherspind ging, um da herumzunuschtern und nach etwas zu suchen, was er nicht kannte. Er las alles. Im Notfall auch den Fahrplan der Autobusse der Stadt Halle. »Hör' mal, was ich dir noch sagen wollte: den Rosenlikör hätte ich aber nicht genommen. Der schmeckt wie sehr wenig Sprit, sehr viel Syrup und noch mehr rote Farbe. – Das ist nichts. Die anderen sind schon besser!«

Ja, unten war es noch nicht ganz Abend. Wie lange es doch schon hell blieb. Ein grauer, unendlich weicher, sinnlicher Flor lag in den gartengrünen, baumbestandenen Straßen. War erst noch alles scharf und umrändert in den Formen gewesen – jeder Ast und jeder Erker und Balkon, jede Dachrinne wie bei Mondlicht – so schwamm jetzt alles, verzitterte in der grauen Weichheit. Fabelhaft, wie die Natur hier draußen in Friedenau Corot studiert hatte. Sie mußte direkt nach Paris gefahren sein. Wo anders kann man das gar nicht so gut. Hundert Bilder von ihm, und nicht eine der so häufigen, plumpen Fälschungen: entweder zu dünn oder zu dumm oder zu gut; nein – alles ganz unantastbar. Nur die Signatur fehlte. Sieh nur mal den Baum da draußen, mit der zerfaserten Krone im Feld. Und das graue Häuschen, ganz schlicht zwischen den niederen Obstbäumen. Und drüben das ganze weite Land gar. Mit Busch und Alleen und Baumgruppen. Es spann sich ein ... in diese grauen, verschleiernden Spinnweben ein, und lockte ins Unbestimmte hinaus, atmete seinen zarten Duft herüber, der sich tausendfach mit dem der Rüstern hier mischte. Duft – nicht von Blumen, die gab es noch kaum. Vielleicht, daß ein Faulbaumbusch in der Gärtnerei schon blühte. Auch nicht von Erde. Die war hier nicht so schwer. Davon kam es nicht. Nein, des Abends duften einfach die Bäume im Frühling. Jeder Busch strahlt seinen eigenen Hauch in die Welt. Die Kornelkirsche anders, wie die Weichselkirsche; das Pfaffenhütchen anders, wie die Weide oder die Hainbuche. Die einsame Birke hüllt sich in eine Wolke von gegorenem Wein. Die Pappel mischt Harz und Honig. Die Eiche Heliotrop und die Schärfe von Säuren. Und die Rüstern – ja die riechen eben hellbraun, ganz durchsichtig-braungolden. Etwa wie schöne, alte Bilder. Anders kann man es nicht sagen. Und um alles zittert die Liebessehnsucht und die schwermütige Befangenheit. Ja, sie ist es selbst. Nichts anderes. Nirgends singen Nachtigallen. Wo sollten hier auch Nachtigallen sein? Das war früher mal. Aber die Seele ihres Gesanges ist trotzdem in der weichen Luft, gehört zu dem allen, und jede Sekunde kann sie da von hinten aus den Büschen mit so einem ersten purpurnen, samtigen Flötenlaut herüber locken. Und jetzt muß man zu Hause bleiben. Wie gut es doch die anderen da haben, die herausmarschieren. Nur die Wärme neben sich fühlen dürfen.

»Heute wäre so ein schöner Abend zum Spazierengehen«, meinte Pauline, sehr leise, als verriete sie sich.

»Gewiß«, sagte Fritz Eisner.

»Aber nich alleene«, meinte Pauline. »Wenn ich alleene gehe, wer' ich immer jleich traurig.«

»Ça dépend – man kann das auch, wenn man nicht ...« Fritz unterbrach sich: wozu?! – Ein Grammophon ist doch eine herrliche Erfindung, dachte er – ritsch, ein Griff und es ist abgestellt und spielt nicht mehr weiter. Aber der Mensch ist nun mal kein Grammophon. Und dann kann man auch jederzeit beim Grammophon eine neue Platte auflegen, während man ...

Herr Gottlieb Reinecke war erst ziemlich ungnädig. Aber so zehn, zwölf Kannen Bier machten ihn gefügig, trotz des Vertrages: Uneröffnetes wird zurückgenommen. Und Pauline konnte so schön bitten; mit Augen, von unten, aus der linken Ecke zu dem Vollmondgesicht herüber, und konnte ihm die humoristische Seite des Unternehmens so überzeugend darstellen, als ob sie sagen wollte: sehen Sie, lieber Herr Reinecke, diese Leute, die mir da anvertraut sind, sind doch eigentlich Kinder, nicht vernünftige erwachsene Menschen, die den Ernst des Lebens kennen, wie Sie und ich. Und wozu wollen Sie diesen Kindern das Vergnügen verderben?! Gewiß – ich an Ihrer Stelle würde ihnen ja die kostbaren Sachen auch nicht so ohne weiteres anvertrauen, aber ich, die Pauline, passe doch auf; ich übernehme die Bürgschaft. Und da sind sie alle genau eben so sicher, wie bei Ihnen, Herr Reinecke; und die Schürze wird auch ausgewaschen. Und der Kaiserbüste passiert nichts. Und den Weißbiergläsern auch nichts. Oh, da habe ich schon auf ganz andere Dinge geachtet.

Herrlich! Sie war dick mit körniger Goldbronze verschmiert, die Kaiserbüste. Und ein Plakat war auch da, von einem Bierkutscher mit Lederschürze, der spielend und lachend eine Tonne auf der Achsel trug. Und ein anderes, von einem ebenso dicken, aber bürgerlichen Mann, der eine Potsdamer Stange zum Mund führte, mit dem Behagen eines Grütznerschen Abtes. Und eine Inschrift in den launigen Versen der primitiven aber witzigen Volksseele, die besagte, daß man recht viel trinken, aber ja nichts schuldig bleiben sollte; und sie war zudem in einem eigens gefertigten Rahmen, der mit vergoldeten und versilberten Reiskörnern, Bucheckern und Erlenkätzchen beklebt war. Also das nahm man gleich mit. Auch die Büste. Sie war keine von den ganz schweren, nur so Größe drei bis vier, für Vereine und mittlere Säle. Aber das andere sollte denn sofort herumgeschickt werden, nach hundertachtzehn, drei Treppen.

Eier und Würstchen bezog man aber lieber bei dem Kaufmann Rösler auf Buch; eine praktische, aber etwas kostspielige Erfindung. Aber endlich muß man ja bei der Bank auch Zinsen zahlen. Und in welcher Form sie nun verbucht werden – ob direkt oder indirekt, mit kleinen Preisaufschlägen und Doppelnotierungen und strittigen Differenzen, das blieb sich ziemlich gleich. Der Mann wollte auch existieren. Und seiner schönen Augen wegen pumpte er Fritz Eisner und den anderen sicher nichts.

Ja nun aber kam der schwierigste Fall der Mission. (Richtig – Postkasten: Egis Brief! Schwimme Scholle nur hin ... so kommst du doch als Tropfen zum Meer!) Und der peinlichste. Denn bisher hatten die Handlungen sich durchaus innerhalb der nicht strafwürdigen bewegt. Aber das, was nun kommen sollte, mit Abschneiden von Zweigen und so – Pauline hatte eine Geflügelschere mitgenommen – wurde kriminell, grenzte an Feldfrevel. Und das stimmte Fritz Eisner plötzlich bedenklich. Dazu war es doch eigentlich noch zu hell. Zum Schluß kommt doch da irgendjemand den Weg hinten lang, der trompetet: ›Lassen Sie das!‹ Oder wie aus dem Boden gewachsen, steht ein puterroter Mann mit einer Schirmmütze vor einem, an einem unpolierten Bleistift leckend, und hat ein schwarzes Wachstuchnotizbuch in sehr schmutzigen Fingern und bläst einen an: wie heißen Sie?

Nicht, daß die Bäume und Buschketten, die die Grundstücke an den unbebauten Straßen einfaßten, etwa jemand gehörten, oder jemand Nutzen brachten oder irgendwie gepflegt waren – im Gegenteil, keine Seele kümmerte sich darum. Sie waren das ganze Jahr ziemlich ramponiert, zerfleddert und jämmerlich. Jedermann betrachtete sie als Freigut. Rinde war losgefetzt, halbabgerissene Zweige hingen von den Bäumen herab, an denen Kinder schaukelten, und die Pennbrüder hatten sich mit Latten aus zusammengebogenen Ästen, gerade wie Eichkätzchen, da ihre Nester gemacht. Der Boden war mit Müll, Porzellanscherben, verrosteten Sprungfedern, verbeulten Emaileimern bepflastert. Und doch wuchs unbekümmert in allem diesem Elend da Liguster und wilde Birne, Akazie und Weißdorn, Teufelszwirn und Heckenkirsche, Goldjohannisbeere und sogar Flieder. Und allerhand Zeug noch. Wuchs fröhlich durcheinander, und blühte genau so, wenn es zu blühen hatte, als stände es im schönsten Park, und würde alle Abend gesprengt, und alle vierzehn Tage geputzt und beschnitten. Und jeder, der vorüberging, riß sich dann endlich eine Faust voll herunter; – der erblühte Flieder überlebte nie den Abend. Aber gerade wenn sie, Fritz Eisner und Pauline, etwas davon holen wollten, würde es natürlich von irgendeiner Seite aus Krach setzen.

Doch Pauline wußte wieder Rat. Sie kannte einen Gärtner, zwei, drei Minuten weit draußen. Bei dem könnten sie sich, wenn er noch da wäre, von den Hecken abschneiden, so viel sie wollten; und wenn nicht – auch. Das würde sie ihm gegenüber schon verantworten. Und Fritz Eisner war eigentlich froh, daß er so noch ein Stückchen mit ihr gehen konnte, durch die graue, abendliche Luft, die kühl und sinnlich-warm zugleich war, genau so, wie sie traurig und zugleich beglückend war. Wie oft in seinem Leben, bis vor fünf, sechs Jahren, war er so neben einem Mädchen hergegangen. Redend – oder besser schweigend, untergefaßt, aneinander geschmiegt, oder besser noch getrennt und nur verbunden durch die geheimen, hin- und herübergleitenden Fäden, diese X-Strahlen. Und seltsam, er konnte das nicht mehr finden. Wie hatte er sich bei Annchen nach solchen Abenden gesehnt ... in ihrer knospenden Bangigkeit; aber sie war wohl nicht dafür. Und die Ehe wohl überhaupt nicht für so etwas ersonnen. Mit dem Tag gleichsam war es vorübergegangen, nichts in der Welt brächte ihm diese Unbelastetheit zurück. Hinten, am Ende des Weges, zwischen den jungen Lindenbäumen schwelte schon – tief hängend, übergroß und rötlich verlaufend – die doppelspitzige Sichel des jungen Mondes durch die Silberluft, matt eingezeichnet in die feinen Wolkenstreifen; und der Abendstern stand dicht bei ihr, ganz dicht und doch sie nicht berührend, wie ein Liebender; unirdisch groß und unirdisch hell, gleichsam verbrennend in seinem eigenen Glück. Sie verschwanden für Augenblicke hinter einer kaum belaubten Baumkrone, blickten über scharfe zackige Linie eines vorspringenden Astes, gewannen wieder den freien Himmel, und bargen sich von neuem, als ob sie da Heimlichkeiten hätten, in den schlanken Wipfeln einer Pappel mitten draußen im Feld ... blinzelten scheu um ihre Ecken und versteckten sich wieder – und dann traten sie plötzlich hervor, wie Hand in Hand in die Himmelsweite: die ganze Welt soll uns sehen!

Endlich ging es durch einen kleinen Seitenweg zwischen Bellis- und Stiefmütterchenbeeten, wie es Fritz Eisner schien, und Pauline pfiff und rief »Herr Leonhard!« – ob das ein Vor- oder Nachname war, wußte Fritz Eisner nicht. Und alsbald kam Gegensignal; und ein junger Mann in Kniehosen kam herangeschlendert, schlank und intelligent ausschauend, und schien ein wenig enttäuscht, daß Pauline nicht allein war, war aber im Augenblick ganz Weltmann, sprach sehr höflich und zuvorkommend, in einem gewählten, sogar etwas fremdländischen Deutsch.

Ob er Franzose wäre, meinte Fritz Eisner.

Nein, aber er hätte lange in Paris gelebt und in Brüssel und da gearbeitet. Aber leider könne er das hier alles nicht recht anwenden. In Berlin wäre man noch nicht so weit.

Ob man vielleicht nur ein paar grüne Zweige bekommen könnte? Und ehe sie sich versahen – Pauline brauchte ihre Geflügelschere gar nicht herauszuholen – hatte sie einen ganzen Arm voll der schönsten Dinge, sogar japanische Quitten dabei und Forsythien und lange Ruten mit kleinen weißen Bällchen, wie Perlmutterknöpfchen aus Oberhemden, und allerhand junges, lichtgrünes und rotbraunes Laub dazu.

»Oh – das wäre ja übergenug – was es kostet?!«

»Gar nichts, gar nichts, wirklich nicht einen Sous. Es hätte ja auch so abgeschnitten werden müssen.« Und höflich brachte Herr Leonhard noch beide den Weg herunter, bis an die gepflasterte Straße.

»Sie müssen mal am Tage kommen, mein Herr, und sich die Gärtnerei ansehen – da kann ich Ihnen mehr zeigen.«

Aber zu Pauline sagte Herr Leonhard gar nichts und doch war es ganz deutlich zu hören, daß es andere Stunden gäbe, wo sie ihm weit gelegener käme.

»So, nun aber schnell!« sagte Fritz Eisner plötzlich ziemlich schroff. Merkwürdig: alle Weichheit war von ihm fort, die Sehnsucht verflattert. Nichts von geheimen Fäden und elektrischen Wellen und X-Strahlen, von denen man jetzt so viel las. Der Mond da links drüben stand ja auch immer noch mit dem Abendstern zusammen ein wirklich seltenes Naturschauspiel. Ob vielleicht die ersten Gäste schon da waren? Vor halb neun kommt keiner. Eigentlich war es doch nur ein ganz netter Frühlingsabend, wie man schon sechshundert schönere erlebt hatte.

»Der Herr Leonhard«, sagte Pauline, »ist ein sehr feiner Mann!«

»Sehen Sie, da stecken sie schon die Laternen an!« meinte Fritz Eisner vorwurfsvoll. Was doch diese Feststellung über Herrn Leonhard keinesfalls entkräftete.

Oben war wirklich noch keiner von den Gästen, als sie mit der Kaiserbüste Größe drei bis vier, dem neckischen Spruch im neckischeren Rahmen, den gerollten Plakaten und den Armen voll blühender Zweige, sogar Kirsche war dabei, wie Fritz Eisner jetzt feststellte, atemlos ankamen. Annchen hatte sich ganz gut herausstaffiert als Frau Wirtin; so etwas lag ihr. Klein und dicklich sah sie aus – was doch so eine Schürze und so eine Frisur macht – sprach berlinisch und lachte. Und Egi hatte sich in die Rolle eines verkommenen Winkeladvokaten schon eingelebt, saß mit schiefem Kopf in einer alten, zerfetzten Kamelottjacke von Fritz Eisner, mit einem grünen Augenschirm, den er sich zurechtgeschnitten hatte, saß ganz verbogen und ein Bündel aktenähnlicher Papiere unter den Arm geklemmt, und kauderwelschte juristische Brocken daher. Hin und wieder sprach er auch mit ganz vertrunkener und vertränter Stimme lateinische und griechische Verse vor sich hin: Horaz oder Chöre aus Sophokles. Wo hatte er nur das gesehen? Es war eigentlich erschreckend echt. Eine Wasmannleistung.

Aber das könnten sie alles nachher weiter üben. Jetzt brauchte man sie noch; denn der Wirt müsse sich ja auch noch umziehen. Also die Bilder in der guten Stube ab und dafür die Plakate hin! Und die Kaiserbüste aufs Büffet, die Zweige in die Vasen und über die Türen und neben die Fahnen ... wo Platz wäre.

»Ja, das Bier wäre schon gekommen, und Egi hätte für den Hausdiener fünfzehn Pfennig ausgelegt.«

»Ob Annchen schon gesehen, was er ihr besonderes noch mitgebracht hätte. Nicht die Rosen – sie sehen nebenbei wunderhübsch in dem alten Rubinglas aus.«

»Was denn noch?«

»Nun, sie solle raten; aber sie hätten tausendmal davon gesprochen. Hier – endlich die Dingerchen für die Salzstreuer. Von Wertheim. Oben bei den Nickelwaren.«

»Ach, sind das die, die ich mir neulich habe zurücklegen lassen«, meinte Annchen leichthin. »Ich hatte nur kein Geld mehr, sonst hätte ich sie gleich mitgenommen.«

Fritz schämte sich. Er wußte genau, daß daran keine Silbe wahr war. Das war ja nicht schlimm. Es gab Ausreden, Notlügen, und sie hatten ihre gut berechtigten Funktionen. Aber er wußte ebenso genau, und das war schlimmer, daß im gleichen Augenblick Annchen fest davon überzeugt war, daß es sich so verhielt. Wenn er weiter dem nachgegangen wäre, so hätte sie ihm mit der ruhigsten Sicherheit hundert Einzelheiten davon erzählt. Womöglich Kleid und Nase des Verkäufers beschrieben, den Zettel in ihren Täschchen gesucht, auf dem er ihr den Auftrag bestätigt hatte. Und keine Macht der Welt, keine Folter hätte sie davon abgebracht. Die Grenze zwischen Erlebtem und Gedachten war bei ihr stets fließend. Eigentlich hatte Fritz Eisner heute eine kleine Tischrede gerade über diese Salzstreuer als ›Symbolum‹ – wie es in den alten Stammbüchern heißt – halten wollen. Aber nun war ihm der Spaß daran vergangen. Das würde immer das gleiche bleiben. Heute wie in zehn Jahren. Ja, da nur noch schlimmer als heute.

Aber dann müsse er sich noch ein bißchen umziehen.

»Er solle aber nur ja das Kind nicht aufwecken. Sie sei heilfroh, daß es schliefe. Es habe genug Mühe gemacht. Und nachher sei ihr wieder der ganze Abend kaputt gemacht.«

Oh, da klingelte es schon. Jetzt kamen die Ersten. Fritz Eisner floh ins Schlafzimmer. Viel war ja bei ihm nicht zu machen: ein Oberhemd, Ärmel aufgekrempelt, bis auf die Mitte der Oberarme, keinen Kragen, aber ein sehr deutliches, spitzes Kragenknöpfchen, eine weiße Schürze. Da lag sie ja! Und ein schwarzes Käppchen, mit Grün bestickt, das Annchen – sie war doch ein guter Kerl, dachte an alles – irgendwo aufgetrieben hatte. Ja, und dann sollte er an einer Kette einen Wetzstahl umbinden. Das trugen zwar nur die Schlächter, aber so genau nahm man es nicht. Zu komisch, dachte Fritz Eisner, während er sich im Spiegel von seiner neuen Schönheit überzeugte, wie sofort mit einer anderen Kostümierung eine andere Seele in uns einzieht. Er war plötzlich breit, faul, schwer, biergesättigt, fühlte seine Hände dick und groß mit Wurstfingern und jederzeit bereit, auf den Schanktisch zu hauen, und ging unbewußt mit angezogenem Hals, damit sich eine Speckfalte übers Genick zog, blinzelte mit trüben Äuglein aus geröteten, geschwollenen Lidern. Es wäre ihm gar nicht eingefallen, anders als »mir« zu sagen oder etwa: »Jungeken, Jungeken!« Und Beschimpfungen, die sonst nie in ihm waren, schienen ihm plötzlich geläufig, wie die Wacht am Rhein. Aas war ein Kosename, feines Aas Bewundern, dowes Aas die mildeste Form von Verächtlichkeit.

Ho, von da drin kam ja schon Hannchens, seiner Schwägerin, Stimme durch die Tür. Und die von seiner Schwiegermutter, Frau Luise Lindenberg. Hannchen hoffte, daß es noch für sie zu helfen gäbe, deshalb wäre sie etwas früher gekommen. Aber es wäre ja schon alles sehr schön. Beinahe fertig. »Ja, ich habe auch den ganzen Tag wie ein Wilder geschuftet«, rief Annchen.

Wo sie sich noch nützlich machen könne? Nein, sie würde lieber ... und zugleich hörte man, daß Hannchen sich zu betätigen begann. Denn das mußte sie, das lag in ihrer Natur. Sie war nicht einen Augenblick unbeschäftigt, ordnete stets bei sich und anderen Dinge, die ihr unordentlich schienen. Und brachte stets Ordentliches wieder in Unordnung. Sie tat das mit witziger Munterkeit, aber unter vielen Reden, Gelächter und Lobpreisungen ihrer eigenen Tüchtigkeit. Eigentlich war sie ein famoser Kerl. Nur schade, daß sie mit Egi so schlecht auskam. Das heißt: auf ihre Art hatte sie ihn vielleicht ganz gern; aber die Art war für Dritte wenig erquicklich. Wenn man jeden für sich hatte, waren es reizende Menschen; zusammen jedoch waren sie unausstehlich. Mit einer elektrischen Atmosphäre von Bissigkeit, Ironie und beabsichtigten oder unbeabsichtigten Mißverständnissen. Oder, was schlimmer war: von tiefer Gleichgültigkeit aneinander.

»Und die gute Tante Trautchen«, seufzte Frau Luise Lindenberg, »ist nun auch hinübergegangen!«

»Ja, denke dir!« sagte Annchen.

»Ich sehe sie noch vor mir, wie sie das letztemal bei uns war.« Jetzt war sie schon bei den gesprochenen Tränen. »Sie saß ... in dem großen Korbstuhl ... am Fenster ...«

Fritz Eisner fühlte, daß es höchste Zeit sei, hineinzugehen, ehe es zur Peripetie kam. Denn diese Lindenbergschen Familienszenen à la Steinmetzstraße waren berüchtigt und des Schluchzens und Muttchenrufens von rechts und links und der gegenseitigen Bezeugung ihrer Zuneigungen war dann kein Ende. Sie konnten aus vollster Fröhlichkeit – aequa mente – wegen der geringsten Kleinigkeit anheben. Ja, man brauchte eigentlich gar nicht zu erkennen, was sie hervorlockte. Plötzlich waren sie da. Und es war keineswegs anzunehmen, daß man hierorts gewillt war, eine so günstige Gelegenheit wie das Ableben Tante Trautchens ungenützt vorübergehen zu lassen. Und so stieß Fritz Eisner hastig die Türe auf und stand, breit, dick, aufgeplustert, mit der weißen Schürze, mit den bloßen schweren Armen, die ihm noch aus seiner Sportzeit geblieben waren, mit dem Käppchen und dem spitzen, beinernen Kragenknopf lang aus dem Oberhemd ... plötzlich mitten vor ihnen. Annchen rief »herrlich!«, Hannchen kreischte auf vor Vergnügen. Und selbst Frau Lindenberg lachte, trotzdem, wie sie sagte, ihr gar nicht so zumute wäre. Aber Fritz Eisner hätte seinen Beruf verfehlt, und, wenn es mit dem Schreiben nicht mehr ginge ... (als ob es nebenbei je damit gegangen wäre).

Frau Lindenberg hatte nun die schwarze Kapotte mit schwarzen Efeublättern und schwarzen Efeubeeren auf, die ihrem Schwiegersohn heute schon einmal aus dem Spiegel entgegengewinkt hatte. Aber auf dem rechten Ohr. Trotzdem sie sie mit breiten Bindebändern unter dem Kinn festgebunden hatte, hing sie doch schief. Auf ihrem Kopf saß nun mal kein Hut; gerade so wie auf ihrer Nase kein Kneifer. Und, da sie sehr schlank, sehr klein, dürftig, unruhig war, sich auch sonst möglichst schwärzlich gemacht hatte, und ein Cape, einen schwarz bekurbelten, ausgezackten Umhang – wie der Zephalothorax eines Herkuleskäfers – über einem schwarz-weiß-karierten Reisekleid trug, so sah sie etwas triste und unheimlich aus, so leicht nach Rattenmamsell. Aber sowie man sie sprechen hörte, sagte man sich, daß von Ibsen bei ihr eigentlich gar nicht die Rede sein könnte. Sie war doch kaum viel mehr als ein Dutzend Jahre älter, als ihr Schwiegersohn. Und doch hatte sie noch den ganzen Pathos und die große Geste schon vergangener Generationen in sich. Sie war die Rattenmamsell in Schillerscher Bearbeitung.

Fritz Eisner gab ihr die Hand. »Ich höre eben zu meinem tiefen Bedauern, daß die arme alte Dame, da in Melsungen ...« sagte er.

»Ja, so ist es«, meinte Frau Lindenberg, wieder ganz in die Abgründigkeit ihres Schmerzes vergraben, und fuhr dann im Tone leichten Vorwurfs, der deutlich unterstrich: »Seht ihr, ich opfere mich! Aber ich will von euch gar keinen Dank dafür!« fuhr dann fort: »Ich bleibe nebenbei nur einen Augenblick. Denn um elf Uhr geht mein Zug; mein Köfferchen habe ich mir schon auf die Bahn gebracht.«

»Sollte da nicht vielleicht auch einer von uns ...« meinte Fritz Eisner unschlüssig.

»Nein, laßt nur! Ihr seid entschuldigt. Das ist auch eher etwas für uns alte Leute. Ich hätte es euch früher telephoniert. Aber ich wollte Annchen nicht erschrecken. Und dann ist das beim Kaufmann Müller immer so unangenehm. Der hört bei jedem Gespräch genau zu. Ich habe nebenbei heute sofort an die Post geschrieben, wegen eines eigenen Telephons.«

»Ach, das ist ja entzückend, Muttchen!« rief Annchen und küßte sie stürmisch. »Dann kann ich dich immer bei allem sofort um Rat fragen.«

Auf diese Stellung eines sozusagen wirtschaftlichen Beirates legte nämlich Frau Lindenberg bei ihren Töchtern besonderen Wert. Und sie war sehr unglücklich, wenn sie etwa bei der schwierigen Lösung des Problems von neuen Wäschebändern, oder bei einer sonntäglichen Pute nicht vorher zugezogen wurde. Nicht nur, daß sie die Wäschebänder teuer und geschmacklos, und die Pute hart und knochentrocken fand, sie sprach dann auch gleich von einem zerrütteten Vertrauensverhältnis, während sie zu ihrer Mutter ... ja, noch heute könne sie nichts tun, ohne sich in Gedanken bei ihr Rat zu holen. – Wie überhaupt sie bislang nicht eine Minute seit ihrem Tode ...

»Ja«, meinte Fritz Eisner nachdenklich, »dann kannst du doch immer anrufen, bevor du kommst, damit du uns auch zu Hause triffst.«

Egi, der im Hintergrund einen Band Jerome-Jerome las, quiekte plötzlich still vor sich hin. Bei Familiengesprächen über seriöse Themen fehlte ihm meist der nötige sittliche Ernst.

