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Die Geschworenen zogen sich, nach einer unparteiischen Rechtsbelehrung Seitens des Vorsitzenden, in das Berathungszimmer zurück. Beck wurde wieder abgeführt. Er warf einen schmerzlichen Blick auf den jungen Rechtsanwalt, dann drückte er diesem beide Hände.
»Ich sage Ihnen vielen Dank,« murmelte er. »Sie haben sich viele Mühe meinetwegen gegeben. Wollte Gott, daß der Erfolg mit Ihnen wäre, aber ich sehe es nur zu deutlich ein, die Maschen des Netzes, in welches man mich verfangen hat, sind allzu feine; die Geschworenen werden mir nicht günstig gesonnen sein.«
Rudolph sprach ihm einige Worte des Trostes zu. Dann, als die Ausgangsthür sich hinter dem Angeklagten und seinen beiden Wärtern geschlossen hatte, wendete Rudolph sich hastig um. Jetzt wollte er Hedwig aufsuchen.
Aber ihr Platz auf der Zeugenbank war noch immer leer, auch auf der Stelle, wo er sie vorhin zu sehen vermeint, suchten sie seine Augen vergeblich.
Als er eben im Begriff war, den Zuhörerraum zu betreten, kam ihm der Untersuchungsrichter Alberti entgegen und legte vertraulich eine Hand auf seinen Arm. »Verzeihen Sie, Herr Doktor,« meinte er in flüsterndem Tone, »aber mich interessirt in hohem Grade Ihre vorige Auseinandersetzung mit dem Staatsanwalt.« Als Rudolph ihn fragend anblickte, setzte er hinzu: »Ich meine Ihren Antrag betreffs der sofortigen Vorladung Ihres zukünftigen Schwagers, des Herrn Baron Hugo v. Engler.«
Ein trüber Schatten flog über Rudolph's Gesicht. Die letzten Stunden über hatte er in der glühenden Begeisterung, welche er für seinen Klienten an den Tag gelegt, völlig die Mittheilungen des Polizeikommissärs vergessen gehabt. Jetzt erinnerte er sich mit einem Male wieder an die Unterredung von diesem Morgen.
»Ist der That,« sagte er. »Herr Grösser hat mir da eine ganz auffallende Mittheilung gemacht; er hat Sie doch vermuthlich auch unterrichtet?«
»Ich pflog vorhin Rücksprache mit ihm. Er war eben noch im Saale, ist aber plötzlich abgerufen worden. Er erzählte mir die Chiffrebriefgeschichte, und dann soll auch Ihr zukünftiger Schwager heute Nacht bei dem Trödler gewesen sein. Was hat das eigentlich zu bedeuten?«
Rudolph zuckte die Achseln. »Ich glaube, wir stehen einer ungeheuerlichen Lösung des Räthsels gegenüber, das uns Alle beschäftigt,« meinte er mit gepreßter Stimme. »Ich bin schon die letzte Zeit über aus Herrn v. Engler nicht recht klug geworden, er ist wortkarg und verschlossen, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Meine Schwester hat sogar wiederholt Veranlassung genommen, sich über sein Benehmen zu beklagen; wenn dies auch nur in scherzender Form geschah, so sah ich doch, daß sie nicht mehr zufrieden mit ihm und an ihm selbst irre geworden war.«
»Hm, hm, das ist eigenthümlich. Ich frage mich auch schon die ganze Verhandlung über, was das mit den Chiffrebriefen eigentlich zu bedeuten hat? Eine solch' geheimnißvolle Korrespondenz wird doch nur in Ausnahmefällen geführt. Entweder Liebende, die sich wegen der überwachenden Eltern nicht sprechen dürfen, oder Leute, die sonst gewichtige Gründe haben, von ihrer gegenseitigen Bekanntschaft nichts verlauten zu lassen, wählen diesen ebenso beschwerlichen wie kostspieligen Weg gegenseitiger Verständigung.«
»Jetzt wird mir erst klar, warum der Baron gestern Abend rasch aufbrach,« schaltete Rudolph ein. »Wir saßen im Wohnzimmer, Herr v. Engler plauderte mit meiner Schwester, plötzlich erklärte er zu einer für seine sonstigen Gewohnheiten auffällig frühen Stunde, daß er ausbrechen müsse. Trotz Hildegard's Bitten, noch ein Stündchen zu verweilen, brach er wirklich schon um halb zehn Uhr auf.«
»Hm, das gibt zu denken,« murmelte Alberti, unterbrach sich aber in demselben Augenblicke, als er den Polizeikommissär Grösser mit erregten Mienen eilfertig auf sich zukommen sah. »Nun, Grösser, was gibt es?« fragte er.
