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Das Schicksal der Welt und das Schicksal einzelner Menschen verlaufen oftmals in entgegengesetzter Richtung. Wenn ein Land, eine Stadt oder eine Gegend vom Sturmwind der Geschichte verheert wird, gibt es inmitten der Zerstörung immer Einzelschicksale, die grade dadurch ein unverdientes Maß von Glück und innerer Ruhe erreichen. Und wenn der Sturmwind vorübergebraust ist und sich alles in wohlmeinender Stille zur Ruhe legen will, finden sich immer innerhalb des friedfertigen Kreises ein paar Menschen, die aus dem Zusammenhang herausgerissen und weggeführt sind in eine Brandung von Leiden, Haß und Liebe. Recht und Gerechtigkeit ist in diesen verwickelten Verhältnissen niemals zu erkennen.
Während der letztvergangenen sechs Jahre war in Bredby mehr vorgefallen als sonst wohl in einem Jahrhundert. Wenn ein Weltkrieg den Erdball umkehrt und alle alten Lasten von der Stelle rückt, wenn große Stücke der Landkarte mit dem teuren Saft genetzt werden, der in den Adern der Menschen fließt, dann gibt es wohl keinen noch so gottverlassenen Ort, der nicht von einem Spritzer des roten Saftes getroffen würde. Ein blutgetränktes Feld war Bredby freilich nicht geworden, wohl aber waren seine Hügel von vieltausend neuen Sohlen sehr zertreten. Mit weitaufgerissenen Augen erhob sich eines Morgens das Dorf und sah, daß es in einen Ort von größter Bedeutung verwandelt war, zu etwas, was fast einem der Tore Europas glich. Während der wirren Tage beim Kriegsausbruch war das Dorf auf einmal wie ein vollgepfropftes Wirtshaus. Eine Sturmflut von zweifelhaften Fremden wurde von Osten dahergeschwemmt und füllte jeden Raum, der eine Spur von Dach über sich hatte. Es waren Leute, die in der letzten Stunde in neutrale Gegenden hinüber wollten – übers Wasser, über die Grenze, die im Bewußtsein der Dorfbewohner nie vorhanden gewesen war. Merkwürdige Dinge! In jenen Tagen schwirrte die Luft von Sprachen, die nicht einmal die weitgereisten Seefahrer zu benennen wußten; nur der alte Bussar behauptete, das sei alles türkisch. Dichtgepackt wie die Heringe in der Tonne lagen die schwarzbärtigen Herren auf dem nur mit einer dünnen Streu bedeckten Fußboden und rangen in Verzweiflung ihre von Diamanten blitzenden Hände, während ihre ekelhaft duftenden Frauen auf dem Speicher irgendeines Stallgebäudes saßen und im ersten Morgengrauen ihre bleichen Gesichter schminkten. Ihre Sprößlinge, die gar nicht wie Kinder aussahen, kreischten wie in den Schwanz gekniffene Teufel, und alles war ein rechtes Kreuz. Geld aber wurde rein unvernünftig verdient. Ein Gockel, der ein Spielkamerad von Sinders Großvater gewesen war, brachte ein Vermögen ein, als er geköpft in den Kochtopf plumpste, und nachdem alles, was Schwein, Kalb, Färse oder ausgemergelte Kuh hieß, geschlachtet war, konnte für ein Mahl von eingesalzenem Seehundfleisch, das eigentlich zum Hühnerfutter bestimmt gewesen war, ein großer, bunter ausländischer Geldschein angeflattert kommen. Denn sich mit den Fischen in der See oder mit den Schafen auf den Holmen abzugeben, dazu hatte niemand Zeit. Alles, was einen Kiel unter dem Boden hatte, setzte Segel und fuhr mit einem ganzen Babylon an Bord nach Schweden, und die Hosentaschen der Ruderer strotzten von Goldstücken. Und es wird behauptet, daß Lassas-Isak, der Faulpelz, sich hat seine Zukunft sichern können, weil er zu jener Zeit der einzige im Dorf war, der ein Motorboot besaß, mit dem er damals sieben Fahrten machen konnte.
Aber diese tollen goldenen Tage dauerten nicht lange. Später, als der Krieg im Ernst zu rasen begann, kehrte in Bredby wieder Ruhe ein. Gewiß sah und hörte man mancherlei während der drei Jahre, nach denen es aufs neue unruhig wurde. Rauchfahnen, schwärzer als die von gewöhnlichen Lastdampfern, verschmierten den Gesichtskreis; zuweilen klirrten die Fensterscheiben vom Donner springender Minen oder von Kanonenschüssen draußen auf dem Meer. Eine Weile ging ein Geschrei um von einem Leuchtturm im Südosten, den ein Unterseeboot mit einigen Schüssen niedergelegt haben sollte. Eines Tages tauchte am südlichen Himmel ein Luftschiff auf, dick wie eine Hochzeitszigarre, flog langsam mit der Schnauze gegen den Wind und putzte in der einzigen Stadt des Inselreiches mit ein paar Bomben einen Landungssteg und eine Badeanstalt weg. Eine Meile weit im Lande drinnen bauten die Russen Befestigungen mit Kanonenrohren, in die ein halbwüchsiger Junge hätte hineinkriechen können. Auf einer der Inseln in der Nähe wurden zwei schwindelnd hohe Masten für drahtlose Sendungen errichtet, und mit sanften Zischlauten und offenen Armen hielten die Söhne der Steppe ihren Einzug ins Dorf, wo sie natürlich mit der Zeit ihren Wildhafer säten.
»Sagt nichts, Hausmutter, denn Ihr wißt nicht, wie die Russen lieben!« erklärte die Magd auf Storgrinda, der ihr Sonntagskleid zu eng geworden war.
Diese drei Jahre schleppten sich soweit erträglich hin, obgleich einige vergrämte Elterngesichter aussahen, als gäbe es Herzen, die innerlich in aller Stille bluteten; und die Nahrung wurde immer knapper durch das von den Russen eingepeitschte Verbot, mit gewöhnlichen Netzbooten zum Fischen oder zur Jagd in See zu gehen. Dann kam völlig unerwartet jener Tag im März, wo die Soldaten ihren Vorgesetzten die Achselstücke abrissen, einige von ihnen mit blauen Bohnen bedienten und schrien: »Svabooda!« – »Freiheit! Freiheit!« Dabei gelangte das Dorf zu seiner ersten Kriegerwitwe, die in der Stille ihre Tränen weinte; andrerseits aber ging das Säen des Wildhafers eifriger vor sich als bisher. Es sah mit der Zeit bedrohlich und beklagenswert aus. Aber bald wurde von Mund zu Mund geflüstert, die gebietenden Herren des Inselreiches hätten eines der beschlagnahmten Motorboote in See gesetzt und sich in einer finsteren Nacht nach Schweden hingeschmuggelt, um vom König selber Hilfe zu erbitten.
Und als es dann mitten im folgenden Winter in Finnland losging, da wurde das Dorf von neuem der Tummelplatz für allerlei Militär. Jetzt fing es mit Kanonendonner einige Meilen weiter drinnen im Lande an. Ein versprengtes, schlecht bewaffnetes Streifkorps der Weißen aus der Gegend von Åbo schlug sich dort mit den Russen herum. Kreuzdonnerwetter, das waren auf jeden Fall noch Kerle! Erst patscht man anderthalb Tage über aufgeweichtes Meereis, und dann will man, einige hundert Mann stark, ganz Åland einnehmen, das mit Batterien der Roten über und über gespickt ist! Das Unternehmen wäre ihnen vielleicht sogar geglückt, wenn nicht die schwedische Flotte mit einem Eisbrecher an der Spitze zu dieser Zeit aufgetaucht wäre und sich ins Spiel gemischt hätte. Du mein Herr und Schöpfer! Was schrien da im Dorf die Leute Hurra, abgesehen natürlich von den Russen. Die hatten es auf einmal eilig. Die Blaugelben aus Schweden landeten eine unheimliche Menge Truppen, die mit Musik und in prächtigen Uniformen das ganze Inselreich überschwemmten und sowohl die Weißen als auch die Roten entwaffneten. Der tapfere Befehlshaber des Streifkorps weinte vor Wut, daß er nicht im Frieden weiterkämpfen durfte, als er mit seiner Mannschaft nach Schweden eingeschifft wurde, um im Vaterland an die Front verschickt zu werden. Man hätte vielleicht denken können … Sonst war alles im Dorf ein einziger blaugelber Jubel, während eine Schiffslast von verdutzten Russen nach der anderen verstaut wurde. Allein die Freude dauerte nicht lange. Neue schwarze Rauchfahnen am Horizont, noch größere Fahrzeuge tauchten auf und ankerten. Jetzt waren es die Deutschen, die landeten, die schwarz-weiß-rote Fahne über dem Dorfe hißten, die Schweden hochachtungsvoll ersuchten, sich auf die Socken zu machen, und die ganze Geschichte mit den Russen und allem andern in die Hand nahmen. Das war nun schon die vierte Sorte Militär; kein Wunder, wenn es einem wirr im Kopfe wurde. Aber das Karussell war noch lange nicht vollständig. Auf die Deutschen folgten Truppen aus dem Vaterland, dem neuen Finnland, sowohl solche, die jedes Wort ihrer unverständlichen Sprache mit einem gesalzenen Fluche würzten, als auch andere, sanftmütigere, die im reinsten Schwedisch fluchten. Und schon lange davor, mitten in der ganzen Bewegung, hatten sich einige aus dem Dorf einem freiwilligen Streifkorps angeschlossen, das ostwärts über das Schärenmeer zog und ohne großes Blutvergießen sogar Åbo einnahm. Allzu viele Mann von hier waren es ja nicht: der alte Tveholmer Janne, in dem das österbottnische Herz sich wieder regte; und da mußte natürlich sein noch älterer Kamerad Bussar auch mit, aber der wurde um seiner Trunksucht willen auf halbem Wege wieder heimgeschickt; auch Jannes Brudersohn Valfrid, der Junker von Ankarö und noch einige andere junge Burschen waren dabei.