»Und was Egi noch erzählt hat: daß Tante Trautchen dich und deine Kinder im Testament bedacht hat! Es wäre ja sehr reizend. Aber ich kann es doch eigentlich, da sie eine Tochter hat – ganz gleich, wie sie mit ihr steht ... zuletzt waren sie ja völlig ausgesöhnt ... eigentlich kann ich's nicht so recht glauben!«

»Nun gut!« sagte Frau Luise Lindenberg beleidigt. (Sie war das leicht.) »Dann lüge ich eben. Ich werde doch wissen, was ich mit meinen eigenen Augen gelesen habe!«

»Wieviel ist es denn, Muttchen?« rief Annchen.

»Gott«, meinte Frau Lindenberg, »als Vermögen mag es ja nicht viel sein. Aber, wenn man es erwerben müßte! ...« Das ging gegen Fritz Eisner, »... so ist es eine ganze Menge.«

Fritz Eisner wandte sich ostentativ an Hannchen. »Was treibt der Herr Sohn?« Er hatte doch immer den besten Willen, mit dieser älteren Dame gut auszukommen. Aber keine drei Minuten, da setzte es Spitzen; sie konnte nicht anders. Sie redete stets Wolfsgruben und Spanische Reiter.

Hannchen hatte ein altes, geblümtes Sommerkleid angezogen. Noch aus ihrer Backfischzeit her. Das heißt: eigentlich war es wohl mehr gepunktet, oder es konnten auch Streublümchen sein. Aber es war soviel gewaschen und gereinigt worden, daß man das so auf den ersten Blick gar nicht feststellen konnte. Und sie hatte dazu einen großen, gebogenen, sonnenverbrannten Strohhut aufgesetzt, an den sie von künstlichen Blumen sich aufgenäht hatte, was sie noch im Putzkasten gefunden hatte. Aber, da in allem ihr eine gewisse Leichtigkeit innewohnte, kein erlesener Geschmack gerade, doch so etwas, was man in den alten Berliner Couplets »Pli« nannte, standen ihr der Tuff Veilchen und der Tuff Vergißmeinnicht an den Seiten und die paar aufgehefteten Moosröschen auf der Krempe recht gut. Als was sie ging, war ihr wohl selbst nicht klar. Es sollte etwas sehr gewöhnliches sein; aber es war nicht ganz getroffen. Das lag ihr nicht. Mit ihren schönen kastanienbraunen Haaren, dem dünnen Hals, der hellen, schmiegsamen, weiten, verblichenen Seidenfahne, mit ihrer schlanken und flachbrüstigen Figur, mit den großen, feuchten Augen, sah sie wie ein Romney aus. Überhaupt war sie irgendwie ganz echt englischer Typ, im Gegensatz zu Annchen, die sich auf ihr geheimes Franzosentum, ihr Rokoko immer etwas zugute tat. Was natürlich eine durchaus laienhafte Ansicht von ihr war. Denn so eine Venus bei Boucher hat Oberschenkel, lang wie bei einer Heuschrecke, ein Schnuppernäschen und mindestens zehn Kopflängen, ist eine schöne, schlanke und doch rundliche, an- und abschwellend gedrechselte Menschensäule. Und all das stimmte bei Annchen ganz und gar nicht. Sie war nicht Rokoko aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie war Rokoko aus einem lebenden Bild von achtzehnhundertneunzig. Hannchen aber war echter. Sie konnte Miß Siddons des Reynolds sein, majestätisch, mit großen Federhüten; sie konnte auch Gainsborough sein, träumerisch und zart, in unbewachten Augenblicken. Und heute war sie Romney. Zwar nicht Lady Hamilton als Barmaid, als Nelsons Freundin, verderbte Unschuld mit dem Himmelsblick, sondern eher sonst irgend eine Erzieherin, die mit einem jungen Lord Stanford durchgegangen war, der sie sich zur Erinnerung an die schöne Zeit im Soho Square dem Modemaler vor die Palette gesetzt hatte. Romney. Aber nicht ganz. Vielleicht ein wenig mit dem hektischen Schimmer Rosettis untermischt. »Also was macht Ludwig das Kind, Hannchen? Ist er immer noch nicht Ludwig der Fromme geworden?«

»Dem Knaben gehören ein paar hinter die Ohren!« sagte Frau Luise Lindenberg. Sie sprach eigentlich lauter Rrrs, auch da, wo keine standen. »Ich werde ihn ja nicht anrühren, aber sein Vater sollte ...«

»Warum denn?« rief Fritz Eisner entsetzt, denn er war der vielleicht irrigen Meinung, daß eigentlich stets die Eltern die Prügel verdienen, die die Kinder von ihnen bekommen.

»Weil er einen Hang zur Unaufrichtigkeit hat, den man nicht frühzeitig genug bekämpfen kann. Und von meiner Seite hat er den Gott sei Dank nicht«, rief Frau Lindenberg ziemlich erregt. Denn sie hatte die Eigenheit, alles, was in der Welt gab – und sei es der Untergang von Herkulanum und Pompeji – nur auf sich zu beziehen, und außerdem war das wieder eine Wolfsgrube für einen ihrer Herrn Schwiegersöhne – dieses Mal für Egi.

»Ach, solch Kind!« meinte Fritz Eisner.

»Also ich suche gestern überall meinen silbernen Fingerhut. Ich rufe: Ludwig, hast du ihn? ›Nein, Oma‹, sagt der. Ich nehme ihn mir vor. ›Schau mir in die Augen und lüge nicht‹, sage ich da zu ihm; und er stellt sich wirklich vor mich hin und blickt mich groß an, und dann geht er ruhig in die Ecke und spielt weiter, als ob nichts geschehen wäre. Und womit, meint ihr, spielt er?! Mit meinem silbernen Fingerhut!«

»Aber das ist doch wirklich nicht so schlimm!« meinte Fritz Eisner. »Er hat das mit dem Ansehen gewiß auch nur für ein Spiel gehalten!«

»Und dann ist er so unmanierlich«, rief Frau Luise Lindenberg voll Abscheu und Emphase. »Er schmatzt und er greift mit beiden Händen in die Zuckerdose. Und der Vater, der lacht natürlich dazu.« (Denn die Art des Essens war für sie der einzige Maßstab, den sie an einen Menschen legte. Sie hätte einen Massenmörder begnadigt, wenn er sich geweigert hätte, bei der Henkersmahlzeit Fisch mit dem Messer zu essen.)

»Aber er ist doch noch so klein, noch nicht vier Jahre!«

»Oh«, rief Frau Luise Lindenberg, wiederum in noch gesteigertem Pathos, »klein? meine Kinder haben schon mit drei Jahren in Genf an der Table d'hôte mitgegessen.«

Egi war aus einem der Mammutstühle, in dem er lesend sich verborgen hatte, herangekommen, denn soviel hatte er doch gehört, daß es sich um seinen Sohn drehte.

»Nein, die Großmutter ist völlig im Bilde«, sagte er in seinem schillerndsten Ton. »Ich weiß das längst. Der Junge ist geistig und seelisch minderwertig.«

Es dauerte eine ganze kleine Ewigkeit, bis Frau Luise Lindenberg die Fassung wieder gewann. »Das habe ich aber wirklich noch nie bemerkt!« rief sie endlich mit dem tragischen Spott einer Rosa Puppe als Maria Stuart. »Eigentlich bist du es doch gar nicht wert, einen so entzückenden Jungen wie unseren Lulu zu haben!«

»Quod erat demonstrandum«, sagte Egi. Und wandte sich den Zigaretten zu, die auf der Anrichte standen.

Hannchen hatte wirklich zu tun, zu organisieren und ihr gefiel so manches nicht. An Egi hatte sie bisher ziemlich beharrlich vorbeigesehen. Wozu waren sie auch sonst verheiratet?! Sie sah eigentlich heute wunderhübsch aus: schlank und hager wie ein ganz junges Mädchen, mit geröteten Backen und einer leuchtenden Wärme in den Augen. Sie war ungewöhnlich lebhaft, geradezu aufgepulvert und vorzüglicher Laune (vielleicht schon auf die Erbschaft hin, dachte Fritz Eisner), denn es ist doch immer nett zu wissen, wenigstens auf ein, zwei Jahre aus der Misere heraus zu sein, und nicht jeden Groschen dreimal umdrehen zu müssen. Das unangenehme nämlich ist ja das Umdrehen des Groschens, und nicht das Ausgeben. Das ist sogar immer – so alt man auch werden mag – eine kleine Sensation; so ungefähr, als ob man ein Zündplättchen mit dem Hacken zerstampft. Man weiß genau, es ist kein Kanonenschlag, und keine Rakete; aber schon das Aufblitzen und leichte Knattern macht einem doch Spaß. Doch, wenn man schon sicher vorher weiß, wo der nächste und übernächste Groschen herkommt, dreht man ihn eben nicht um; denn der Mensch ist ja leichtsinnig von Natur aus.

Annchen war im Hintergrund damit beschäftigt, Reiseproviant für ihre Mutter zurecht zu machen; und man konnte nach den Mengen annehmen, daß sie nicht einfach via Kassel nach Melsungen fuhr, sondern sich Peary auf einer für zwei Jahre berechneten Nordpolexpedition anschließen wollte. Hannchen aber wollte durchaus Harmonie in das kalte Buffet bringen. Und sprach ausführlich von der Ästhetik des Gaumens, während Fritz Eisner ihr erklärte, daß gerade die offene Blechdose mit Rollmöpsen und das Weißbierglas mit Eiern das Absolut-Stilechte wären. Und Frau Lindenberg von einer Gesellschaft bei Pleißners erzählte, wo es zuerst an ungedeckten Tischen Bierkaltschale gegeben hätte, und dann wären plötzlich die Schiebetüren zurückgerollt, und sie wären in den Nebensaal gegangen, wo zwischen den silbernen Leuchtern Kaviar auf Eisblock gestanden hätte und andere schöne Dinge ...

... »Natürlich! so wie man das heute gewohnt ist, wo der französische Champagner schon vor der Suppe serviert wird, ist das damals noch nicht gewesen. Arthur war ja heute mit seiner entzückenden Braut oben bei mir. Also, ein reizendes Mädchen! Und sie wußten ja gar nicht genug zu erzählen von dem Souper Sonntag bei dem Direktor Liebenthal. Es soll ja geradezu feenhaft gewesen sein. Der Mann hat sich ja direkt ein Schloß gebaut. Und hinter jedem Stuhl im ovalen Eßsaal stand ein Diener. Und auf jedem Kuvert lagen die Zigarren in Saffiantaschen. Aber das ist ja nichts besonderes; das macht man heute so! Aber denkt euch, wie apart und entzückend; auf jeder Tasche in Gold das Monogramm des Gastes. Arthur hat mir seine gezeigt; und für die Damen waren es ganz winzige Zigarettenetuis. Und dabei: wenn man den Mann so sieht – ganz einfach! Du erinnerst dich ja noch, wie entzückend er zu euch schon damals in Potsdam war!«

»Na Gott«, meinte Fritz Eisner, »in Potsdam war er wohl damals ziemlich wenig, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht!«

»Gewiß nicht – weil er leidend war«, rief Frau Luise Lindenberg, ziemlich erregt. Auf ihre Leute ließ sie nichts kommen. Auch wenn sie sie eigentlich, wie hier, kaum kannte. »Ja, und Arthur ist ein entzückender Mensch. Bildschön, und von einer natürlichen Vornehmheit. Manieren hat er wie ein junger Lord. Es ist wirklich ein Vergnügen, ihn anzusehen. Wie eigentlich Brüder, wie Egi und er, die doch von den gleichen Eltern gezeugt sind, so grundverschieden, aber auch in allem, sein können, das verstehe ich nicht!«

Man wird es vielleicht mißbilligen, und als Wortarmut des Erzählers deuten, wenn er schmückende Beiwörter, wie »entzückend«, viermal in einem Satz braucht. Aber man vergißt hierbei, daß der Erzähler ja in diesem Augenblick ganz hinter seine Figur zurücktritt; und Frau Luise Lindenberg kannte nun mal, wie ein guter Schäfer in seiner Herde, nur weiße und schwarze Schafe. Und die weißen Schafe waren so blendend, lichtweiß und makellos, wie die ersten Christrosen im Bergwald. Wie ein Schneehase unter einer Zwergbirke. Und die schwarzen waren so tief und abgründig schwarz, wie die Frisuren der Geishas auf den Holzschnitten Utamaros, wie ein Mantel bei Hugo van der Goes, oder der Strumpf der Bäuerin bei Leibl. Zwischentöne, Übergänge, grau, fleckig, scheckig gab es bei ihr nicht. Die einen waren entzückende, und die andern waren gefährliche Menschen. Und die einen konnten tun, was sie wollten – sie hatten das Recht dazu. Und die anderen konnten auch tun, was sie wollten – sie bekamen immer bei ihr Unrecht. Aber der Vergleich mit dem Schäfer war, was Frau Luise Lindenberg anbetrifft, nicht ganz glücklich. Man müßte bei ihr eigentlich von einem farbenblinden Schäfer sprechen, einem, der (vielleicht infolge einer merkwürdigen Augenkrankheit) seine weißen Schafe für schwarz, und seine schwarzen Schafe für weiß hielt. Denn Frau Luise Lindenberg tippte bei Menschen mit einer nie versagenden Sicherheit daneben. Sie wob mystische Schleier um die simpelsten Leute, dichtete seltsame Geschicke, seltsamere Liebeserlebnisse ihnen an. Und die einen konnten dann einen Menschen ruhigen Blutes ins Wasser stoßen, und sie bekamen einen Heiligenschein dafür auf die Locken gedrückt. Und die anderen konnten jemand im Dezember aus der Spree ziehen, und es hieß, sie hätten zufällig an der Weidendammer Brücke ein Bad nehmen wollen.

Es kam vielleicht vor, nicht oft, daß sie einen Menschen erst unter die weißen Schafe erhob – wozu gar kein Grund vorlag – ja ihn sozusagen zum Leithammel ihrer Herde machte – und ihn, nach vier Wochen, ohne daß wiederum irgendwelcher Grund vorlag, als schwärzesten Sündenbock in die tiefste Wüste trieb. Dann hatte sie sich eben in ihm getäuscht. Aber – daß im Gegenteil, eines ihrer schwarzen Schafe von ihr als weiß erkannt worden war, war noch nicht beobachtet worden; denn: ich täusche mich nie in einem Menschen!

Und jetzt waren Arthur Meyer, Egis Bruder, und seine Braut, Margot Silbermann – die drei Tanzpreise bekommen hatte, einen sogar in Heringsdorf! – als lilienweiße Schäfchen mit rosa Glockenbändchen um den Hals seit einigen Wochen in ihre Herde neu aufgenommen worden ... Herr Liebenthal nebst Frau und Blanche und Anatol (Blanche hatte jetzt Malstunden, weil sämtliche Professoren Deutschlands gemeint hatten, daß es eine Sünde wäre, solch ein Talent nicht zur Entfaltung zu bringen, und Anatol dichtete »entzückend«, trotzdem er noch nicht dreizehn Jahre war) gehörten ihr schon seit längerer Zeit an. Man muß deswegen aber nun nicht denken, daß Frau Luise Lindenberg mit all denen, um die sie ihre Aureolen wob, besonders intim stand. Im Gegenteil, das war ja eben das Merkwürdige: Gerade so, wie wir von den Menschen am lebhaftesten träumen, die wir im Alltag eigentlich am flüchtigsten kennen, so flocht Frau Luise Lindenberg den Hymnus ihres Entzückens meist um das Haupt der Leute, zu denen sie kaum je über die Förmlichkeiten einfachster Höflichkeiten hinausgelangt war, und die sich um sie nicht im geringsten kümmerten. Wie sie es überhaupt liebte, ständig über Menschen sich den Mund fußlig zu reden, die sie nichts angingen ... und die eigentlich gar keine waren.

»Nun«, sagte Fritz Eisner, »der junge Herr Meyer hat sich ja ein sehr schönes Auto angeschafft.« (»Für Hannchens Geld«, wollte er dazusetzen – aber soweit kam er nicht.)

»Oh, das braucht er natürlich als Geschäftsmann!«

Draußen hörte man Gelächter und Stimmengewirr.

»Nein, ich gehe jetzt«, rief Frau Luise Lindenberg plötzlich mit Ekstase. Sie bewegte sich eigentlich ständig in Ekstasen. Nur, da sie – wie die Blutwellen beim Fieber – einmal nach innen und einmal nach außen schlugen, merkte man es nicht immer. »Ich würde mit meinem Schmerz nur komisch wirken, zwischen all den lustigen Menschen!«

»Ach, bleib' doch noch, Muttchen!« riefen sofort von rechts und links Annchen und Hannchen – sie waren stets für Gruppenbildung.

»Nein, nein!« rief Frau Luise Lindenberg und entwich schon in Richtung des Schlafzimmers, um so auf Umwegen nach außen zu gelangen. »Amüsiert euch nur. – Wozu solltet ihr auch darauf Rücksicht nehmen?! Endlich ist es doch nur eine arme, alte Tante, die gestorben ist!«

Beim Feuerwerk »Die Erstürmung von Sewastopol« im Sternecker in Weißensee kommt auch immer zum Schluß erst die – große Sonne.

Annchen und Hannchen sahen sich an. Egi in dem Stuhl quiekste still vor sich hin über seinen Jerome-Jerome.

»Das ist nun immer so!« sagte Annchen.

»Gott, laß doch die arme Frau!« meinte Hannchen.

»Aber höre mal, Fritz, ich glaube, du mußt doch mit herunter an die Straßenbahn. Man kann Muttchen nicht allein gehen lassen – und vor allem in dieser Stimmung!« Und Fritz Eisner pirschte ihr nach, warf wenigstens eine Jacke über, und drängte sich durch ein Gewühl von Menschen auf dem Korridor, Hafenarbeiter, Monteure, Hausierer, Dienstmänner – eine Dame, ganz verschminkt und mit unerhört frecher Frisur über das rechte Auge weg, und eine rote Kamelie im schwarzen Haar, warf ihm sogleich mit tiefen Kehltönen eine Flut von Argotworten entgegen, von der die eine Hälfte, die Fritz Eisner gerade verstand, in ihm die Sehnsucht erweckte, die andere zu verstehen. Unten auf der Treppe holte er die Schwiegermutter ein.

»Na«, sagte er, »du mußt doch bis zur Kirche vor! Des Abends fährt die Straßenbahn nicht bis hier heraus, und da möchte ich dich doch lieber begleiten.«

»Ach, bleib nur bei deiner Gesellschaft!«

Aber dann war sie doch recht froh, daß Fritz Eisner noch mitkam; und seltsam, wenn man Frau Luise Lindenberg für sich allein hatte, und wenn man sie wie die Auster aus ihrer Schale gelöst hatte, und sie kein Publikum sonst für ihr krankhaftes Geltungsbedürfnis hatte war sie ein Mensch, mit dem sich reden ließ.

»Na«, sagte Fritz Eisner, während sie unter den Baumreihen auf den Platz hinten zuschritten, auf dem schon ein paar der hellen Glaskästen der erleuchteten Straßenbahnwagen geduldig auf ihr Abfahrtssignal warteten. »Weißt du, Egi hat ja da einen sehr ehrenden Auftrag bekommen – eine große Sache, auf Jahre hinaus! Er wollte es erst nicht annehmen, wegen dieser alten Dummheiten, in die er sich damals da hineingestürzt hat. Aber ich habe ihm doch geraten, zuzuschreiben ... und das hat er nun soeben getan.«

»Ach Gott!« meinte Frau Lindenberg, mit mehr Ruhe und mehr Ernst, als ihr Fritz Eisner zugetraut hätte. »Ich wünsche ihm von Herzen, daß er wieder hochkommt. Aber es wäre eigentlich zu schön, um es noch zu hoffen. Und meinem armen Kind, fürchte ich, wird es so und so auch nicht mehr viel nützen. Ich habe das Gefühl, daß der Sprung doch nicht mehr zu kitten ist. Es ist eigentlich traurig für eine Mutter, so mit verschränkten Armen dabeizustehen, und zu sehen, wie ihr Kind körperlich und seelisch in einer Ehe zugrunde geht.«

»Na, höre mal, das sind doch Trübungen, die vorübergehen können. Egi wie Hannchen sind doch beide noch sehr jung. Und sie waren wohl beide sehr gut zu brauchen, solange alles glatt geht. Wie das dann die meisten Menschen sind. Und sie versagten völlig, als es das nicht tat – wie das die meisten Menschen zu tun pflegen. Aber, wenn es sich von neuem günstig gestaltet, dann ist eben auch das wieder sehr schnell wieder vergessen. Und diese Aussicht ist doch wenigstens jetzt endlich vorhanden.«

Frau Luise Lindenberg schüttelte den Kopf: »Du sollst recht haben!« sagte sie, während sie in den Wagen kletterte. Klein und unauffällig, ein abgehalftertes, schwer vergrämtes Wesen.

»Sieh, daß du wenigstens im Zug schlafen kannst!« rief Fritz Eisner.

»Ich glaube, ich werde wohl kaum dazu die seelische Ruhe haben! – Und außerdem schlafe ich immer in der Eisenbahn.«

Aber da zog auch der Wagen an.

»Hör mal«, rief Fritz Eisner sehr laut, »denk doch dran: Wenn vielleicht alte Porzellanfiguren da sind – vergiß nicht – bring sie mir mit!«

Aber der Wagen war schon ein ganzes Stück weg. Und Fritz Eisner sah noch, wie das kleine graue Frauchen in dem bekurbelten Cape und mit der schiefen Kapotte ihm durch die Scheiben zuwinkte. Aber, ob sie es noch gehört hatte, war ihm nicht klar geworden. Und gerade das mit den Porzellanfiguren war doch eigentlich sehr wichtig; denn Tante Trautchen hatte immer von solchen gefabelt, und da unten konnte man vielleicht Höchst finden ... Und dann machte er, daß er wieder nach oben kam und memorierte schon seine Begrüßungsfloskeln für die Gäste.

Aber als Fritz Eisner heraufkam und dachte, wunder was es für ihn zu tun gab, und was er anstellen müsse, um den Gästen über die erste, immer frostige Stimmung hinwegzuhelfen, hatte man ihn gar nicht vermißt. Man amüsierte sich scheinbar vorzüglich ohne ihn. Und er fühlte plötzlich, daß, wenn er nicht gekommen wäre, es der Schönheit des Festes nur geringen Abbruch getan hätte. In drei Zimmern rauschte und lärmte es schon; alles, was es an Licht gab, auch Kerzen in den Leuchtern, brannte. Und die bunten Lampions schaukelten ganz leise; sie mögen noch so vulgär sein, sie haben doch immer einen Hauch von Orient und Scheherezade, tragen in ihrem verträumten Leuchten – nicht wie Lichter, sondern wie verliebte Augen – ein Spürchen von sublimierter Erotik. Sämtliche Fenster waren dazu noch geöffnet und eine sehr milde und angefeuchtete Abendluft zog durch die Räume hin und trug ganz zart den Harzduft von den Bäumen draußen hinein, mischte ihn mit dem von Frauen, Pudern und Blumen, und mit dem von all den grünen und blühenden Ästen über den Türen, in den Vasen und Töpfen, und dem von Apfelsinen und mancherlei noch. Fritz Eisner warf die Jacke ab, setzte das Käppchen auf, und krempelte die Hemdsärmel über die Ellbogen, und trat hinter die Anrichte, die als Theke diente, seines Amtes mit Grobheit zu walten.

Es ist merkwürdig, bei solchen Festen: erst denkt man, es kommt überhaupt keiner. Sie haben es alle vergessen. Eine halbe Stunde geht hin, eine Dreiviertelstunde, ohne daß sich die Klingel regt; und plötzlich, als ob sie sich, auf die Minute miteinander verabredet hätten, als ob sie unten, vor der Tür, aufeinander gewartet hätten, ist alles da. Das heißt: war denn alles da? Nun, es konnten immer noch welche kommen! Denn der Teufel mochte wissen, wer sich eigentlich da alles einfinden wollte. Sicherlich aber waren schon mehr Menschen da, als Stühle oder Sessel. Aber endlich sitzen ja nicht alle zugleich. Welche stehen immer am Schanktisch herum. Einige Paare tanzen stets mit und ohne Musik, nach dem Grammophon, das jemand als Leierkastenmann mitgeschleppt hat. Oder nach dem, was gerade irgendwer auf dem Flügel zusammentrommelt. Und dann gibt es Teppiche, Kissen, Fußbänke. Etwelche saßen schon auf der Erde, als ob sie es nie anders gewöhnt waren. Ein Maurer saß neben einer Fabrikarbeiterin, und beide aßen zusammen aus einer Blechschüssel, die sie vor sich stehen hatten. Und es ist gar nicht in normalen Tagen auszudenken, wie viele Menschen auf einer Chaiselongue sitzen oder lagern können, wenn sie nur den Geschlechtern nach möglichst bunt durcheinandergemischt sind. Und dann ist auf der Loggia draußen ja auch Platz. Wenn auch meist nur für zwei.

Ja, wer war denn alles da?! Eigentlich jene zwei Sorten von Menschen, die stets bei solchen Abenden sind. Welche, die sich unterhielten; und welche, die unterhalten sein wollten; und die das Gefühl hatten, daß hier Künstler wären, die die Pflicht hätten, für ihr Amüsement zu sorgen ... Ein bißchen bunt war's schon – es war gleichsam ein Massenschlachten: Solche, die man einladen wollte; und solche, die man einladen mußte.

Fritz Eisner war dagegen gewesen, so alles durcheinanderzuwirbeln. Aber Annchen hatte gesagt: gewiß, das wären keine Geistesheroen – das wisse sie selbst; und ihr wären die anderen eigentlich auch lieber. Aber es wären doch nette Menschen und gute Menschen ... Menschen, die sich in allen Lagen bewährt hätten, und auf die man zählen kann. Und das wäre manchmal mehr. Und dann könnten sie einem gerade in unserem Beruf ... als Schriftsteller ... in dem man doch mal weiterkommen will ... viel nützen – man wisse gar nicht, wie; und außerdem wäre man ihnen verpflichtet; und wenn man nicht jetzt sie endlich mal einlüde, könnte man überhaupt nicht mehr zu ihnen gehen; – sie jedenfalls nicht! – Denn die wahre Geselligkeit ist altgläubig und orthodox: Auge um Auge, Zahn um Zahn; – Reh um Reh, Pute um Pute.

