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Herbst

1

Zu Anfang Juni im nächsten Jahr wirft der Viermaster Penelope von Åland auf der Reede von Sydney Anker. Hier war es jetzt Herbst und Regenzeit. Der Himmel hatte über der schönen Stadt und der Gebirgskette dahinter seine Schleusen geöffnet; man sah nur einige Kabellängen weit bei der herabströmenden Sintflut, aber die Mannschaft sehnte sich, an Land zu kommen. Wie gewöhnlich dachten sogar ein paar von den Jungmannen an Durchbrennen. Der Kapitän, der seine zwanzig Male ums Kap Horn gefahren war und mehr als einen jungen Kerl in Australien hatte verschwinden sehen, wußte wohl, daß er die erste Hitze verdampfen lassen mußte und keinen Cent von der Heuer auszahlen durfte, ehe man den Anker zur Heimfahrt lichtete. An diesem Tag kam also niemand an Land. Zuerst mußte jedes gesetzte Segel aus dem Takelwerk heruntergeholt werden, und dann gab es an Bord noch unendlich viel aufzuräumen und in Ordnung zu bringen. Erst am nächsten Morgen, wenn die Penelope vom Schlepper ans Bollwerk befördert war und das Laden begonnen hatte, konnte sich möglicherweise die erste Gruppe in dieses Sodom begeben. Aber die Briefe aus der Heimat sollten sie sofort bekommen, das pflegte erbaulich zu wirken und änderte auch bei einigen die Gemütsstimmung auf merkwürdige Weise.

Der erste Steuermann ließ sich an Land rudern, um die Schiffspapiere zu klarieren und dem Postpalast einen Besuch abzustatten. Als er nach einigen Stunden zurückkehrte, lehnte eine lange Reihe von Seeleuten, gelb wie Kanarienvögel, in ihren Ölröcken, weit über die Reling heraus. Er kommandierte sie unter Deck in den leeren Lastraum, wo ein paar noch nicht geschlachtete Hühner in ihrem Käfig gackerten und ein Mutterschwein, das eben geworfen hatte, wie ein unbewegliches Gebirge aus Speck dalag und von einem Dutzend milchgierigen kleinen Ferkeln bestürmt wurde, die über- und durcheinander zu den vollen Zitzen hinkrochen. Mitten in diesem tierischen Wirrwarr öffnete der Steuermann seinen gewaltigen, mit Bindfaden umschnürten Briefpack und begann die Namen aufzurufen.

Unter der im Halbkreis um ihn her stehenden Mannschaft befand sich auch ein großer blonder Bursche mit einer roten Narbe über dem linken Auge. Er hoffte auf einen Brief, von dem er Woche um Woche geträumt hatte, und den er beinah auswendig konnte. Er sollte ungefähr so anfangen: »Geliebter, sei ganz ruhig …«

Statt des einen bekam Valfried sogar zwei Briefe. Auf dem ersten war eine norwegische Marke, das sah er gleich, den andern aber bekam er erst, als das Bündel fast zu Ende war. Die meisten von den Kameraden rissen die Umschläge sofort auf, er aber schlich sich klopfenden Herzens nach seinem Kojenplatz in der Back. Dort war jetzt kein Mensch. Er drehte und wendete die beiden Briefe in der Hand, ungewiß, welchen er zuerst öffnen solle. Dann riß er den mit der norwegischen Marke auf. Wer den geschrieben hatte, wußte er ja.

Der Ort bei dem Datum oben auf dem Briefbogen war ihm unbekannt, und er hatte noch nicht viele Zeilen gelesen, als er auch schon alles mit der Faust zusammenknüllte und in den Kamin warf.

»Mein lieber Junge! Ich weiß ja, auf welchem Schiff du Heuer nehmen wolltst drum hoff ich du kriegst den Brief. Wenn du wissen willst, wie's deiner Mutter geht, so sag ich dir, sie ist jetzt so glücklich wie noch nie auf der Welt. Jetzt hat sie einen Mann, der immer gut zu ihr ist. Meine Liebsten ich weiß gewiß, du und Janne, ihr habt es viel besser ohne mich. Überleg dir's, mein Kind, und sag mir, nicht wahr ihr haßt mich alle beide …«

Ach, pfui Teufel! Mindestens sechs Seiten lang war der Brief; aber diese zehn Zeilen genügten, der Rest konnte ins Feuer gehen.

Und dann lag da der andere Brief auf seinem Knie. Die Handschrift sah der Tuvas ähnlich, aber doch nicht ganz; und warum war der Brief mit dem Wort Åbo inmitten eines deutlichen schwarzen Rings gestempelt? Vor bald zwei Monaten schon war der Brief abgeschickt worden, das sah er an dem Datum des Poststempels. Also hatte er schon eine gute Weile hier gelegen, denn ein Brief brauchte nur sechs Wochen, die Post wurde nicht mit einem kreuzenden Segelschiff, sondern mit dem schnellsten Dampfer befördert.

Er drehte den Brief unzählige Male um, ehe er mit bebender Hand einen Pfriem herauszog und ihn aufriß.

Ganz oben stand eine unbekannte Straße und Hausnummer. Und dann nach ein paar Zeilen weiter:

»… Schreib nicht nach Ankarö, sondern hierher an die obenstehende Anschrift. Es gibt eine gute Seele hier, die steckt den Brief in einen neuen Umschlag und überschreibt so, als ob er aus Finnland käme. Valle, Geliebter, ich bin in großer Not. Vater hat mich für einige Zeit hierher aufs Festland geschickt. Und Du bist so weit weg, und ein anderer ist so sehr freundlich gegen mich. Du weißt schon, wer. Nichts verlangt er, alles hab ich ihm gesagt, und alles verzeiht er. Ich hab ihn keine Bohne lieb, aber siehst Du … Du weißt doch selbst, was das für ein Mädchen ist, dem es so geht wie mir. Vater sagt: › Jemand muß sie haben, auf den sie zeigen kann‹. Ja wie um Himmels willen soll dies hier enden? Mit ihm verlobt bin ich durchaus nicht, obgleich die Leute es glauben; und Vater, sowie er selbst auch verbreiten es im Ort …«

 

Valle konnte nicht weiterlesen. An diesem Abend taumelte er wie gewöhnlich nach seinem Kojenplatz, aber er warf sich unruhig hin und her, ohne einschlafen zu können. Am nächsten Morgen kam der Schlepper und bugsierte die Penelope ans Bollwerk; aber er ging nicht an Land. Ein Haufe von vierschrötigen Ausladern kletterte an Bord, die Ladebäume und Winschen fingen zu lärmen an. Valfrid aber saß steif auf seiner Pritsche, bis mitten in den nächsten Tag hinein.