»Ich habe eine Meldung zu machen, Herr Rath,« stieß Grösser hastig und ebenso leise hervor. Dabei warf er einen schnellen Blick auf den dabeistehenden jungen Rechtsanwalt, der zurücktreten wollte.
»Bitte, bitte, wenn es nicht gerade ein Dienstgeheimniß ist, können Sie die Meldung ruhig in Gegenwart des Herrn Wichern erstatten,« versetzte Alberti. »Was ist geschehen?«
»Ich stehe selbst noch unter dem ersten Eindruck der soeben erhaltenen Meldung,« berichtete Grösser. »Der Trödler Schimmel ist todt im Bette aufgefunden worden. Die furchtbare Unordnung, die sich in seinem Laden auf Schritt und Tritt zeigt, deutet auf ein stattgehabtes Verbrechen hin.«
Der Untersuchungsrichter warf hastig, während sein Gesicht Schreck und Bestürzung ausdrückte, einen Blick auf Rudolph.
Des Letzteren Züge waren todtenbleich und wie entgeistert. Ein heftiges Zittern ging durch die Gestalt des jungen Rechtsanwalts Der Athem schien ihm fast zu versagen; zu wiederholten Malen mußte er ansetzen, ehe er ein Wort über seine Lippen brachte.
»Was sagen Sie da?« wendete er sich an den Polizeikommissär. »Der Trödler Schimmel ist todt aufgefunden worden, im Bett, sagen Sie, und – und heute Nacht?«
Die beiden Beamten sahen sich bedeutungsvoll an, dann warf der Untersuchungsrichter einen hastigen Blick um sich.
»Wir werden hier beobachtet,« meinte er, sich zu einer gelassenen Miene zwingend. »Angesichts dieses neuen Ereignisses weiß ich allerdings selbst noch nicht, was ich sagen soll,« wendete er sich wieder an den Kommissär.
»Wer hat die Anzeige gemacht?«
»Der Schutzmann, welcher zur Sistirung des Trödlers beordert worden war,« berichtete Grösser. »Er fand die Hausthür offen, aber die Wohnungsthür verschlossen; vergeblich klingelte er an dieser, auch sein Pochen an den verschlossenen Ladenfenstern blieb erfolglos. Die Nachbarschaft war schon darüber verwundert, daß der Trödler, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, sein Geschäft nicht schon seit dem frühen Morgen geöffnet hatte. Der Schutzmann holte einen Schlosser herbei und ließ die Thür öffnen. Im Schlafzimmer fand man den Trödler todt im Bette. Selbstverständlich blieb der Schutzmann zurück und ließ Meldung auf dem nächsten Revier machen.«
»Das war gut so,« versetzte der Untersuchungsrichter, nach seiner Uhr sehend. »Wir begeben uns natürlich sofort an Ort und Stelle. Zum Glück ist der Herr Kreisphysikus auch noch im Saale, wir müssen ihn bitten, sich sofort mit uns nach der Wohnung des Todten zu begeben.«
Er steckte seine Uhr wieder ein und sah den Rechtsanwalt fragend an. »Ich würde Sie ersuchen, sich uns anzuschließen, Herr Doktor,« meinte er. »Sie haben ja immerhin als Vertheidiger des unglücklichen Beck ein gewisses Interesse an der ganzen Angelegenheit.«
Er wurde durch den Eintritt der Geschworenen unterbrochen, die mit ihrer Berathung zu Ende gekommen waren und in feierlichem Schweigen, paarweise geordnet, in den Saal zurückkehrten
Rudolph athmete beklommen auf. Nun war er der seit Wochen herbeigesehnten und doch wiederum so gefürchteten Entscheidung nahe.
»Wenn Sie gestatten, werde ich sofort nach beendigter Verhandlung im Hause des Trödlers erscheinen. Sie können sich denken, ein wie lebhaftes Interesse ich an der Sache nehme,« entgegnete Rudolph.
Dann verabschiedete er sich hastig von den beiden Herren und eilte auf seinen Platz zu.
Im gleichen Augenblicke trat auch schon der Gerichtshof wieder ein.