Fritz Eisner hatte zwar nie bemerkt, daß dabei irgend etwas heraussprang, außer, daß sie einem Bücher aus der Bibliothek nahmen, die man nie wieder sah, und einem ewig telephonisch im Ohr lagen, wegen Freikarten zum Theater oder zu Konzerten oder Kunstausstellungen, und nachher schimpften: es wäre nichts gewesen, nicht den Groschen Straßenbahnfahrt und die Garderobe wert. Nun ja – sie luden ihn und Annchen dreimal im Jahr zum Abendessen ein. Einmal mit Eiskegel, zweimal ohne, ganz formlos; – da fühlen ›die‹ sich wohler. Und sie tauchten einen dabei in eine Flut von Belanglosigkeiten unter. Aber – alles schön und gut: und wenn auch Annchen versicherte, daß es ein reizender Abend war (ganz wie früher), der einem ordentlich wohlgetan hätte; – nur schade, daß man die letzte Bahn versäumt hätte; aber sie hätte genug gedremmelt ... mein Mann kann ja nicht genug kriegen! – so konnte das doch daran nichts ändern, daß Fritz Eisner nachher durchaus nicht einsah, was er eigentlich davon gehabt hätte; da er es mit tausend heiligen Eiden bekräftigen konnte, daß er ohnehin ja diesen Tag auch so sein Abendessen zu sich genommen hätte, und dabei am nächsten Vormittag sich – ohne die Müdigkeit und den sauren Moselwein in den Knochen – weit wohler gefühlt hätte.

Also – er hätte sie gewiß nicht eingeladen; ja, er hatte gegen jeden einzelnen wie ein Löwe gekämpft. Sie paßten heute doch wirklich nicht hin. – Aber sie waren nun plötzlich alle da, und präsentierten ihre Gegenrechnungen: für zwei Abendbrote und ein Paar Söckchen für Dorrit beim Wochenbesuch. Sie bildeten sozusagen die Statisterie, standen ganz unten auf dem Theaterzettel, wurden nicht einmal namentlich aufgeführt – Dienerschaft, Gefolge, Volk; – aber – sie waren zahlreich genug. Sie hatten nicht recht begriffen, um was es sich hier drehte, und waren deshalb entweder in Balltoilette oder im Straßenanzug, oder ganz sinngemäß als Carmen, Torero, Geisha, Venetianischer Fischerknabe, Cowboy oder Odaliske – ausgeschnitten wie im Freibad – angetreten. Auch merkte man ihren Gesichtern an, daß sie die Menschen hier etwas absonderlich fanden, und den Ton ein wenig rüde. Da war jener galonierte Diener schon besser. Nicht nur wegen der beiden Sektflaschen, die ihm hinten aus den Frackschößen guckten, sondern er brachte Betrieb herein. Nur, daß er, trotz der rotverschmierten Nase, einen viel zu guten Kopf für seinen Beruf hatte – war nicht ganz echt!

Ach, und da war ja auch Rosen-Emil. Vorzüglich! »Jungeken, dir hab' ick doch heute schon mal jesehn!« Eigentlich hatte sich die »Kommende Note« gar nicht kostümiert, nur den Rockkragen hochgeklappt, die Hosenbeine noch weiter umgeschlagen, den Kragen abgebunden und dafür ein Cachenez umgewürgt, hatte das Haar in die Stirne gekämmt, ein paar Schminkstriche sich unter die Augen gezogen, und er war: zwar nicht Rosen-Emil, aber ein jüngerer Bruder von ihm. Es war kein Unterschied mehr – nicht mal das Uhrarmband störte wie er da mit eingezogenen Schultern, breitgehämmert, zwischen zwei Türen stand, mit seinem Korb voll Veilchen und Mimosen vor sich, und jedem, der vorbeiging, ein Sträußchen hinstreckte: »Reizende Kinder Floras man zweenhalb das Sträußchen! Stechen Se Ihren Fräulein Braut man ruhig eens an!« Mit einem Ton, der aus einer verrosteten Regenrinne kam.

Und Lucie war auch nicht viel anders, wie sie vorher war, nur daß sie ihrem Hut einen kühneren Schwung gegeben hatte, und die Haare etwas an den Schläfen heruntergezogen hatte, und als Verbandsabzeichen mit einem ungewöhnlich armseligen, mit Straßsteinen besetzten Täschchen schlenkerte, und den Kopf mit kurzen Rucken nach den Männern drehte, daß die Augen aufblitzten und sich wieder verschleierten, wie ein Blinkfeuer (denn noch wollte jeder ja seine Rolle durchführen). Lucie blieb zwar immer noch dieses betörende, olivenfarbene Meerkätzchen, bei alledem – nur Augen und Löckchen – und doch schien sie unübertrefflich als die sinngemäße Ergänzung zu Rosen-Emil.

Oh, da war ja auch Wilhelm Klein wieder. Fritz Eisner hatte ihn Jahre nicht gesehen – nur von ihm gehört – seit jener Bowle mit dem Liebenthalschen Sekt in Potsdam. Er hatte einen seltsamen Weg gemacht, sah hager, verbissen, abgehungert aus, war von der Schule abgeschwenkt, hatte eine Weile in allen möglichen Berufen herumvagabundiert, halb Journalist, halb Wanderredner für Reformen der Jugenderziehung. Nietzsche hatte wirklich – wie zu fürchten – seinen Weg gekreuzt und Verheerungen in ihm angerichtet; hatte ihm ein ganzes Arsenal von Waffen geliefert: »Nicht fort- sollt ihr euch pflanzen, sondern über euch hinauf!« »Ich erhebe die schwerste aller Anklagen« und so weiter, und so weiter.

Und Selma mit den Bewegungen einer Blindschleiche – sie sprach immer noch mit den Schulterblättern – stapfte mit ihrem Sandalenschritt tapfer seit Jahren neben ihm her. Ob sie verheiratet waren, oder derartige gemeine bürgerliche Institutionen verabscheuten, wußte man nicht recht. Ihr Kind war vier Jahre, und erregte öffentliche Ärgernisse, weil es an Stellen, die nicht dazu angetan waren, und bei Temperaturen, die das noch weniger schienen, plötzlich die Kleider ablegte und, wie es das zu Hause gewohnt war, nackt herumzuspielen begann. Sonst aber sollte er ein bildschönes und gewecktes, ganz flachsköpfiges Bürschchen sein, mit Locken bis auf die Schultern.

Aber die beiden liebten sich – das fühlte man – und glaubten bedingungslos aneinander; wenigstens Selma an Wilhelm Klein. Und auf der anderen Seite wäre wiederum ohne Selma Wilhelm Klein heute schon längst braves Mitglied eines Lehrerkollegiums eines königlichen Gymnasiums gewesen, als Bewahrer einer unverbrüchlichen Überlieferung, und hätte nie daran gedacht, gegen den Stachel zu locken, und sich mit Polizei und Behörden herumzuschlagen, und für neue Formen einer Jugenderziehung und neue Rechte einer Jugend zu kämpfen. Denn Selma hatte ihn irgendwie gelehrt, daß es für den Menschen, wenn auch nicht bequemer, so doch wichtiger ist, nicht mit der Masse, sondern gegen die Masse zu leben. Außerdem aber können wir uns nicht verhehlen, daß es von der ersten Sorte eigentlich genug gibt, und daß es für die Allgemeinheit sogar wertvoller ist, zur zweiten zu gehören. – Auch wenn man dabei vor die Hunde geht.

Da beide, Wilhelm Klein und Selma – gekommen waren, wie sie gingen und standen ... er: in einem langen schmalen Schulmeistergehrock, der ihn umschlotterte, und sie: in einem Hänger eigener Prägung ... ockerfarbenes Rohleinen mit violetten Quadraten, die mit grünen langgezogenen Ellipsen abwechselten, die wiederum in Kränzen von reliefgestickten Margariten eingefaßt waren ... so wurden sie beide als vorzügliche Masken von der Statisterie angestarrt.

Aber da war ja auch alias Johannes Hansen. Das war ungeschickt von Annchen. Man hätte ihn doch nicht mit Lucie zusammen einladen dürfen. Und es schien ihm auch nicht angenehm. Er mußte doch dabei ähnliche Empfindungen haben, wie ein Sammler, der in Vermögensverfall geraten ist, und der sein Hauptstück, das er nicht halten konnte, von dem er sich trennen mußte, bei einem anderen wieder sieht; und nicht einmal sagen darf: wissen Sie auch, lieber Freund, das hat mir mal gehört ... Und auch für Lucie war das – nein, doch wohl weniger, denn für sie galt das Wort: un homme ne dure pas longtemps ... Hannchen – Gott, Hannchen und Johannes Hansen, das war doch nur Jugendeselei gewesen, Empfindungsspiel zweier Kinder, in nebelgraue Ferne versunken, hatte heute schon Patina angesetzt, einen rührenden Schimmer; ... aber das mit Lucie!

Und ein sehr wichtiger Teil davon war – was den alias Johannes Hansen anbetraf – auch richtig. Johannes Hansen war wirklich in Vermögensverfall geraten. Denn es ist eine leider nicht wegzudisputierende Tatsache, daß Mütter, selbst, wenn sie wie die des alias Johannes Hansen Frau Jacob heißen, und als simple Frau Jacob ein dutzendmal ihren genialen Sohn aus der Patsche gezogen haben, eines schönen Tages sterben. Vielleicht gerade deswegen eher, als sie es sonst getan hätten. Und es ist eine noch schwerer zu leugnende Tatsache, daß dann zum Schluß meist weit weniger Geld da ist, als solche Johannes Hansen zu glauben pflegten. Und es ist endlich ein nur allzu oft erhärtetes Faktum, daß auch dieses Geld dann einem Johannes Hansen, der es nicht lassen kann, sich in ewigen Gründungen von totgeborenen Zeitschriften und anderen kulturellen Notwendigkeiten zu verzetteln, dann verdammt schnell unter den Fingern wegläuft. Erstens, weil das eine Eigenheit des Geldes in sich ist. Und fürder, weil sich andere darum bemühen, es ihm fortzuziehen. Und jetzt also spielten gerade die letzten blauen Lappen – oder waren noch ein paar braune dabei? – um seine Hände, die sie vergeblich zu halten versuchten. Was sich nebenbei Johannes Hansen dabei vorgestellt hatte, daß er gerade in sandfarbenem Pyjack, mit breiten Steppnähten, mit zitronengelben Glacehandschuhen kam, und ein Monokel am schwarzen Band dazu trug, war nicht recht ersichtlich. Er sah schlecht, grau, gedunsen aus, und war doch früher ein ganz zierliches Kerlchen gewesen, das den Mädchen gefiel. Sein Gesicht war irgendwie seltsam verschoben. Seine lebhaften, immer beschäftigten Augen waren flackrig geworden. Er war sich nicht mehr recht ähnlich. Man konnte sagen: er glich seinem früheren Ich, wie eine verwackelte Photographie uns gleicht; man kann gerade noch so erkennen, wen es eigentlich darstellen soll; aber alles scheint verschoben, verschwollen und ist seltsam unwirklich geworden.

Da war Paul Gumpen schon anders. Er hatte es sich leicht gemacht. Er hatte einfach sich eine Livree als Hausdiener seines Geschäftes angezogen. Mit seinem Namen an der grünen Mütze und seinem Monogramm auf den Knöpfen ging er als sein eigener Hausdiener. Und er sah darin quick und vorzüglich aus. Die idealistische Phase seines Daseins mit Heinrich Heine, mit Hannchen und so ... hatte er gründlich vergessen und fühlte sich herzlich wohl dabei. Denn endlich wäre er ohne M'chen Liebmann heute (und wenn er mit Hannchen seinem Herzen hätte folgen können) immer noch zweiter Lagerist bei Wollheim, und hätte sich ohne jene Mitgift von neunzigtausend Mark nie selbständig machen können. Natürlich, daß die Sache so einschlagen würde, hatte niemand voraussehen können. Weder mit dem Geschäft noch mit der Frau. Und wenn die Partie auch damals beinahe im letzten Augenblick über das Schlafzimmer (Vogelahorn-modern oder Empire mit eingelegten Silhouetten!) auseinandergegangen wäre sie hatten nebenbei zum Schluß weder das eine noch das andere genommen, sondern sich auf englisch und Mahagoni geeinigt – so war das eigentlich das letztemal, daß es zwischen ihnen Meinungsverschiedenheiten gegeben hatte. Er konnte sich gar nicht vorstellen, daß er je anders hätte leben können. Und man brauchte nur seine Frau anzusehen, ob sie sich nicht ebensowohl bei ihm fühlte, wie er bei ihr. Sie hatte erst als Geisha gehen wollen, aber er hätte gesagt: Unsinn, M'chen, das paßt da nicht. Du ziehst dir einen weißen Arbeitskittel mit Wachstuchmanschetten an, nimmst 'ne Schürze mit dem großen schwarzen Firmenstempel, läßt dich ein bißchen anders frisieren, und gehst als: Verpackerin unserer Firma. Denn seitdem Paul Gumpen Chef war, hatte seine Selbständigkeit und seine Freiheit, über Menschen, Geld und Dinge zu disponieren, bedeutend zugenommen.

Er hatte wirklich eingesehen, daß der gestreifte Kattun der Angelpunkt der Welt war. Und er nahm in dem Geschäftshaus in der Kronenstraße eine Etage nach der anderen hinzu (mit drei Zimmern und drei jungen Leute hatten er und Mühsam angefangen), wollte sogar selbst bauen, und hatte auch sonst in allerhand Börsen- und Baugeschäften eine glückliche Hand. Er kam sich sehr nett vor, daß er so treu zu seinen alten Bekannten hielt. Und er hatte für Hannchen und ihren Jungen ein aufrichtiges und freundschaftliches Empfinden. Dem Mann ging er aus dem Wege. Auch jetzt hatte er die Situation schnell überschaut, und, da er als Chef gewohnt war, großzügig zu disponieren, den Chauffeur nochmal in die Stadt geschickt: er solle aus irgendeiner Weinstube, die noch offen wäre, schnell ein Dutzend Flaschen holen. Solche für Bowle und solche zum Trinken (und ein paar kalte Schüsseln vielleicht auch; die sollte er aber erst in der Küche deponieren). Und eben dieser sein Chauffeur kam gerade mit schweren Stiefeln, einen schweren Flaschenkorb schleppend, hereingetappt und wurde mit Hallo begrüßt; denn die meisten – vor allem die Statisterie – hielten ihn für eine vorzügliche, ja geradezu verblüffende Maske. Und der livrierte Diener stürzte ihm entgegen, entriß ihm den Korb, schwenkte Korkenzieher und Sektbecher und rief, daß das weitere nunmehr in das Bereich seiner Tätigkeit fiele.

Wer war noch da? Eine Kaffeehausbekanntschaft, zu der man so gesagt hatte: Wissen Sie was – kommen Sie auch Sonnabend! und mit der man eigentlich nicht gerechnet hatte. Das war ein alter, mißglückter Literat in seiner abgeschabten Sammetjacke, dem Klappkragen, dem Künstlerschlips, unauffällig, scheu, von leichten Schritten, als ob er ständig Gummischuhe trüge. Er sah eigentlich wie eine Karikatur seines Berufes aus. Wie der Dichter. Nicht aus dem Simpl. Dafür war Thomas Theodor Heine zu bissig. Sondern aus den Fliegenden. Und da auch nicht Jahrgang 1905, sondern Jahrgang 1875. Ein Fünfzigjähriger, Enttäuschter, immer noch Hoffender. Ein zierliches, in Pfeffer und Salz bebartetes Männchen, das noch nie jemand ohne Brille gesehen hatte, ein Männchen, das alles wußte, alle Menschen kannte, mit ihnen befreundet war, sie gemacht hatte (auch wenn sie bis dato niemals seinen Weg gekreuzt hatten), und das über alle Dinge dieser Welt zu reden; aber über nichts zu schreiben verstand.

Und wann hätte er auch etwas schreiben sollen? Zu Hause – wo das war, blieb unbestimmt – mußte er schlafen. Und im Kaffee mußte er plaudern mit hundert Menschen, von denen der erste um vier Uhr nachmittags, der letzte um zwei Uhr nachts sich zu ihm gesellte. Für jeden von ihnen war er ein amüsantes halbes Stündchen, und dann gehörten sie wieder sich, ihrem Beruf, ihrem Wollen. Nur für ihn selbst waren jene der ganze Tag, ließen ihn nicht Ich sein.

Oder er mußte Zeitungen lesen. – Warum er eigentlich diese fünfzig, sechzig Zeitungen täglich durchstöberte, und unglücklich war, wenn etwa das Memeler Dampfboot oder der Bernburger Anzeiger nicht frei wurden, oder durch postalische Nachlässigkeit einmal ausgeblieben waren, wußte niemand. Eigentlich las er die Zeitungen auch gar nicht: er blätterte nur fast ängstlich in ihnen, ließ die Augen durch die Brillengläser hie und da hinspringen, und schob die Blätter dann enttäuscht in die Waben der Regale zurück. Es war, als suchte er irgend etwas in ihnen, das nie darin stand. Vielleicht irgend etwas von ihm oder über ihn. Irgend etwas ganz Unverhofftes, das mit Trompetenstößen seinen Ruhm einer aufhorchenden Welt endlich verkündete.

Wovon er existierte, war gänzlich unbestimmt. Sicher war nur, daß er existierte. Und ebenso sicher war, daß er trotz seiner Jahre sich für einen Dichter hielt. Eben, weil er Verse machte mit dem Empfindungsindex einer Pensionatsleiterin, ... daß ihm also – wenigstens für die eigene Person! – noch nie aufgegangen war, daß Gedichte nicht Verse sind, und daß die schönsten Verse noch lange kein Gedicht bedeuten: eben weil bei dem der Akt der Konzeption und der Vorgang der Geburt ganz andere und schon durchaus-singuläre sind.

Man kann auch nicht mal sagen, daß er gescheit war – aber das hätte auch niemand von einem Lyriker verlangt. Er belferte berufsmäßig gegen die Moderne, und bekam schon bei Namen wie Liliencron und Dehmel, die Fritz Eisner liebte, einen roten Kopf. Erstens, weil sie die Kunst schändeten; und zweitens, weil er irgendwie dunkel empfand, daß sie ihm die Berühmtheit weggenommen hätten. Und er bewarf auch Hauptmann, Wedekind und Schnitzler oder Peter Hille, die ihm doch gar nicht direkt ins Gehege kamen, mit Injurien, die selbst in den frühesten Zeiten des Naturalismus als ungewöhnlich vollsaftig aufgefallen wären. Er war eigentlich nur amüsant – ein Buch mit immer neuen Anekdoten – dabei stets leicht in Schwermutspose, und krankhaft im Dünkel, der in seinem Dreierlichtchen ein Fanal sah. Und doch hatte ihn Fritz Eisner gern: weil er die tragikomische Selbstlüge seines Lebens nicht ohne Grazie durchführte und, weil er – bei aller Bissigkeit – eigentlich harmlos war, ein Bächlein, das Kindermühlen klappern ließ, und das auch im ärgsten Lebensfrost nicht einfror.

Der Dichter saß wie immer ruhig in einer Ecke und spielte Café, hatte es mit sich hierher genommen, in Form von einem Packen Zeitungen, die er sich mitgebracht hatte, und die vor ihm lagen, wie ein Thema, das zu erledigen war. Und er war von einigen jungen Leuten umstanden, die mit der Schriftstellerei kokettierten, und schon ein paarmal vergeblich versucht hatten, bei Verlegern die verschlossenen Türen der Literatur einzurennen, und die deshalb nun – in Verkennung der Sachlage – von ihm Empfehlungen erhofften. Einer von ihnen, ein ganz junger Student, war im kleinen Finger begabter, als sie alle. Die anderen waren Durchschnitt und würden nie mehr werden.

Die Journalisten, die paar Leute aus der Zeitung, die gekommen, hatten sich in das Arbeitszimmer zurückgezogen. Sie hatten keine Muße mehr gehabt, sich irgendwie zurecht zu machen, kamen, wie sie gingen und standen, von den Abendblättern und aus ihren Stuben. Sie gehörten weder zu denen, die sich amüsieren, noch zu denen, die amüsiert sein wollen. Journalisten machen nie mit. Sie berichten. Aber sie sind selbst nicht dabei. Sonst hätten sie nicht diesen Beruf erwählt. Außerdem mieden die Journalisten den Mann mit der Sammetjacke, der da in der zukünftigen Literatur Cercle hielt. Denn sie wußten genau, daß er – sofern sie es nicht taten – am nächsten Tag mit einem ganzen Packen verstaubter lyrischer Ladenhüter bei ihnen eintreten würde, und dann mit groben Briefen nicht geizte, wenn sie – was man ihnen nicht verargen konnte – sie ihm prompt zurückschickten.

Aber wo war eigentlich Lena Block, die doch kommen wollte? Dieser schöne und kluge Kerl von Malerin, die sich nie an Menschen band und mit der Kunst verheiratet war, dieses originelle und starke Wesen, unabhängig, reich, völlig freizügig, im Winter in Paris oder in München oder in Rom, und dann plötzlich wieder hier. Die, auf die sich Egi so gefreut hatte, und sie auf ihn; und, um ehrlich zu sein, Fritz Eisner auch. Denn er verehrte sie, weil sie für eine Frau starke und persönliche Kunst schuf, weil sie ganz einfach und gerade war und, weil sie mit wundervoll wachen Sinnen ins Leben hinein lebte; weil sie geistig und seelisch dauernd in Zonen beheimatet war, in denen unsereiner nur ab und zu zu Gast ist, nach denen er pilgerte, so lange er als Mensch denken konnte, und zu denen ihm bislang alle Wege verrammelt waren. Aber es war wirklich doch vielleicht besser, daß sie nicht gekommen war.

Aber da traten Egi und diese große verschminkte Person mit der Kamelie im Haar, diese Tänzerin aus dem moulin de la galette, die ihn vorhin mit der Sturzflut von Argot-Worten überschüttet hatte, plötzlich aus der Bibliothek, um sich neue Eßdinge zu holen. Und jetzt erst erkannte sie Fritz Eisner. Beim Zeus – sie war prachtvoll. In einem ganz engen schwarzen Kostüm, wie eine große Eidechse, mit Schultern und Armen, die sehr weiß und sehr stolz aus dieser schwarzen Geschmeidigkeit herausblühten, und zu denen man sich einen herrlichen Renoirrücken träumte, träumen mußte. Arme, die man sich als Mann gleichsam nur verknotet um unseren Hals vorstellen konnte. Sie hatte sich am gemeinsten herausstaffiert von allen, die da waren, und war dabei die unnahbarste. Wie sie neben Egi stand, fühlte man, daß sie den ganzen Abend für keinen sonst ein Wort oder einen Blick haben würde, die mehr als ein Wort oder ein Blick sein würden. Man kann sagen, daß ihr Gesicht ein wenig zu fleischig war, ihr Haar ein wenig zu schwer, ihre Züge etwas zu grob, ihre Augen zu groß und zu wild unter den zusammengewachsenen Brauen. Sie war keine Malerschönheit, sie war eine Bildhauerschönheit ... Man mußte irgendwie an Kellers Judith, »solche, die der Teufel besonders lieb hat« oder die Veronika aus dem Brand von Egerswyl denken. Aber die waren doch unbewußt dagegen, nur naturhaft-schön – das war mehr! Hier hatte Geist und Sinn und Liebe für delikate Dinge mitziseliert, hatten so ganz kleine Striche um die Nasenlöcher gezogen, so ein leises, summendes Sprühen den Augen gegeben, eine Neigung dem Kopf, eine rhythmische Linie der Hand, eine Gepflegtheit den Bewegungen. (Fritz Eisner dachte immer irgendwie an die Gonzales, die Schülerin und Freundin Manets im Balkonbild.) Eigentlich war sie gewiß nicht schlecht, voll von tausend Bedenken, ließ alles Gefühl durch die Filter ihres Verstandes gehen, und doch kann diese Sorte ruhig über einen Mann oder eine andere Frau hinwegtreten; nicht, weil sie soll – sondern, weil sie muß. Man kann nicht behaupten, daß sie die Schönheit des Abends war. Lucie war betörender, Hannchen aparter mit ihrem Nelkenschimmer auf den Backen und ihrer schwimmenden Wärme in den Blicken. Aber in keiner war so die Vermählung von Klugheit, Gefühl und Lebenskraft. Bei den anderen sagte man sich: das ist etwas – ein Göttergeschenk, oder ... vielleicht ein Danaergeschenk an diese Welt; sicherlich aber etwas sehr liebenswertes, mit dem zu spielen, das zu betrachten man nie müde wird, wie einen Schillerfalter oder einen Morpho. Aber bei ihr sagte man sich: das ist wer!

Und neben ihr Egi. Nein, er führte seine Rolle schlecht durch. Jetzt war er nicht mehr der verjämmerlichte, kleine Winkeladvokat, vertrunken und vertränt, in Rührung und Anbetung zugleich vor sich selbst ... was doch so Aussicht auf bessere Tage – denn endlich bedeutete ja doch der Brief heute einen Wendepunkt in seinem Dasein, und deshalb war er wohl plötzlich so ganz losgelöst von allem; er war sogar beinah hübsch, hatte die Hübschheit der Häßlichen bekommen, die oft bestechender ist, als die landläufige. Alle Müdigkeit und Halbheit von vorhin war nun von ihm abgesunken. Was an Klugheit, an Verschmitztheit, an Laune er in sich hatte, hatte sich plötzlich in sein Gesicht geschrieben.

Fritz Eisner erinnerte sich nicht, seinen Schwager so gesehen zu haben. Er kannte ihn doch lange, als jungen Studenten, als Verlobten, als Ehemann. Aber die Frau hatte eigentlich in seinem Dasein ja immer nur eine Nebenrolle gespielt. Er saß bei jeder Gesellschaft im Rauchzimmer, sowie man vom Tisch aufstand, erzählte und hörte Witze, oder fischte sich jemand, mit dem er über irgend etwas plaudern konnte, über Literatur, Naturwissenschaften, Ärztliches oder über die juristische Seite seines »Falles«. Er war ein kluger und anregender Gesellschafter. Aber nur für Männer. An Frauen verschwendete er sich nicht. Hatte auch nicht die Art für sie. Er war verheiratet, elend-unglücklich, hatte die traurigen Gewohnheiten seiner ersten Studentensemester wieder herausgeholt, mit minderem Material in einsamen Straßen (oder vielleicht gottverlassenen Buden?) Nachtstunden hinzubringen. Aber all das war halb unfroh und unfrei, gleichsam nur ein Suchen und Tasten, wie mit Schneckenhörnern, die sich in sich selbst zusammenziehen, sowie sie ein anderes auch nur berühren. Und nun war er ganz gelöst. Es war irgend etwas Unerhörtes mit und in ihm vorgegangen. Man kann vielleicht gar nicht sagen daß es eine plötzliche Leidenschaft war, daß es Beglücktheit war – es war nur ein neues Gefühl, das ihn überrannt hatte; und zwar um so widerstandsloser ihn gefunden hatte, weil er bislang nie gewußt hatte, daß er einer Frau, die zugleich ein Mensch war, auch irgend etwas – ganz gleich was – bedeuten konnte.

Hannchen hing jetzt zärtlich an der anderen Seite von Egi und himmelte zu ihrem Mann herüber. Sie markierte in größeren Menschenansammlungen stets mit bewundernswertem Heroismus »Eheglück«. Sie war noch aufgepulverter als vorhin. Gerötet, losgelassen. Hatte etwas von der Trunkenheit einer Bacchantin. Wenn auch nicht einer richtigen auf einem griechischen Relief eines Sarkophages, so doch einer auf einem Bild von Alma Tadema. Möglich, daß ihr Instinkt etwas Feindliches empfand, und deshalb alle Minen springen ließ, dachte Fritz Eisner. Oder daß die doppelte Aussicht auf bessere und glücklichere Tage in ihrer Ehe (der große Auftrag Egis und die Erbschaft, die da zusammenfielen) sie plötzlich losgebunden hatten.