 

Für Valfried war die nächste Zeit unerträglich. Doch schließlich ließ man ihn in Ruhe, als man merkte, daß er für das gewöhnliche Seemannstreiben unempfänglich war und auf alle Derbheiten, die auf ihn herunterhagelten, nicht eine Silbe erwiderte. Während der vier Monate langen Heimfahrt tat er alles, was ihm zu tun oblag, mustergültig, aber er ließ sich mit niemand in ein Gespräch ein. Ein so stummer Mensch war wohl nie auf einer Bark von Australien heimgefahren. Bei dem schläfrigen Passatwind saß er jede freie Stunde in irgendeinem abgelegenen Winkel auf Deck und grübelte, den Kopf in den Händen, vor sich hin. Vor einem so tiefsinnigen Kameraden bekamen die Leute schließlich Respekt. Er glich keinem andern. Von seinem Heimatbezirk war niemand an Bord, deshalb wußte man nichts von ihm.

In England, wo die Weizenladung gelöscht wurde und die ganze Mannschaft an Land ging und die Hafenspelunken heimsuchte, blieb er mit der Wache allein an Bord. Selbst der Kapitän fragte ihn, ob er sich nicht ein wenig umsehen wolle; aber er antwortete mit einem kurzen: »Nein, danke.«

Dann warf Ende Oktober die Penelope vor der kleinen åländischen Hauptstadt Anker. Für viele von der Mannschaft regnete es Einladungen zu Verwandten und Bekannten, und dabei nahm allmählich eine verschämte Sanftmut überhand, zusammengesetzt auf der einen Seite aus wohlbegründeten Vorwürfen, auf der andern aus gebrochenen Versprechen und das Gewissen quälenden, nicht erzählbaren Erlebnissen.

Nur einer von der Besatzung verschwand wie ein Schatten ohne ein Wort des Abschieds.

2

Mitten in der dunkelsten Nacht klopft es leise an das Fenster neben Großmutters Bett. Die Alte setzt sich auf und horcht. Hat sie falsch gehört? Nein, jetzt klopft es wieder, etwas lauter und ungeduldiger. Was um alles in der Welt kann das bedeuten? Sie ist doch keine junge Dirne mehr, zu der man sich um diese Zeit schleicht, und außerdem gibt es gar keine solchen in Askvik. Also irgendein Lumpenkerl, der sich in dem Fenster geirrt hat … wohl kaum.

Jetzt klopft es von neuem.

Sie wagt nicht, hinter dem kurzen Fenstervorhang Licht zu machen, sondern tappt zum Fenster hin und neigt vorsichtig den Kopf vor.

»Bist du's, Großmutter?« flüstert eine Stimme draußen. »Ich bin's nur: Valle.«

»Herrgott, bist du's, Jung? Bist du zurück? Und kommst wie ein Dieb mitten in der Nacht daher?« Rasch wirft sich die Alte ein Tuch über und öffnet. Aber irgend etwas warnt sie davor, Licht anzuzünden, denn das könnte in der Nachbarschaft gesehen werden.

Auf sie zu tritt in der Dunkelheit eine große regendurchnäßte Gestalt, die sie um die gichtbrüchigen Schultern faßt und sie mit zwei harten Pratzen so heftig an sich drückt, daß sie vor Schmerzen laut stöhnt. Dann setzt sich Valle irgendwo in die Stube nieder, sie weiß nicht recht, wo.

»Mach kein Licht, Großmutter«, sagt er.

»Willkommen daheim, liebes Kind!« Großmutter zieht sich an ihr Bett zurück und kriecht vor Kälte zitternd hinein. Was um Himmels willen soll sie sagen? Weiß der Junge schon etwas? Oder warum ist er auf diese Art heimgekommen?

Lange herrscht tiefe Stille zwischen den beiden, nur ihre Atemzüge kreuzen sich in der Dunkelheit, ihre vom Fettansatz des Alters pfeifenden, seine von Jugend und Verzweiflung leidenschaftlichen. Dann sagt sie ablenkend: »Aber, Junge, du bist gewiß hungrig. Ich will dir was zu essen holen.«

»Ist nicht nötig, liebe Großmutter.«

»Aber lieber Gott, wie kommst du so mitten in der Nacht heim?«

»Ich bin bei Nacht gewandert und hab mich bei Tag im Walde versteckt. Niemand hat mich gesehen.«

»Soso, soso? Und deine Seekiste?«

»Die hab ich an Bord gelassen.«

Die Stimme der Großmutter klingt unsicher, doch macht sie einen Versuch: »Aber, du Barmherziger, warum tust du das alles?«

Wieder herrscht eine Weile Schweigen; doch jetzt haben Valles Atemzüge die Übermacht bekommen, und er bricht los; aus dem Dunkel heraus ertönt es: »Gib dir keine Mühe, zu lügen, Großmutter! Ich weiß schon das meiste …«

»Oho, was weißt du denn?«

Sie hört die Schritte des Enkels, der ganz nah zu ihr herankommt und beinah schreit: »Ich weiß, daß ich mit Tuva ein Kind hab! Und jetzt ist sie mit ihrem Vetter verlobt, und er gilt für den Vater, und alles ist verloren …«

»Sachte, sachte, Valle! Willst du die volle Wahrheit hören? Das Mädchen ist lange vorher aufs Festland geschickt worden, ihr Vater hat das angeordnet und hat auch den Junker für ihren Verlobten und den am Unglück Schuldigen ausgegeben; aber eigentlich glaubt niemand an diese Geschichte. Jedenfalls wissen ich und der Pfarrer es besser. Dort in Åbo hat sie einen Jungen gekriegt, aber einen Monat zu früh, und er hat auch nur ein paar Tage gelebt. Begraben ist der Kleine hier auf dem Kirchhof, und ein richtiges Kreuz hat er. Gegen den Willen ihres Vaters hat Tuva die Leiche hergebracht. Sie hat mich mehrmals besucht und über alles mit mir geredet. Glaub mir, sie hat nur dich lieb und keinen andern!«