Jawohl, nach den Deutschen kamen die Truppen aus Finnland. Aber da hatte Bredby seinen Seelenfrieden schon bis zu einem Grade eingebüßt, daß man unmöglich noch mehr Militär vertrug. Die Soldaten aus dem Vaterlande, welche Sprache sie auch sprechen mochten, wurden mit geballten Fäusten und verschlossenen Türen aufgenommen, und nicht so viel Wildhafer wurde neu gesät, daß nur ein einziger Halm daraus aufschießen konnte. Vielleicht wirkte dabei der Umstand mit, daß Åland eine Trosse auswarf und an dem Thron des schwedischen Reichs befestigte, eine Trosse, die zur einen Hälfte aus altem Heimweh, zur andern aus mangelndem Gedeihen innerhalb der Grenzen des neuen Staates zusammengeflochten war; mit dieser Trosse wurde der Versuch gemacht, die Inselgruppe nach Westen hinzuziehen und sie an der schwedischen Küste zu vertäuen. Na ja, nach vielen stürmischen Verhandlungen mit ausländischen Besichtigern an Bord mißglückte das Manöver, und die Trosse riß. Murrend ballte man nun die Faust im Sack in Erwartung des nächsten Krieges; und in Übereinstimmung mit andern enttäuschten Ortschaften kam auch Bredby allmählich im alten Gleis zur Ruhe, befreit von allem Militär, reich an bunten Erinnerungen und mit einigen Liebespfändern von verschiedener Herkunft in seinem geräumigen Schoß.
In allem, was die Außenwelt betraf, hielt das Dorf einig zusammen. Aber innerhalb seiner Grenzen und der weitgestreckten Gewässer rührten sich feindliche Mächte gegeneinander, wie dies bis ans Ende der Welt jederzeit und überall vorkommen wird. Die berüchtigtste Sache in dieser Hinsicht war, was der Leuchtturmwächter Stark auf Ankarö während der letzten zwei Jahre ausgeführt hatte. Gestützt auf einen alten schwedischen Königsbrief, unterzeichnet von Karl XI., erhob er Anspruch nicht allein auf das volle Besitzrecht an seiner Insel, die nur von Leuten aus ursprünglich gleichem Geschlecht bewohnt war, sondern auch auf die uneingeschränkte Herrschaft über das Wasser in einem Umkreis, der, in heutiges Maß umgerechnet, drei Seemeilen nach allen Seiten betrug. Diese vergilbte Schenkungsurkunde ging von einem Gericht zum andern, bis endlich das höchste Gericht in Finnland dem Leuchtturmwächter alle seine Ansprüche bestätigte. Das war im vergangenen Herbst geschehen und bedeutete etwas Unerhörtes; daß nämlich mehrere der besten Seehundplätze und der ergiebigsten Fischgründe für andere Leute verlorengingen. Bisher war alles auf See gemeinsamer Besitz gewesen; die einzige Regel war, daß man aus Anstand nicht durch ein allzunah ausgelegtes Garn das bereits gelegte Netz eines andern absperren durfte, noch auch auf einem Seehundplatz landen, von dem her Lockrufe von genügend vielen Schützen ertönten. Aber man beruhigte sich rasch, als der Leuchtturmwächter jedermann ohne Ansehen und Stand auf dem nun ihm gehörenden Wasser zu freiem Fang und freier Jagd willkommen hieß. Nur die Tveholmer forderte er nicht auf, und man fing an, den Sinn seines Unternehmens zu begreifen. Ein uralter Königsbrief, gelb und verrunzelt wie die Haut eines alten Weibes, war eine tödliche Waffe im Zweikampf geworden – ja ja, Frieden gab es wahrhaftig nicht auf dieser Welt!
Ein Stück Weges hinauf am Nordstrand vom Tveholm liegt ein viereckiger Stein, groß und ernst wie ein Sarg. Weiter unten am Rande des Wassers glänzen die kohlschwarzen, von den Wellen glattgeschliffenen flachen Steine; sie sehen aus wie versteinerte vorzeitliche Rieseneidechsen, die aus der Tiefe heraufgekrochen sind und sich hier an der Grenze der beiden Elemente zur Ruhe gelegt haben, um sich den runden Panzer fleißig waschen zu lassen. Aber bis zu dem Felsblock herauf schlagen die Wogen für gewöhnlich nicht, deshalb haben Moos und zähe Flechten den Versuch gemacht, den großen Stein zu überwachsen. In einem von Norden nach Süden laufenden Einschnitt, der den Deckel des Sarges andeutet, war das bereits gelungen; aber seit einiger Zeit hat eine Menschenhand das Gewächs in der runden Rinne vertilgt. Häufig ruht in dieser ein unruhig schwankendes Fernrohr aus Messing. Hinter dem Rohr liegt ein junger Mann mit einem bösartigen Funkeln im rechten Auge.
Es ist nicht das erstemal, daß er sein vom Vater ererbtes Fernrohr in diese Himmelsgegend richtet, woher alles Verdammte gekommen ist; morgens und abends, in jeder freien Stunde hat er das getan. Wie ein besiegter junger Feldherr das verlorene Schlachtfeld überschaut und darauf sinnt, bei der ersten Gelegenheit in einer neuen Schlacht Rache zu üben, so mustert er die Wasserfläche und gibt genau acht auf die Bewegungen des Feindes dort drüben. »Sie kommt, die Stunde …«
Valfrid ist jetzt ein anderer, als es das Bürschchen mit dem kurzgeschorenen runden Kopf, dem beständig verwachsenen Wams und den allzu kurzen Hosen war. Der Morgenwind bläst ihm einen üppigen Haarbusch in die Stirn und weht ihn über das Fernrohr gleich einem hellbraunen Wasserfall. Das macht sein ziemlich langes, schmales Gesicht noch länger und verbirgt eine rote hufeisenförmige Narbe über seinem linken Auge. Seine Schultern gleichen einem nicht grade dicken, aber gut zugehauenen Balken, und die geschmeidigen Beine verschwinden in zwei ansehnlichen Wasserstiefeln, die wie immer ganz von Fischschuppen überzogen sind. Denn er muß die Fischerei meist allein besorgen, seit ihnen die besten Fischgründe im Norden durch ein Gerichtsurteil gesperrt sind. Janne hat wenig Zeit dazu; fluchenden Herzens ist er genötigt, wieder zu den Fertigkeiten seiner Jugend zu greifen und sich im Dorf Zimmermannsarbeit zu suchen, obgleich er einen geringeren Tagelohn bekommt als Männer in den besten Jahren. Allerdings ist ihm angeboten worden, als Koch und Helfer des Segelmachers auf einer Viermastbark mit nach Australien zu fahren; dieses kränkende Angebot hat er aber in der Art, wie er zu reden pflegt, abgeschlagen: »Hab' nichts in Australien verloren, ade!« Und was hilft es, daß Valfrid bald ebenso gewandt und tüchtig ist wie der Alte in allem und jedem, worauf es hier draußen ankommt? Er kann nach der Dichte und Höhe der Möwenschwärme in der Luft sagen, wo die Strömlinge stehen, und wie tief man die Zugnetze auslegen muß. Bei einer Drehung des Windes berechnet er geschickt, an welchem Strand gerade die richtige Dünung sein wird, damit die Flundern und Muränen aus der Tiefe heraufkommen. Lockvögel stopft er so kunstfertig aus, daß liebeskranke Hähne dahergestürmt kommen und sie mit den Schnäbeln an den Nackenfedern fassen. Wie frisch die in den Wacholderbüschen und Klüften gefundenen Eier sind, stellt er geschwind im nächsten Wassertümpel fest. Liegt er auf der Lauer und ruft, um Seehunde zu locken, so kommt ihm das Tier oft so nah, als wollte es an seiner Gewehrmündung riechen; aus der Stellung der Schnauze sieht er von weitem, ob sich der Seehund sicher fühlt oder vorsichtig wittert, ob er beim nächsten Untertauchen beabsichtigt, für immer Abschied zu nehmen, oder an der Stelle wieder auftauchen wird, wohin der Gewehrlauf gerichtet ist. Und gilt es, mit dem scharf beschlagenen Eisstock auf Blaueis hinauszugehen, so weiß er, daß man auf der federnden Fläche weitergehen kann, wenn beim schrägen Niederstoßen der Eisenspitze diese wohl durchfährt, aber zugleich ein kleines eiszapfenförmiges Stück heraussprengt, daß man aber besser tut, umzukehren, wenn die eiserne Spitze schnalzend durchfährt, ohne etwas loszusprengen. Ja, ausgelernt ist er in allem, was sich gehört, und nur eins steht noch aus. Ein junger Mann wird im Dorf erst dann als ganz erwachsen betrachtet, wenn er einige Jahre auf langer Fahrt gewesen ist. Das ist ebenso unumgänglich notwendig wie die Volksschule und der Konfirmationsunterricht, nur viel verlockender. Und nun ist der kommende Sommer sein letzter hier, denn im Herbst nimmt er Heuer, Gott sei Dank! Vorher muß aber noch etwas geschehen …
Das Funkeln in dem Auge hinter dem Fernrohr zeigt immer mehr Haß.