Aber warum Annchen es durchaus noch diesem Männchen da, dem trockensten aller ihrer Vettern hatte sagen müssen, begriff Fritz Eisner nicht. Er war ältlicher Junggeselle, kleiner Buchhalter seiner Tagespflicht nach. Aber sein Stolz war, daß er an einem Stammtisch von Postassistenten zugelassen war, als einziger Nichtpostmensch, und daß ihn diese Kneipgenossenschaft mit der Zeit so firm im Postfach gemacht hatte, daß Neuhinzukommende – selbst Postvorsteher! – glaubten, daß er vom Bau wäre. Er kam nebenbei aus irgendeiner Gegend Deutschlands, die überhaupt keine Gegend, sondern nur ein Zuckerrübenfeld war, und die außerdem sich rühmen kann, die gleichgültigsten und unangenehmsten Menschen des Reiches zu produzieren. Weder Sachsen, noch Märker, noch Thüringer, einfach gar nichts, plus-minus Null. Er gehörte ferner anderthalb bis zwei Dutzend Vereinen an und gründete aus Beruf und Neigung ständig Ortsgruppen, ganz gleich wovon.

Er hatte, um sich treu zu bleiben, wenigstens eine Postmütze aufgesetzt und ein paar Lyren, Sterne, Eichenblätter als Vereinsabzeichen an den Rock geheftet. Und da er einen viel zu langen Hals und einen viel zu engen und hohen Stehkragen hatte, so sah er aus, wie eine Attrappe im Schokoladengeschäft, der man den Kopf herausziehen und die Plätzchen aus dem Bauch schütteln kann. Er hatte sogar den allzuhohen Kragen nicht unabsichtlich gewählt, denn er hatte in einer Anweisung »Glück und Unwiderstehlichkeit bei Frauen«, deren Lektüre er anderer vorzog – man hätte ihn sonst monatelang in die größte Bibliothek der Welt sperren können, er hätte kein Buch berührt! – hatte also in seinem einzigen und Lieblingsbuch gelesen, daß hohe Stehkragen der Männer auf die Begierden des »schwachen Geschlechts« nicht ohne Wirkung bleiben. Denn so unbedeutend und unansehnlich der geheime Postassistent auch war – er war ein großer Damenfreund. Vielleicht gerade deshalb. Und er war immer voll davon, mußte erzählen, anvertrauen. Es dauerte nicht zehn Minuten, daß er nicht Fritz Eisner oder Annchen oder Hannchen oder Frau Luise Lindenberg oder irgendwen in eine Ecke gezogen hatte, um ihm zuzutuscheln, daß er vorgestern eine »reizende kleine Sache« erlebt hätte, wie selbst ihm sie noch nicht vorgekommen wäre ... »Also, ich gehe da Ecke Kronen- und Charlottenstraße ... (soll man es glauben: die Frau eines Oberingenieurs bei Siemens & Halske!). In Wahrheit aber war er seit fünfzehn Jahren – denn er war hohes Mittelalter, so elftes Jahrhundert bildlich gesprochen – an ein kleines, armseliges, treues, mageres, gutherziges und falschsprechendes Wesen gebunden, das im gleichen Geschäft Taschentücher säumte, und schon selbst eine siebzehnjährige Tochter hatte. Und er wartete nur immer auf die nächste größere Gehaltserhöhung, um endlich heiraten zu können und seine Ruhe zu haben. – Bis dahin aber vertrat er Don Juan und Casanova – wenigstens in Gedanken.

Also warum der eigentlich auch hergeläutet worden war von Annchen – das hieß: den Familiensinn zu weit treiben.

Merkwürdig, dachte Fritz Eisner, wie wenig doch von meinen alten Bekannten da sind! Über dreißig Jahre hat man mit ihnen gelebt, und heute fast alles Gesichter von der anderen Seite her. Bachofen erzählt vom Matriarchat vor Urzeiten: wie der Mann seinen Stamm verläßt, um in den der Frau aufgenommen zu werden. Ist es denn heute anders? Wo sind eigentlich meine Leute von einst hin? Ich weiß gar nicht, wie sie mir geschwunden sind. Manche sind ein, zweimal noch gekommen, und dann sind sie eben weggeblieben. Berlin ist groß; die Entfernungen sind weit; und jeder hat auch mit sich zu tun, muß sehen, wie er weiterkommt. Man kommt so auseinander, man weiß nicht, wie. Die alten Freunde, und vor allem, wenn es unbürgerliche Menschen sind, können sich mit so einer jungen Frau nicht so recht stellen, fühlen, daß man ihnen nicht mehr gehört. Und die Freundinnen von einst, wie auch immer man zu ihnen stand, glauben, daß sie ältere Rechte haben, meinen, daß sie besser an diese Stelle paßten. Und das empfindet die Frau wieder. Ist kühl und förmlich. Und so kommt man eben nach ein paar mißglückten Versuchen, den alten Ton wieder zu finden, auch auseinander. Und bevor man es als Ehemann sich noch recht versieht, steht man isoliert und einsam in einer neuen Umgebung.

Bei der Frau aber ist es anders. Sie nimmt gleichsam ihren ganzen alten Hofstaat in die Ehe hinein. Da sind die Freundinnen. – Nie wird sie sich von ihnen trennen: Jugenderinnerungen, ein Stück Heimat – jetzt, wo sie aus allem herausgerissen ist! Und da sind die Freunde und Verehrer von einst. Schon als Kinder haben sie miteinander gespielt. Auf fünfzig Bällen getanzt. Ist ja nur Zufall, daß sie sich nicht geheiratet haben. Sie tauschen alte Vertraulichkeiten, haben ihren Jargon untereinander. Man kann nicht sagen, daß sie unfreundlich sind – sie begönnern einen sogar und lassen einen gar nicht zu sehr fühlen, daß man eigentlich ein mißliebiger Eindringling in ihre Kreise ist.

Ach, da hockte ja richtig einer von seiner alten Garde, ein Jugendfreund von Fritz Eisner, saß als Hausierer in einer Ecke mit einem Kasten mit bunten Bändern und Bonbons und allerhand Pfennigsachen, auf denen man blasen konnte. Einst hatten sie zusammen den Parnaß stürmen wollen, aber der andere hatte die Bergtour vorzeitig aufgegeben, alle Dichterpläne begraben, war Kaufmann geworden, und saß nun, mit sich zufrieden, ohne Hoffnung und Aussicht seit fünfzehn Jahren in einer leidlichen Stellung. Und eigentlich war jener der begabtere gewesen. Er hatte auch geheiratet, das heißt das Wort Heiraten ist hier nicht als reines Aktivum zu nehmen, auch nicht als absolutes Passivum, sondern als ein Medium; wie zum Beispiel sequor, ich folge, im Lateinischen, das ja auch eine leidende Endung, aber eine handelnde Bedeutung hat. Es ist ohne Zweifel ein armseliger Rückschritt der deutschen Sprache, daß es gegenüber den antiken Sprachen diese halben und fragwürdigen Tätigkeitsformen, die man so vielfach anwenden müßte, gar nicht kennt. Aber endlich fühlte der Hausierer sich ja ganz wohl dabei und wollte es gar nicht mehr anders. Während er immer noch an den steilen Hängen im Sonnenbrand herumkrebste, und vom Gipfel noch genau so weit entfernt war, wie damals. Ja, er sah ihn noch gar nicht.

Wirklich. Und das Mädchen da mit dem bunten, bemalten Bauernkorb voll Apfelsinen, die aus der Hand weissagte, und immerfort rief: »Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit bestimme ich Ihnen vor einen Groschen im voraus!« Die kannte er auch von Kindheit an. Ihr Mann, der Monteur neben ihr, lang, hager, übernervös, ausgedörrt, in den Gelenken klappend wie ein Taschenmesser ... er hatte köstliche rote und blaue Tätowierungen auf den Armen und auf der Brust. Meisterwerke. Eine ganze alte Fregatte mit Segeln, Radfahrer, Kinder, Herzen mit verlockenden Inschriften. Es tat einem wirklich leid, daß sie morgen wieder abgewaschen werden sollten. So lustig und eigenartig waren sie ... ihr Mann war ein geschätzter Zeichner, den Fritz Eisner von seinen ersten Anfängen an geliebt hatte, bienenfleißig, durch und durch genial, stets tief unzufrieden mit sich und seiner Kunst, unheimlich in seiner bohrenden Begabung, die in einer der Wirklichkeit zugewandten Zeit neue, ungekannte Dinge ahnte ... aber innerlich dabei voller Musik und voller Figur.

Aber die drei waren wohl alle, die ihm noch hier in diesem Gewühl aus den ersten dreißig Jahren seines Lebens geblieben waren. Ach nein, da prangte ja mitten auf der Theke vor ihm ein großer Napfkuchen mit Schokoladenguß; und das war ein Erkennungszeichen. Also mußte wirklich auch seine Mutter irgendwie gekommen sein. Des Abends und trotz der unbequemen Fahrt.

Augenblicklich hielt sie nämlich in ihren Gaben bei Napfkuchen mit Schokoladenguß. Sie hatte immer solche Dinge, die sie allen schenkte, denen sie sich verpflichtet glaubte und, mit denen sie bei den Verwandten zu Geburtstagen und anderen festlichen Gelegenheiten die Reihe rundum ging. Eine Weile hatte sie sich auf selbstgestickte Staubtuchtaschen verlegt. Solche mit Seide und Troddeln auf braunem Filz. Aber dann war sie nach einem kleinen Malheur – (als sie gerade eine Staubtuchtasche anbrachte, hing schon die Zwillingsschwester von ihr, groß und breit, an der Wand ... ob es eine plumpe Fälschung eines Unberufenen war; oder, ob ihr sonst nie versagendes Gedächtnis dieses Mal ihr einen Streich gespielt hatte, und sie Tante Fanny schon zu Neujahr solche Tasche geschenkt hatte, was man bei diesem Großbetrieb immerhin bis zum 28. März vergessen kann, ist nie ganz aufgeklärt worden) – war sie also nach diesem etwas peinlichen Zwischenfall zu gläsernen Limonadenstäbchen übergegangen. Zu solchen mit fadenartigen, ineinander geschlungenen bunten Glasfüßen, wie sauere englische Bonbonstangen.

Aber, als sie das achtzehnte Dutzend davon ihrer Nichte Hulda brachte, zum sechsundfünfzigsten Geburtstage, da lagen schon drei Dutzend von solchen Glasstäbchen auf dem reichen Gabentisch, und zwar alle noch in dem gleichen farbigen japanischen Seidenpapier, in denen sie sie zu überreichen pflegte.

Und von Stunde an war Frau Eisner senior zu Napfkuchen mit Schokoladenguß übergegangen. Sie hatte gleichsam mit einer Wünschelrute eine vorzügliche Quelle dafür entdeckt, die sie, soviel man auch mit List oder Überredung bemüht war, von ihr herauszubringen, ängstlich geheimhielt. Und sie kosteten nur zwei Mark. Für drei Mark waren sie noch größer. Ihr Stolz und ihre Hoffnung war, daß einer für zwei Mark so groß ausfiele, daß man glaubten konnte, er koste drei. Mit diesen Schokoladenapfkuchen konnten ihr solche Überraschungen, wie mit den Staubtuchtaschen und den Limonadenstäbchen nicht mehr blühen. Sie blieben allerhöchstem acht Tage genießbar. Und, wenn selbst einer einen zu Neujahr bekommen hatte, und versehentlich am zehnten Juni nochmal einen erhielt, so schadete das gar nichts. Denn der Napfkuchen mit Schokoladengruß war so vorzüglich, daß man ihn gut und gern innerhalb sechs Monaten zweimal essen konnte.

Und da stand also einer für zwei Mark, und sah wie für drei aus. Entweder hat ihn die Mutter geschickt, oder sie hat ihn selbst gebracht und ist noch beim Kind drin. Nett, wenn die alte Dame herausgekommen wäre.

Annchen kam rot und lachend auf ihren Mann zu und schwenkte einen Strauß Rosen. Sie war wie ausgewechselt. So etwas lag ihr. War etwas für ihre Schlagfertigkeit, ihre alte Tanzfreude. Sie lebte auf dabei. Eigentlich war das und nur das ihre Luft. Sie brauchte viele Menschen, und viele lustige Menschen um sich. Brauchte Huldigungen, wirkliche und eingebildete. Nicht, daß sie sich etwa in den Mittelpunkt stellte, eines Auditoriums benötigte; aber sie mußte eine Menge haben, die sie trug. Einsamkeit, Ruhe, planmäßige Arbeit fürchtete sie, und war für sie körperlich und seelisch nicht gewappnet, wurde bald nervös, unleidlich und verheult. Fritz Eisner hatte gemeint, daß das Kind ihrem Wesen mehr Stetigkeit, einen Mittelpunkt geben würde. Endlich konnte sie ja auch so genug vom Dasein haben. Saß mit an der Quelle, für alles, was der Tag brachte, und für alles, was dem Leben Sinn gibt oder zu geben vortäuscht. Aber das kam nur an sie heran oder glitt nur durch sie hin. Sie nahm es wohl auf, sprach wohl auch gern darüber, vor allem vor solchen, denen das fremd war, und auf die sie Eindruck machen wollte, aber es amalgamierte sich nicht mit ihrem Wesen. Zum Schluß suchte sie immer irgend etwas anderes, das nicht von seiner Welt war, und das ihr zu geben, nicht in seiner Macht lag. Sie ließ vielleicht sich mitziehen; aber sie ging nie nebenher.

Jedoch sowie Abwechslung winkte, war sie eine andere. Niemand, der nachher ahnte, wie sie vor wenigen Stunden gewesen war. Und seitdem das Kind da war, war das nur noch schlimmer geworden als vorher. Na ja, solch Kind austragen und bekommen – ist ja endlich keine Kleinigkeit; es scheint so unerhört alltäglich, und doch hat noch nie ein Mann begriffen, was das für eine Frau seelisch und körperlich bedeutet und bedingt.

Fritz Eisner hatte sich oft darüber gewundert: eben hatte Annchen noch sinn- und haltlos geweint, ohne sichtbaren oder verständlichen Grund, schien ganz verfallen, brach unter irgendwelchen Lasten zusammen, und kaum trat sie unter die Leute, so strahlte sie auf, lachte, nickte, grüßte, schwatzte, war sogar witzig, weit über ihr sonstiges geistiges Maß hinaus; und sie blieb es, solange das Fluidum der Gesellschaft auf sie übersprang. Aber stieg man dann an der nächsten Straßenecke in die Droschke, um nach Hause zu fahren, so wurde sie plötzlich wortkarg, gereizt, fiel wieder zusammen, und begann halt- und widerstandslos zu gähnen ... während er gerade, den viele Menschen stets niedergedrückt hielten, jetzt erst lebhaft zu werden begann. Und am nächsten Tag war der Abend vorher vollkommen ihr geschwunden, und es bestand nur wieder der Alltag mit seinen Beklemmungen und Hoffnung auf die neue Einladung, das Konzert oder, was sonst angetan war, ein paar Stunden auszufüllen. Vielleicht war das die einzige Zeit, da sie lebte, da sie in ihrem Element war, da ahnte man, was sie menschlich eigentlich sein konnte. Wirklich, sie sah auch heute ganz prächtig wieder aus als Wirtin. Es schien ihre Rolle: klein, dicklich, betulich, schnabbrig ... gutmütig, mit dem Einschlag kleinbürgerlicher Pöbelei ... sauber mit der weißen Schürze und den Puffärmeln und dem großen Hornkamm im Haar.

»Kiek mal Männe«, rief sie und stemmte die Linke, wie eine Marktfrau in der alten Berliner Posse, energisch in die Hüfte: »Paß mal Achtung, kennste vielleicht die Rosen hier?« Und damit hielt sie Fritz Eisner ein Dutzend – oder waren es nur elf? – langstielige Rivierarosen unter die Nase.

»Ja«, meinte Fritz Eisner, der hinter der Anrichte stand, die als Schanktisch zurecht gemacht war, und mit Schmerzen bemerkte, daß die Wiener Würstchen bis auf wenige armselige Pärchen, die in dem warmen Wasser schaukelten, schon geschwunden waren ... »die habe ich dir doch ...«

»Du mir nich – vastehste!« rief Annchen lachend. »Aber Lucie hat sie mir mitgebracht!«

»Naja, es wird wohl noch mehr solche Rosen in Berlin geben.«

»Alter Schlieker!« rief nun Annchen überlaut. » Wo hat Lucie die Rosen her ... he? Wülste das wohl bekennen!?«

»Das weiß ich doch nicht!« sagte Fritz Eisner und fühlte sich rot werden, denn er konnte es doch nicht sagen, daß er es wußte. »Voraussichtlich ... gekauft!«

»Na na, du Sünder! Aber daß du mir etwa nich mit die jehst. Das hast du nich nötig.«

Die anderen lachten ringsum über diese gutgespielte eheliche Szene, auch Lucie. Vor allem aber, weil Fritz Eisner nach seiner ganzen Art es nur schwer verstand, sich plötzlich umzustellen.

»Sie brauchen auf Ihren Ollen ja nich eifersüchtig zu sein, Frau Wirtin«, meinte Lucie sehr geringschätzig, als das Gelächter etwas verebbt war – »da such ich mir janz andere. Aber dadrum keine Feindschaft nich!«

Annchen faßte Lucie um und küßte sie. Das gab's bei ihr ziemlich schnell.

»Hat Mutter den Napfkuchen geschickt?« fragte Fritz Eisner.

»Hast du sie denn noch nicht gesehen? Sie ist drin beim Kind. Das nimmt jetzt Pauline nochmal auf, und da muß sie doch dabei sein.«

»Also Frau«, sagte Fritz Eisner, »nun paß mir gut auf: die Jäste können bei mir nehmen, was se wollen. Aber schreib allens auf, und wer nich blecht – fliejt nachher einfach!« und damit krempelte er sich die Ärmel noch weiter hoch, um seine Fähigkeiten als Rausschmeißer wenigstens ahnen zu lassen. Und Annchen nahm seine Stelle am Schanktisch ein und klatschte den Leuten Portionen von Heringssalat und Italiener auf die eben abgegessenen Teller, schmiß ihnen Wurstbrote zu und stopfte in sie rein, wie in amerikanische Füllöfen. »Hör mal«, rief sie ihrem Mann nach, »mit dem Camembert hast de dir verdammt reinlegen lassen. Der schmeckt gerade, als ob man die Zunge zum Fenster raussteckt!«

Als Fritz durch den Salon ging, kam der galonierte Diener auf ihn zu. »Herr Wirt!« sagte er, »ich möchte Ihre Kneipe zu meinem Stammlokal erheben. Ick heiße Spanier und bin eigentlich Heilgehilfe an de Charité. Nur ab und zu verdien ick mir noch so'n Taler abends als Lohndiener nebenher.«

»Ach Herr Doktor, das freut mich, Sie endlich kennen zu lernen!« rief Fritz Eisner und vergaß seine Rolle, denn von allen Gesichtern, die ihm nicht so ganz geläufig waren ... dieser und jener, die er selbst kaum gekannt, hatten nämlich noch andere mitgebracht – es mochten nun schon so an vierzig Personen sein, die sich in den drei Räumen und auf der breiten Loggia durcheinander drängten, tanzten, aßen, herumstanden, saßen, wo es zu sitzen gab, und aus Kissen sich Sitzecken noch überall improvisiert hatten ... aus allen Gesichtern war ihm eigentlich nur dieser kluge und rassige und schmale, dunkeläugige Kopf aufgefallen.

»Wat heißt hier Doktur?! Ick bin Kurpfuscher!« Da kam Lucie und hing sich an ihn. »Na, Herr Wirt«, sagte sie. »Hab ich mir nicht da einen netten Mann ausgesucht? Wenn Sie mal was haben, kommen Sie einfach zu ihm. Des macht der Ihn' mit X-Strahlen allens weg. Und vor Ihnen macht er Ausnahmepreise. Oder ißt es bei Ihnen mit Karbonaden wieder ab. Nicht ... Dju?«

Oh – das war also der Doktor Julius Spanier. Er galt als ein ungewöhnlich begabter, ja genialer Kopf, und hätte auch trotz seiner dreiunddreißig, vierunddreißig Jahre hier längst eine ordentliche Professur haben müssen, wenn er sich zur Taufe bequemt hätte; denn er war bahnbrechend für die neue Röntgentherapie. Wie war der wohl zu Lucie gekommen, und sie zu ihm. Denn eigentlich paßte sie doch nicht sehr zu ihm. Er ganz Gelehrtentyp und sie ganz – nun, sagen wir: Weltdame. Aber vielleicht brauchte gerade jenes das andere als Ergänzung.

Selma Klein und Paula, die sich angefreundet hatten, stellten sich vor die Tür und Paula hielt Fritz Eisner ihren Apfelsinenkorb hin: »Zwei Stück sechs Dreier!« sagte sie und reichte Fritz Eisner eine Orange.

»Fällt denn bei das Geschäft was ab, Mädchen?« sagte Fritz Eisner, nahm sie unters Kinn und hob ihren Kopf, denn es fiel ihm auf, daß eigentlich so gar nichts von der Lustigkeit des Abends auf ihrem Gesicht stand. Warum nur?! Sorgen, direkte blöde Sorgen hatte sie doch nicht.

»De Schalen!« meinte Paula sehr ruhig, und ohne die Stimme zu heben. Vielleicht hatte sie diesen Witz heute schon öfter gemacht. Aber dann setzte sie ganz leise hinzu: »Weißt du, Fritz – ich möchte das Kind mal sehen. – Darf ich?«

Fritz Eisner wollte eigentlich irgendwie ablehnen, denn wenn Little Dorrit aufgeregt würde – und Frauen stürzen sich immer gleich über solch Kind her und wollen mit ihm spielen – würde es nachher zu munter sein, dann würde es über den Schlaf wegkommen und ungnädig werden. Und, wenn auch Pauline es sonst vorzüglich verstand – (wie sie das machte, war ihm ein Rätsel, wenn er es beruhigen wollte, schrie es nur immer noch mehr) – ob ihr das heute gelänge, wo schon ringsum solch Lärm war, war doch mehr als fraglich. Aber irgend etwas im Ton Paulas, die er doch seit zwanzig Jahren genugsam verstehen gelernt hatte, bestimmte ihn, es nicht zu tun.

»Aber dann ganz leise!« sagte er. Doch Selma, Doktor Spanier und Lucie drängten nach durch die Tür.

»Ick bin Lazarettgehilfe«, sagte Doktor Spanier, »ick derf!«

»Und ick will was lernen, Herr Wirt«, meinte Lucie. »Man weiß nie, wie man's nochmal brauchen kann.«

Pauline hatte Little Dorrit, die sie wohl eben nochmal gebündelt hatte, gerade auf dem Arm und Frau Eisner senior stand vor ihr.

Sie war eine kleine umfängliche Dame, noch mit ganz dunklem, aber dünnem Scheitel ... einem schwarzen Moireekleid mit echten Brüsseler Spitzen aus reichen Jugendtagen ... einer großen altmodischen Brosche ... einem runden, faltenlosen Gesicht und sehr freundlichen, klugen, graubraunen Augen, die in den Augenwinkeln – ein Familienzug – ganz leicht und witzig überschnitten waren. Sie war schwer und nicht recht beweglich, denn sie hatte von der Geburt ihres Sohnes ein Beinleiden zurückbehalten, das im Laufe eines Dritteljahrhunderts und mehr nicht gerade besser geworden war. Aber sie hatte sich – wie mit allem, was ihr in einem schweren Leben bestimmt war – wundervoll damit abgefunden, und lenkte ihre Welt daheim meist von ihrem großen roten Plüschsessel aus ... wie Torstenson, der ja auch vom Gichtstuhl aus Schlachten lenkte und gewann. Und sie ließ ebenso die große Welt, ohne daß sie das ahnte, an sich mit all ihren Heerscharen an ihrem Thron vorbeidefilieren. Sie hatte die ganz seltene Klugheit, sich nie aufzudrängen, sich nie auffällig in etwas zu mischen, und doch alle Dinge nach ihrem Gefallen und Wunsch dabei zu lenken; weil ihr Alter, ihre ruhige, freundliche Art und ihre Lebenserfahrung ihr so viel Überlegenheit über andere gab, daß sie ruhig es den anderen überlassen konnte, bei ihr um Rat zu fragen. Sie selbst war vorerst ganz still. Sie wußte genau – die anderen kamen ihr schon.

Zwischen Mutter und Sohn bestand mit wenigen Worten und Selbstverständlichkeiten das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Der Junge hatte ihr viel Sorgen gemacht, war nur langsam gereift. Aber sie hatte ihn nie behindert, seinen Weg zu gehen, und glaubte ohne Überschwang daran, daß er sich – vielleicht nur ein wenig später, als andere – schon einmal durchsetzen würde. Endlich war er ja sogar ganz honett und bürgerlich verheiratet, hatte eine reizende Frau, zu der sie sehr hielt, schlug sich ohne fremde Hilfe durch und hatte heute sogar das ganze Haus voller Leute. Also konnte es ihm doch gar nicht schlecht gehen.

Sie nickte ihrem Sohn zu und hielt dabei vorsichtig an ihre Backe eine Milchflasche, um zu prüfen, ob sie nicht zu heiß wäre.

»Kind aus dem Hause Ittstein!« sagte sie und wies auf Pauline und Little Dorrit, die beide so im Schein des Lichtes mit großen blanken Augen vor sich hinsahen.

Wirklich, das war der Frans Hals aus dem Museum – die Amme mit Kind, dieses freundliche Gesicht der jungen Person in der unbewußten und still lächelnden Hingegebenheit. Nur das Häubchen fehlte. Und in den Blicken von Little Dorrit lag der gleiche erstaunte und leicht belustigte Glanz über das Sehr-Komische des Lebens, und das noch viel Komischere einer Umgebung, die zum Teil stillstand und bunt war, zum Teil sich aber bewegte und sich einem unter allerhand Lauten und Verrenkungen bemerkbar zu machen suchte.

»Auf dich habe ich nun achtunddreißig Jahre lang gewartet«, sagte Frau Eisner senior und hielt Little Dorrit ihren Kneifer hin, ließ ihn am Band tanzen. Denn Frau Eisner war eine sehr alte und einmalige Großmutter, während Frau Luise Lindenberg, der Gegenpart, eine sehr junge und doppelte Großmutter war.

Paula hielt Dorrit eine Apfelsine hin als das, was am meisten leuchtete.

»Schade eigentlich, daß sie größer werden – so sind sie doch am reizendsten«, sagte sie leise, ohne die Stimme zu heben; und man wußte nicht: tat sie das des Kindes wegen, oder war es ihr nicht danach, laut zu sprechen.