Die Alte schweigt. Neben ihr auf dem Bett liegt Valle und weint zum Herzbrechen. Mit ihren gichtgeschwollenen Händen tastet sie über sein Gesicht hin, und ihre Finger werden triefend naß von seinen Tränen, dann streicht sie weiter über seine Stirn und sein dichtes Haar. »Soso, mein Jung, soso …«

Vor Kälte schlotternd sitzt sie im bloßen Hemde da, eine Stunde, zwei vielleicht. Das Tuch ist ihr von den Schultern geglitten; sie streichelt und liebkost die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn und die weiche Haarfülle; aber das angstvolle Weinen will nicht nachlassen. Sein Körper zuckt und bebt, als hätte er Schüttelfrost, die breiten Schulterblätter bewegen sich hilflos gleich zwei gestutzten Vogelflügeln. Sonderbar, wie heftig die Jugend jetzt alles nimmt … Oder hatte sie es vielleicht auch einmal so gemacht und es nur mit den Jahren vergessen? Schließlich meint sie aber doch, jetzt sei es genug; sie drückt ein Gähnen heraus und sagt durch die Dunkelheit: »Sei nun ruhig, Jung! Ich werd's einrichten, daß ihr euch trefft und die Sache in Ordnung bringt.«

»Wo ist sie denn?« fragt Valle fast irrsinnig und setzt sich auf.

»Auf Ankarö natürlich.«

»Aber wann? Wann kann ich sie treffen?«

Jetzt lächelt die Großmutter beschützend und überlegen; aber das ist bei der Dunkelheit nicht zu sehen. »Jawohl, sie ist, wie gesagt, hundertmal hier bei mir gewesen. Es ist merkwürdig, wie oft sie in der letzten Zeit ihre Tante besucht hat. Unter diesem Vorwand ist's gegangen, ja. Und übermorgen, Freitag, kommt sie wieder, so ist's ausgemacht. Da werden wir es so einrichten, daß … Hier bei mir könnt ihr euch aber nicht treffen, es sind Augen rundum. Aber auf Hasselöra gibt's ja andere Orte, ich werde das Mädel hinschicken.«

»Wenn sie nur auf Ankarö nicht wissen, daß die Penelope eingelaufen ist!«

»Kaum … Es ist weit bis in die Stadt, und mit dem Telefonieren ist's nichts. Sei nur ruhig, Jung! Du kannst dich nicht zeigen und auch nicht mit dem Fernrohr vor deinem Auge warten, bis ihr Boot unterwegs ist; laß du nur mich machen! Von meinem nördlichen Fenster aus seh' ich die Zauntür der Tante, und ich versichere dir hoch und heilig, ihr werdet euch treffen. Wie es weiter geht – dafür müßt ihr selber sorgen. Ich sage nur eins: zart mußt du mit dem Mädel umgehen, denn gut ist's ihr nicht gerade gegangen.«

Die Großmutter mußte den Jungen aufs neue trösten, denn er weinte zum Erbarmen.

 

In der nächsten Nacht rudert Valle ungesehen nach dem Tveholm, im Kahn hat er ein Bündel Eßwaren, auch allerlei Gerät für die See, das bisher bei der Großmutter lag. Er hat das Gefühl, daß diese Vorbereitungen von Nutzen sein könnten.

Beim Schein einer Sturmlaterne, die durch die rußigen, staubigen Gläser nur trübes Licht wirft, schiebt er das im Schuppen an seinen Taljen hängende Großboot ins Wasser. Es ist während seiner Abwesenheit ordentlich leck geworden. Aber er dichtet die Ritzen zwischen den Brettern mit einer dicken Schmiere aus Teer und Mennige; dann ist das Boot in ein paar Tagen wieder brauchbar. Er ahnt, daß er wohl bald gezwungen sein wird, die Segel zu setzen.

Droben im Haupthaus ist alles unberührt. Es ist kalt, leer und öde, so wie es nur an einem Ort sein kann, von dem das Unglück alle Menschen verjagt hat. Einen Augenblick zögert er auf der Schwelle seiner eigenen Kate am Nordstrand. Aber er hat nicht den Mut, aufzuschließen und hineinzugehen. Und was soll er eigentlich da? Fast alles ist fortgeschafft, die Gewehre und das Fernrohr liegen bei der Großmutter. Nur eine Spieldose steht drinnen mitten auf dem Tisch, rostig und fast tonlos, aber, aber … Er dreht sich jäh auf dem Absatz um und läuft mit der Sturmlaterne in der Hand schaudernd davon.

Vor Tagesanbruch ist er wieder in Askvik, schlüpft bei der Großmutter in die Kammer, wirft sein einläufiges Schrotgewehr über die Schulter und steckt etwas Mundvorrat in die Taschen. Den Kahn hat er in einem Wasserlauf in der Nähe des Fischerdörfchens versteckt. Er liegt an den Strand gezogen ganz unsichtbar in einem stachligen Gestrüpp, das jetzt im Herbst mit gelbroten Beeren wie übersät ist.

Es ist Freitag. Vorgebeugt legt er sich in ein dichtes Haselwäldchen neben dem alten Fahrweg von Askvik und wartet. So hat er es mit der Großmutter ausgemacht. Aber würde Tuva ihr gehorchen, wollte sie überhaupt mit ihm zusammenkommen? Wagte sie das? Das Herz hämmert ihm in der Brust, beruhigt sich dazwischen und beginnt dann wieder zu hämmern. Stunde um Stunde schleicht langsam dahin. Jetzt ist es bald Mittag. Einige Leute sind schon vorübergegangen, nur sie nicht. Der Schweiß tropft ihm von der Stirn.

Aber dann plötzlich ist sie da; in einer grauen Bluse und einem braunen Rock, fast wie in Sack und Asche gekleidet, kein buntseidenes Tuch mehr um Kopf und Schultern. Und abgemagert ist sie, daß es einem fast ins Herz schneidet. Aber sie ist es doch, es ist ihr leichter Gang und ihre verflixte kleine Nasenspitze, die auf und ab wippt, wenn sie spricht. Sie lugt ängstlich umher, trotz der Sommerbräune blaß im Gesicht.