Was hatte es für einen Zweck, daheim zu sein und mit Fischfang und ähnlichem die Zeit zu vertändeln? So, wie sich die Dinge gedreht hatten, konnte doch ein Kind begreifen, daß es früher oder später mit dem ganzen Tveholm zu Ende gehen mußte. Ließ sich denn mit einem Boot ohne Mast kreuzen, mochte man sich noch so viel Mühe geben? Verwünschtes Totengeripp von einem König, das plötzlich aus seinem Grab gestiegen war und sich ins Spiel gemischt hatte! Und wie sich Janne in der letzten Zeit verdüstert hatte, war rein unvernünftig, beinahe schlimmer als Valle selbst. Der Alte war, wie man sagt, innerlich zusammengebrochen. Wer aber nicht zusammenbrach, das war seine Mutter, die Ärmste! Sie und der Norweger, jawohl … Es geht wunderlich zu auf der Welt.
Das Fernrohr dreht sich nach Süden, wo der Leuchtturm von Galten in den Gesichtskreis tritt, und es wandert noch ein Stück weiter. In der Rundung taucht ein schwarzer Schiffsrumpf auf, ohne Masten und Rauchfahne, aber mit dem Bug hoch in der Luft. Das Ungetüm sieht aus wie ein weggeworfener eingedrückter Stiefel, den jemand am Horizont festgenagelt hat.
Dies ist eine eigene Geschichte. Kaum hatte nach dem Winter die Schiffahrt wieder begonnen, als ein Norweger, ein kleineres mit Holzlast nach Süden fahrendes Schiff, unter Volldampf auf eines der allbekannten Riffe dort draußen auflief, wobei ihm von dem Stoß die Masten geknickt wurden. Schwer diesig war es zwar, aber sonst vollständig ruhige See. Mit Sack und Pack ging die Besatzung in die Rettungsboote und ruderte, vom Heulen der Sirene geführt, nach Galten. Dort trank man erst eine Weile, wenigstens so lange, bis der Kapitän mit dem Großmaul, dem Leuchtturmwächter, gut Freund geworden war. Dann bat er ihn beweglich, wegen des Unglücks eines andern keinen großen Lärm zu schlagen, sondern der Sache ihren Lauf zu lassen. Es würde schon alles in Ordnung kommen. Allerdings, das Motorboot, das in den Davits hing, habe Maschinenschaden, und die einzige Möglichkeit, sich der Außenwelt mitzuteilen, bestehe in Signalraketen und Nebelsirenen – drahtlose Telegraphie gebe es doch wohl auf dem Leuchtturm noch nicht, nicht wahr? Na also … Ja, da müßten sie selbst mit den Rettungsbooten an Land rudern – der jüngste Leuchtturmwächter käme wohl als Lotse mit? Hier könnten sie unmöglich bleiben. Es eile mit einem Bergungsdampfer und der Seeverklarung, und wenn ein Sturm käme – was Gott verhüte –, würden sie nicht nur ihr liebes Fahrzeug verlieren, sondern auch hier zwischen den Klippen, wo kein Anlegen möglich sei, ihrer Boote verlustig gehen. Ja, Dank und Lebewohl; zwei von der Besatzung würden zur Bewachung zurückbleiben. »Aber die Raketen sparen, Leuchtturmwächter!«
Dieser Abend wurde nicht so wie andere auf dem Tveholm. In der Dämmerung sah es aus, als ob zwei Rettungsboote mit ganz steifgefrorenen Ruderern daherkämen, so langsam ging es; aber statt dessen kletterten ein Dutzend muntere Norweger in Pelzmänteln heraus. Als Janne sich erbot, sie in der Dunkelheit ins Dorf zu lotsen, bekam er sofort eine Flaschenmündung ins Maul gesteckt. Alles war gut, so wie es war, und wo man war, wollte man über Nacht bleiben, weil es doch zwei Katen hier gab. Der Kapitän taumelte mit einem Schiffsbarometer in der Hand herum, das, so oft er daran klopfte, um einen Strich fiel. Er war nun so betrunken, daß er offen erklärte, schlimmeres Teufelszeug als Bergungsdampfer, diese Hyänen, gebe es nicht unter der Sonne. Denn wenn man ein Schiff aufgeknallt habe und sonst alles gut abgelaufen sei, dann wolle man doch zum Henker die volle Versicherungssumme. Bei den jetzigen schlechten Zeiten … Das meine wenigstens der Oberbonze, der Reeder. Und das Barometer fiel.
Am nächsten Tag hatten die Leute es auch noch nicht eilig, den Tveholm zu verlassen. Und der Kapitän setzte seinen Willen durch, wie die bösen Vorsätze in dieser Welt anscheinend nur allzu oft Beistand durch eine geheime Macht aus dem Abgrund erhalten. Es kam ein Südweststurm, der die Decklast wegschwemmte, den Dampfer noch weiter in den leichten Grund hineintrieb und ihm den Boden abschälte. Als der Sturm abflaute und sich draußen zwei Bergungsdampfer zeigten, war das Schiff schon ein vollständiges Wrack.
Nach vielem Hin- und Herfahren zum Havaristen gingen endlich die Norweger ihres Weges nach ihrem Heimatland und zu den Seeverklarungen. Einen einzigen Mann ließen sie auf dem Tveholm zurück zum Ausschauhalten und Überwachen von dem, was von dem Fahrzeug noch vorhanden war. Das war der zweite Steuermann, ein gesitteter und gutmütiger Mann in den Vierzigern. Er zog in Valfrids Kate am Nordstrand und zahlte ordentlich. Während der Mahlzeiten droben bei seinen Wirtsleuten saß er mit kindlich großen Augen in dem glatten Gesicht da und berichtete auf seine gelassene Weise von Passatwinden und Palmen, St.-Elms-Feuern und tropischen Gewittern; er verbreitete in dem herrschenden Trübsinn ein eigenartiges Behagen um sich. Sonst trieb er sich meist müßig herum, half höchstens ein wenig beim Fischen, wobei er bezweifelte, ob es sich der Mühe verlohne, so kleinen Tieren wie Strömlingen nachzustellen.
Aber wer in diesen Wochen auflebte, das war Elfrida. Sie empfand dunkel, daß sie Jahr um Jahr wie eine hinwelkende Balsamine dagestanden hatte, eingepreßt in den engen Topfscherben ihres Leids und mit den Wurzeln in verfaulter Erde, nur begossen von den süßen, aber giftigen Tropfen, die von den eigenen kranken Blättern troffen. War ihr jemals von irgendeiner Seite etwas Pflege zuteil geworden, so war es stets in einer allzu kalten und harten Weise geschehen. Jetzt erwachte tief drinnen in ihr ein Echo von dem, was einst gewesen war – ein kurzes, gesundes Leben unter einer beschützenden Sonne. Ihr kam eine Ahnung, wie alles hätte werden können, wenn eine starke, fürsorgliche Hand zu rechter Zeit das kranke Gewächs in andere Erde und unter andere Winde verpflanzt hätte. War es dazu rettungslos zu spät? Vielleicht im wirklichen Leben; aber träumen konnte sie doch ein wenig von etwas anderem. Ihr ganzes erfrorenes Bedürfnis nach Zärtlichkeit, alles von ihr selbst erstickte Sehnen sammelte sich in einem letzten und geheimen Schrei nach dem Mann, dem Beschützer, dem Erwärmer, dem Geliebten. Sie ging in einer seltsamen Mischung von Vorahnung und Auftauen herum. Jedes Wort, das der Norweger sprach, fiel wie ein warmer und lebenspendender Tropfen in ihr durstiges Innere, jeden Blick seiner Augen saugte sie in sich, wie die Hoffnung auf einen Sonnenaufgang. Alle ihre aufgesparten, brachgebliebenen Kräfte rührten sich, neuer Saft strömte durch die beinahe dahingewelkten Wurzeln ihres Lebens, und sie trieb eine verspätete, wehmütige Blüte. Etwas von mädchenhafter Weichheit kam wieder über sie, wenn auch jetzt in einer vollblütigeren und zugleich gedämpfteren Form. Jetzt, im Anfang der vierziger Jahre, sah sie wahrhaftig jünger aus als einst im fünfundzwanzigsten mit den verblaßten, verweinten Augen.