»Ach nein!« sagte Selma und spielte dazu mit den Schulterblättern, wie sie es immer beim Sprechen tat, während sie eine gehämmerte Silberplatte, die sie wie ein Hadschir an einer Kette um den bloßen Hals trug, hin- und herfunkeln ließ. »Ach nein – solange Kinder so ganz klein sind, sind sie doch eigentlich nur vegetativ -reizvoll. Erst, wenn sie über drei Jahre sind, und man nun sieht, wie die junge, noch knospenhafte Seele sich täglich mehr und mehr entfaltet« – Selma redete auch Brandmalereien und Lampenschirme – »hat man doch als Mutter erst aufrichtig Freude an seinem Liebling.«

»Ganz richtig«, meinte Frau Eisner senior, nicht ohne stilles Behagen; denn sie verstand es, den anderen, ohne daß er es merkte, wie eine Spieluhr aufzuziehen, bis er sein ganzes Stück abschnurrte.

»Ja, man glaubt gar nicht, welch ein Zartgefühl solch ein trotziger Bub doch haben kann! Sobald ich zum Beispiel, wenn mein Mann müde nach Hause gekommen ist, zu meinem Eberhard sage: ›Ganz still, mein Junge, Herzlieb schläft!‹ so rückt und rührt er sich nicht. Und gestern vormittag gehe ich mit Eberhard meine Freundin Katharina Müller besuchen, die eben ein Kind bekommen hat ... wie soll man solchem Jungen das klarmachen, für Hugo Salus ist er doch noch zu klein ... also erzähle ich ihm vom Klapperstorch. Ich wundere mich, Eberhard ist gar nicht recht an den neuen kleinen Weltbürger heranzubringen, sprach auch gar nicht darüber; und heute stellte er sich vor seinen Vater hin: ›Denk mal, Herzlieb‹, sagt er, ›bei Tante Katharina war der Klapperstorch; da hat ihn Mutti eingefangen, ihn in ein Steckkissen gesteckt, blaue Bändchen umgebunden – und dann hat er gebrüllt wie 'n Schwein!‹«

Frau Eisner senior lachte behaglich vor sich hin. »Gewiß, junge Frau«, sagte sie, »es ist doch zu reizend, wie solch junge knospende Seele sich entfaltet. Natürlich: so weit ist mein Enkelchen hier noch nicht.«

Doktor Spanier war mit Lucie an den Wickeltisch getreten und sah durch scharfe Brillengläser mit fachlichem Interesse zur Tapete herüber. »Hören Sie mal, Herr Wirt!« sagte er – »ich würde den Wickeltisch aber nicht an die Wetterwand stellen – überhaupt würde ich, wenn es geht, das Schlafzimmer nach hinten legen – es riecht nämlich auch etwas stockig hier.« Und dann fuhr er mit ärztlicher Freundlichkeit Little Dorrit über den Kopf, als ob er sie tätschelte, in Wahrheit aber wollte er sich wohl überzeugen, wie weit schon die Fontanelle geschlossen war. »Ich gratuliere, Frau Großmutter!« sagte er, »die junge Dame ist ja vorzüglich im Stand. Verstehen Se, Madame, ick bin nämlich Lazarettgehilfe von Hause her – ick kann so was beurteilen. Nur des Abends jehe ich manchmal, wenn's Geschäft nicht recht kleckert, noch als Lohndiener. – Aber nu wollen wir mal die kleine Prinzeß nicht weiter stören.«

»So etwas müßte man eigentlich auch haben, dann wäre« ... meinte Paula wieder sehr tonlos, und legte plötzlich, ohne den Satz zu enden, über den Wickeltisch gebeugt, den Kopf in die Hände und schluchzte ganz leise vor sich hin ... so leise, daß es vielleicht gar nicht alle bemerkten.

Frau Eisner senior, die Paula schon von früh an kannte, legte ihr vorsichtig ihre kleine, fette Hand auf die Schulter. »Närrchen«, sagte sie sehr freundlich, »da brauchst du nicht darüber zu weinen; das wird auch nicht ausbleiben. Ich habe sogar welche gekannt, die nach-her über das Gegenteil geweint haben!«

Paula richtete sich schnell auf und fuhr sich über die Augen.

»Ach, nein, Dju!« sagte Lucie und hing sich an ihren Mann, »jetzt möchten wir so etwas noch gar nicht. Man ist dann so angebunden. Schrecklich!«

Pauline, das Mädchen, hatte inzwischen Little Dorrit sauber in ihr Körbchen verstaut und drängte, daß man hinausging, denn beim Trinken wünschte Dorrit allein zu sein, liebte es wie die Raubtiere im Zoo nicht, daß sie bei den Mahlzeiten gestört würde; und außerdem sollte sie auch gleich wieder einschlafen.

Langsam gingen sie aus dem Zimmer. Zuerst Selma, dann Doktor Spanier und Lucie, dann Fritz Eisner und Paula. Frau Eisner senior trennte sich am schwersten; aber sie wollte es mit Pauline nicht verderben. Nachher ließ sie das etwa ihr Enkelkind entgelten.

Fritz Eisner suchte für seine Mutter nach einem bequemen Stuhl und eroberte ihr glücklich seinen Schreibtischsessel, der alt und deshalb von einer annehmlichen und bequemen Breite war und ein sehr weiches, gesticktes Kissen hatte.

»Es ist ja bei dir beinah' so fein wie im Elfenhügel von Andersen«, sagte Frau Eisner senior; »für alles ist gesorgt: die Wassernixen werden eine Brunnenkufe oder einen nassen Stein zum Sitzen bekommen.«

Und nun blieb sie für den Rest des Abends ganz im Hintergrund, im letzten Zimmer, fest auf ihrem Platz und hielt breit und freundlich in ihrem Moiréekleid und der großen Brosche Cercle. Und immer war um sie ein Halbrund versammelt, das sogar das Tanzen darüber vergaß.

Fritz Eisner aber durchschlenderte die Räume, stellte sich hie und da zu den Gruppen und schwatzte. Seine Rolle führte kaum noch einer durch, oder nur für Minuten, um dem Sinn des Festes nicht ganz untreu zu werden. Der Monteur und der Hausierer und der Hausdiener von Gumpert & Mühsam entrierten ab und zu noch eine kleine Schlägerei mit Messerstechen – die sich aber in Wahrheit darauf beschränkte, daß sie dem Postassistenten, der in Worten und Taten nicht so recht mit ihnen mitkonnte, freundschaftlich die Mütze über die Augen trieben; oder Lena Block spielte Montmartre und beschimpfte jemanden sehr laut mit der ganzen Fülle ihres Argots, und machte auch wohl Annchen eine wilde Eifersuchtsszene ob irgendeiner Scheußlichkeit von Mann. Aber jeder fühlte, daß man so etwas nur noch tat, weil es dazu gehörte. Nicht aus Überzeugung. Fritz Eisner hatte auch bald erkannt, daß er eigentlich am Schanktisch sehr unnötig gewesen war, und daß es da ohne ihn viel besser ging. Woher zum Beispiel der Wurstkessel wieder gefüllt war, ahnte er nicht, und an den Schüsseln voll Salaten und Mayonnaisen war er auch unschuldig.

Egi aber war nicht von der Bar wegzubringen, hatte sich in ihrer Nähe einen Stammplatz gemacht, so wie der Eckensteher Nante bei Glasbrenner geradeüber von Mewes in der Jägerstraße.

Jawohl: von der Bar! Denn an einem eigens hinzugeschleppten Tisch hatte sich die Kommende Note als Mixer etabliert und gleichsam aus dem Nichts, wie das Schild darüber verkündete, eine Port-Arthur-Bar geschaffen, mit Flaschen von Wermut und zahllosen Schnäpsen, von deren Vorhandensein Fritz Eisner vorher keine Ahnung gehabt hatte. Ja, er hatte sich sogar eine Halbe Heidsieck gesichert, hatte Eier, Apfelsinen, Zitronen, Essig, Pfeffer, Mostrich, Nelken, Ananas, Bananen sich erobert, selbst Gurken (oder waren die vom anderen Tisch nur zufällig hier abgestellt worden und gehörten eigentlich zur Familie der Heringsalate). Mit der Sicherheit eines Küchenchefs schlug er in einem Messingbecken Eierschnee, ohne ein Schaumflöckchen zu verspritzen, und goß dann, mit der genialen Kühnheit eines großen Chemikers, die heterogensten Flüssigkeiten in eisgeschwenkte Weingläser hinein. Er tat all das ganz erfüllt mit stiller Hingegebenheit; so als ob er eine rituelle Handlung dabei vollzöge, und über die geheimsten Geheimnisse der Eleusinischen Mysterien des Mixertums verfüge. Er goß die wohlschmeckendsten Dinge zusammen, warf noch wohlschmeckendere, wie Ananas, brockenweis hinein und erzielte eine Komposition damit, der er einen phantastischen Namen gab, und die aber genau wie unverdünnte Worcestersauce schmeckte, die man eigentlich billiger hätte haben können. Egi aber war als sein Hauptkunde nur schwer vom Tisch wegzubekommen.

»Hör' mal«, sagte sein Schwager und zog ihn mit sich, denn Hannchen hatte ihm zugewinkt, er solle etwas auf ihn achtgeben. »Hör' mal – was ist unser vereidigter Mixer eigentlich von Beruf?«

»Scheidungsgrund!« sagte Egi.

»Das mag er im Privatleben sein – womit ernährt er sich?«

»Er prostituiert die Jurisprudenz!«

»Also Rechtsanwalt!« meinte Fritz Eisner. Denn diese verachtete Egi am meisten, weil sie die edle Reinheit wissenschaftlicher Erkenntnis und Untersuchung zu praktischen Dingen mißbrauchten. Was jene Egi nebenbei getreulich zurückzahlten, indem sie in ihm einen Narren und Phantasten sahen, der sich einem nutzlosen Jonglieren mit Gedanken und Begriffen hingab, statt mit Bällen, was immerhin doch noch einigermaßen nett anzusehen gewesen wäre.

»Nicht mal das!« meinte Egi; und machte eine lange Pause, eher er das Wort ausspuckte: »Syndikus!!!! Von irgendeiner neuen Gesellschaft, die gar keinen Namen mehr hat, sondern nur drei große lateinische Buchstaben, und die sich durch Inzest mit Tochtergesellschaften vermehrt. Außerdem steht ein Konzern hinter ihr. Du weißt doch, was ein Konzern ist? – Das ist die letzte juristisch-unfaßbare Gemeinheit des Großkapitals!«

»Wie kommst du eigentlich zu der intimen Kenntnis seines Privatlebens?« fragte Fritz Eisner erstaunt und zeigte dabei auf Doktor Spanier, der im Salon sich gerade mit vieler Wichtigtuerei der Herstellung und dem Abschmecken einer Bowle hingab und sich von Lucie dabei assistieren ließ. »Glaubst du, daß da ein Dreieck à la Hedda Gabler und Arno Lövborg ...?«

»Ein Dreieck?« sagte Egi und schüttelte, beteuernd und den Gedanken weit von sich weisend, den Kopf. »Nein, da lege ich für Lucie meine Hand ins Feuer! Bestenfalls ein Polygon. Schon Schiller hat auf sie hingewiesen, als er sang: Der Jüngling wie der Greis am Stabe – ein jeder ging beglückt nach Haus!«

»Seht!« machte Fritz Eisner, »menagier dich!« – Egi hatte immer eine Schandschnauze; er gefiel sich darin. Fritz Eisner verstand das in Wahrheit auch nicht ganz, denn die da im Salon, Lucie und ihr Mann, waren eigentlich sichtbarlich bei ihrem Geschäft des Bowlebrauens von einer Wolke von Glück und Verliebtheit umgeben, wie Venus von einem Taubenschwarm. Vielleicht war er noch zu jung dazu, um das zu verstehen. Er mußte noch ein Jahrzehnt älter werden, um erfassen zu können, daß die Sache mit dem Polygon doch seine Richtigkeit haben konnte, und daß Lucie trotzdem ihrem Mann von Herzen zugetan war, auf ihn (in ihrer Art) stolz war, und ihn sogar liebte, wenn sie für einen Menschen überhaupt Gefühl hatte. Sie dachte sich nichts Böses dabei, wenn sie ihn betrog, mit anderen Männern spielte oder ihnen verfiel. Es war das bei ihr wie ein artistischer Trieb. Es machte sie auch nicht schlechter noch besser. Sie blieb, wer sie war. Über die Zeit, daß sie an Männern seelisch zugrunde ging, war sie damals schon längst hinaus.

Die gesamte Literatur aber saß hinten bei den Bücherregalen und hielt treulich Nachbarschaft mit Frau Eisner senior im Schreibtischstuhl, die all ihren Tiraden still und lächelnd lauschte. Denn sie war so etwas von ihrem Sohn her gewohnt, und es setzte sie nichts mehr dabei in Staunen. Man kann nicht sagen, daß sie feminin eingestellt war, die Literatur, auch nicht die Presse. Selbst die Jungen und Jüngsten tanzten nur wenig, empfanden es als eine unliebsame Unterbrechung, und kamen, sowie man sie wieder freiließ, zu den Ihrigen und den Bücherreihen in den Regalen, die sie umschnupperten, zurück.

Ganz am anderen Ende der drei Räume, im Salon mit den Puppenmöbeln, hatte aber auf einem Haremslager von Kissen in einer Ecke die Bildende Kunst ihre Sezession aufgeklappt. Mit Selma und Hannchen, die so nebenher, wenn auch dilettantisch und ungeschult, einen geheimen kunstgewerblichen Ehrgeiz hatte, mit Paula und ihrem Mann, mit Lena Block und den Gumperts als Mäzenen, und natürlich auch nunmehr mit Egi, als einer Hauptstütze, da er plötzlich sein Herz für die Malerei entdeckt hatte. Und beide Lager hielten durch Parlamentäre eine ständige Verbindung aufrecht, waren voneinander und von den letzten Wendungen und Hoffnungen der Redeschlachten unterrichtet. Fritz Eisner pendelte glückselig zwischen ihnen hin und her. Endlich waren doch das und nur das seine Leute, mit denen er sprechen konnte, und die die gleichen Dinge ernst und wichtig nahmen, wie er; und die gleichen verachteten. Die anderen mochten ab und zu ganz nett sein, ganz witzig und vergnüglich, aber sie schleppten für ihn doch nur in einem bejammernswerten Provisorium sich hin, das sie Leben nannten.

Das geistige Zentrum, der Redeturm der Literatur, war und blieb der Alte mit der Sammetjoppe und dem Flatterschlips, der jeder Rebellion der Jugend wie Rabbi ben Akiba sein »Alles schon mal dagewesen!« entgegensetzte, und sich außerdem auf das »Nil admirari« beschränkte. Der zweite Wortführer jedoch war der alias Johannes Hansen mit dem verquollenen Gesicht und seinen zitronengelben Handschuhen, die er immer noch nicht ausgezogen hatte.

Als Egi zu ihnen trat, hatte der literarische Areopag gerade Liliencron beim Wickel, den Fritz Eisners Jugendfreund und Mitstrebender zum Parnaß von ehedem, der kleine Hausierer, der glücklich war, hier einmal für Stunden in sein Urelement zurückkehren zu können, wild, aber aussichtslos, verteidigte. Denn er liebte dessen Frische und Unmittelbarkeit, die lebensvolle Bildhaftigkeit seines Wortimpressionismus und zitierte stockend vor Glück ganze Seiten aus »Poggfred« und den »Sizilianen«.

Aber der Alte schrie, er solle ihm doch nur mit diesem Fetzenepos vom Leibe gehen. Und Johannes Hansen sagte: er begriffe nicht, warum man gerade für einen Menschen von fragwürdigster Charakterfärbung, wie Liliencron, sammele, weil er das zweifelhafte Vergnügen hätte, jetzt sechzig Jahre zu werden. Zum Schluß hätte er, Johannes Hansen, ja auch nicht völlig unbekannt – durch seine Zeitschrift – die an dem Haß der Reaktion und des Klerus und »dunkler Mächte«, von denen er nicht sprechen wollte, zerschellt wäre, hätte er als Schriftsteller von Graden und als Märtyrer der Kultur das gleiche Anrecht auf Unterstützung; und für ihn solle man sammeln ... das wäre des deutschen Volkes würdiger. Und außerdem Liliencron! ... ein anständiger Mensch muß überhaupt so viel Schamgefühl haben, daß er Gedichte vielleicht macht, aber nicht veröffentlicht.

Fritz Eisner wollte laut herauslachen. Denn so viel heitere Selbstverspottung hatte er eigentlich dem kleinen, einst so aufgeblasenen Johannes Hansen gar nicht zugetraut. Aber da fiel ihm auf, daß der sich in ein Pathos hineingesteigert hatte, das keineswegs gespielt sein konnte, und daß hinter seinem glatten und verquollenen Gesicht es dabei derart zuckte und arbeitete, daß es ihm kaum möglich war, das Monokel im Auge festzuhalten. Und er hatte die Empfindung, daß er schnell in das Gespräch eingreifen müsse, um dadurch irgend etwas Gräßliches zu vereiteln, das ganz und gar nicht zu dem heutigen Abend und seiner heiteren cytherenhaften Stimmung paßte. Denn die Destille mit ihrem rüden Ton war längst vergessen. Es war vielleicht durch die Frühlingsnacht, die durch die geöffneten Fenster hineinzog, so etwas wie ein Musen- und Liebeshof daraus geworden.

»Gewiß!« sagte er – »zum Schluß ist Liliencron nur das Glied in einer Kette; ein erster Impressionist – und das ist die einzige Kunst, die den echten Violinschlüssel für das Leben hat, und sie wird es für mich auch bleiben aber Liliencron klebt doch noch zu fest mit seinen Wurzeln in einer überlieferten Welt, ist noch halb Epigone, er hat es ja selbst geschrieben, daß der Dichter unserer Zeit Richard Dehmel wäre:

»Öffne still die Fensterscheibe,
Die der sanfte Mond erhellt –
Zwischen uns liegt Berg und Feld –
Und die Nacht, in der ich schreibe ...«

Aber weiter kam Fritz Eisner nicht. Denn schon schlug der mit der Sammetjacke ein schallendes Gelächter auf und warf die Haare mit einem Ruck über die Stirn zurück. – »Haben Sie schon mal jemand gesehen, der eine Fensterscheibe öffnet?« schrie er wütend – »einschlagen kann man eine Scheibe – nicht öffnen! Und wie kann man etwas ›Zwei Menschen‹ nennen. Gedichte sind Einsamkeitskristalle der Seele. Zwei Menschen aber sind nicht einsam.«

So ließ sich natürlich schwer diskutieren. Und Fritz Eisner war froh, als einer aus der Jugend den Alten mit höflicher Rede um eine Empfehlung für seine lyrischen Novelletten bat.

»Früher war das anders!« sagte der mit der Sammetjoppe. »Ich habe, wie Sie wohl wissen (man wußte es zwar nicht, konnte es auch nicht wissen, da es nicht wahr war) auch Franzes und Kretzer eingeführt. Aber heute ... verstehen Sie, als ich hierher ging, da hab' ich eine ganze Weile zugesehen, wie bei mir draußen die Jungen auf einem Spielplatz herumtobten. Sie hatten einen großen Kreis gemacht, und einer stand in der Mitte und rannte immer wieder gegen ihn an, dort, wo er glaubte, durchbrechen zu können. Aber er brach nicht durch, er kam nicht heraus. Das, junger Herr«, setzte er melancholisch hinzu – »sehen Sie das, das ist der Dichter und die Welt. Ich schenke es Ihnen. Sie können eine lyrische Novellette draus machen.«

»Warum wollen Sie es denn nicht selbst schreiben?« fragte der Junge, der nicht für solche Geschenke war.

»Ich? – Ich arbeite nichts mehr. Früher sagte ich, man muß dem Vorübergleitenden des Lebens etwas Festes entgegenstellen, etwas Bleibendes. Und ich fand es als das Schrecklichste der Welt, daß die Dinge vorübergehen. Heute sehe ich, daß es das Traurig-Schönste, Ausgleichendste und Beglückendste ist, daß sie vorübergehen, und man sie ruhig sich entgleiten lassen kann, bis man ihnen selbst entgleitet. Aber woher sollen Sie das schon verstehen? Schreiben Sie nur meine Novellette. Wirklich – ich schenke sie Ihnen!«

»Ich will jetzt auch meine ›Zeitbilder‹ herausgeben«, sagte Johannes Hansen, »noch dieses Frühjahr – mein Verleger schreibt Woche für Woche. Ich finde nur gar keine Zeit, sie zusammenzustellen.«

»Zeitbilder?« fragte Fritz Eisner.

»Ja, es war nötig, daß sie geschrieben wurden, nötig, daß ich meinen Feinden endlich die Maske vom Gesicht riß. Sie sind natürlich nicht nur polemisch. Das eine weiß ich jedenfalls: es gibt und gab keinen in Deutschland, der sie schreiben konnte, außer mir.«

»Ich denke, sie sind noch gar nicht fertig«, meinte der Alte mit der Sammetjacke. Denn das war selbst ihm zu stark.

»So gut wie ...« sagte Johannes Hansen mit einem glücklichen und verschlagenen Grinsen und schmatzte an einer Zigarette herum, als ob er den Tabak kauen und nicht rauchen wollte.

»Man sollte vielleicht auch wieder etwas mal machen!« meinte der Hausierer kleinlaut. »Ich habe noch von früher – weißt du, aus unserer Zeit damals – eine ganze Menge angefangenes Zeug liegen. Aber ich traue mich nicht mehr heran. Ich glaube, man hat es verlernt.«

»Hör' mal«, entgegnete Fritz Eisner langsam – »ich würd' es eigentlich tun – was kann es schaden!? ›Sind's Rosen – nun sie werden blühen!‹ Sind's keine – seelisch ärmer wirst du dadurch auch nicht. Und warum sollst du das verlernt haben, selbst, wenn du seit zehn Jahren keine Feder mehr zur Hand genommen hast. Ich hab' doch auch oft jahrelang ganz andere Dinge machen müssen, als ich eigentlich wollte. Und man denkt dann immer, man ist sich selbst untreu geworden, hat sein eigenes Wesen eingebüßt, ist ganz verschüttet ... nicht mehr, wer man war. Kann nicht mehr sehen, fühlen, schreiben wie sonst, lebt in Sorgen, Zwang, Dumpfheit, Lethargie. Und nur ein ruhiger Tag genügt, und man ist wieder ganz, wer man war, von eh' und je. Ein bißchen abschattiert vielleicht – aber es zählt kaum. Slatin Pascha war lange als letzter überlebender Europäer in Karthum beim Mahdi gefangen, sollte hingerichtet werden, floh als Araber verkleidet, marschierte nur nachts, monatelang hungernd, unter wahnsinnigen Strapazen, und gelangte glücklich nach Wadi Haifa, der letzten englischen Militärstation, ein abgehetzter Araber, verschmutzt, ausgedörrt und zerrissen. Und als er gebadet hatte, und einen Smoking angezogen hatte, und im Longchair saß – eine Stunde später – und sein Breakfast nahm, da war das alles von ihm abgefallen, und er war wieder der ruhige, vornehme, weltläufige Engländer, der er vor sechs Jahren gewesen war. Und zum Schluß sind wir doch alle solche Slatin Paschas. Es mag über uns kommen, was will – Dilemmen der Ehe und die Peitschenschläge der Sorgen und die Hetzjagd durch die Wüste und das Dorngestrüpp des Alltags – wenn wir wieder die erste ruhige Stunde bei uns und mit uns seelisch in unserem Longchair sitzen, dann fließt der alte Strom unseres Ichs ruhig weiter, als ob er nie unterbrochen, überbrückt, versumpft und abgegraben worden wäre.«

Der kleine Hausierer lächelte. »Aber es gibt auch umgekehrte Slatin Paschas, alter Junge. Darwin erzählt von einem Feuerländer, der in London ein ganz zivilisierter, junger Mann geworden war, und den er auf seiner ersten Reise mit dem Beagle mit in seine Heimat nahm, nach Patagonien. Nicht nur, daß ihm da all das von London her gar nichts nützte, daß er es nicht gut bei seinen alten Stammesgenossen hatte, sondern in zwei Tagen hatte er alles wieder vergessen – war zum Staunen Darwins wieder ganz der alte, traurige, halbnackte Wilde geworden, der er ehedem gewesen war. Und wer sagt einem, Fritz, daß man nicht eigentlich auch von Hause her solch ein Feuerländer war, der nur einmal zufällig nach London gekommen ist?!«

»Und ich selbst, Walter«, begann Frau Eisner senior, die bisher sich nur wenig beteiligt hatte, von ihrem Schreibtischstuhl aus, »ich selbst, Walter, kannte eine Frau, die bald vierzig Jahre mit einem feinen Arzt verheiratet war, und mir solange menschlich als durchaus erträglich erschien: teilnehmend an Dingen, Büchern, wie an Schicksalen. Ja, sie war – was bei Frauen nicht häufig! – nicht ganz ohne Witz, nicht mal ohne Geist, wenn der auch nur ein Echo von dem ihres Mannes war; während man sich doch zumunkelte, daß sie in ihrer Jugend ein sehr gewöhnliches Geschöpf gewesen wäre, aus ganz kleinem Hause und unkultiviert und übel, und sittlich und seelisch recht minderwertig. Aber das lag ja bald ein Menschenleben zurück, war gar nicht mehr war. Heute war sie eben die feine alte Dame geworden ... war die Frau Geheime Sanitätsrat mit den violetten Bindebändern am Hut ... Aber ihre vierzigjährige und mühselige Wanderung durch die Wüsten der Kultur, Gesellschaft, Menschlichkeit – wie mein Sohn so schön bemerkte! – durch all die Dinge, in die sie eigentlich nur die größere Vornehmheit ihres Mannes, ohne daß sie es wollte und danach verlangte, hineingetrieben hatte, nahm nach vierzig Jahren jäh ein Ende. Und von Stunde an war sie wieder der Riesenpöbel, die unausstehliche, zänkische Klaffte, die Klatschbase, die an niemand ein gutes Haar ließ, die kleinliche und unterknietige Kanaille, die sie immer gewesen war. Und wie sie es stets ... vierzig Jahre lang ... unter der Firnis geblieben war. Alles andere war vergessen, erledigt, existierte nicht mehr, lag äonenweit hinter ihr. Die alte Feuerländerin war in ihre seelische Urheimat zurückgekehrt.«

Man lachte sehr: das war ja eine famose alte Dame!