Er taucht aus seinem Versteck auf und vertritt ihr den Weg. Sie bleibt wie angewurzelt stumm stehen, fährt nicht erschrocken zurück, hält aber den unbedeckten zerzausten Kopf gesenkt. So stehen sie eine Sekunde einander gegenüber, dann umklammert er drei Finger ihrer rechten Hand und zerdrückt sie fast. Sie begreift nicht, was das bedeutet, aber er weiß es desto besser.

Ohne ein Wort läßt sie sich wie eine Gefangene durch die Waldwiesen nach ihrer alten Scheune am Infjord führen. Er dreht den Haken um und macht die Tür auf; aber in diesem Jahr ist kein Heu drin, der nackte Boden aus ungehobelten Balken gähnt ihnen ungastlich entgegen. Und nun endlich sagt Tuva leise und ergeben: »Hier können wir nicht bleiben. Mein Vater und der andere kennen den Ort.«

Es sieht aus, als habe sie sich ihm ausgeliefert, habe sich blindlings von Ankarö und der Tante in Askvik losgelöst. Seine Leidenschaft, sein unvernünftiges Begehren nach Rechtfertigung und alle die unbeantworteten Fragen – alles drängt sich heftig in ihm zusammen. Und er sagt kurz: »Dann weiß ich einen anderen Ort.«

Es ist nicht weit bis zu dem verfallenen Sommerhäuschen des Pfarrers, dem Eulennest, an dem niemand ohne eine gewisse Ehrfurcht vorübergeht. Valle bricht die Tür der Bude auf und schiebt Tuva mit hartem Griff hinein. Um die rußige und seit vielen Jahren kalte Feuerstelle zieht sich eine Bank. Tuva taumelt beinah darauf zu. Er setzt sich neben sie, drohend geduckt wie ein Tiger. Und wieder ergreift er die drei Finger ihrer rechten Hand, hebt sie auf und klagt schweigend an.

Jetzt versteht sie, schüttelt aber verneinend den Kopf. »Nein, Valle«, flüstert sie kaum vernehmlich und doch ruhig. »Ich hab den Eid nicht gebrochen. Glaub mir, wenn du willst, oder glaub mir nicht, aber jetzt schwör ich dir bei unserem toten Kind, daß kein anderer als dessen Vater mir je nahe gekommen ist. Kein anderer als du. Glaubst du es?«

Sie sieht ihm gerade in die Augen; aber sein Blick weicht ihr aus. »Schön gepredigt, Tuva, aber das mit dem Junker … Du hast ja selbst geschrieben, daß …«

»Mein Vater hatte ihn zu meinem Beschützer gemacht. Und in der schweren Zeit war er sehr gut gegen mich, grenzenlos gut, obgleich er alles wußte.«

»Ja, so gut, daß er jetzt allgemein für deinen Verlobten und als Vater unseres Kindes gilt. Dieser Wurm, der sich zum Herrn des Leuchtturms von Ankarö aufschwingen möchte, der Hund, der sich heranmacht und einer Frau die Füße leckt, die einem andern gehört! Begreifst du denn nicht, daß es sich verlohnt, gut zu sein, wenn man so viel davon hat?« Valle ist am Ersticken vor lauter Empörung. Er keucht eine Weile schwer, dann fährt er dumpf fort: »Und das bist doch du gewesen, Tuva! Weißt du, was ich gestern nacht hab tun wollen? Ich wollte ans Grab unseres Kindes gehen und die Schrift auf dem Kreuz ändern. So sollte darauf stehen: ›Ich starb, weil meine Mutter treulos war und ihren Eid gebrochen hat. Mein Fluch folgt ihr in die Ewigkeit.‹ Ja, das hätte ich tun sollen.«

Er erwartet wohl, daß sie aufschreiend zusammensinken und ihrem ganzen Elend in Tränen Luft machen werde. Aber statt dessen ist es, als bekomme sie plötzlich neue Kraft. Sie richtet sich auf und schaut ihm freimütig in die Augen. »Armer Valle!« sagt sie, »für dich ist es noch schlimmer als für mich, denn du hast so schwarze Gedanken. Glaub, was du willst! Ich werde dich so weit bringen, daß du die Wahrheit einsiehst. Du mußt wissen, daß ich von Ankarö durchgegangen bin, und ich will nicht zurück dorthin. Sie wissen dort, wann die Penelope eingelaufen ist, und verstehen also, zu wem ich geflohen bin. Wohin wir uns wenden – ja, das weiß ich nicht. Aber ich geh mit dir.«

Da wirft er sich vor ihr nieder und preßt sein von Angst und Freudentränen nasses Gesicht an ihre Wange.

3

Mehrere Tage lang suchte man zu Wasser und zu Land nach den Entflohenen, doch ohne Erfolg. Jede nur erdenkliche Scheune wurde durchstöbert, jedes dichtere Gehölz zwischen den Waldwiesen auf Hasselöra wurde von dem Aufgebot Ankarös durchstreift. Den Tveholm hatte man zuerst im Verdacht gehabt und untersucht; aber dort war keine Menschenseele. Das einzige Merkwürdige war, daß sich ein Boot fahrbereit im Strandschuppen vorfand, und daß man droben in der großen Stube ein Bündel Eßwaren entdeckte. Das ließen sie aber als Lockspeise und Falle dort liegen.

Bald setzte der verzweifelte Leuchtturmwächter auch den Amtsvorsteher und die Dorfpolizei in Bewegung. Die Alte in Askvik, die Großmutter, wurde wiederholt mit Verhören gequält; aber sie wußte natürlich nichts, und sagte allen den Herren Dienern der Krone, sie hätten keine Scham im Leibe. »Denn die Liebe muß ihr Recht haben«, erklärte sie, »und wenn ihr mir nicht glaubt, so fragt nur den Herrn Pfarrer!«

Man suchte auch in Bredby, man läutete die Polizei in der Stadt an, um zu erfahren, ob zwei junge Leute gesehen worden oder vielleicht an Bord eines Dampfers nach Finnland oder Schweden gegangen seien. Nach einigen Stunden kam durch einen Sergeanten Antwort. Er verwirrte sich immer wieder in den vielen Dorfzentralen, wobei er dann mit unerschütterlichem Gleichmut erklärte: »Ach so, ist die Linie wieder besetzt? Nun, es hat keine Eile, denn es kommt von der Polizei …« Und als er endlich mit seinem Anruf an den rechten Ort kam, hatte er nichts weiter zu melden, als daß man weder etwas gesehen noch gehört habe.