»Hoppla, seh ich nicht mehr recht?« sagte die Großmutter und setzte ihre Brille auf. »Dirn, du wirst wieder, du wirst wieder! Hast du angefangen deinen Verstand zu gebrauchen und bist auf gesündere Gedanken gekommen? Na ja, Jugend will ihr Recht, früher oder später.«
Die Großmutter war jetzt so steif von der Gicht, daß sie nicht mehr wie früher in ein Boot stieg und nach dem Tveholm hinüberfuhr. Daheim in Askvik sprach sich die Alte so aus, bei einem der seltenen Besuche ihrer Tochter. Und ihren weißen Kopf wiegend, setzte sie hinzu: »Na ja, na ja, nichts mehr davon, wie rote Backen du gekriegt hast. Janne ist zu alt, meinst du? Scheint aber doch, daß er dich endlich auf den Trab gebracht hat. Ich hoffe, du probierst's, Dirn!«
Elfrida lief nicht zur Tür hinaus wie sonst wohl. Gelassen saß sie da, mit einem merkwürdigen Glanz in den Augen.
Vielleicht ahnte die Großmutter als Menschenkennerin, daß hinter der Verwandlung der Tochter ein anderes lebendes Wesen stehen müsse, und daß dieses Wesen kaum Janne sein konnte. Was dieser selbst von seiner Frau dachte, ist schwer zu wissen. Vielleicht merkte er äußerlich überhaupt nichts; ein Gesicht, das man Jahr um Jahr täglich sieht, sieht man ja schließlich nicht mehr. Aber soviel sah er jedenfalls, daß es mit den Tränen und dem ewigen Jammer zu Ende war, und das war das einzige, wovon er sich in dieser verwünschten Welt befriedigt fühlte. Wenn er dabei den Norweger halbwegs im Verdacht hatte, so war er diesem eher dankbar für die Hilfe und ließ ihn in Ruhe weitermachen, so lange seine Ehre nicht verletzt wurde. Elfrida hatte er lange schon satt. Seine knochige Brust war ausgefüllt von einem einzigen Gefühl: dem Haß auf Ankarö!
Valfrid hatte die Verwandlung seiner Mutter zuerst mit frühester Überraschung betrachtet, bald aber nahm ein wachsender Widerwille in ihm überhand. Denn rasch wurde ihm klar, woher diese Erneuerung kam. Zwar ließ sich nichts Böses über den Norweger sagen. Solange er in der Kate neben Valfrids Kammer wohnte, hatte, wenn Janne fort war, niemals bei Nacht die Haustür geknarrt. Immerhin hatte Valfrid gewisse Anzeichen nicht übersehen, die in diese Richtung deuteten, und er war erfahren genug, zu wissen, daß ein angefangener Liebeshandel selten aufhört, ehe alles in die Brüche gegangen ist. Das Wesen seiner Mutter dünkte ihn ein Verrat ebenso sehr an seinem Vater wie an seinem Stiefvater. Und mit immer größerem Widerwillen betrachtete er die Frau, in der er bisher einen überirdisch reinen, wenn auch tränenreichen Engel mit gebrochenen Flügeln zu sehen gemeint hatte. Und er kam nun zu demselben unvernünftigen Schluß wie Janne früher – er wälzte die Schuld auch für diese Sache auf Ankarö. Denn wenn die da drüben damals den Vater nicht hätten sterben lassen … Aber jetzt nahm das Unglück kein Ende mehr.
Ja, die arme Mutter und der Norweger … Zum Glück wohnte der Mann jetzt seit einer Woche drüben im Dorf, denn er hatte Befehl bekommen, in größerer Nähe von Post und Telegraph zu bleiben. Aber es war sonderbar, wie oft jetzt die Mutter dort etwas zu besorgen hatte; nicht allein Janne sein Essen an den Arbeitsplatz zu bringen, sondern auch noch allerlei anderes. Sie, die früher niemals ins Dorf gefahren war … Pfui Teufel, so ein falsches Spiel!
Das Fernrohr auf dem Stein verläßt das dunkle Wrack und wendet sich gegen Norden. Sein rundes Gesichtsfeld gleitet über die Wasserfläche hin, auf der sich unnatürlich viele kleine spitzige Wellen kräuseln, und landet in einem Gewimmel von blitzenden Sonnenstrahlen und umherfliegenden Seevögeln, einige näher, so daß Valle die schweren Körper vor der Linse vorüberstreichen sieht, andere aber nur als wellige Dunststreifen gegen den Horizont und den Himmel. Jetzt fängt das Fernrohr etwas ein, was aussieht wie ein langer Schnee- oder Schaumstreifen auf dem Wasser. Das sind Hunderte von Eiderenterichen, die in einer langen Reihe liegen und sich treiben lassen auf dem Fjord. Ei, ei, ist der Hochzeitstanz jetzt zu Ende?
Einen Augenblick erscheint Kopparkläppen im Rund des Fernrohrs. Dort irgendwo verläuft die unerträgliche neue Grenze; jetzt ist er auf dem Gebiet des Feindes. Aber der Lichtkreis macht weiter den bekannten Weg; er wandert über Lekatten nach dem Mößgrund, wird mittendurch von einer hohen Feuerbake, unten rot und oben weiß, durchschnitten, nimmt undeutlich den Signalmast auf dem Hügel, das Wohnhaus, die Landungsstege mit hinein. Ein großes Motorboot strebt dort dem Hafen zu; Valle meint zu sehen, daß es reichlich aus dem Auspuffrohr qualmt – aha, zuviel Öl, jawohl! Ist das der Junker mit Tuva, die nach den Zugnetzen gesehen haben – habt ihr viele Fische bekommen aus eurem königlichen Wasser, ihr Schutzbefohlenen Karls des Großen? Die beiden gelten schon lange als Brautpaar, obgleich die Verlobung niemals bekanntgegeben worden ist. Was ging ihn das an? Keinen Pfifferling!
Valfrids eine Stiefelspitze stößt heftig in die Rollsteine hinein, zwischen denen er mit dem Fernrohr liegt. Er kann darauf schwören, daß ihn diese Sache nicht das allermindeste angeht.
Er war mit Tuva während der letzten Jahre nur selten zusammengetroffen und hatte dann kaum mehr als ein paar gleichgültige Worte mit ihr gewechselt. Aber er glaubte dabei zu bemerken, daß sie nicht besonders vergnügt aussah. Bekommt man ein schlechtes Gewissen davon, daß man unter Schuften lebt, oder steckt das Böse vielleicht an? Sie war ja ihres Vaters Augapfel, sonst aber wahrhaftig keine Zimperliese, so klein und zart sie auch aussah. Meist war sie mit dem Leuchtturmwächter, dem dicken Schandkerl, auf See; auf allen seinen Ausflügen mußte er sie mit im Boot haben, ob er Fische fing oder Seehunde schoß oder Lotsenarbeit hatte. Na ja, überdies gehörte sie zu dem Ankaröpack und war ihm gleichgültiger als eine junge Katze, das konnte er beschwören. Aber dem Alten wollte er es schon noch eintränken.
Eigentlich war er einmal nah daran gewesen, sich mit dem Junker auszusöhnen, damals auf dem Marsch nach Åbo, den sie als Kriegskameraden gemacht hatten. Lange zogen sie dahin und belauerten einander; aber bei der ernsten Lage, in der sie beide steckten, fiel allmählich der alte Groll von ihnen ab. Während jenes Marsches hatte der Junker ganz unleugbar zu den tüchtigsten gehört: er quasselte weder von Mädchen, noch meckerte er sein widerliches stoßweises Gelächter von früher. Und damals bei Lohm, das einzige Mal, wo sie auf härteren Widerstand gestoßen waren …
Valfrid legt den Finger auf die rote Narbe über seinem linken Auge. Ein ehrenvolles Andenken an einen Schuß oder einen Säbelhieb ist sie nicht, nichts zum Bewundern für die Weiberleute, oder um auf dem Fischerfest am Bysund damit zu prahlen. O nein! In der großen Eile bei Lohm war er auf dem brüchigen Frühlingseis ausgeglitten und so hart vornüber auf den Verschluß seiner Kugelspritze gefallen, daß er das Bewußtsein verloren hatte. Und wer war es gewesen, der ihn in eine geschützte Felskluft schleppte und gleich darauf Blei aus der Spritze sausen ließ? Ja, verteufelt ritterlich hatte sich der Junker damals benommen! Allerdings, als sie beide wieder daheim waren, ging der eingepeitschte alte Tanz von neuem los, und wieder waren es die Ankaröer gewesen, die den Anstoß gaben.