Der Präsident befahl, den Angeklagten wieder vorzuführen.
Unter lautloser Stille der Versammlung las dann, nachdem dies geschehen, der Obmann der Geschworenen den gefüllten Wahrspruch vor.
»Auf Ehre und Gewissen verkünde ich als Wahrspruch der Geschworenen:
Frage 1. Ist der Angeklagte Karl Beck schuldig, in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli dieses Jahres den Rentner Ludwig v. Engler in dessen Wohnung vorsätzlich und mit Ueberlegung getödtet zu haben?
Antwort: Nein.
Frage 2. Ist der Angeklagte schuldig, bei Unternehmung einer strafbaren Handlung, um ein bei der Ausführung derselben eingetretenes Hinderniß zu beseitigen, oder um sich der Ergreifung auf frischer That zu entziehen, vorsätzlich den Rentner v. Engler getödtet zu haben?
Antwort: Nein.
Frage 3. Ist der Angeklagte schuldig, sich zur Nachtzeit in ein bewohntes Gebäude, zu Begehung eines Raubes, bei welchem der Tod eines Menschen durch Ermordung verursacht worden ist, eingeschlichen und aus einem verschlossenen Kassenschrank Banknoten und Geschmeide im Werth von mindestens zehntausend Mark entwendet zu haben?
Antwort: Ja, mit mehr als sieben Stimmen.
Unterfrage: Sind mildernde Umstände vorhanden?
Antwort: Ja.
Frage 4. Ist der Angeklagte schuldig, in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli dieses Jahres die unverehelichte Dora v. Gerstenberg durch Verabreichung von Gift vorsätzlich und mit Ueberlegung getödtet zu haben?
Antwort: Nein.
So wahr mir Gott helfe!«
Ein dumpfes Gemurmel erhob sich im Saale, als der Obmann der Geschworenen mit der Verlesung der Antworten zu Ende gekommen war.
Beck, auf den nun alle Blicke sich richteten, stand schwerathmend in der Anklagebank.
Als aber Rudolph tiefergriffen sich nach ihm umwandte und ihm vor aller Oeffentlichkeit die beiden Hände herzlich schüttelte, da war es um feine Fassung geschehen.
Der starke Mann sank auf seinen Sitz nieder und verhüllte sein Gesicht mit beiden Händen
Der Gerichtshof zog sich zur Berathung zurück.
Schon nach wenigen Minuten erschien er wieder im Saale.
Das Urtheil lautete auf insgesammt neun Jahre Gefängniß und auf Ehrverlust in gleicher Dauer. In kurzer, gedrängter Form entwickelte der Präsident die Beweggründe, welche den Gerichtshof zu diesem verhältnißmäßig milden Urtheil veranlaßt hatten.
»Angeklagter,« wendete sich dann der Präsident an Beck, »es steht Ihnen gegen dieses Urtheil das Rechtsmittel der Revision zu, welches Sie binnen acht Tagen schriftlich oder mündlich durch Ihren Herrn Vertheidiger bei der Gerichtsschreiberei anzumelden haben.«
Rudolph hatte sich dem Präsidenten wieder zugewandt.
»Im Auftrage meines Klienten melde ich schon jetzt die Nichtigkeitsbeschwerde gegen das gefällte Urtheil an,« versetzte er mit klarer, weithintönender Stimme. »Die Vertheidigung ist in der Vorladung der Zeugen ungebührlich beschränkt worden. Es wird Sache des Reichsgerichts sein, sich mit der Frage zu befassen, ob das Urtheil nicht kassirt und an die erste Instanz zurückgewiesen werden muß.«
»Sie wollen Ihren Antrag bei der Gerichtsschreiberei zu Protokoll geben,« versetzte der Präsident trocken. »Der Angeklagte bleibt natürlich in Haft und ist abzuführen.«
Dann erklärte er die Verhandlung für geschlossen.
Rudolph gab schmerzlich bewegt seinem Klienten das Geleit bis an die Ausgangsthür des Saales; dort tauschten sie nochmals einen herzlichen Händedruck miteinander ans.
»Muth, Herr Beck, Muth und Gottvertrauen!« sagte er mit bedeutungsvoll klingender Stimme, dem halb Verzweifelten in die Augen schauend. »Ich glaube, es will Tag werden, noch kann ich mich freilich nicht auslassen, ich will keine unnützen, nichtigen Hoffnungen in Ihnen erregen, aber es tagt, es tagt!«
Beck hatte nur ein trübes Lächeln. »Für mich ist es Nacht geworden,« murmelte er mit gebrochener Stimme.