Die Statisterie machte sich eigentlich wenig bemerkbar. Sie hatte eine Weile versucht, das Niveau zu bestimmen und die Gespräche an sich zu reißen. Aber, da das nicht so recht ging, begnügte sie sich damit, daß jemand ab und zu neckisch »Herr Wirt, hier fehlt Bedienung!« durch die Räume brüllte – was für einen vorzüglichen Scherz gehalten wurde. Dann aber blätterte die Statisterie so langsam ab, sprach etwas von ›ganz reizend und wirklich origineller Idee ... doch die letzte Bahn um halb Eins ... und morgen wolle man nach Werder fahren ... es blühe dieses Jahr alles zugleich, was seit 1853 nicht vorgekommen ... und das dürfe man sich nicht entgehen lassen ... wer weiß, ob man je solch eine Pracht wieder sehen könnte ... und man hätte doch gewiß nichts dagegen, wenn sie sich den ›Weg des Thomas Truck‹ mitnähmen; man könne es aufschreiben ... sie gehörten nicht zu denen, die Bücher nicht wieder gäben. Aber sie möchten ihren Abschied nicht so auffällig machen ...‹

Frau Eisner senior saß ruhig-lächelnd auf ihrem Stuhl. »Erinnerst du dich an Goldsmith: ›The Vicar of Wakefield‹ ... ›wenn ich einen Freund loswerden wollte, so lieh ich ihm ein Pferd für den Heimweg, und ich konnte sicher sein, daß ich Pferd und Freund nicht wieder sah!‹ ...«

»Ja, das waren noch gute Zeiten«, sagte Fritz Eisner nachdenklich. »Heute ist das nicht mehr so einfach.«

Annchen kam heran. »Denk dir, Mutter«, sagte sie leise, »wenn sie nochmal Tee haben wollen – ich habe keinen mehr im Haus.«

Und dann hockte sie sich neben ihre Schwiegermutter, denn man hatte sie gebeten, sie sollte etwas; singen – sie wollte wohl, aber sie hatte es so lange nicht gemacht, und traute sich nicht. Wirklich, sie hatte ganz kalte Hände vor Angst. Nein, sie wollte sich hier bei ihr von dem Trubel heute etwas erholen. Es war ihr doch noch etwas zu viel, und sie war froh, hier landen zu können.

»Ach was, Närrchen – da brauchst du dich nicht aufzuregen«, sagte Frau Eisner senior – »einen guten Wechsel und einen guten Tee kann man immer prolongieren. Das merkt kein Mensch!«

Auch Wilhelm Klein kam jetzt zur Literatur herüber. Er war ihr zwar seit seinen ersten Anfängen, da er selbst mit blaßblauen Versen eine Zierde des Marburger Studentenalmanachs »Neue Jugend« gewesen war, ziemlich entfremdet worden, denn das Leben hatte ihn sehr andere Wege geführt. Trotzdem ritt er sofort eine Attacke, machte gleichsam alle Anwesenden für Wedekind, Strindberg und Zola, die er zwar nicht kannte, aber ablehnte, verantwortlich. Und verurteilte hart das Wollen der Gegenwart. Und postulierte eine neue und zukünftige Kunst der Freude, die vor allem die mißleitete Jugend den neuen großen Zielen zuführen müsse. Er zitierte natürlich Nietzsche »Wie spricht die tiefe Mitternacht ... Schmerz ruft: vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit« und sagte, daß das das Leitwort der Zukunft wäre.

Er sah seltsam aus, dieser blasse, weißblonde, abgehungerte Mensch in dem schäbigen Gehrock und dem speckigen Plastron, wie er da mit großen Handbewegungen wie vor einem Rednerpult seine Worte formte. Er gemahnte fatal an die körperlich devastierten Vegetarier, die einem auch immer erzählen, wie unerhört gut es ihnen geht, seit sie Rohköstler geworden sind. Oder an einen immer noch versoffenen Soldaten der Heilsarmee, der uns überselig berichtet, wie sein Herz den Weg zur Wahrheit und zu Jesu gefunden hätte und dem Laster sich abgewendet habe.

Fritz Eisner wollte nicht widersprechen, aber er tat es dann doch. »Gewiß wäre das schön, wäre ein ganz reines Gedicht, wie ein Stück Goldtopas ... aber es wäre gerade dadurch eben so ergreifend, weil es der Wunschtraum eines Schmerzgequälten und Todgeweihten wäre ... sein Dennoch! Und deshalb darf man auch vergessen, daß es nicht wahr ist – einfach weil eben Lust nur sich verewigen will. Der Schmerz aber sich verewigen kann. Nein, er liebe diese Übersteigerungen nicht. Dieses Zukunftsposaunen, diese edelste und herrlichste der Welten, die Pappmuskeln einer blonden Lebensfreude. Auch die Kunst könne nicht immer in Ekstasen leben, oder à la George in Sammetstolen Messen zelebrieren. Er könne nun mal keine Literatur leiden, die sich mit ›Sie‹ tituliert, und keine Menschen, die sich Handschuhe anziehen, wenn sie sich selbst ›Guten Tag‹ sagen wollen.«

Johannes Hansen, der lange sehr still gewesen war, fuhr auf und riß sich wild und zitternd die gelben Handschuhe von den Fingern. »Hören Sie«, sagte er, »Sie sind hier der Gastgeber. Ich verstehe das. Trotzdem sollten Sie diese hinterhältigen Stiche sein lassen. Ich habe nicht gewußt, daß auch Sie zu meinen Gegnern zählen, sonst hätte ich dieses Haus heute nicht betreten.«

Alle hielten das für einen guten Witz und lachten. Aber Johannes Hansen sah sich nur erstaunt um. »Habe ich etwas Dummes gesagt?« stotterte er – »dann verzeihen Sie! ... Sie müssen verstehen, ich bin etwas erregt heute, es stehen für mich zu große Dinge von einer internationalen Wichtigkeit auf dem Spiel.«

»O nein! ... O nein!« – meinte Fritz Eisner erschrocken und bemühte sich zum Thema zurückzukehren. »Man müsse ihn doch nicht für so engstirnig halten. Zum Schluß gibt es doch nichts Schlechtes, hinter dem eine Persönlichkeit steht. Und jede Kunst ist gut, die nicht den Boden unter den Füßen verloren hat. Was wäre denn das Schöne an einem Manet, wie an einem Botticelli, wie an einem Rubens? – Die starke Synthese der Natur, das Zwingende einer kunstgeformten Lebenswirklichkeit. Ob nun Turgenjew einen Espenwald beschreibt, daß man jedes Blatt an einem Zweig schaukeln sieht, oder ob ein Peter Hille, dieser Midas der Worte, singt: ›Wald, du moosiger Träumer, wie deine grüngoldenen Augen funkeln!‹ Das wäre gewiß ganz verschieden und doch gleich: bei beiden ist der Wald bis zum Geruch des Holzes und dem letzten Schauer seiner Einsamkeit drin. Und darauf kommt es an.«

»Ja«, meinte der Alte in der Sammetjacke, »und Midas starb daran, daß alles unter seinen Händen zu Gold wurde – auch das Brot. Und so wird es auch bis an Hilles Lebensende sein: ein Meerwunder an Erfolglosigkeit. Jetzt haben sie ihn ja auch aus Gnade in der ›Neuen Gemeinschaft‹ draußen aufgenommen; in einem Ziegenstall soll er wohnen!« Und er begann weiter sich des breiteren über die Ziele der Neuen Gemeinschaft, »die einfach, meine Herren, in einer völligen Promiscuität und in nichts sonst gipfelten«, auszulassen. Fritz Eisner wußten nicht, ob das mehr dumm als gehässig war, ließ die Literatur und suchte seine Frau.

Denn lange hatte Annchen nicht bei ihrer Schwiegermutter aufatmen können, da hatte sie der Postassistent schon in eine Ecke gezogen, und ihr geheimnisvoll-eindringlich eine »reizende« kleine Sache, letzten Datums erzählt. Nun aber hielt er gerade seine Zeit, zu glänzen, für gekommen, sprang mit einem Satz zwischen zwei Türen, und brüllte mit der Stimme eines firmen Tanzmaîtres: »Die Paare antreten, zur Quadrille!«

Doch man zeigte keine Lust. Es kam kaum ein Karree zusammen. Man war schon zu faul zu solchen Dauermärschen, zu sehr eingewiegt, unterhielt sich zu gut. Und nachdem der Postassistent noch zwei-, dreimal laut, aber unbeachtet, seinen Willen kundgetan hatte, zog er sich indigniert zu Annchen wieder zurück, um ihr über den Stand seiner Erfindung zu berichten, eines Automaten zur Abfertigung von Einschreibbriefen, der Hunderte und Tausende von Beamten unnötig machen würde.

Egi, der wieder einmal nach der Bar tendiert hatte, hörte einen Augenblick hin. »Das mag sehr nett sein – auch möglich. Widerspricht aber den gesetzlichen Bestimmungen über das Wesen der Urkunde, die in diesem Falle eine persönliche Namensunterschrift erfordert.« Und damit schob er wieder zu Lena Block und der Sezession.

Annchen sah sich hilfeflehend um. Und Fritz Eisner verstand.

»Hör mal«, rief er, »ich glaube, man braucht dich da drin, bei der Bowle. Du mußt dich schon als ›Wirtin‹ etwas mehr den Gästen widmen.« Und damit zog er seine Frau mit sich fort. »Laß doch den Esel«, sagte er unwillig. »Wie kommt der freche Kerl überhaupt dazu? Du bist doch nicht sein schmutziger Eimer, in den er jeden Dreck hineinschütten kann?!«

»Ach Gott!« meinte Annchen – »reg dich doch nicht auf. Man nimmt ihn ja doch nicht ernst. Und dann kann man auch nicht so gegen ihn sein. Er hat mich doch schon als Baby auf dem Arm getragen!«

Fritz Eisner wollte antworten: daß das noch lange nicht dazu berechtigte ... aber da erinnerte sich Doktor Spanier, daß er noch nicht (und außerdem sollte die Bowle noch etwas auskühlen!), noch kein Mal mit der Frau des Hauses getanzt hätte, machte seine Verbeugung, und dann ging sie in seine Arme über.

Doktor Spanier war ein guter Tänzer und wohlerfahren in allen Variationen letzter Mode. Und Annchen, die zwar ihre einst so berühmten Künste in den letzten Jahren nicht mehr gepflegt hatte, fand sich doch schnell in all die neuen Figuren und Schikanen der Washingtonpost hinein, und strahlte, und geizte auch nicht mit dem Lob für ihren Tänzer. »Sie hätte nur einen gekannt, der so gut und sicher führte: Doktor Martini. Auch einen Arzt. Aber sie hätte nun lange, seit Jahren, nichts mehr von ihm gehört.«

»Oh – kannten Sie den? Das war ein sehr guter Freund und Mitarbeiter von mir, um den es ewig schade ist«, sagte Doktor Spanier, »ein hochbegabter Mensch. Er ist dann leider in seiner Ehe mit dieser Person sehr heruntergekommen (wußten Sie eigentlich davon, daß er geheiratet hat?). Und endlich ist es schon besser, so wie es gekommen ist.«

»Ach – ist er denn wirklich tot?« fragte Annchen ungläubig. »Er war ein so lustiger Mensch. – Man kann sich das gar nicht vorstellen. Nun gehen auch schon so langsam die Ersten aus unserem alten Kreis wieder fort.«

»Er wurde dann wohl Morphinist. – Ein Arzt kann sich ja soviel Morphium verschaffen, wie er will. Und ob er nun mit Absicht zuviel sich gespritzt hat, oder ohne – darüber hätte er mir dann nachher am nächsten Morgen, wie ich geholt wurde (die Frau war nebenbei nicht zu Hause), beim besten Willen keine Auskunft mehr geben können.«

»Das muß ich doch gleich meiner Schwester sagen« meinte Annchen, »der wird es auch furchtbar leid tun!«

Hannchen wirbelte nämlich gerade Paul Gumpen, der etwas Fett angesetzt hatte, und außerdem nie eine Leuchte der Tanzkunst gewesen war, wild, aber takt- und hemmungslos unter dem Kronleuchter herum.

Doktor Spanier sah interessiert zu ihr herüber. »Das wäre ja gerade ein Grund, es ihr jetzt nicht zu sagen – denn sie scheint sich ja heute vorzüglich zu amüsieren. Aber sie sollte nicht so viel tanzen. Sie ist doch nicht die Tortajada Consuelo und muß jetzt im Wintergarten jeden Abend auftreten. Sagen Sie, Frau Wirtin – wie geht es eigentlich Ihrer Frau Schwester?«

»Gut!« meinte Annchen erstaunt, »gut! Vielleicht etwas mit den Nerven herunter. Ihre Ehe ist nicht ganz so, wie sie sein sollte. Sie ist ein sehr reger, aber etwas schwieriger Mensch; und mein Schwager ist reichlich merkwürdig, wie nun mal Gelehrte so sind! Und dann reiben sie sich manchmal etwas aneinander. Aber in welcher Ehe geschähe das nicht? Und trotzdem ist doch noch nichts besseres erfunden worden, was man an ihre Stelle setzen könnte.«

»Oh, so meinte ich das nicht«, erwiderte Doktor Spanier und lächelte etwas eigentümlich vor sich hin ... »Von Nervenheilkunde verstehe ich sogar noch weniger als meine Kollegen von der Psychiatrie ... und das will viel sagen.«

Fritz Eisner schlug sich zu der Gegengruppe durch, nach dem Salon. Man mußte es zugestehen, daß man in der Bildenden Kunst sich auch malerischer angeordnet hatte als bei der Literatur, wo man auf ein ästhetisches Gesamtbild keinen Wert legte. Man war bei der Kunst mehr auf das Sinnliche, denn auf das Geistige eingestellt. Und man bekundete das schon damit, daß die Frauen eigentlich in der Überzahl waren, und erhöht auf einem Aufbau von bunten Kissen über einem Paar herangeschleppten und mit Teppichen verdeckten Matratzen thronten ... während die Männer einfach auf dem Boden, auf dem Rand des überhängenden großen Teppichs halb lagen, halb saßen.

Lena Block hatte diese Ecke neben der Schiebetür improvisiert, hatte sogar dazu der armen Pauline die Matratzen, die den Grundstock bildeten, aus dem Bett geholt. Und sie thronte nun da oben mit ihren weißen Schultern und weißen Armen wie eine dunkle Blume mit einem Silberkelch. Von den Atelierfesten aus München und von Paris her kannte sie so etwas. Man saß und lagerte ungefähr wie die Meininger bei der Theatervorstellung im »Hamlet«. Und Egi spielte den melancholischen Dänenprinzen bis eben auf diese Eigenschaft sehr ordentlich. Er saß, wie es seine Rolle vorschrieb, den Kopf in ihren Schoß gelehnt. Und Lena Block spielte die Ophelia. Man redete einander über die Köpfe fort, oder mußte sich zurückwenden und nach oben sprechen.

Man war gerade bei Paris. Lena Block war einen Teil des Winters dort gewesen. Jetzt kam sie aus Rom. Keine Stadt, sondern eine Welt. Ein Paradies für den Kunstfreund, und eine Hölle für den Künstler. Nein, mit Rom konnte sie für ihren Lebensausdruck, den sie für sich in der Kunst suchte, gar nichts anfangen. Aber Paris wäre ihr immer wieder eine tausendfältige Köstlichkeit, eine bewegte Lichtstadt, mit unerhörtem Puls. Ganz jung und ganz alt zugleich. Während hier in Berlin das Alte mit dem Jungen völlig unverbunden sei, wüchse es dort aus dem gleichen Boden. Und hier wäre vielleicht auch ein neuer Rhythmus. Und trotzdem läge alles wie im Dornröschenschlaf. Man könne in Paris keinen Schritt über die Straße tun, ohne etwas zu erleben. Und Paris hätte seit Jahrhunderten seine Herolde. Jetzt hätte man den Montmartre entdeckt, Aristide Bruant sänge ihn, wie Verlaine ... Steinlen zeichne seine Mädchen und Arbeiter ... Toulouse Lautrec seine Perversionen und den Schrei seiner Plakate. Und die Boulevards, die Seine mit ihren Regenbögen von Brücken, die Außenstädte, Auteuil, und wie das alles heißt: das hätte Monet und Pissaro und Raffaeli gegeben; und wenn ganz Paris heute verschüttet würde – es wäre doch nicht vom Erdboden verschwunden deshalb, sondern nur in eine reinere Wirklichkeit versetzt, sowie Jupiter seine alten Geliebten in Sternenbilder verwandelte. Aber, wenn der Kreuzberg morgen Feuer und Lava speien würde – was bliebe von Berlin?! Ein Schutzmannshelm, Graf Pückler-Tschirne und das Denkmal Otto des Faulen auf der Siegesallee.

Aber Paulas Mann, der Zeichner, der über Kunst selten sprach – er hatte sie nachtwandlerisch in sich und fürchtete sich gleichsam, sie zu stören, wenn er sie anrief – meinte: »Gewiß – Paris wäre ein einziger lebender Organismus; er hätte auch dort ein köstliches Jahr in der Akademie Julien verbracht. Aber er verstände nicht, wie das zum Thema käme?! Denn es hätte doch gar keinen Sinn, das darzustellen, was schon einmal in der Welt da wäre. Man solle die Innenwelt malen – nicht die Außenwelt.«

Lena Block unterbrach ihn: »Oh, es hätte ja noch nie jemand von Rang etwas anderes gemalt bisher.«

Er wäre jetzt wieder auf der Sezession gewesen, trotzdem er sich geschworen hätte, nicht mehr hinzugehen. – Aber er hätte nichts gefunden, was zu ihm spräche, bis auf die eine Landschaft von Cézanne, die eben keine Landschaft mehr sei. Was Manet in seinem Gartenhaus, und Monet oder Liebermann und Slevogt machten, oder in guter Zeit gemacht hätten, wäre gewiß alles sehr anständig. Aber endlich hätten das die Holländer vor zweihundertfünfzig Jahren, als sie zum erstenmal die Wirklichkeit für die Malerei entdeckten, und die Kunst nach dem Leben formten, statt ihr Leben nach der Kunst zu formen, zwar ein bißchen anders, vielleicht weniger hell! – aber als Schmelz und Farbenfläche viel eindrucksvoller und kultivierter gemacht. Eigentlich wäre das doch jetzt alles sehr trostlos und völlig verschüttet. Und man müsse – wenn man je sich selbst finden wolle – wieder ganz von vorn beginnen. Er wäre jetzt in letzter Zeit sehr verzweifelt. Nur wenn man alles verlernen könne, wäre Hoffnung, daß man sich noch einmal aus diesem Sumpf herausrette und den Weg zu sich selbst fände. Lieber heute, wie morgen, würde er den ganzen Krempel zusammenschmeißen. So jedenfalls sähe er weder Ziel noch Sinn.

Der Zeichner sprach das eigentlich nicht zu den anderen, sondern sprach es eher mit einer ruhigen und entschlossenen Bitterkeit vor sich hin, die Fritz Eisner um so mehr erstaunte, da jener, vielleicht als einziger von allen hier, sich seine sichere und angesehene Stellung in der Kunstwelt schon geschaffen hatte, und kaum ein Zweifel an seiner Eigenart und über seinen Aufstieg noch bestand.

Lena Block konnte aber da nicht mitgehen: »Nein, sie wäre ja so glücklich, daß man endlich mit beiden Beinen im Leben stände. Daß man begänne, sich hier zurecht zu finden. Nicht mehr verfälsche, nicht mehr lüge. Daß die Kunst überallhin ihre Adelsbriefe verteile, und nicht mehr von Schönheit fabele, weil alles schön sei. Daß nun endlich ein Bund Spargel ebenso schön sein könne, wie eine Madonna. Sie begriffe ihren Freund Rumal in Paris vollkommen, der gesagt hätte, daß er diese französische Erde, diese Stadt Paris so liebe, daß er sich selbst im Straßenschmutz wälzen möchte, so göttlich und lichtgeküßt fände er ihn. Zum Schluß wäre es doch eine Freude, zu malen, in Farbe gleichsam eine Welt neu zu kneten. Vielleicht die zweitgrößte überhaupt, die man in diesem Dasein haben könne.«

Niemand hätte das hier sagen dürfen – aber Lena Block konnte es. Lucie hörte mit großen Augen zu und nickte. Sie hatte wenig in das Gespräch eingegriffen, aber aus dem wenigen hatte Fritz Eisner herausgespürt, daß sie inzwischen gewachsen war, nicht mehr das kleine fahrige Ding von einst war mit den vier Gesprächen von Terminhandel bis Frührenaissance.

Hannchen, die längst wieder vom Tanzen gelandet war, lächelte. Sie war stets für Bonmots – »Im Zuge des Glücks«, sagte sie mit spitzen Mund, ziemlich unvermittelt – »sind die Schlafwagen stets am besten besetzt.« Denn das hatte sie schon den ganzen Abend irgendwie anbringen wollen. Aber sie war indigniert, daß man es im Augenblick nicht recht würdigte und nicht mal ihr Mann ihr Beifall zollte, sondern irgendwie es als verletzend empfand.

Lucie winkte ihren Mann heran. »Dju«, rief sie, und knipste ihm die Asche ihrer Zigarette in die hohle Hand, die er hinhielt.

»Meine Frau spart so manchmal einen Aschenbecher!« sagte er lächelnd. »Man muß Kinder wie Erwachsene, und Erwachsene wie Kinder behandeln.«

Wirklich – er war sehr verliebt in Lucie.

Hannchen war eigentlich ziemlich unglücklich, daß sie heute so gar nicht recht zur Geltung kam. Jeder war freundlich zu ihr; aber keiner widmete sich ihr. Endlich war doch Paul Gumpert nun verheiratet und glücklich verheiratet mit dem dicken und ewig lächelnden M'chen, und Johannes Hansen hatte ihr ja kaum Guten Tag gesagt. Von allem anderen wurde gesprochen, aber nicht von ihr und ihrem »Großen Jungen«. Und ein paarmal hatte sie schon versucht, sich mit ganzem Körpergewicht in ein Gespräch zu werfen, und es auf sich zu ziehen; aber es war ihr nicht recht geglückt. Und deshalb begann sie von den neuen Aufgaben zu reden, die ihnen nun bevorständen. Oh – eine ungeheuer interessante Sache. Sie werde als Sekretärin ihres Mannes mit Hochdruck arbeiten; sie werde die Literatur sammeln für ihn; es wäre ja schon der Traum ihrer Jugend gewesen, von diesen Dingen etwas zu begreifen. Das wäre doch etwas ganz anderes, als wenn man nur, wie hier, seinen Geist in schöne Worte geformt, angeregt austausche. Sie wäre ja überhaupt ein Glückspilz, daß sie dem Leben immer wieder etwas abgewinnen könne Aber wie hätte sie auch darum gekämpft! Eigentlich hätte sie jetzt schreiben wollen. Nicht, daß sie ihrem Schwager ins Handwerk pfuschen wolle; aber es taumeln ja soviel schriftstellerische Stoffe im Weltenraum herum. Doch nun wäre wieder vier Jahren nicht mehr daran zu denken ... »Wir werden viel zu tun haben, mein ›Großer Junge‹ und ich. Sie wisse nicht, ob sie sich darüber ärgern oder darüber freuen solle. Aber endlich könne es doch nichts Schöneres geben, als eine Ehe auf der Grundlage geistiger Gemeinschaft sich aufzubauen.« Das letzte war ganz offensichtlich an die Adresse von Lena Block gerichtet. Man merkte, daß sie zu kämpfen begann.

Doktor Spanier, der ihr eine ganze Weile zugehört hatte, war aufgestanden und Fritz Eisner mit ihm. »Jetzt muß aber die Bowle kalt genug sein«, sagte er. Und dann blies er die Lippen etwas auf und kniff sie wieder einen Augenblick ein, als ob er mit dem Mund ein Piston nachahmen wollte. »Diese Euphorie«, sagte er, »ist sehr bezeichnend für das klinische Bild ... War eigentlich Ihre Frau Schwägerin schon in Davos oder in Arosa?«

Fritz Eisner wurde etwas scheu. »Warum?« fragte er.

»Ach Gott, ich dachte – vielleicht«, meinte Doktor Spanier, und dann, wie um es wegzuwischen, hielt er Fritz Eisner das Glas hin. »Kosten Sie mal! Zu kalt nicht. Nur eine kleine Spur zu süß. Aber die Kräuter sind sehr gut durchgezogen.«

Die Literatur witterte gleichsam nebenan, daß die Bowle spruchreif geworden war, und fand sich auch ein. Viel war's ja nicht. Kaum, daß es zum zweiten Glas reichte. Nur die Kommende Note, die immer noch an der Bar mixte, glaubte sich durch sie in ihren vitalsten Interessen bedroht.

Man erinnerte sich an die Bowle bei Potsdam. Kein Wunder, es waren ja damals fast die gleichen Menschen da. Nur noch einspännig alle ... »Der Sekt von Liebenthals war aber noch besser.«

»Ach, Liebenthal« – rief Paul Gumpert lachend – »der Baudirektor Liebenthal ... wie er jetzt heißt!! Da sind wir sicher die ersten Menschen in seinem Leben gewesen, die sich rühmen können, von ihm etwas geschenkt bekommen zu haben. Bisher hat er noch jedem das Fell über die Ohren gezogen. In seiner Jugend ist er schon dreimal gehenkt worden. Einmal in Strij ... das zweitemal in Tarnopol ... und das drittemal in Lemberg.«

»Du hast doch damals solch eine Geschichte von einer Maske erzählt – von einer japanischen Göttin, alter Sünder«, sagte Annchen; denn sie war insgeheim ihrem Manne doch überlegen, ironisierte ihn gern. »Na, wir wollen heute trotzdem anstoßen!«

»Ja«, fiel Lucie ein, und hatte sich an Doktor Spanier geschmiegt, »und auf die Ehe waren Sie auch nicht sonderlich gut zu sprechen ... Ist es denn nun ganz so schlimm?«

»Aber eines ist nicht wahr«, rief Fritz Eisner, » damals habe ich verkündet, daß ich noch achtzehn Mark siebzig in der Tasche hätte, und es ist mir diesseits sehr übel vermerkt worden. Heute habe ich nur noch acht Mark achtzig in der Tasche.« Er schlug das Portemonnaie auf den Tisch. »Nicht einen Pfennig mehr. Wer will – kann's nachzählen!«

Es gab einen Riesenhallo.

»Und alles, was ich gesagt habe, stimmt nicht, und wird nie stimmen ... Ich bin nie zu Ruhm gekommen. Und werde auch kein alter Knurrhahn von Literat ... Egi ist noch keine professorale Mumie mit dementia senilis – weil man ihm schon vorher abgewinkt hat ... Wilhelm Klein kein bösartiger Greis von Schulleiter. Im Gegenteil, er kämpft gegen sie, wie Hagen, der Tronjer ... Johannes Hansen wird nie Verleger werden ... Lucie und Hannchen und Annchen und Selma und M'chen lachen und strahlen, ohne daß sie der Skandal der Gegend sind, weil sie es verabsäumt hätten, ihre Papiere dem Standesbeamten zur Begutachtung vorerst zu überantworten. Nur einem habe ich recht geweissagt: Paul Gumpert. Er hat eingesehen, daß der gestreifte Kattun der Angelpunkt der Welt ist. Und er tat recht daran. Er war viel klüger als ihr alle. Hätte er, unser Paul Gumpert – die Firma Gumpert und Mühsam! – das nicht frühzeitig und instinktsicher erkannt, niemand hätte heute abend noch plötzlich ... so verschwiegen ... seinen Chauffeur ein zweitesmal in die Stadt geschickt, heranzuschleppen, was es gäbe, um diesem Fest mit einer Bowle die richtige Weihe zu verleihen. Meine Damen und Herren: der Angelpunkt dieser Welt – der gestreifte Kattun – er lebe hoch, hoch und nochmal hoch!!!«

Der Alte mit der Sammetjacke meinte, daß das doch eigentlich ein ekelhaftes Kriechen des Geistes vor dem Merkantilismus wäre. Aber so war das gar nicht gemeint. Fritz Eisner hatte sich an Paul Gumpert wirklich gewöhnt in den Jahren und ihn liebgewonnen, weil er so herrlich unkompliziert war, und gerade und anständig sich als das gab, was er war, als ein geschickter Kaufmann. Und dann vor allem: weil ihn das Verfügen über Hunderttausende und Millionen menschlich nicht im geringsten geändert hatte. Und diese Belastungsprobe halten die wenigsten aus.