Was soll das heißen, das Netz anderer in tiefes Wasser zu bugsieren, wenn es an dem Platze liegt, wo es immer gelegen hat? Das hatte im letzten Herbst dies Ankaröpack ganz unerwartet gemacht, schon bevor etwas von einem Richterspruch und von neuen Wassergrenzen verlautete, bei denen nicht einmal Gott Vater hätte sagen können, wo sie liefen. Allerdings war kurz nachher ein nagelneues Zugnetz der Ankaröer von der See verschlungen worden, und so war das Spiel eine Weile weitergegangen, Netz um Netz, Masche um Masche. Der Unterschied war nur, daß die eine Seite offen und bei Tageslicht ausführen konnte, was die andere bei Nacht zu tun genötigt war. Und jetzt im Frühjahr hatte der Tveholm kein Geld mehr, diesen Krieg weiterzuführen. Nun mußte etwas anderes ausgedacht werden.
Valfrid richtet sich auf und schiebt die drei Teile des Fernrohrs ineinander. Hinter dem Hügel, drüben bei den Uferschuppen, flattert eine Reihe von Netzen im Wind, die dort an ihren Stangen zum Trocknen hängen. Er will sie wieder mit Senksteinen versehen und dann einige Barschnetze lohen, die während des Winter ausgeblichen sind. Ob wohl die Mutter den Waschkessel mit kochendem Rindenwasser bereit hatte? Aber zuerst mußte er ja hinaufklettern und nachsehen, ob neue Säger-Eier da waren. Die Säger sind um diese Jahreszeit die Leghühner aller armen Leute in den Schären.
Wie große Telephonkasten hängen in den Erlen am Strand um den ganzen Holm herum die Nistkasten der Säger, das finstere Auge des Fluglochs gegen die See gerichtet. Valfrid tritt zum nächsten Baum und schlägt mit einem Stock ein paarmal kräftig gegen den Stamm. Das plumpe Weibchen dort oben streckt den Hals heraus, wirft sich mit ausgebreiteten Flügeln in die Luft und fliegt schreiend dicht über der Wasserfläche gen Norden. Valle bleibt stehen, schaut ihm nach und vergißt, über die gestutzten Äste zum Nistkasten hinaufzuklettern.
Merkwürdig, wie weit der Vogel fliegt! Valle muß von neuem das Fernrohr benutzen. Wie ein finsterer Unglücksrabe irrt der Vogel über die weite Wasserfläche hin, macht eine Schleife gegen die »Morgengabe«, als wolle er niederstoßen, steigt aber wieder und steuert auf Ankarö zu.
»Nimm meine Verwünschungen mit!« denkt Valle.
Fast niemals geschieht etwas lange Erhofftes grade so, wie wir es erwarteten. Wenn der ersehnte Vogel des Augenblicks aus der Luft herunterfliegt und sich in Schußweite niederläßt, trägt er gewöhnlich ein ganz anderes Federkleid, als wir es uns ausgedacht haben. Diese Erfahrung mußte auch Valfrid machen. Als er schließlich meinte, seine Stunde sei gekommen, da kam sie durch Zufall aus einer Richtung jenseits aller Berechnungen. Und als er den Vogel des Zufalls aufs Korn nahm, geschah es ebenso plötzlich wie unüberlegt, ohne daß er hinterher hätte erklären können, wie es zugegangen war, und weshalb der Schuß in so falscher Richtung traf und so verhängnisvoll wurde.
An diesem Samstagmorgen Mitte Mai war ihm noch kein Schlaf in die Augen gekommen, als schon die Morgenröte verblaßt war. In ein Schaffell gewickelt hatte er in seinem Schießstand auf einer der Sandbänke bei Askvik auf der Lauer gelegen und dann der Welt für einige kurze Stunden gute Nacht gesagt. In seinen Armen schlief die einläufige Schrotflinte, unter sich hatte er die zuverlässige Klippe, und einen Büchsenschuß entfernt schaukelten die toten Lockvögel auf einer immer ruhigeren Dünung, die sie allmählich in eine schläfrige Ungewißheit von Geplätscher und Zwielicht hineinführte. Aber im Nordosten, auf der anderen Seite der Untiefe, war der Himmel immer noch heller. Die Nacht auf dem Meere machte nur langsam ihr großes Augenlid zu und senkte es zur Hälfte unter den Rand einer unbeweglichen Wolkenbank; dann schlug sie das Auge wieder auf, zuerst vom Schlaf gerötet, dann heller und wacher, bis die Sonne wie eine spähende Pupille aufging und die Dinge der Erde musterte. Um diese Zeit und in dieser Gegend der Welt wurden nun die Dinge der Erde von Vögeln auf dem Morgenstrich besorgt und von einem schlaftrunkenen Gesicht hinter einem Gewehrkolben. – »Jetzt kann die erste Schar kommen«, sagte der Ausdruck seines Gesichts – und auf den Absätzen der anderen Schären ging's ungefähr ebenso zu. Bald fing auch das altmodische rauchstarke Schwarzpulver an, hier und da zu knallen: Rrom – bom – bom –! Über den Scheiteln der Granitfelsen stieg der Rauch auf, als nähmen sie der Reihe nach eine weiße Nachtmütze ab und sagten Guten Morgen! Die Rauchwölkchen spiegelten sich eine Weile im Wasser und vergingen dann in der blinkenden Windstille. Aber eine größere Beute gab es an diesem Morgen nicht. Es war zu windstill; die Vögel hatten keine Lust, aufzufliegen und sich am Strande weiter landein zu begeben. Wie ein Band von Schaumblumen lagen die Eidervögel auf dem Wasser und blinkten weit draußen in dem schwebenden, schmelzenden, blauen Dunst; nicht einmal ein Bombardement aus einem weittreffenden Kugelgewehr von einer der Felsenkuppen her vermochte ihre Ruhe zu stören und sie zum Auffliegen zu veranlassen.
Valfrid konnte nur zweimal sein Rohr über die aus aufgestapelten Steinen bestehende Brustwehr des Schießstandes richten und mit dem Kahn hinausfahren, einen Säger und zwei gelbäugige Trauerenten zu bergen. Am Abend zuvor, als es ein wenig wehte, hatte er zwei Eiderenten geschossen; aber jetzt bei der Windstille lag er unbedingt zu weit drinnen zwischen den Schären hier auf dem Albeerholm, der seinen Namen von den vielen schwarzen Albeerbüschen bekommen hatte, die es in holder Eintracht mit Sanddorngestrüpp und Heckenrosen bewirkten, daß der runde Holm im Hochsommer einer schwimmenden Schüssel voll Grünzeug glich, das weit über die Ränder hinaushing. Aber was war zu tun? Hier bei Askvik konnte er sitzen, solange er wollte, und den Mund nach Vögeln spitzen, die nicht kamen, jawohl. Draußen auf den Absätzen der Berge bei Lekatten und Mößgrunden hätte er sein müssen, wo das halbe Dorf nach Herzenslust knallte. Aber einer vom Tveholm konnte da nicht am hellen Tag und mit der Büchse in der Hand seine Nase hineinstecken. Zum Teufel, was war dies für ein Elend! Im Norden Ankarö, diese Schlangengrube, und im Süden … ja, daheim war wohl der Norweger und machte Visite, oder wie man sagte, äh … Morgen war ja Pfingsten, und da, versteht sich …
Wütend schlug er mit einem Bein aus, wie er so dalag, daß der Steinkranz wackelte und die oberste Reihe um den Stiefelschaft herum niederfiel.
Dann ertönten die Schüsse dort drüben doch seltener; es waren wohl nur in seiner verbitterten Einbildung gar so viele gewesen. Der Vormittag, die schlechteste Zeit des Tages, war beinah halb vorbei, und man ging allmählich heim, denn von Abendjagd konnte am Vorabend des Festes doch keine Rede sein. Ein ganzer Schwarm von Booten tauchte aus den Spalten zwischen den Klippen auf und verbreitete sich nach allen Seiten, einige mit Motorgeknatter, die meisten aber rudernd, ohne Segel zu setzen. Zuvorderst von allen, die hierher steuerten, kam eine leichte Schiffsgig; das war der Pfarrer selbst, und sein Knecht ruderte ihn.