»Sorgen Sie für mein Kind, ich wünsche mir nur noch einen Freund, den Tod!«
Damit wurde er abgeführt.
Erregt wendete auch Rudolph sich der Ausgangsthür zu. Da wollte es der Zufall, daß er Hedwig endlich begegnete. Sie standen sich plötzlich mitten in der vorüberwogenden Menschenmenge gegenüber; sie wußten selbst nicht wie.
Hastig faßte Rudolph ihre Hand und zog das junge Mädchen abseits in eine vor dem Anwaltszimmer sich befindende Nische. »Hedwig, ich bitte Dich, ein Wort, nur, ein einziges Wort!« flüsterte er mit zuckenden Lippen.
Und dann, als sie sich allein einander gegenüber standen, setzte er leise hinzu: »Warum bist Du vor mir geflohen?«
»Mußte ich nicht?« stöhnte Hedwig leise. »Hat der unglückliche Ausgang des Prozesses Deinem Vater nicht Recht gegeben? O, mein armer, armer Vater!«
»Hoffnung, Muth, Geliebte, Muth!« hauchte Rudolph, tiefbewegt ihre Hand ergreifend und trotz ihres Widerstrebens an die Lippen ziehend. »Ich sprach soeben noch den Vater, ich sagte ihm als letztes Wort: es tagt! Hedwig, Dir kann ich es sagen, ich glaube, daß Dein Vater frei sein wird, noch ehe eine Woche in's Land gegangen ist, aber freilich – um welchen Preis! O Gott, meine arme, arme Schwester!«
Hedwig sah ihn fassungslos an. »Mein Gott, was sprichst Du? Ich verstehe Dich nicht!«
»Ich darf Dir jetzt nicht länger Rede stehen; versprich, daß Du mir nicht wieder verloren gehen willst. Darf ich Dich heute noch bei Deiner früheren Wirthin sprechen? Es geht um Dein eigenes Glück, um dasjenige Deines Vaters!«
»Mein Gott, was ist geschehen, liegt denn nicht alle Hoffnung zertrümmert am Boden?« murmelte das junge Mädchen, noch immer fassungslos.
»Nein, Hedwig, nein!« entgegnete Rudolph, tiefaufseufzend, »Deine Lebenssonne will sich aus dem sie verdunkelnden Gewölk wieder hervorringen, dafür aber geht eine andere Sonne unter. O Gott, meine arme, arme Hildegard, wie wird sie das Ungeheuere ertragen?«
Ein Schutzmann, der schon eine Weile im Hintergrunde des Ganges gestanden hatte und offenbar auf den Rechtsanwalt wartete, trat hinzu. »Verzeihen Sie, Herr Doktor, aber der Herr Untersuchungsrichter Alberti läßt Sie bitten, möglichst schnell in einem Wagen nach dem Hause des Trödlers Schimmel zu kommen; er schickt mich von dort.«
»Ich komme sofort,« entgegnete Rudolph dem Beamten und sich dann wieder an Hedwig wendend, fuhr er in bittendem Tone fort: »Nicht wahr, ich darf auf Dich bauen; Du wirst nicht wieder vor mir fliehen, wenigstens in den nächsten Tagen nicht; Du erwartest mich?«
Das junge Mädchen nickte ihm weinend zu. »Ich weiß nicht, welches wunderbare Gefühl mich durchströmt, ich bin Dir so viel Dank schuldig für heute, gewiß, ich will Dich erwarten!«
»Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« stammelte der junge Rechtsanwalt. Seiner Bewegung selbst nicht mächtig beugte er sich über das junge Mädchen und küßte es auf die Stirn.
Erschauernd ließ es Hedwig willenlos geschehen. Mit schwimmenden Augen sah sie dem hastig Davoneilenden nach.
Erst nach einer Weile vermochte sie sich von der Stelle zu bewegen. Um jeden Preis wollte, mußte sie nach der überlangen Trennung jetzt ihren Vater sprechen; man durfte es ihr nicht länger verwehren.
Ein Gerichtsdiener brachte sie nach dem Amtszimmer des Gerichtspräsidenten.
Und während Rudolph dem Hause des Trödlers Schimmel zufuhr, betrat Hedwig mit klopfendem Herzen das Untersuchungsgefängniß.