Frau Eisner senior kam langsam herangewackelt. »Zu morgen, Fritz«, sagte sie leise, »wird ja noch was übrigbleiben. Und wenn ihr übermorgen nichts habt, könnt ihr bei mir mittagessen.«

Man merkte, daß es später wurde, es strich so manchmal etwas wie das Fluidum einer frühlingsweichen Müdigkeit durch die Zimmer, und die schon erneuerten Kerzen in den Lampions vertränten, brannten auch herunter. Einige erloschen sogar schon.

»Kommen Sie«, sagte Lucie und hing sich plötzlich bei Fritz Eisner ein. »Wir haben eigentlich seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander gesprochen.« Und sie ging durch die halboffene Glastür auf die Loggia hinaus, »drin ist es schrecklich warm; – hier draußen ist es doch schöner als bei uns in der Friedrichsstadt. Da ist überhaupt keine Luft. Nur Lärm und Benzingestank. Aber Dju muß da wohnen, der Praxis wegen. Später nehmen wir uns draußen ein Haus – wenn man sich erst einen Wagen halten kann.«

»Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem Mann gekommen?« fragte Fritz Eisner, und sah zu den Sternen hinauf, die jetzt, da der Mond fort war, wie ein matter Glimmerstaub weit über den Himmel gestreut waren, und seltsam kontrastierten zu den langen Reihen der helleren Lichtpunkte, der Laternen der noch ungebauten Straßen, die das offene Land unter ihnen wie mit einem mathematischen Netz weithin aufteilten, und nun noch durch das Schleierwerk der kaum belaubten Bäume frech zu ihnen emporblinzelten. Es sah beinahe aus, als ob die Laternen sich noch einmal oben im Himmel spiegelten. Es war doch jetzt schon etwas morgenkühl geworden und es roch wundervoll und frisch. Und das war so schön, daß es noch fast dunkel hier draußen war, und man sich gegenseitig kaum erkennen konnte. Da sprach man viel freimütiger, als drin beim Licht. »Also ... wie sind Sie denn eigentlich zu Ihrem Mann gekommen, Frau Lucie?«

»Gott, mein armer Dju hat eben Pech gehabt«, sagte Lucie mit dem Klang von ganz offensichtlichem Mitleid, »und ich vielleicht Glück. Er geht nie ins Theater, hat keine Zeit dazu. Und ein einziges Mal im Jahr mußte er gerade im letzten Augenblick auf die unheilvolle Idee verfallen, seinen Freund, Doktor Martini, der Theaterarzt war, bei ›Rose Bernd‹ zu vertreten. Und da will es sein Unstern, daß er einen Platz neben mir bekommt, und damit war sein Schicksal besiegelt. Sie fragen mich ganz richtig: warum habe ich ihn denn geheiratet? Ja, das ist ja eben das Elend! Ein Verhältnis kann man mit einem Offizier haben, einem Attache, einem Tennischampion, auch mit einem halben Narren oder einem Modenfatzke; aber ein Verhältnis mit einem wirklich geistigen Menschen – das artet zum Schluß immer in Ehe aus. Und da ist es vielleicht schon besser und sauberer, man heiratet sich gleich, ehe man sich vorher noch gegenseitig quält. Vielleicht wird's dann doch gut. Auch, wenn man, wie ich und Sie, eigentlich nicht für Ehe geschaffen ist ... einfach untauglich von vornherein. Und was machen Sie? Ich lese manchmal was von Ihnen in der Zeitung. Gott ... Sie müssen das wohl schreiben! Arbeiten Sie sonst mal wieder was. Um Ihre alten Bücher kümmert sich gewiß keine Seele mehr. Ich habe die immer gern gehabt, weil sie nie mehr sein wollten, als sie waren. Sie waren irgendwie keusch; und das ist nicht allzu häufig. Die meisten Menschen« (sie dachte wohl an Johannes Hansen) »lügen so furchtbar, so bald sie die Feder in die Hand nehmen.«

»Ich schreibe an einem Roman. Aber es kann noch ein halbes Jahr dauern, bis er fertig wird. Ich nehme ihn mir immer wieder vor. Ich bin wie ein Saumtier, das ganz ruhig Fuß vor Fuß setzt. Heute hat mir nebenbei die einzige Zeitung, auf die ich gerechnet hatte, den Anfang glatt zurückgeschickt. Ich habe den Brief mit den paar obligaten Höflichkeitsphrasen noch gar nicht geöffnet ... Aber das macht nichts.«

»Sie kommen viel in Ausstellungen?« fragte Lucie. »Geht Annchen da immer mit?«

»Ach ... nein!« sagte Fritz Eisner – er suchte nach einer Ausrede. Denn das war ja ihr steter Kampf und sein stetes Unglück, daß er sie nicht dazu bekommen konnte, ernstlich an diesen Dingen, die doch ein Stück Leben von ihm waren, teilzunehmen. »Im vorigen Jahr konnte sie nicht. Sie hatte eine sehr schwere Zeit durchgemacht, und sich mit einem vorbildlichen Heroismus damit abgefunden. Und jetzt geht es meist des Kindes wegen auch nicht recht.«

»Darf ich Sie dann mal begleiten? Ich habe eigentlich immer Zeit. Sie brauchen mich nur anzurufen. Ich habe auch meine eigene Telephonnummer. Bei Dju würde das zu sehr stören. Holen Sie mich ab. Nehmen Sie vorher eine Tasse Tee bei mir. Wir werden ganz unter uns sein. Sie, ich und die Tasse Tee. Der arme Dju ist nämlich nie vor sieben mit der Sprechstunde fertig, und kann meist immer bloß zwischen zwei schreienden Patienten den Kopf durch die Tür stecken!«

O ja – das würde ihr Fritz Eisner schon zeigen können. Da wäre zum Beispiel eine kleine Kunsthandlung in der Potsdamerstraße, die auch vorzügliche Neoimpressionisten (Seurat, Luce, Croß, Signac und Rysselberge) hätte. »Oja ... er könnte ihr viel zeigen.«

»Nun schön, er solle sie nur anrufen. Sie täte es lieber nicht. Frauen sind immer so kleinlich; und ehe man es sich versieht, hat man sich zwischen Eheleute gestellt. Und dazu müsse man sehr skrupellos, oder sehr stark und hart sein ... wie dieser wunderschöne Mensch da, den Sie eingeladen haben. Diese große Malerin. Ich möchte jetzt nicht mit dem armen Hannchen tauschen.«

»Warum? – das ist doch wirklich und wahrhaftig ganz harmlos?!«

»Eben deswegen! Wenn sie ein Flittchen wäre, oder ein Mensch wie ich; und er ein Mann – nun sagen wir, wie ... wie ... unser Mixer dadrin, wäre das ganz ungefährlich. Eine kleine Privatangelegenheit der Beteiligten. Aber sie sind beide zu schwer.«

»Unsinn – sie sehen sich doch heute abend das zweitemal!«

»Komisch – daß gerade die Menschen, die die Gabe haben, über andere Menschen zu schreiben, sie immer am wenigsten kennen: Sie werden sich in dieser Woche noch öfter sehen. Und sie werden sich bald alle Tage sehen. Und dann die Nächte auch.«

Drin schien man Lucie zu suchen. Doktor Spanier erschien in der Tür. »Na, Lu, bist du hier draußen? Ich glaube, unser famoser Mixer will sich noch von dir verabschieden. Und wir wollen dann auch bald gehen.«

Fritz Eisner blieb noch einen Augenblick, wie er glaubte, allein und sah in die Glimmersterne. Wirklich ... im Osten war schon eine leichte Rötung. Und ganz aus der Ferne kam hellgelb ein erster Hahnenschrei. Der Ton schnitt gleichsam durch die Luft.

Aber da lehnte doch jemand in der äußersten Ecke über die Brüstung, hatte die Arme auf die Blumenkästen gestützt – »schade um die jungen Kressen!« dachte Fritz Eisner – und starrte auf die Straße. War das nicht Paulas buntes Umschlagetuch? Es wäre doch nicht schön, wenn sie eben alles gehört hätte ... Aber als Fritz Eisner Paula ins Gesicht sah, schien es ihm doch, als ob sie gar nicht so aussähe, wie wenn sie hier auf irgend etwas geachtet hätte.

»Aber Paula – was hast du denn?« Sie war schon vordem, bei dem Kind drin, so wunderlich gewesen? »Was ist denn?«

»Ah – nichts, Fritz! Ich bin nur sehr traurig.« Sie drehte den Kopf weg, sah kaum auf, sprach immer noch ganz leise, ohne die Lippen zu öffnen.

»Wozu brauchst du traurig zu sein – euch geht es doch sechsmal so gut, wie uns

»Weil ich das letztemal heute hier bin!«

»Warum – habe ich dir etwas getan? Hat Annchen dich steif behandelt?« (Natürlich: Annchen drängte doch instinktiv all seine alten Freunde und Freundinnen heraus!)

»Annchen?! – Nein! Sie waren alle ja sehr lieb zu mir – besonders deine Mutter! Aber wir gehen nun doch auseinander ... mein Mann und ich ...«

»Um Himmelswillen! Warum denn? Lebt ihr denn schlecht zusammen?«

»O nein ... wir sind so ... äußerlich ... ganz gut zusammen. Aber wir haben innerlich uns nichts mehr zu sagen. Siehst du, wenn wir ein Kind hätten – dann wär's anders. Aber wir haben das ausgemacht von vornherein: wenn der eine weiter muß ohne den anderen, dann soll er frei sein. Und er muß nun weiter. Wir haben das nächtelang jetzt durchgesprochen. Bloß – es ist sehr schwer für mich!«

Fritz Eisner kneift das eine Auge ein, ›merkwürdig‹, sagt er sich – ›solche Seelenkrisen bei Künstlern fallen doch immer mit irgendwelchen Frauensachen zusammen!‹ »Hat dein Mann denn jemand anders?«

»Ich weiß es nicht. – Möglich! Ich kenne sie jedenfalls nicht. Und dann würde das ja auch nichts für mich ändern.«

Von drinnen rief man. Die Aufbruchstimmung war stärker geworden. Die Sezession hatte sich zwar vollzählig wieder gelagert, ja noch neue Mitglieder und Ehrenmitglieder gewonnen. Aber die Literatur wollte fort.

Johannes Hansen, der seine kanariengelben Handschuhe wieder angezogen hatte, packte plötzlich Fritz Eisner am Arm, zog ihn in eine Ecke und flüsterte ihm etwas Unverständliches zu:

»Ich flehe Sie an: Sie müssen etwas für mich tun!« sagte er dann und zitterte ordentlich dabei – »Sie sind doch bei einer Zeitung. Ich habe mal über Sie geschrieben. Schreiben Sie jetzt über mich. Es darf Deutschland nicht länger verborgen bleiben ... Sehen Sie: wenn nicht meine Feinde wären, die sich gegen mich verbündet haben, wäre ich ja längst ... und brauchte hier nicht vor Ihnen auf den Knien zu liegen. Aber sie haben jetzt einen Geheimdienst eingerichtet. Ich ... ich ... muß ihnen wohl sehr unbequem sein. Sie lassen mich ständig überwachen, spionieren mir jeden Weg nach; nur, damit die Wahrheit nicht an den Tag kommt. Sie haben sogar ein Telephon unter meinem Bett! Denken Sie: unter meinem Bett ... Fritz Eisner! Aber ich werde das Gespinst ihrer Ränke zerreißen.«

»Gewiß!« sagte Fritz Eisner. »Selbstverständlich! Was in meiner Macht steht!«

Johannes Hansen atmete erleichtert auf. »Sie retten mir das Leben« – sagte er und beugte sich vor, um Fritz Eisner die Hand zu küssen.

›Wenn das ein Scherz ist – so ist er jedenfalls sehr gut gespielt!‹

Einer der Ganzjungen aus dem Gefolge des Alten mit der Sammetjoppe kam auf Fritz Eisner zu. ›Er hätte schon den ganzen Abend mit ihm darüber reden wollen. Ob sie nicht zusammen ein Stück schreiben möchten. Er hätte den Stoff erlebt ... sozusagen ... es müsse ihm auch liegen. Denn sein Stück, das ja jetzt verboten worden wäre ... und er begann seinen Plan zu erzählen, der sich von der »Büchse der Pandora« nur dadurch unterschied, daß der Schluß statt in London in Neuyork spielte ... Aber die sehr eigenartige Idee müsse natürlich sein Besitz bleiben.«

Der Alte mit der Sammetjacke verabschiedete sich auch. Er wollte sehen, ob er im Café noch ein paar Zeitungen lesen könnte. Er drängte sich zwischen die Presseleute und sagte ostentativ – er wolle Fritz Eisner als Dank für den Abend noch einen guten Rat für sein Leben und späteres Fortkommen geben: »Wenn auf der Zeitung ein rechter Esel ist, so der allergrößte – seien Sie ja recht freundlich zu ihm. Denn er wird sicher später mal Ihr Chefredakteur.« Nein, für solche Pressekulis, die kein Organ für Lyrik hatten, hatte er ganz und gar nichts übrig.

»Na, Mutter«, sagte Fritz Eisner halblaut, »wie kommst du eigentlich heim? Schlaf doch hier!«

»Oh!« – meinte Paul Gumpen, der gerade vorbeiging, »das Auto Ihrer Frau Mutter hält schon seit einer halben Stunde unten. Sie hat es sogar gestattet, daß wir mitfahren ... Können wir noch etwas bleiben, gnädige Frau?«

Frau Eisner senior zog jetzt auch von dem verwaisten Lager der Literatur zur Sezession herüber, und im Triumph trugen ihr Fritz Eisner und der Hausierer ihren Schreibtischsessel wie einen Thron voran. Man empfing sie wie eine Königin, und sie ließ die Huldigungen lächelnd über sich ergehen. In der Sezession hatte man noch gar keine Lust, aufzubrechen; ja, man sagte, daß es jetzt erst angenehm würde, da da drüben nicht mehr so abscheulich gebildete Reden geführt würden, und man sich wenigstens bewegen könne. Hannchen meinte zwar, sie müsse eigentlich gehen, denn sie wolle morgen die Wäsche für Montag heraussuchen, das heißt so simpel sagte Hannchen derartige Dinge nicht. Eine einfache Frau würde gesagt haben: »Das Mädchen wäscht Montag«; und eine etwas weniger simple hätte gesagt: »Wir haben morgen Wäsche!«, hätte sich des Pluralis majestatis bedient, und eine dritte hätte geäußert: »Ich habe morgen Wäsche«, und man hätte ihr das verziehen, trotzdem sie dabei weder einen Wäschekorb, noch eine Bütte, noch eine Waschküche zu Gesicht bekommen hätte. Hannchen aber sagte: »Ich muß übermorgen mich wieder einmal an meiner Wäsche als Bewahrerin und Erhalterin des Vorhandenen betätigen. Es dankt einem niemand. Ich würde auch lieber statt dessen produktiv tätig sein.« ... Aber das war schwer zu ertragen. Und deshalb ging man schnell wieder zum »Klugen Hans« zurück, über dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten man schon eine ganze Weile gestritten hatte. Fritz Eisner war bei den ersten Versuchen dabei gewesen, und war doch sehr überrascht worden. Er verteidigte den »Klugen Hans« immer noch, trotzdem die Psychologie seine Leistungen jetzt als Ausdruck einer geist- und seelenlosen Dressur entlarvt zu haben glaubte. Und Hannchen, die stets eine nachträgliche Kassandra war, sagte, daß sie es nie als etwas anderes angesehen habe und von der ersten Minute an gewußt hätte, daß das kommen würde. Auch Egi meinte, daß man jetzt nun endgültig wisse, daß eben der Verstand des Tieres – selbst des gewiß hochstehenden Pferdes – keiner Begriffsbildung und vor allem keiner abstrakten Begriffsbildung fähig sei.

»Wieso?!« meinte Doktor Spanier. »Einer von den klügsten Menschen, die je gelebt haben, hatte sich als Wappenspruch ›Que sais-je?‹ gewählt.«

»Nun schön«, meinte Egi – »wir wollen uns nicht mit Silben erstechen; also: zu der Ansicht gekommen sei!«

»Ansicht?« meinte Doktor Spanier, »Ansicht, Herr Doktor?! Das einzige, was ich aus zehn Jahren Experimentieren gelernt habe, ist: daß es keine Ansichten gibt, sondern höchstens geistige Perspektiven, hinter denen neue Perspektiven liegen. Wie ist es denn bei mir? Die Röntgenstrahlen fallen durch eine Hand, durch einen Körper, durch eine Lunge. Sie erhellen mir da einiges, was ich vielleicht vorher nicht sah oder nur ahnte; aber, wo sie dann hingehen, darüber habe ich höchstens Mutmaßungen. Ich weiß weder etwas davon, wie sie entstehen; noch habe ich eine Ansicht davon, wie sie wirken; noch kann ich deuten, was sie sind. Ich kann höchstens sagen: mein Blick reicht bei ihnen bis zu einem Punkt. In dreißig Jahren wird er bis zu einem anderen reichen, der etwas weiter abliegt von mir ... und der am wahren Maß seines Wesens gemessen, kaum einen Zentimeter, vielleicht eine gar nicht zu beziffernde Distanz bedeutet. Und genau so verhält es sich mit dem ›Klugen Hans‹. Was die Herren Psychologen jetzt eruiert haben, wird wohl zu der eigentlichen Wahrheit im gleichen Verhältnis stehen, wie das, was ich Ihnen über Röntgenstrahlen oder Quarzlampen oder Hochfrequenzströme sagen könnte ... das heißt: es wird im besten Falle das sein, was man gerade glaubt.«

Aber Egi war unzufrieden. »S...o«, meinte er, »kann man doch nicht geisteswissenschaftlich arbeiten!«

»Doch!« sagte Doktor Spanier. »Und es ist sogar die einzige Möglichkeit, es zu tun.«

»Und ist es bei uns anders?« meinte Lena Block, die immer noch, eine berauschende dunkle Blume, auf ihren Kissen oben prangte. Sie tanzte besser als alle hier. Aber nur wenig. Sie liebte nicht, daß sie Männer, mit denen sie keine Gemeinschaft haben wollte, berührten. »Ist es bei uns anders? Ich habe nun seit acht Jahren fast jeden Tag hinter der Staffelei gestanden. Hunderte tun es. Alljährlich sind gewaltige Expositionen in allen Städten. Was hat all das eigentlich für einen Sinn? Ist sich jemand schon mal darüber klar geworden: wo kommen die toten Bilder hin? Die toten Menschen begräbt man, das wissen wir; – aber, was wird aus all den toten Bildern? Und doch werde ich morgen, nein, heute um zehn Uhr wieder vor meiner Staffelei stehen. Meine Götter sind für den da«, sie zeigte auf Paulas Mann, der hart und verbissen immer noch unten auf dem Teppich saß, und über dessen Knien Paula lag, und jetzt ganz kinderruhig – inmitten all des Redegewühls und des Grammophongedudels von nebenan – schlief, mit stillen langen Atemzügen, »für den da sind es nur falsche Götzen, und er betet zu dem unbekannten Gott der Zukunft. War es nicht in Athen, wo es einen Altar für die unbekannten Götter gab? Es kommen immer wieder neue. Und es werden auch immer wieder neue kommen. Und hier, unser Wirt, der wird auch unbekümmert seine Bücher schreiben. Ob sie erst in zehn Jahren Makulatur sind, oder schon übermorgen ... das wird ihn nicht berühren.«

Frau Eisner senior beugte sich zu ihrem Sohn vor: »Wer ist diese George Sand da?« fragte sie.

Die Zigaretten waren zu Ende gegangen; aber der Hausierer, der Bändelmann hatte auf dem Boden seines Korbes noch ein paar Schächtelchen entdeckt. Er ging herum und pries seine Ware mit krummen Verbeugungen an.

»Du bekommst keine!« sagte er zu Fritz Eisner. »Du darfst noch nicht rauchen. Weißt du noch aus Quarta, wenn du mich des Abends besucht hattest, und ich dich durch die Unterführung am Anhalter Bahnhof brachte, und ich eigens dafür zwanzig Lafermezigaretten, Marke ›Weißer Elefant‹ für zehn Pfennig gekauft hatte? Dann hast du immer gesagt, du könntest jetzt nicht rauchen, weil du nachher immer noch deiner Mutter einen Gutenachtkuß geben müßtest. Und die würde es dann merken, daß du geraucht hättest ... Und nachher mußt du heute doch auch deiner Mutter einen Gutenachtkuß geben.«

Man lachte sehr. Annchen, die sich den ganzen Abend nicht viel um ihren Mann gekümmert hatte, war plötzlich bei ihm. » Meinethalben«, sagte sie, » darfst du sogar rauchen. Ich habe das gern, wenn du nach Zigaretten riechst.«

»Niels Lyhne. Frau Boje!« sagte Lucie. »›Manchmal ist es auch nur der Duft einer Zigarette, der uns an einem Mann entzückt.‹«

»Gehen Sie denn nun eigentlich wieder nach München, Fräulein Block?« fragte Paul Gumpert, der sich zwischen die anderen gelagert hatte, und sich sehr behaglich fühlte, und deshalb noch nicht gehen wollte, trotzdem ihm M'chen immer mit den Augen Zeichen gab.

»Nein, nicht mehr – München ist ein Bluff. In Paris arbeitet man aus Überschwang, weil es schön ist. In Berlin aus Verzweiflung, weil es eigentlich häßlich ist, und weil außerdem hier alles arbeitet. Aber in München kann man so wenig arbeiten, wie man in einer Theaterdekoration wohnen und leben kann. Und bei jeder Theaterdekoration kommt die Stunde, wo man sie mal bei Tageslicht sieht, und dann graust einem. Mir ist es den letzten Herbst seltsam gegangen. Wie ich da nach München fahren wollte, um den Winter dort zu bleiben, stieg in Ulm ein dicker, dicker Mann ein. Das Urbild sämtlicher schlechter und billiger Zeichnungen aus der Jugend. Mit einem Silberring mit Hirschzähnen an Weißwurstfingern ... mit einer Uhrkette, wie ein Hundehalsband, mit Eberhauern behangen ... mit Hornknöpfen, auf denen Gemsenköpfe waren, am Gewandl. ›Hoa – foahrt der Zuag auf Minka, Freilein?‹ Es kam mir gleichsam vor, als ob man ihn mir an der Grenze als Herold der echten bajuvarischen Urkraft entgegengesandt hatte. Und da bin ich ausgestiegen, hab mir das Ulmer Münster angesehen, die Syrlins ... und Blaubeuren ... und bin direkt über Stuttgart und Straßburg nach Paris gefahren.«

In Hannchen regte sich Widerspruchsgeist. Und sie begann München in den höchsten Tönen zu verteidigen. Als die Kunststadt: Lenbach, Kaulbach, Stuck und Grützner. Man empfand, daß es ihr eigentlich gar nicht so um München ging, sondern um den Kampf. Man fühlte das erstemal so etwas wie Rivalität zwischen ihr und Lena Block, als ob sie beide um ein Unbekanntes nun ringen müßten. Aber Lena Block verteidigte sich gar nicht. »Gewiß«, sagte sie, »es gibt ja sehr viel Leute, die München sehr lieben. Wenn sie nichts damit anfangen könnte, trotz des großen Memling und der ›Mannalese‹, so spräche das vielleicht nur gegen sie selbst.«

Wirklich, von draußen kam jetzt schon so etwas wie ein graues milchiges Licht hinein. Licht war zuviel gesagt. Es war eine Ahnung von Helligkeit, und doch machte sie, daß die Kerzen in den Räumen verblaßten.

Die alte Frau Eisner sagte: »Wissen sie, ich hatte mir als junges Mädchen immer gewünscht, die Sonne aufgehen zu sehen. Dreimal waren wir in der Schweiz, wo doch das zum Programm gehört. Immer hat man's verschlafen. Aber einmal, wie ich dem Jungen hier die halbe Nacht die Hosen habe flicken müssen, weil er sonst morgen nicht hätte in die Schule gehen können, da habe ich sie dann endlich von meinem dritten Stock aus überm Kanal aufgehen sehen. Und jetzt weiß ich es genau ... es ist auch nicht viel anders, als ob sie untergeht.«

Man lachte noch, aber doch schon etwas müde.

Lena Block senkte plötzlich die Hand auf Egis Haar herunter und begann mit ihren beweglichen Fingern darin wie gedankenlos zu wühlen. Sie wußte sicher selbst nicht, was sie tat. Sie hatte die ganze Nacht aufrecht, gleichsam in Habachtstellung gesessen, ohne sich jemand allzunahe zu lassen, oder selbst auch nur die Fiktion einer körperlichen Verbindung mit jemand zu suchen. Sogar ihre Rolle als Ophelia hatte sie nicht gespielt, sondern nur übernommen.

»Ich will sie malen, Herr Doktor«, sagte sie nach einer ganzen Weile, mehr für sich, als zu ihm. »Wenn's nichts wird, schenke ich es Ihnen – wenn's glückt, behalte ich's mir. Wann können Sie mir sitzen? Übermorgen ziehe ich in mein neues Atelier in der Kurfürstenstraße in das Atelierhaus. Von Mittwoch an ginge es. Vielleicht schon Dienstag. Ich weiß schon wie: so, wie Sie da vorhin mal mit dem Buch an den Augen in dem großen Stuhl saßen. Es gibt zwar solch englisches Bild von Reynolds; ich glaube, es ist Ben Johnson. Aber ich will etwas anderes. Auf den englischen Portraits weiß man nie, wie alt ein Mensch ist. Auf den englischen Familienbildern sieht der Vater immer wie sein ältester Sohn aus. Auf deutschen, wie der Großvater.«

Fritz Eisner sah interessiert herüber. Der Kunstkritiker in ihm regte sich. »Das hat natürlich Gefahren, Fräulein Block! Solch Buch zieht zu leicht ab, wird zum Mittelpunkt, und es wird dann genrehaft; oder es macht zu bedeutend. Man sagt: Ah – der Gelehrte. Ohne das Buch könnte man es sonst vielleicht für einen Schlächtergesellen halten.«

Egi lachte etwas chokiert, auch Doktor Spanier tat das.