Pfarrer Rosius war jetzt nicht mehr besonders blutdürstig, wenn er es überhaupt je gewesen war; aber ein paarmal im Jahr fuhr er bei schönem Wetter doch hinaus, um einige Vögel zu erlegen. Daß er sich nach Askvik rudern ließ, kam daher, daß er hier von alters eine Sommerkate besaß, die eine kleine Strecke von dem Stranddörfchen entfernt bei der Einfahrt von Hasselöra lag. In jüngeren Tagen hatte er viele denkwürdige Stunden an dieser Stelle erlebt, hatte Verheerung unter den Birkhühnern im Laubwald angerichtet und ebenso unter den Enten und Hechten im Röhricht des Landsees. In späteren Jahren indes hatte die Kate verfallen dürfen, wie sie wollte, und sie würde wohl bald ein richtiges Eulennest sein; aber vielleicht lohnte es sich doch, einmal im Vorbeifahren nachzusehen.
Jetzt im Augenblick waren die Gedanken des Pfarrers freilich ganz wo anders, als er wuchtig wie ein Feldstein in dem breiten Heck der Gig saß. Er dachte darüber nach, wie er mit dem morgigen Pfingsttext eine kleine Betrachtung verbinden könnte, die ihm dieser gesegnete Morgen eingegeben hatte. Grade bei Sonnenaufgang hatte er, mit einem erlegten Eiderenterich in der Hand, mitten im Meer auf einer Klippe gestanden. Davon mußte er zuerst reden. Dann wollte er einen Blick auf die großen Städte werfen, wo die Menschen mit Verzweiflung in der Brust kämpften, einerlei, ob sie sich froh oder unglücklich nannten. Die weisesten unter ihnen sprachen von der Not zwischen den Maschinen, nämlich davon, wie das Menschenwerk über sie selbst hinausgewachsen sei zu einem wahren Berg von Angst, und wie taub und grausam der Himmel sich allem Geschaffenen gegenüber verhalte. Aber vielleicht mißverstanden diese verirrten Grübler der Neuzeit den ganzen Zustand, wenn sie weit weg von der Natur ihre Klagelieder anstimmten. Sie müßten einmal bei Sonnenaufgang hier draußen stehen mit einem erlegten Eidervogel in der Hand und die schneeweißen Daunen des Halses streicheln, die von den ersten Strahlen der Morgensonne und einem noch warmen Blutstropfen gerötet waren! Sie müßten das Hochzeitskleid des Eidervogels betrachten, dieses frohe Kunstwerk der Natur, sie müßten an seine heißen Liebesspiele im lenzblauen Meere denken. Vielleicht begriffen sie dann, daß das Leben in all seiner Grausamkeit auch ein Fest ist … Beim Himmel, ja, das mußte morgen mit in die Schriftauslegung, mochten diese Bauernstoffel sagen, was sie wollten!
Brausend, mit einer richtigen kleinen Schaumwelle vor dem Steven, kam die Gig dicht am Albeerholm vorbei; der Knecht war ein Daus beim Rudern. Als sich Valle in seinem Schießstand aufrichtete und die Mütze zog, erhob der Pfarrer zur Antwort freundlich drohend die Faust:
»Heda, mein Junge, in die Kirche mit dir am Pfingstfest, sonst gibt's Prügel!«
Und den dunstigen Spiegel der See in tausend knisternde Scherben zersprengend, platschte die Gig weiter dem Lande zu, während der Pfarrer mit seinem früher so mächtigen Baß, der aber jetzt etwas blechern klang wie ein verbeultes Waldhorn, anstimmte: »Der Lenz ist eingezogen mit Lust und Blütenpracht …«
Kurz darauf nahm Valfrid die Lockvögel auf und ruderte desselben Weges. Er wollte zu seiner Großmutter in Askvik; das war für ihn jetzt der beste Ort, und dort gedachte er über Nacht zu bleiben. Er überlegte nur, wo er sich nun die Feiertagskleider für den morgigen Kirchenbesuch borgen könnte. Ja, in die Kirche mußte er auf jeden Fall.
Nachdem sie eine kräftige Vogelsuppe genossen hatten, saß Valle an jenem Abend noch lange in eifrigem Gespräch mit der Großmutter. Alles in der schmucken kleinen Hütte erinnerte an ihren vor vierzig Jahren umgekommenen Mann: der kajütenartige Flur mit seinen farbigen Bullaugen; in der Stube das von einem Rettungsring umrahmte Bild seines Fahrzeugs auf dem Ehrenplatz über der Kommode, auf deren Spitzendecke eine große Flasche lag mit einem kunstvoll hineinpraktizierten Vollschiff darin, die von der Decke niederhängende Steuerbordlaterne, die gelegentlich als Lampe Dienst tun mußte. Valfrid stellte der Großmutter wieder einmal das Ansinnen, sie müsse auf den Tveholm übersiedeln; allein auf diesem Ohr wollte die Alte nicht hören. Hier sei sie geboren, und hier gedenke sie auch die Augen zu schließen, die Gicht habe weiter nichts zu sagen, und die Nachbarinnen schauten sicherlich herein, falls eine richtige Krankheit kommen und sie umwerfen sollte. Valfrid merkte aber sehr wohl, daß die Großmutter unablässig suchte, das Gespräch auf einen bestimmten Punkt hinzulenken, vorsichtig und jedesmal mit einem gleichgültigen Gähnen. Aber er war auf der Hut und scheuchte die Frage zurück. Wie die Großmutter so vor dem Herd auf ihrem Schemel saß und er auf der Bettkante, war es, als werde ein verschlossenes Bündel mit geheimnisvollem Inhalt zwischen ihnen hin und her geschoben, ein Bündel, das einen unangenehmen Geruch verbreitete – »Sag du, was drin ist!« – »Nein, sag du's!« Keines von ihnen wollte den Verschluß öffnen. Schließlich verlor die alte Frau die Geduld, und mit einem noch gewaltigeren Gähnen – Hohojajaa! – brach sie das Siegel: »Ja, du hast doch etwas von dem Norweger gesagt, oder wie …«
Valle machte einen schiefen Kopf. Er hatte kein Wort über diese Sache laut werden lassen.
»Also nicht? Und ich hab' doch bestimmt geglaubt … Ich meine den da, über den so viel gemunkelt wird. Was ist denn das für ein Mensch, und ist vielleicht zwischen ihm und deiner Mutter was los?«
Valle schwieg. Aber die Augen der Großmutter blinkten rund wie Schuhknöpfe mitten in einem neuen Gähnen. »Ich sag dir, das ist bei der Dirn ein Erbstück. Dein Großvater war ein richtiger Türk, Gott segne ihn! Mädchen in jedem Hafen und immerfort Spektakel, ja Spektakel … O ja, die Jugend jagt so eifrig dem Leben nach, daß schließlich gar kein richtiges Leben daraus wird. Und zwar nur, weil sie es so eilig hat, so …«
»Aber das kann doch meiner Mutter niemand nachsagen«, wendete Valle ruhig ein. »Hat sie es vielleicht eilig gehabt, zu leben?«
»Nein, aber jetzt hat sie es! Jung, Jung, du weißt nicht, wie es mit uns Menschen bestellt ist! Die Lebensgeister in uns sind meiner Seel wie Kaninchen in einem Käfig. Schließt sie ein, so viel du kannst, mit Drahtnetzen und was du willst. Wenn du ihnen nur grade so viel Futter gibst, daß sie am Leben bleiben – und das tut man – so jungen sie rein von selbst, leider! Und eines schönen Tages hat sich die ganze Gesellschaft unter dem Käfig durchgegraben und treibt frei ihr Unwesen.« Sie sann eine Weile nach. »Du kannst übrigens recht haben. Elfrida hat ihre eigene Art gehabt. Wenn Feuer in einer Kammer ausbricht, gibt es Leute, die Tür und Fenster fest verschließen und abwarten, ob es nicht von selbst erlischt. Und das kann glücken, Valle. Kommt aber nur durch irgendeine Ritze ein Lufthauch dazu – ja, dann steht bald das ganze Haus in hellen Flammen. Und gerade das ist jetzt wohl auf dem Tveholm geschehen. Ich ahne das Schlimmste, Junge … Jetzt aber jedenfalls Gute Nacht und Dank für die Vögel, liebes Kind. Das Bett ist in der Kammer für dich gerichtet. Aber nimm dich vor dem Feuer in acht! … Ja, ich meine nur, wenn du heut abend noch rauchen willst.«
Valfrid ging noch einmal an den Strand hinunter, um seine Jagdausrüstung aus dem Boot heraufzutragen, das an dem gemeinsamen Landungsplatz des Fischerdorfes lag. Und hier entdeckte er etwas.
Auf den unebenen Planken des Landungsstegs blieb er stehen, im Halblicht abwechselnd blinzelnd und die Augen weit aufsperrend. Dann kletterte er hinunter in das Boot, nahm sein Fernrohr zur Hand, kauerte sich nieder und stützte das Rohr auf die Kniescheiben.