Aber dort in dem verfallenen Eulennest des Pfarrers hielt allmählich der Hunger seinen Einzug. Die beiden lebten hauptsächlich von Preiselbeeren, Haselnüssen, rohen Pilzen und ab und zu einem Krug Milch von einer heimlich gemolkenen Kuh, die noch auf der Weide draußen war. Gewehr und Patronen hatte Valle, und auf dem Infjord wimmelte es von Enten; aber er wagte keinen Schuß, und wie hätten sie ein Feuer anzünden können, ohne sich zu verraten? Unter den brüchigen Fischgeräten des Pfarrers hatte Valle eine rostige Fischgabel entdeckt und mit ihr zwei stattliche Schilfhechte ergattert, die eingesalzen wurden. Aber von rohen Fischen leben war auf die Dauer auch nichts.

Die letzten Nächte waren gefährlich mondhell gewesen; aber heute abend zogen Wolken auf, und es versprach dunkel zu werden. Deshalb beschloß Valle, sich zur Großmutter zu stehlen, um sich mit Lebensmitteln zu versehen.

Erst nachdem er Tuva auf ihrem Strohlager in Schlaf geküßt und noch eine gute Weile auf ihre tiefen Atemzüge gelauscht hatte, schlich er fort, ohne daß sie erwachte. Ganz stockdunkel war es nicht, bisweilen drang das Mondlicht zwischen den jagenden Wolkenmassen hervor. In den Baumwipfeln rauschte es gewaltig, das Laub droben löste sich von den Zweigen, wirbelte in Mengen raschelnd um die Stämme nieder und weiter hinaus auf die Wiesen.

Grade als er über den Hofplatz der Großmutter schlich und sein Messer herauszog, um, wie ausgemacht, das Fenster zu öffnen und hineinzuschlüpfen, stürzte von der Hausecke her ein Schatten auf ihn zu. Ein Gummiknüppel sauste auf seinen rechten Arm nieder, daß der wie gelähmt herabsank. Der vierschrötige Konstabler von Bredby versuchte Valle zu überwältigen. Blitzschnell aber schlug dieser mit der linken Faust zurück, gab seinem Gegner einen Tritt vor den Leib und rannte davon. Der Arm hing schlaff herunter; aber trotz dem wahnsinnigen Schmerz hatte er noch Überlegung genug, nicht den geraden Weg zurückzulaufen. Wie der Fuchs, ehe er in seinen Bau geht, viele Krumm- und Seitensprünge macht, lief er in einem weiten, unregelmäßigen Bogen durch den dichtesten Teil des Waldes. Bisweilen blieb er stehen und lauschte. Hatte er nur einen Verfolger hinter sich oder vielleicht ein ganzes Aufgebot? Er meinte dann wohl, Keuchen hinter sich zu vernehmen, aber vielleicht war es doch nur der Wind in den Baumwipfeln.

Tuva schlief, als er endlich in die Hütte hineinglitt und den rostigen Türriegel vorschob, den er nach seinem Einbruch hier ausgebessert und soweit wie möglich verstärkt hatte. Ohne sie zu wecken, holte er seine Schrotflinte aus der Ecke, fühlte nach, ob sie geladen war, und setzte sich, alle Sinne in höchster Spannung, bei der Tür auf den Boden. In dieser Nacht würde wohl etwas geschehen … Hähä, vor Großmutters Haus stand also jetzt eine Polizeiwache, und sicherlich wurde grade jetzt dort Alarm geschlagen! Wie gut, daß wenigstens in den Arm wieder etwas Leben kam. Er konnte die Finger seiner rechten Hand schon wieder bewegen und einen Schuß abfeuern, wenn es nötig war.

Eine Stunde vergeht, zwei, ja drei Stunden, bald wird es hell. Da hört er Stimmen und schwere Schritte draußen, jemand hämmert an die morsche Tür. Tuva fährt zusammen, und vollständig angekleidet, wie sie ist, kriecht sie im Dunkeln zu ihm ihn. Ihre eine Hand berührt den kalten Flintenkopf. Entsetzt flüstert sie: »Lieber Gott, Valle, was willst du tun?«

»Ich lasse uns nicht festnehmen«, flüstert er zurück.

Hinter der Tür ertönt die vor Angst zitternde Stimme des Leuchtturmwächters. »Macht auf! Wir wissen ja, daß ihr drinnen seid!«

Da keine Antwort erfolgt, wird aufs neue gegen die gebrechliche Tür gestoßen. Bald werden Schloß und Angeln nachgeben oder abfallen.

Die beiden haben sich zurückgezogen und drücken sich gegen die hintere Wand. Valle fühlt, wie ihre Finger nach dem Flintenlauf tasten, und begreift, daß sie ihn wegreißen will, wenn … Jetzt aber kommt ihm eine Eingebung. Von draußen spielen die Lichtstrahlen von zwei Taschenlampen durch die Türritzen, aber keine hier durch die hintere Wand und keine durch das Fenster dicht neben ihnen. Die Dummköpfe! Verstanden sie nicht einmal, die Hütte zu umzingeln? Oder wagten sie sich nicht anders als in einem Haufen heran?

In einem Nu hat er mit seinem Messer das klapprige Fenster mit Rahmen und allem herausgebrochen, springt durch das genügend große Loch und hilft Tuva heraus. Vor sich haben sie eine Lichtung, und Hand in Hand rennen sie im Halbdunkel stolpernd darüber hin. Aber grade, als sie nur noch wenige Schritte bis zum nächsten Gehölz haben, schreit die Stimme des Junkers: »Halt, oder ich schieße!«

Sie aber rennen weiter.

Ein Feuerstrahl zuckt hinter ihnen auf, und gleichzeitig mit dem Knall pfeifen die Schrotkörner an ihnen vorbei und schlagen knisternd in die Büsche. Der Junker hat eine Doppelflinte! fährt es Valle blitzschnell durch den Kopf – gleich wird der zweite Schuß knallen. Er wendet sich um, reißt das Gewehr von der Schulter und schießt aufs Geratewohl zurück.