»Das mag sein« – sagte Lena Block, »aber eigentlich malt man ja doch aus ganz anderen Gründen.«

»Oh«, sagte Fritz Eisner, »das wäre hübsch, wenn Sie es uns sagen können! Bisher hat das nämlich noch niemand gekonnt!«

Lena Block wurde rot. »Ich glaube, ich male Menschen zum Schluß aus den gleichen Gründen, aus denen Sie Ihre Bücher geschrieben haben, die drin im Regal stehen. Haben Sie alles erlebt, was in ihnen steht?«

Fritz Eisner faßte sich an die Stirn. »Nein und ja«, meinte er langsam ... »aber ich hätte es vielleicht sonst erleben können!«

»Und lesen Sie heute noch manchmal darin?«

»Nie!« rief Fritz Eisner.

»Nun – dann verstehen wir uns«, sagte sie.

Man sprang auf.

»Ich will mich von der jungen Herrin des Hauses noch verabschieden«, sagte Frau Eisner senior und tappte leise, als ob sie schon fürchte, sie aufzuwecken, nach der Schlafzimmertür herüber. »Oder meinst du etwa, ich bin zu dir gekommen?«

Hannchen war zum Grammophon gelaufen und drehte an der Kurbel. »Der Rausschmeißer!« rief sie – denn sie war sehr verzweifelt.

Paul Gumpen tanzte sehr brav wieder mit seinem M'chen, wie um zu zeigen, jetzt wäre der Fasching und sein Changez les Dames zu Ende.

Paula walzte mit ihrem Mann herum, als wären sie nun wieder für ewig und alle Zeit unzertrennlich.

Doktor Spanier hatte Selma aufgefordert. Aber Annchen war ihrer Schwiegermutter ins Schlafzimmer nachgeschlichen, um bei der Anbetung des Kindes dabei zu sein. Und der Hausierer versuchte seine Tanzkünste mit Lena Block.

Er war noch scheuer, als sonst, dabei; denn er fühlte unbestimmt, daß er nun Abschied nahm von der Welt, in die er einst hineingewollt, und von der er durch vorzeitiges Verzichten und durch eine einfache Heirat, die ihn gesellschaftlich ganz auf sich stellte, sich selbst ausgeschlossen hatte. Gewiß, er hatte so etwas wie eine freundliche, kleinbürgerliche Behaglichkeit dafür eingetauscht. Ruhen und Hindämmern. Es ging ihm äußerlich besser als seinem Jugendfreund hier. Aber war das eigentlich das, was er einmal gewollt hatte?!

Hannchen drehte sich mit Wilhelm Klein, der kein übler Tänzer war. Aber das Tempo des Apparates war ihr viel zu langsam. Das wäre keine Tanz- sondern eine Grabmusik. Und sie lief hin und verstellte irgendwelche Schrauben und Hebel.

Lucie hatte sich gutmütig Fritz Eisner herangewinkt, so wie ein großer Tennisspieler mal auch aus Höflichkeit mit einem Patzer ein set macht. Aber sie hatte die Tour schnell – nach ein paar offensichtlichen Taktlosigkeiten ihres Partners und seinem noch deutlicheren Mangel an jeglicher Führernatur – und lächelnd abgebrochen. Zum Tanzen brauchte man andere! Sie war lieber mit ihm in das Bücherzimmer gegangen, hatte da die Vorhänge von den Regalen geschoben, um mit ihrem Knipsglas ... denn sie war wie viele Leute, mit sehr großen und sprechenden Augen eigentlich etwas kurzsichtig – einmal die Titelreihen ein wenig zu studieren.

Und nach ein paar Worten fühlte Fritz Eisner heraus, daß sie jetzt wußte, welche Farbe Trumpf war, und nicht, wie so viele ihres Geschlechts, nur mit Namen um sich warf. Wahrlich – sie hatte die Jahre nicht schlecht angewandt, und in ihrem Kopf sah es nun nicht mehr, wie ehedem aus ... als wäre er nur ein Ausputzkasten mit den paar notwendigen geistigen Maskenkostümen, die man so für den Jahrmarkt der Eitelkeit braucht, wenn man als interessante Frau gelten will.

»Ich habe wohl nicht so viel!« sagte sie. »Aber – es ist doch auch weniger von solcher einmaligen Zufallsware dabei, wie Sie sie als Journalist bekommen. Vor allem die großen Franzosen habe ich ziemlich vollzählig. Sie tendieren ja mehr nach Norden. Na, Sie werden sie ja bei mir sehen. Und ich habe wohl auch manchmal bessere Ausgaben. Ich liebe es nicht, wenn so vornehmer Besuch zu mir im Straßenanzug kommt. Wer ist nebenbei Obstfelder? Seltsam, nun hat man an tausend Bände zu Hause und oft weiß man doch nicht, was man lesen soll ...«

Was war denn plötzlich da drin?! Ein so unangenehmer, fast tierischer Laut kam durch das Gedudel. Halb wie ein Bellen. Jetzt wurde die Musik abgestellt. Richtig – da hustete doch einer zum Gotterbarmen jämmerlich. Ganz schwer, von unten herauf – ein richtiger Anfall ... fast mit Erstickung. Wer war denn das nur? Hannchen?! – Ach nein ... Gewiß der arme Wilhelm Klein. Er sah eigentlich doch, wie er vorhin da so sprach, recht krank, beinahe schwindsüchtig aus. Auch Lucie horchte erschrocken auf, so als ob sie diesen Klang von den Patienten ihres Mannes nur zu gut kannte.

»Hören Sie, Frau Doktor, ich glaube, ich muß mal hereingehen?!«

Aber drin war gar nichts mehr; alles schon wieder glatt. Hannchen hatte sich nur wieder einen Augenblick auf die Kissen gelegt, lächelte, rief: warum man denn nicht weiter tanze; wischte sich aber mit ihrem Spitzentuch an dem Mundwinkel herum, rieb da noch irgend etwas rosiges fort. Egi sprach seelenruhig und gleichgültig mit Selma. Sie lachten sogar. Selma hatte etwas sehr Komisches von ihrem Jungen erzählt. Es war auch zu drollig. Immer hatte er sie gelöchert, er wolle mitgehen zu Tante Alma. Und dann war er sehr enttäuscht gewesen, weil er geglaubt hatte, Tante Alma wäre ein »Eima« zum Sandspielen.

Doktor Spanier zog Fritz Eisner unauffällig in eine Ecke. »Hören Sie, lieber Freund, ich will die Gesellschaft nicht stören – wir gehen ja sowieso gleich alle. Ich glaube, an ihren Mann kann ich mich wohl nicht wenden; es wäre auch wohl kaum die rechte Adresse. Er kümmert sich doch nicht darum. Er ist auch zu sehr mit sich beschäftigt ... und mit anderen Dingen ... wie alle begabten Neurastheniker. Die Ehe ist gewiß auch sehr schlecht. Also – sage ich es Ihnen: Diese Vogelstraußpolitik dürfen Sie nicht weiter treiben. Hören Sie auf mich – ich war drei Jahre Assistent an der Heilstätte in Beelitz!«

Fritz Eisner war wie versteint. »Was? – Meinen Sie denn, daß sie ernstlich etwas mit der Lunge ...?«

Doktor Spanier achtete gar nicht auf seinen Einwand. Er ging jetzt ruhig und wie plaudernd mit Fritz Eisner auf und ab.

»Ich will Ihnen etwas sagen« – meinte er nachdenklich. »Besuchen Sie mich mal nachmittags mit Ihrer Schwägerin zum Tee. Es braucht gar nicht gleich Montag zu sein, Dienstag, vielleicht auch Mittwoch. Ein, zwei Tage spielen da keine Rolle mehr. Und da werde ich Ihnen dann mein Laboratorium zeigen, und bei der Gelegenheit werden wir, so mehr zum Spaß – Sie gehen raus, Lu bleibt drin – Ihre Schwägerin durchleuchten. Und dann will ich Ihnen genau sagen, wie weit vorgeschritten der Prozeß in der Lunge ist. Und ob wir noch Aussichten mit einer Höhenkur haben. Mir scheint er recht vernachlässigt. Und sie nehmen oben nicht gern irreparable Fälle. Das verschlechtert ihnen nur die Statistik.«

Und dann ging er zu Hannchen heran, die jetzt krampfhaft Betrieb heuchelte, Egi allerhand zurief, und sich auf strahlendes Glück und Laune und Esprit wieder umgestellt hatte, und die eigentlich so hübsch aussah, wie die ganze Nacht nicht ... Gerade so, wie sie Romney hatte malen wollen und nicht gemalt hatte, und so, wie sich eben seine Lordschaft ihrer erinnern wollte ... wenn er das Bild sah.

Doktor Spanier setzte sich pfeifend und summend neben sie.

»Sie interessieren sich doch auch für alles, Frau Doktor«, sagte er dann nach einer ganzen Weile mitten aus dem »Bettelstudenten« heraus. »Ich habe es eben mit Ihrem Schwager besprochen, daß ich ihm mal mein neues Röntgenlabor vorführen will, und Hochfrequenz und, was wir jetzt alles so machen. Wenn es Ihnen Spaß bereitet, kommen Sie mit, sehen Sie sich's an. Sagen wir vielleicht ... Mittwoch nachmittag. Da bin ich noch ziemlich frei.«

Aber Hannchen war, wie alle Heimlichkranken, gewitzter und hellhöriger, als man glaubte. »Ich« – sagte sie lachend, »ich bin ganz gesund. Das bißchen Husten macht nichts. Das habe ich schon den ganzen Winter; zum Frühling jetzt geht's wieder fort.«

Doch Doktor Spanier kannte auch solche Patienten. »Husten? – ach ja«, – sagte er ganz beiläufig – »das meine ich auch. Wenn Sie sich nur etwas schonen. Darauf lege ich als Arzt gar keinen Wert. Nein, ich dachte, Sie wollten – wenn ich Sie vorhin richtig verstanden hatte – sich das mal bei mir ansehen. Es lohnt sich nämlich schon. Ich habe die beste Einrichtung, die in Berlin ein privater Arzt hat.« Und er winkte Lucie heran. »Weißt du, Lu, verabrede doch mal mit Frau Doktor, wann Sie zum Tee kommen kann. Ist dir der Mittwoch recht?« Und damit schlenderte er, die Hände in den Taschen, die Mamsell Angot pfeifend, fort – und rief dann nach Paul Gumpert, ob der ihm vielleicht noch eine Zigarette geben könne. »Hören Sie«, sagte er leise, während jener sein Etui zog, und er unter den Marken sehr langsam wählte. »Jetzt fahren Sie mal ganz schnell fort. Und sowie Sie unterwegs ein leeres Auto fassen – aber geschlossen! – so schicken Sie es sofort hierher. Wir müssen nämlich die Frau Doktor Meyer nach Hause bringen, sonst riskieren wir vielleicht hier noch den elegantesten Blutsturz. Und das wäre doch nicht der richtige Ort grade dafür. Nach der amüsanten Probe von vorhin wäre das nämlich gar nicht so außerhalb des Bereiches aller Möglichkeiten.«

»Ist sie denn krank geworden?«

»Geworden – nein, geworden ist sie es nicht. Aber nun ... lieber Herr Gumpert: ... Händeschütteln, Lachen ... Es war reizend ... So einen anregenden Abend haben wir überhaupt diese ganze letzte Saison noch nicht mitgemacht ... Ende gut, alles gut, und so weiter. – Aber, wenn ich Sie sehr darum bitten darf – in Eiltempo!«

Frau Eisner senior und Frau Eisner junior kamen jetzt beide Arm in Arm aus der Schlafzimmertür, und man wußte nicht, wer mehr strahlte: die Mutter oder die Großmutter. Beide waren sich einig, und verkündeten es laut, daß Little Dorrit überhaupt das goldigste Kind wäre, das je die Welt gesehen – wie es da gelegen hätte, mit dem Daumen im Mund. Und Fritz Eisner hatte auch gar nichts dagegen einzuwenden.

Nun löste es sich aber. Gumperts konnten noch außer Frau Eisner senior Lena Block in den Wagen mitnehmen, sie würden sie unterwegs absetzen. Egi hätte sie sehr gern nach Hause gebracht und sagte: daß ihm das gar nichts gemacht hätte. Er ginge immer des Nachts spazieren. Da kämen ihm die besten Gedanken für seine Arbeiten. Aber man hielt es allgemein so für praktischer ... und auch wohl für schicklicher.

Wilhelm Klein und Selma, Paula mit ihrem Mann, der Hausierer ... alles trollte davon, hinabgeleitet von der sehr vergnügten, still vor sich hinkichernden, die Treppe mit der Kerze betropfenden Pauline – denn die Nachtbeleuchtung stand zwar im Kontrakt, war aber, wie immer, entzwei ... von Pauline, die im Hintergrund alles ausgetrunken hatte, was sich an Resten in irgendwelchen Gläsern vorgefunden hatte. Mit der Bowle allein wäre es ja nicht so schlimm gewesen ... aber die Kommende Note, der Syndikus der A. R. A., mit dem Konzern hinter sich, hatte verdammte Gifte zusammengebraut, deren beaux restes selbst so ein schlichtes ländliches Gemüt, wie die hübsche Pauline es war, sich nicht gewachsen gezeigt hatte.

Auch Hannchen erhob sich nun, sprang auf: sie ginge natürlich, es wäre herrlich, so in den jungen Morgen hineinzumarschieren ... gerade eine erwachende Stadt, die ersten Bäckerjungen! Wie oft hätten sie sich so warme Semmeln gekauft, mit Muttchen, nach den Stiftungsfesten des M. N. W. B. – »weißt du noch, Annchen?«

»Ach nein!« sagte Doktor Spanier, »wir haben ja den gleichen Weg, und ich habe mir einen Wagen bestellt. Dann nehmen wir Sie mit. Wozu wollen Sie laufen?«

»Aber das ist doch ein großer Umweg!« rief Hannchen entsetzt ob solcher Verschwendung.

»Also das mag der Chauffeur mit sich abmachen«, sagte Doktor Spanier lachend.

Hannchen faßte Annchen um. »Ach«, sagte sie, »wie ich froh bin, daß ich meinem großen Jungen jetzt bei dieser neuen famosen Sache helfen kann. Da fühlt so ein armes, dummes Menschenkind, wie ich, doch mal wieder, wozu es eigentlich auf der Welt ist! Paß auf: – jetzt werden wir berühmt werden.«

Der »große Junge« aber sah gar nicht so aus, als ob er sich bei dieser neuen Arbeit – wenn er überhaupt schon einmal an sie herangehen würde (was noch in Frage stand) – helfen lassen wollte. Und in Wahrheit hätte er dazu auch einen schärferen Intellekt gebraucht, als jenen, über den Hannchen verfügte ... eine Tatsache, die Hannchen eigentlich im Laufe der Jahre nicht hätte entgangen sein können. Nun aber hatte er sich vorerst mal wieder, gleichmütig und angenehm durchwärmt, seelisch und körperlich, – denn des Mixers gedachte er mit viel Behagen! – in einen der Mammutstühle gesetzt, sich den Band Jerome-Jerome wieder aus dem Regal geholt, ihn genau dort wieder aufgeschlagen ... bis auf die Zeile ... wo er vor acht Stunden aufgehört hatte ... und quiekste, wie das so seine Art beim Lesen war, still und vergnüglich vor sich hin.

Doktor Spanier ging mit Fritz Eisner auf die Loggia hinaus. Oh, es war wundervoll. Ganz hell schon. Da war der blanke Stern vom Abend doch wieder – aber jetzt ohne Sichelmond. Er blitzte ganz allein noch, grünblau und unirdisch licht, in der mattvioletten Luft, wie ein einzelner eingesetzter Edelstein: groß, als käme er aus einem indischen Thronschatz. Die Straße lag silberfarben mit ihren vier Baumreihen unter ihnen, sich weit hinziehend, ganz einsam, ohne eine Menschenseele. Nur die Vögel lärmten, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Was das nur alles war? Sperlinge; – ja; aber auch Finken, Drosseln und Amseln, Meisen und Schwarzblättchen. Und ganz in allernächster Nähe scheinbar schrie ein Pirol seinen Morgenruf. Sicher war das ein Pirol. – Eigentlich sehr früh in diesem Jahr schon.

»Was ist das für eine wahnsinnige Welt«, sagte; Doktor Spanier. » Hier tanzen wir, und fünfhundert Meilen weiter würgen sich zu Tausenden gerade die armen Kerle von Russen und Japanern ab, und kein Mensch nimmt bei uns noch Notiz davon. Haben Sie etwa gehört, daß auch nur einer heute nacht ein Wort darüber verloren hätte?! Als ob es so sein müsse – hierzulande und in diesem blöden und unentwickelten Menschendasein. Daß ich hier neben Ihnen stehe, ist auch nur Zufall. Ich sollte eigentlich mit einer deutschen Ärztekommission mitgehen. Aber im letzten Augenblick ist ein anderer für mich eingesprungen, und der ist jetzt dreißig Kilometer hinter der Front bei einer Explosion in tausend Fetzen gerissen worden. Und ... denken Sie nur an Ihre Schwägerin: wie solch ein geschlagener Schachstein, den wir vom Brett nehmen werden. – Zusehen darfst du eine Weile noch, aber nicht mehr mitspielen! Und die Musik dudelt dabei herrlich vergnügt weiter: ›Anna – zu dir ist mein liebster Gang!‹ ... Doch vielleicht muß das alles hier so sein. Denn, wenn man auch nur einmal einen Augenblick in diesem famosen Dasein wirklich zum Bewußtsein käme, aus der angenehmen Narkose erwachte, könnte man sich ja gleich eine Kugel durch den Kopf jagen.« Von ganz der Ferne, viele Straßen noch weit, kam ein Rasseln. »Also hören Sie, da kommt ja schon unser Wagen. Nun sollen sie sich aber drin fertig machen; denn ich werde meinem Gott danken, wenn wir Ihre Frau Schwägerin erst gut abgeliefert haben ... Sie hat sich wohl auch sehr aufgeregt heute ... seelisch. Keiner gibt gern sein Amt ab, und wenn er's auch schon jahrelang eigentlich nicht mehr ausübt. Und eine Frau erst recht nicht. Denn in gewissen Dingen ist die klügste Frau auch nicht viel klüger als die dümmste. Eher, daß es umgekehrt wäre.«

Unten kam schon immer näher – eine Wolke von Staub hinter sich – der Wagen herangepoltert; und der Führer lag seitwärts über dem Lenkrad und spähte nach den Hausnummern, während er zu bremsen begann. Drinnen waren Lucie, Hannchen, Annchen und Pauline beschäftigt, wenigstens das gröbste zusammenzuräumen.

»Sodom und Gomorrha!« rief Annchen (sie hatte mal ihren Religionslehrer angeschwärmt).

»Also ... Aufbruch! Auf Wiedersehen – Komm Lu, mach dein Dienerchen, mein Liebling! ... Herr Doktor, unterbrechen Sie bitte Ihre so belustigende Lektüre ... Haben Sie keinen warmen Mantel, Frau Doktor Meyer? Hören Sie: ein bißchen Abhärtung ist ja für Sie ganz ratsam; aber das ist schon Nacktkultur. Kommen Sie her – Sie hängen noch meinen Raglan über! Sie sehen nebenbei zum Verlieben darin aus ... Ihre Destille war ganz stilecht, Herr Eisner, nur eine kleine Nuance haben Sie sich noch entgehen lassen; das Mädchen mit der Federboa um, das von außen eifersüchtig durch den Gardinenspalt guckt, ob ihr Beschützer auch drin sitzt ... oder ob er etwa gerade mit der anderen geht ...« und er schob alle lachend und winkend und kußhändewerfend zur Tür hinaus, aber in seiner Miene stand deutlich: ich opfere dem Äskulap einen schwarzen Hahn, wenn ich sie ohne einen neuen Blutsturz nach Hause kriege!

Annchen und Fritz Eisner gingen auf die Loggia und sahen hinab, wie jene einstiegen, riefen noch herunter. »Also Hannchen«, sagte Annchen, »macht ein Bohei von sich« – sie hatte so seltsame Familienworte – »daß alle glauben, sie wird morgen zusammen mit Egi ein philosophisches Handwörterbuch herausgeben. Und dabei ist gar nichts dahinter. Ich begreife nicht, warum und für wen sie sich immer so aufspielt.« Und dann gähnte sie tief und herzbrechend, während sie wieder in die verwüsteten und durcheinandergewühlten Zimmer zurückkehrte. »Pauline«, rief sie, »nichts anrühren – zu Bett! Machen Sie alles morgen. Ach was, legen Sie sich hinten auf die Chaiselongue, wenn man Ihre Matratze genommen hat. Wie ist denn nur diese freche Person darauf gekommen?!«

Wirklich, es sah nicht schön aus, und roch nach den Resten von Speisen und Getränken. Ein Ort, wo ein Feuerwerk war, und wo ein Fest war, sieht nie schön aus. Als wär er ein Gegenbild von dem, wie's dem Menschen nachher zumute ist.

Aber so müde war Annchen doch noch nicht, daß sie nicht noch Zeit fand, die Einzelnen durchzunehmen. Also ... wenn man sie so sprechen hörte, begriff man es nicht, wozu sie die Leute überhaupt eingeladen hatte. Nur irgendwelche Gleichgültigkeiten aus der Statisterie, die Fritz Eisner kaum beachtet hatte, hätten reizend ausgesehen, und wären apart und witzig auf jeden Scherz von ihr eingegangen. Die Sache mit Lucie und den Rosen wäre doch sehr merkwürdig, beinahe komisch gewesen. Sie müsse immer noch daran denken, wie Lucie erst ganz rot geworden sei, als sie fragte, wo sie die her hätte ... Und du nachher dann auch.

›Sie mache sich nebenbei aus Lucie wenig. Und solche Mädchen haben natürlich immer das Glück, denn der Mann trägt sie doch auf Händen.‹ – Das war die mildere Version. Sonst pflegten die andern Männer ihren Frauen die Hände unter die Füße zu legen. »Du warum aber es gerade dieser gräßlichen, aufgeblasenen und alten Person, dieser Malerin für heute abend hast sagen müssen, begreife ich nicht. Die hat doch überhaupt nur gestört, und geistig gar nicht in den Kreis gepaßt. So etwas ladet man nicht ein. Und wenn sie zehnmal eine Nichte von den Oberbonzen, den Warschauers, ist, über meine Schwelle kommt sie nicht mehr.« Fritz Eisner wunderte sich. Denn soweit er sich erinnerte, hatte Annchen Lena Block beim Abschied zärtlich geküßt, und sie inbrünstig beschworen, doch bald einmal gemütlich zu kommen. ›Ja und Fritz Eisners Rede wäre im höchsten Grade taktlos gewesen. Warum er immer alle Welt in die Geheimnisse seiner Kasse einweihen müsse, begriffe sie heute so wenig wie vor sechs Jahren. Und, wenn er das mit dem Kattun mit einem anderen, als dem so gutmütigen und vornehmen Paul Gumpert gemacht hätte, hätte der sicher sofort das Haus verlassen. Und er hat das wohl auch nur nicht getan, weil er noch von früher so an ihr hängt; sie hat es ihm ja angesehen, daß er es eigentlich wollte. Dem alten Mann mit der Sammetjacke gönne sie es ja, wenn er sich mal ordentlich satt esse – da wolle sie gar nichts sagen. Aber der Johannes Hansen hätte hereingehauen und geschlungen ... wirklich – das könne man nicht mehr als menschlich bezeichnen; und so unsauber dabei!! Und er wäre doch sonst immer ein so manierlicher und delikater Mensch gewesen.‹

»Hör mal«, unterbrach Fritz Eisner, »ich glaube, daß Hannchen ernstlich krank ist.«

»Ach – der Husten! Das sieht nur so aus. Das haben sie bei uns in der Familie fast alle. Meine Großmutter hat ihn schon mit achtzehn Jahren gehabt, und ihn mit siebenundsechzig ins Grab mitgenommen ...«

Aber plötzlich verstummte ihre Rede. Nur während sie sich gähnend von der Schürze frei machte, den Kamm herauszog und das Haar bürstete und zurecht schüttelte, hub sie noch einmal ganz leise an – damit das Kind nicht aufwachte (es hatte sich schon hin und her geworfen) – »daß man von der guten, armen Tante Trautchen was erbt, ist doch wahrlich sehr lieb von ihr. – Gott, sie war ja immer wie eine zweite Mutter für uns; eigentlich besser. Wie hat die mich verwöhnt. – Und wenn's auch nur ein paar tausend Mark sind, dann brauchst du wenigstens keine Reden mehr zu halten, daß du nur noch acht Mark achtzig ...« der Rest ging in einem ganz tiefen Gähner unter. Naja, so eine ganze Nacht immer auf den Beinen, und als Wirtin sich um jeden Dreck kümmern – hier und da zugleich sein, das strengt an. Und zu kapitelfest war sie immer noch nicht und auch eigentlich nie gewesen.

Fritz Eisner gab keine Antwort. Riß sich ärgerlich die Schürze ab, das Käppchen herunter, begann die Schuhe auszuziehen. Endlich arbeitete er, was er konnte; hatte sich das Haus voll Leute geschleppt, die ihn nichts angingen; um jedes Würstchen, das es heute abend gab, hatte er dreimal die Feder eintauchen müssen; und dafür?! – nichts, wie Sticheleien! Ah – und da ist ja noch in der Weste dieser Brief, in dem dieser Esel von Redakteur die paar Phrasen zurechtgedrechselt hat, mit dem er den Anfang des neuen Romans, den er doch sehen wollte, wieder zurückschickte. Viermal hatte er schon die Sache versucht, mit Büchern durchzubringen. Man hatte sie in der Presse nicht übel aufgenommen, aber gekümmert hat sich eigentlich keine Katze drum. Und wenn es dieses Mal nichts würde, würde er eben von nun an nur noch den Pressekuli spielen. Die anderen mußten sich ja auch in der Tagestretmühle geistig verbrauchen lassen. Wozu wollte er denn immer in diesem Dasein eine Extrawurst gebraten haben?

Und während Fritz Eisner sich mit dem einen Stiefel den anderen vom Fuß streifte, warf er einen schnellen Blick auf das Papier. Die Absage hatte nur wenige Zeilen. Aber plötzlich fiel Fritz Eisner – er machte wohl eine ungeschickte Bewegung – beinahe gegen das Kopfende des Bettes ... »außerordentlich gefallen ... bis wann können wir mit dem Abschluß rechnen? Man sehe schon genug, weitere Inhaltsangabe interessiere nicht ... freuen sich, diese Arbeit erwerben zu dürfen ... über den Preis hofften sie einig zu werden ... er würde sich je nach der Zeilenzahl zwischen drei- und fünftausend belaufen.«

»Willst du mal lesen, Annchen, was hier in dem Brief steht?« sagte Fritz Eisner.

»Ach, weißt du, Fritz, laß mich jetzt endlich in Gottesnamen schlafen. – Ich glaube, ich habe mir das heute wirklich redlich verdient! Oder meinst du etwa nicht?!«

 


 << zurück weiter >>