Dort drüben unter der »Morgengabe« lag ein Netzboot, unten geteert und die oberste Kante grün wie bei so vielen anderen, aber die Relingslinie in hellstem Weiß gestrichen. Dies Boot kannte er …
Die Großmutter war noch nicht eingeschlafen, als sie aus dem Dunkel der Flurtür eine Stimme vernahm:
»Ich glaub', ich geh' doch lieber heim.«
»So so, ja ja«, sagte die alte Frau und setzte sich im Bett auf.
»Ja. Ich hab meinen Sonntagsanzug vergessen. Und ich muß morgen in die Kirche.«
»Jetzt lügst du, Junge!« rief die Großmutter.
Valfrid war aber schon verschwunden.
Südlich von der »Morgengabe« lag ein Netzboot, der Setzbord moosgrün und die Reling in hellstem Weiß. Irgendeine hafenähnliche Öffnung zum Hineinkriechen fand sich nirgends an der kugelrunden Schäre, die nur nach Osten ein langes Riff ausstreckte, Kalven genannt, das ungefähr wie ein umgekehrter Kochtopf mit allzu kurzem Stiel aussah. Deshalb hatte sich das Boot einen guten Büchsenschuß vom Strand entfernt vor Anker gelegt. Zwischen dem Mast und dem Heck war es in ein Zelt verwandelt, von der Art, wie es sich besonders anspruchsvolle Leute leisten, statt einfach unter dem ausgebreiteten Segel zu schlafen. Der aufgedirkte und mit dem Ruder in einer kräftigen Holzgabel ruhende Großbaum diente als Dachfirst. Darüber war ein Zelttuch gespannt, dessen mit Steinen beschwerte Taschen über den Bootrand baumelten. Kein Mensch ließ sich sehen, man war unter dem Zelt bereits zur Ruhe gegangen. Nur die breite Lunge des Meeres atmete in einer kaum merkbaren Dünung, die sich langsam in gleichen Abständen hob und senkte. Dann blinkte es auf, und es kam ein klein wenig Bewegung in das weiße Tuch, als würde es von den Atemzügen der Schlafenden da drinnen gehoben.
Zu diesem friedsamen Fahrzeug glitt ganz sachte über die Wasserfläche hin eine Jolle. Niedrig und klein kroch sie in vielen Windungen ihres Wegs, sich immer so gewandt drehend, daß sie stets durch Holme oder Sandbänke gedeckt war. Erst suchte sie Schutz hinter dem Albeerholm, dann hinter Koflytta, Måshällarna, Lekatten; hier hielt Valfrid dann eine Weile Ausschau – kein lebendes Wesen schien drüben an Bord zu sein.
Vor Ankarö mußte er sich am meisten versteckt halten, da wurde oft von der Lotsenwohnung oder von dem Leuchtturm her Ausschau gehalten. Na ja, auf dieser Seite hatte er besseren Schutz, aber auch hier konnte er keine Bewegung wahrnehmen. Der Leuchtturm war übrigens jetzt während der hellsten Wochen gelöscht, darum hielt sich vielleicht niemand im Turm auf.
Nun ging es in nördlicher Richtung weiter, während das bucklige und langgestreckte Töckenland das Herannahen des Kahns verbarg, dann etwas südlich Sälpallen zu, bis die Jolle sich vorsichtig zu den Senkrücken der Mößgrund genannten Sandbank hinschlingerte. Auf einem von diesen kroch Valfrid an Land. Von hier aus war eine offene Strecke bis zur »Morgengabe«, ungefähr eine Seemeile weit, allein noch war die dunkelste Stunde der Nacht nicht gekommen, und so blieb ihm nichts übrig, als zu warten. Er sah auf die Uhr; es war bald Mitternacht, aber in dieser Gegend war es erst gegen ein Uhr am dämmerigsten, das hatte er oft bemerkt. Er streckte sich wie in Schießstellung hinter einer der vielen von den Wogen blankgeschliffenen Steinplatten aus und hielt das Fernrohr ans Auge. Aha, man ließ sich also doch noch herab, mit einem gewöhnlichen Netzboot von Ankarö abzusegeln! Und man legte grade am Vorabend des Pfingstfestes ein Strömlingsnetz aus – ja, bei dieser Bande gab es wirklich keinen Anstand mehr. Allerdings konnte er ihre Netzzeichen auf dem Wasser nirgends entdecken; aber vielleicht war die Entfernung zu groß, oder sie hatten die Netze irgendwo weiter draußen ausgelegt. Einer Seehundjagd konnte es jedenfalls nicht gelten, so dumm waren sie doch nicht, daß sie sich offen hinlegten und nahe bei einer Bake ein Zelt aufschlugen, das die Seehunde verscheuchen mußte. Und Schüsse an einem Festtag würden doch gehört werden. Übrigens wollte er sich gar nicht wegen irgendeiner Jagd oder eines Fanges mit ihnen auseinandersetzen! Allein wie sollte er nachher vorgehen, wenn die Sache überhaupt glückte? Er schielte einmal nach seiner Büchse, wilde Pläne jagten durch seinen Kopf. Ach, war er denn verrückt? Ins Zuchthaus wollte er doch nicht …
Jetzt war es allmählich so dunkel, wie es in einer hellen Mainacht überhaupt möglich ist. Er riß ein paar Fetzen von seinem Hemd ab und wickelte sie um die Dollen. Und dann glitt er über die bleiche Seefläche in weitem Bogen nach Norden, tauchte lautlos das Riemenblatt ein und spähte ununterbrochen aus.
Auf der entgegengesetzten Seite der »Morgengabe« kletterte er an Land, hob sein Boot aus dem Wasser und schob es, ohne daß es scheuerte, zwischen zwei Ufersteine hinein. Nichts deutete darauf hin, daß er entdeckt werden konnte, nur der Leuchtturm dort auf Ankarö starrte ihn an, dumm und blind, ohne Feuerschein.
Valle zog die Stiefel aus und schlich auf bloßen Strümpfen hinauf zu der Bake auf dem Gipfel der Schäre. Ihre hohen stummen Holzwände hier an der Nordseite lockten ihn wie ein flimmernder Widerschein der längst untergegangenen Sonne. Jetzt war kein Schneetreiben um die Bake, o nein! Je näher er kam, um so deutlicher fühlte er sich zum Rächer seines Geschlechtes berufen, zu einem Werkzeug in der strafenden Hand der Gerechtigkeit. Er fühlte, daß er vor Eifer bebte. Aber wie sollte es geschehen?
Ganz nah bei der Bake hockte er in einer sandigen Vertiefung nieder. Hier von der Höhe sah er das Netzboot zwei Steinwürfe entfernt liegen; dort unten schaukelte es sacht wie vorher. Wer schlief unter dem weißen Zelttuch? Sicherlich der Leuchtturmwächter, die dicke Kehrichttonne! Vielleicht hatte er seinen verlobten Sprößling bei sich! Oder wenn es der Junker und Tuva wären … Er überlegte einen Augenblick. Diese Sache berührte ihn nicht, das konnte er beschwören, aber was stand in der Schrift: »… einer, der die Sünden der Väter heimsucht …« Und in demselben Augenblick wußte er auch, wie er die Sache angreifen mußte. Nicht gewaltsam, nur arglistig, wie der Gottseibeiuns selbst.
Einen Augenblick fühlte er sich genarrt von dieser Art der Wiedervergeltung. Er hatte sie sich so ganz anders gedacht. Wie, wußte er nicht, aber härter, auf irgendeine Weise großartiger. Mann gegen Mann hätte es sein müssen; und nun war die einzige Möglichkeit etwas, was wie ein heimlicher Schurkenstreich aussah.
Still, aber sicher würde das Wasser in dem schwer belasteten Boote steigen, bis es auf dem Boden über dem Strohsack stand und dem Leuchtturmwächter die Kehrseite naß machte … oder vielleicht das Liebeslager zwei heißer Verlobten abkühlte. Schlaftrunken würden sie sich in der Nässe aufsetzen und sich fragen, was denn los sei. Aber zu spät, meine Herrschaften, zu spät, um aus all dem umherschwimmenden Plunder die Pumpe auszugraben! Das Wasser steigt weiter ohne sichtbare Ursache, und die einzige Rettung wäre, die Ankerleine zu schlippen, die Riemen zu packen und das Wrack um das teuere Leben an Land zu rudern. Es würde voll sein und sinken, bevor der Strand erreicht war; aber man würde sich wohl schlecht und recht dennoch auf die Schäre retten. Und dann Notsignale mit einem Hemd, und dann Rettungsmannschaft im Motorboot, und niemand würde ahnen, wie alles zusammenhing. Oder wenn sie es ahnten, um so besser, denn bewiesen werden konnte nichts. Aber, du lieber Himmel, wie würden Bredby und Askvik lachen! Ein Boot, das von selber sinkt, mit einem schnarchenden Leuchtturmwächter an Bord … Der hochmütige Kerl würde zum Gelächter der ganzen Gegend werden.