Ein Schmerzensschrei folgt auf den Knall. Valle springt zurück und beugt sich über den Verwundeten. »Bist du schwer verletzt?« fragt er. Aber der Junker spuckt ihm giftig ins Gesicht und tastet nach seinem Gewehr, das ihm entfallen ist und neben ihm auf der Erde liegt. Valle schleudert es mit einem Fußtritt weg. Im Mondlicht, das einen kurzen Augenblick aufleuchtet, glaubt er zu sehen, daß dem Junker nur ein paar Schrotkörner durch den Stiefelschaft gedrungen sind, obgleich der erste brennende Stoß ihn umgeworfen hatte. Und zugleich kommt das schwere Keuchen des Leuchtturmwächters immer näher.

Valle rennt in das Gehölz zurück, ergreift Tuvas Hand wieder und zieht sie durch die Waldwiesen hinunter nach dem Sund, wo der Kahn zwischen dem Dorngebüsch verborgen liegt.

Er schiebt den Kahn hinaus und hebt Tuva vorsichtig hinein. Sie ist fast bewußtlos vor Ermattung und Angst.

»Wohin fahren wir?« fragt sie schwach.

Er küßt sie beschützend und setzt sich in der Dunkelheit an die Riemen.

»Wir rudern heim zu uns, Tuva.«

4

Hier draußen auf dem Tveholm hatten die beiden Flüchtlinge einen ganz anderen Aufenthaltsort als in der Hütte des Pfarrers auf Hasselöra. Das erkannte Valle sofort, und er richtete sich danach ein. Vor allem war er auf eigenem Grund und Boden. Gleich in der Nacht, als sie ankamen, zündete er in der großen Stube ein so riesiges Feuer an, daß wahre Funkengarben zum Schornstein hinausflogen, denn eines war ja sonnenklar: man wußte genau, wohin sie sich gewendet hatten. Und am nächsten Morgen fuhr er mit dem Kahn hinaus, fing mit einem Netz Fische für den Tagesbedarf und schoß ein paar Wildenten. Körperliche Not brauchten sie nicht zu leiden, denn in dem Bündel, das er bei jenem nächtlichen Besuch hergebracht hatte, war Brot für lange Zeit und ein ganzer Topf gesalzener Butter.

So erlebten sie noch einmal ein kurzes, verzweifeltes Glück. –

Bei Tage würden sie jeden Verfolger auf zwei Seemeilen Abstand sofort entdecken können, die einzige unsichere Seite war der schmale Sund gegen die Inseln; aber dort auf der anderen Seite gab es kein Boot, und es wäre ein fast über Menschenkraft gehendes Unternehmen gewesen, wenn man über die Sumpfwiesen und um die von Gestrüpp umrandeten Berggipfel herum einen Kahn hätte schleppen wollen. Bei Nacht war kein Überfall zu befürchten. Der Leuchtturmwächter hatte gesehen und gehört, daß dann Schüsse gewechselt werden könnten. Er wußte auch, daß sich sein Augapfel nur allzunah bei dem Verbrecher halten würde; er wollte bestimmt jedes weitere Blutvergießen vermeiden, wollte keinesfalls, daß noch einmal auf sie geschossen würde.

Zur Sicherheit verbarrikadierte Valle am nächsten Abend das Wohnhaus wie eine Festung; den ganzen Flur stapelte er mit angeschwemmten Balken voll und verrammelte die hochgelegenen Fenster mit Läden, die er aus alten Brettern zusammennagelte. Im Schuppen am Ufer lag das Großboot mit den Segeln und mit Herbstballast sowie Proviant versehen bereit. Nur die Segel mußten noch gesetzt werden.

»Wollen wir gleich fort?« fragte er Tuva.

»Ja, aber wohin?«

»Nach Schweden, meine Heuer von der Penelope ist noch unberührt. Und die Großmutter kann uns für den Anfang noch mehr schicken. Sie hat noch einige Sparpfennige von Janne für mich.«

Tuva überlegte eine Weile. Dann sagte sie auf ihre frühere, zuversichtliche Art: »Ich glaube nicht, daß das nötig ist. Ich glaube, Vater gibt jetzt nach. Er hat gesehen, daß es uns ernst ist.«

»Aber wie können wir wissen, was er im Sinn hat?«

»Vielleicht kommt er hierher. Was tust du dann, Valle?«

»Wenn er allein kommt, nehm ich ihn auf, wie es deinem Vater gebührt, und rede mit ihm.«

»Oder wenn er einen andern als Friedensvermittler schickt? Vielleicht den Pfarrer selbst?«

»Na ja, wenn der Pfarrer allein kommt mit deinem Vater oder seinem Knecht, dann laß ich sie herein. Aber der Junker oder die Polizei kommen mir nicht an Land. Dann schieß ich.«

»Nein, Valle, du darfst nicht mehr schießen.«

»Doch, wenn es notwendig wird. Aber wenn es, ausgenommen von Westen her, genügend stark weht, dann gibt es ja noch einen andern Ausweg. Irgendein Motorboot, das es gut mit sich selber meint, kann uns, wenn alles gut abläuft, kaum festnehmen. Gehst du dann mit mir, Tuva? Ohne dich fahre ich nirgends hin.«

Sie schlingt ihm die Arme zu hartem Griff um den Hals und antwortet fest: »Ich gehe mit dir, wohin du willst.«

»Ich danke dir, Tuva. Nun werden wir sehen …

 

Der Tag erschien bald, der ihnen Antwort auf alle diese Fragen gab.

Durch das von seinem Vater geerbte Fernrohr sieht Valle den Lotsenkutter von Ankarö auf den Tveholm zu steuern. Noch ist er eine Seemeile entfernt und rollt gehörig in den hochgehenden Wellen. Aber schon kann Valle ganze fünf Mann an Bord unterscheiden. Ach so, der Leuchtturmwächter will sich ihrer bemächtigen. Da sitzt er selbst am Steuer. Und neben ihm – ist das wirklich der Junker? Schlimm ist er also nicht verwundet. Weiterhin zwei Gestalten, die eine groß, die andere kurz und breit. Das müssen der Amtsvorsteher und der Dorfpolizist sein. Und mittschiffs ein runder, zusammengekauerter Kerl, der aussieht wie eine Maschine Nummer zwei, aber eine viel größere. Doch jetzt erkennt er ihn – es ist der Pfarrer! Nun handelt sich's nur darum, ob der als Friedensstifter oder als Ankläger kommt. Wahrscheinlich das letztere, da er sich in solcher Gesellschaft herausbegeben hat … Das ist übrigens einerlei – Valles Plan ist fertig. Es weht ein scharfer Ostwind, fast ein Sturm.

Er ruft Tuva an den Strand herunter und deutet hinaus. Entrüstet sagt er: »Auf sie schießen kann ich nicht, denn außer dem Junker und der Polizei sind auch dein Vater und der Pfarrer an Bord. Aber wir haben Wind, Tuva, und grade von der rechten Seite.«

Sie erblaßt sichtlich. Er steht von seinem alten Späherplatz hinter dem Steinsarg auf und schiebt die drei Teile des Fernrohres ineinander. Seine Stimme bebt, als er fragt: »Also, bist du bereit …?«

»Ja«, antwortet sie deutlich und ohne Zögern, als stünde sie vor dem Altar.

Da wird er ganz ruhig. Ohne jede Hast trägt er Ölröcke, Pelze, Kissen, alle Eßwaren, die sie noch haben, und alles an Ausrüstung, was nicht vorher schon bereit lag, in den Schuppen hinunter. Sie reicht ihm die Sachen über die Reling, und nachdem er die Ladung verstaut hat, springt sie an Bord. Er schlägt die Schuppentüren zurück, leitet das Boot an seiner langen Fangleine hinaus zum Strand und an die Leeseite des Holms. Dort macht er die Leine an einem Baumstamm fest und klettert auf eine Felskuppe, um Ausguck zu halten. Nein, von dem Lotsenboot aus kann man das Manöver nicht gesehen haben, der ganze Holm liegt dazwischen. Aber noch ist's zu früh zum Aufbruch, noch könnte man ihnen den Weg abschneiden. Erst wenn die ganze Gesellschaft an Land gestiegen ist, erst dann … Er läuft zurück in den Bootschuppen und verschließt die Türen von innen. Einige Minuten später ist er wieder auf der Leeseite bei Tuva, macht die Leine los und setzt die Segel.

Nach einer langwierigen Fahrt bei halber Maschinenkraft legt der Lotsenkutter vorsichtig am Landungssteg an. Nichts regt sich auf dem Holm. Der Junker drückt ein Auge an eine Ritze in der Wand des Bootsschuppens und späht in das Halbdunkel hinein.

»Sonderbar«, sagt er, »die Türen sind ja verschlossen; aber, hol mich der Teufel, ich glaube, das Boot ist fort!«

Der Pfarrer hört bei dem Sturmwind den Fluch nicht. Gelassen und im Südwester und dem flatternden Ölrock breiter als je steigt er als erster den Hügel zum Wohnhaus hinauf. Dicht auf den Fersen folgt ihm der Vater, dann die zwei Vertreter der Obrigkeit mit entblößten Pistolen und der Junker schußbereit mit seiner hocherhobenen Schrotflinte. Pfarrer Rosius sieht das nicht, sonst würde er augenblickliche Entwaffnung verlangen.

Aber was plötzlich alle vom Hügel aus sehen, ist ein Fischerboot. Es fährt mit vollen Segeln auf See hinaus, daß es um den Steven hoch aufschäumt.

»Schnell zurück und die Maschine anlassen!« schreit der Amtsvorsteher.

Der Pfarrer aber gehört nicht zu denen, die sich übereilen. Ehe er an Bord und die Maschine in Gang ist, haben die Flüchtlinge einen ansehnlichen Vorsprung. Im Seegang sieht man ihre Segel mit wenigstens einem Kilometer Abstand sich heben und senken. Das Ankaröboot setzt nach, der Leuchtturmwächter schraubt an den Nadelventilen und strengt die Maschine aufs äußerste an. So beginnt die Hetzjagd aufs Meer hinaus.

Zuerst sieht es aus, als würde das Fischerboot davonsegeln und dann verschwinden. Der Ostwind weht hier näher an Land stark und heftig. Es ist ganz klar, daß die zwei Waghälse dort draußen im Vertrauen darauf, daß die Tücher halten werden, ohne Reff in den Segeln fahren.

Aber bald ändert sich die Lage. Als die Schären hinter ihnen liegen, wallt von der Bottensee her ein langer nördlicher Seegang um die letzten Landspitzen. Das Fischerboot fällt bei der Gegensee zwei Strich ab, und der Lotsenkutter ändert augenblicklich seinen Kurs und folgt ihm.

Eine Weile bleibt der Abstand sich gleich. Allmählich aber flaut der Wind hier auf der offenen See ab, während zugleich der Seegang immer stärker wird. Manchmal, wenn eine große Welle das Tveholmer Boot hoch hinaufhebt und durch einen Riß in den blaugrauen Oktoberhimmel ein wenig Helle auf die Wasserfläche fällt, sieht es aus, als sei eine dunkle Gestalt mit dem Segel beschäftigt und versuche, die Fock mit einem Riemen auszubaumen. Gut ausgedacht, aber eine Maschine ist eben doch eine Maschine. Der Lotsenkutter verringert langsam, aber sicher den Abstand.

Noch liegt eine Schäre vor ihnen. Sie streichen dicht an der »Morgengabe« vorbei, das Boot vom Tveholm zuerst und der Lotsenkutter von Ankarö schaumwerfend hinterher. Der Pfarrer erhebt sich, breitbeinig steht er auf dem schwankenden Deck und starrt nach der Schäre hinüber. Die Bake ragt zum Himmel empor wie ein drohend erhobener schwarzer Arm, eine zum Fluch geballte Faust.

Er denkt: »Dort hat alles Böse seinen Anfang genommen. Auf das nächste Glied sprang es über, und jetzt jagt ein Fluch den andern. Kann denn die schwarze Kette nicht zerrissen werden?«

Alle im Lotsenboot schauen nach der Insel hinüber und dann auf den Pfarrer. Er hat den Südwester losgebunden, seine grauen Haarsträhnen flattern ihm um den Kopf, und sein Mund murmelt etwas. Das kann nichts anderes sein als ein Gebet.

Jetzt fängt der Kutter im Ernst aufzuholen an und kommt dem Fischerboot mit jeder Minute Meter um Meter näher. Bei den Brotthällen wird er es erreicht haben, das ist sicher.

Die Brotthällen, das sind die berüchtigten »Leichensteine« dicht unter dem Wasser. Wie hoch es heute um sie brandet! Und das Feuerschiff dort drüben mit seiner Laterne und seinem schwarzen Mars – wäre es nicht am besten, die jungen Leute vorerst dorthin zu bringen? So denkt der Amtsvorsteher. Und er ruft in den brausenden Wind hinein:

»Sagt, liebe Leute, was sollen wir tun, wenn wir heran sind?«

»O, da gibt's verschiedene Möglichkeiten«, meint der Leuchtturmwächter unglücklich und windet sich auf der Steuerbank. Aber bei dem heulenden Wind wird er nicht verstanden.

»Zuerst schieß ich ihnen das Segel entzwei!« ruft der Junker und deutet mit seiner Schrotflinte hinaus. »Dann sind sie hilflos.«

»Nein«, donnert der Pfarrer, »keinen Schuß mehr!«

Aber der Junker brüllt weiter: »Bin ich nicht selbst angeschossen worden? Und ich hinke noch.«

Jetzt erhebt der Leuchtturmwächter seine Stimme: »Lüg nicht! Du hast zuerst geschossen.«

»Ach so«, sagt der Pfarrer und sieht den jungen Mann mit seinen bleigrauen Augen durchdringend an. »Das ändert die Sache bedeutend. Sehr bedeutend.«

»Aber, Herr Pfarrer, ist er denn nicht bei Ihnen eingebrochen?

»Ach, dummes Zeug! Das hab ich ihm verziehen. Die beiden sind ja wie gehetztes Wild … Seht, seht, ach, Gott im Himmel! Seht …«

Er wendet sich um und schreit dem Leuchtturmwächter, der die Ruderpinne festhält, zu:

»Augenblicklich kehrt gemacht! Sofort die Maschine abgestellt!«

Der Leuchtturmwächter gehorcht. Seine Hände zittern wie in einem Krampf; aber es gelingt ihm, das Boot zu wenden, und er stellt die Maschine ab.

 

Im Fischerboot hatte sich Valle jeden Augenblick nach den Verfolgern umgesehen. Wohl eine halbe Stunde lang ging es gut, dann schlechter, und schließlich war jede Hoffnung zu Ende. Nur noch ein paar Kabellängen, und sie waren eingeholt!

Da schäumt an Steuerbord vor dem Steven die weiße Brandung der Brotthällen auf. Wie schneebedeckte Bäume erheben sich die wilden Brecher; sie breiten sich zu mächtigen Kronen aus, überschlagen und überstürzen sich, aber sofort steigen in rasender Wut neue schäumende, brüllende Sturzseen zum Himmel auf. Ein ganzer Wald ist es von Schaum und Kälte und Tod. Wenn er da hineinsteuert …

Er reißt die Pinne nach Backbord, holt die Schot ein und hält geradeswegs auf den schäumenden Kirchhof zu. Tuva sieht es, sie schaudert und klammert sich an ihn fest.

»Willst du?« fragt er mit dem Mund an ihrem Ohr. »Wagst du's?«

Sie gibt keine Antwort, sie nickt nur stumm und preßt ihre Wange auf die Hand, mit der er die Pinne umklammert. Einen Arm hat sie um seinen Leib geschlungen, sie will nicht, daß sie getrennt werden, wenn das Vorschiff birst und sie durch die Trümmer hinausgeschleudert werden und sterben. Ihr Herz klopft zum Zerspringen. Kommt es nicht bald? …

Aber statt dessen fühlt sie, wie die Hand unter ihrer Wange heftig zusammenzuckt und die Pinne mit einem Ruck auf die andere Seite gedrückt wird. Sie schaut auf und sieht in zwei Augen, zwei verwandelte Augen, so leuchtend, wie sie ihr von ihren glücklichsten Stunden in Erinnerung sind. Und seine Stimme jubelt ihr ins Ohr: »Wir dürfen leben! Sie haben die Verfolgung aufgegeben, du, mein Weib, wir dürfen leben!«

 

Ein paar Minuten lang herrschte atemlose Spannung an Bord des Lotsenkutters, als er jetzt mit gestoppter Maschine in den breiten Wellen rollte. Alle andern streckten keuchend die Hälse, der Leuchtturmwächter aber war nicht imstande, aufrecht zu stehen. Zusammengesunken lag er an Deck und preßte beide Hände fest über die Augen.

Das Fischerboot hatte den Kurs geändert; vom Seitenwind gejagt, steuerte es gerade auf die Brotthällen zu. Schon war es fast in dem schäumenden Kirchhof. Aber grade, als das Furchtbare geschehen sollte, sah man, wie Valfrid vom Tveholm sich noch einmal umschaute, einen Augenblick zweifelte und dann kräftig nach Süden abfiel. Nun war er schon am Tod vorbei, in den die beiden sich hatten stürzen wollen, jetzt konnte er auf klarem Wasser steuern, wohin sie wollten.

»Auf mit dir!« kommandiert der Pfarrer und läßt seine große Hand schwer auf die Schulter des Leuchtturmwächters fallen. »Die Kinder sind nicht ertrunken, sondern nach Schweden gefahren. Und, zum Kuckuck, ich werde mich dafür einsetzen, daß sie anständig zurückkommen! Es gibt doch ein Telegraphenamt. Aber eine weitere Verfolgung gibt's nicht mehr, hörst du!« Wieder nimmt er den Südwester vom Kopf und hält in dem schwankenden Boot stehenden Fußes eine kurze Ansprache, während ihm der Wind die grauen Haarsträhnen um die Stirn weht: »Jetzt ist der Fluch ausgelöscht. Danket Gott alle miteinander, und du auch, Junker! Seht, so groß war ihre Liebe, daß sie, um sie unverletzt zu erhalten, den Leib drangeben und in den Tod gehen wollten! Bei einer so lodernden Flamme gibt es in unserer lauen Welt nur ein Wort: Dank und Glückauf!«

Er winkt mit dem Südwester dem enteilenden Boot nach, dessen Segel zwischen den Wogenkämmen auf und ab schwankt wie der Flügel eines weißen Schmetterlings. Und mit seinem einst so gewaltigen Baß stimmt er an: »Die Jugend ist selig, ja selig ist sie …«

 


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