Valfrids Augen funkelten schon im voraus diesen Luftschlössern entgegen.
Von hier aus war es am rätlichsten – er verlegte sich aufs Kriechen. Auf den Ellbogen schlängelte er sich zwischen Heidekraut und Wacholderbüschen vorwärts, langsam, und ständig lauschend. In einem Gebüsch kroch er gerade auf ein Eidervogelnest zu, und einen Meter vor ihm flatterte das Weibchen laut schreiend in die Höhe und übergoß ihre graugrünen Eier mit der glasigen und übelriechenden Schutzflüssigkeit, deren widerwärtiger Gestank ihm in die Nase stieg. Er drückte sich platt in das Gebüsch – war man an Bord aufgewacht? Nein, das Zelt wehte sacht, ebenso friedlich wie vorher.
Also weiter. Noch vorsichtiger kroch er den Hügel hinunter in einer schützenden tiefen Spalte, die er bis an den Rand des Wassers verfolgte, wo die Dünung leise in der offenen Felsmündung gurgelte. Noch einen Augenblick überlegte er. Dann entledigte er sich seiner Kleider und glitt in das maikalte Wasser. Zwischen den Zähnen hielt er sein Klappmesser mit dem großen Bohrpfriemen.
Das Herz schlug ihm wie ein Schmiedehammer gegen die Rippen und trieb das erhitzte Blut durch die Adern; er fühlte die Kälte nicht. Nach einigen lautlosen Schwimmzügen war er beim Boot angelangt. Mit der linken Hand ergriff er vorsichtig das Heck unter der Wasserlinie – es rührte sich nichts. Über seinem Kopf erhob sich das sacht wehende Zelt. Wer schlief da drinnen? Er legte das Ohr an die bauchigen Bretter und horchte. Nichts war zu hören, kein Atemzug von Schlafenden, kein Stiefelabsatz, der sich bewegte. Hätte nicht der Leuchtturmwächter laut schnarchen müssen? Aber es gluckste bei Valles Ohr unter dem Boden des Bootes, und das Herz in seiner Brust vollführte einen solchen Lärm, daß man hätte meinen können, es müsse drüben in Schweden zu hören sein. Vielleicht waren es nur die zwei, die müde nach dem Schäferstündchen allein lagen und Arm in Arm wie Steine schliefen, sein Spitzkopf in ihrem braunen Haargewirr … Äh, pfui Teufel! – dort hinter den dünnen Brettern, kaum eine Armlänge von ihm entfernt … Aber sie würden bald abgekühlt werden, so gewiß, wie er jetzt hier war!
Er tastete mit der linken Hand unter dem Heck herum. Ja, hier, ein Stück unter dem Wasser, saß der schräg in den Eichenstamm eingeschlagene Bodenkork – jetzt hatte er den Daumen darauf. Mit der rechten Hand steckte er den Marlpfriemen hinein und drehte ihn rund herum, tiefer und immer tiefer. Leckte es schon? Nein, der Kork in dem Stevenloch war lang und zäh. Er bohrte tiefer und immer tiefer und zog dann den Pfriemen mit einem Ruck heraus. Nun fühlte er ein zitterndes Saugen unter den Fingerspitzen; das Wasser rieselte durch das Loch ins Boot. Noch ein wenig, damit das Loch sich nicht verstopfen konnte. So, jetzt war von dem zerfetzten Korken nicht mehr viel da, und dieses wenige würde bald durch den Wasserdruck weggespült werden. Ade, und Glück an Bord!
Einige Minuten später saß Valfrid in der Jolle, und die lange Heimfahrt begann. Zuerst nahm er den Kurs ins Meer hinaus, durch die hohe »Morgengabe« vor Blicken vom Netzboot und von Ankarö her gedeckt, bis er annahm, daß hier gegen Südwesten die Dämmerung ihn verbarg. Da wendete er den Steven in spitzem Winkel heimwärts und ruderte, was er konnte.
Ob das Boot dort drüben schon tiefer lag, konnte er nicht sehen, aber er hörte wenigstens keinen Lärm von dort her, wenn er horchte. Es war nicht heller geworden, im Gegenteil. Der Himmel bewölkte sich, weiter droben schien Wind zu wehen, wenn er auch noch nicht bis herunter gedrungen war, und unter der Jolle erhob sich eine südliche Dünung, die zunehmenden Seegang andeutete. Des Rollens wegen konnte er sein lichtstarkes Fernrohr nicht benützen, es war nur auf einer festen Unterlage brauchbar. Na ja, wenn nicht früher, so sah er doch jedenfalls am nächsten Morgen, was sich in der Nacht zugetragen hatte.
Jetzt jagten einige Windstöße daher, fielen gleichsam herunter und legten sich wie dunkle Tuchfetzen auf die wogende Wasserfläche. Im Nordosten, wo die Sonne aufgehen sollte, glühte es durch eine kohlschwarze Wolkenbank hindurch wie von ungenügend gelöschter Asche bei Zugluft. Und im Süden waren lange zerrissene Wolkenstreifen am Himmel aufgestiegen. Die Dünung unter der Jolle wurde immer stärker; er mußte aus allen Kräften gegen die Wellen steuern, wenn er heimkommen wollte, ehe es allzu schlimm wurde. Alles deutete auf ein herannahendes Unwetter, wenn es auch nicht nach Regen aussah. Der Himmel und die Dünung verkündeten Sturm aus Süden.
Das freute ihn über die Maßen. Wenn von dieser Seite schwere See kam, dann würde das Ankaröboot, das südlich von der »Morgengabe« in niederem Wasser lag, an den Strandklippen zerschellen. Und vielleicht war es dann für die Rettungsmannschaft gar nicht leicht, auf der Schäre zu landen und die Schiffbrüchigen zu holen.
Nun mußte die Vorsehung die Höhe der Strafe abmessen – er hatte das Seine getan.
Janne setzte sich, mager wie ein Notjahr, in seiner Schlafbank auf und streckte einen von Pfingsten und vom Branntwein schweren zerzausten Kopf in die Höhe. Zum Henker, wie das blies! Oder kam das ganze Unwesen von der andern Seite der Stube, wo des Bussars alte Kehle im Schlaf wie ein zersprungenes Orgelwerk krächzte? Nein, die Wände bebten ja von den Windstößen.
Er legte sich wieder nieder und kreuzte die Arme bequem auf der Brust. Laß es wehen, so viel es will!
In einer Hinsicht war es hier auf dem Tveholm besser geworden als früher. Mit dem Gepimpel und Gejammer war Schluß, man durfte den Bussar einladen, man durfte am Vorabend eines Festes trinken, so viel man wollte, und brauchte kein Wort darüber zu hören, wie sich feine Leute benehmen. Ja, Dank sei dir gesagt, Norweger, solange du mir nicht an die Ehre tastest, und das hast du beim Satan bis jetzt nicht getan! Eigentlich bist du eine prima Zugabe. Heut nacht hatten wir es richtig herrlich miteinander, wir zwei Alten und du. Elfrida dort hinten in der Kammer und du dort unten in Valles Kate, also keine Gefahr … Aber jetzt stürmt es ja verteufelt …
In diesem Augenblick springt die Flurtür auf, und Valle stürzt herein. Was, in Gottes Namen, ist mit dem Jungen los?
»Vater, wir müssen hinaus und bergen!« schreit er.
»Wo denn?« fragt Janne gemächlich. Er ist langsamer mit Worten als mit Gedanken und bleibt unter seiner gewürfelten Decke gleichgültig liegen.
»Auf der ›Morgengabe‹! Aber sofort! Lebensgefahr!«
»Hoho, von dieser verfluchten Schäre wird niemand weggespült! Dort soll ja auch allerlei in der Bake vorrätig sein – jetzt, jawohl. Nein, Jung, auf der ›Morgengabe‹ hab' ich nichts verloren.«
»Aber es ist nicht auf der Schäre selbst, sondern im Osten auf dem Kalven! Wir müssen, Vater, eil dich!«
Valle stampft mit beiden Füßen auf den Boden. Was, in Gottes Namen, ist denn mit dem Jungen los?
Unter der halbgeöffneten Kammertür steht Elfrida schlotternd im bloßen Nachthemd, blaß vor Schrecken. Sogar der Bussar ist von dem Lärm aufgewacht. Wie zwei borstige braune geteerte Trossenenden hängen seine Beine über die Bettkante herunter, als er sich aufsetzt. Ein mörderlicher Anfall von Morgenhusten hindert ihn, sofort einzugreifen. Erst als der Husten vorüber ist, glotzt er den aufgeregten Jungen mit weit aufgerissenen Augen an und öffnet den Mund:
»Hä-hähähuihuuii! … toff-poff …«
Dieses Gelächter macht Valle nur noch verrückter als zuvor. Janne aber fragt:
»Ist es ein Vollschiff?«
»Nein, nein … aber schnell, schnell!«
»Wieviel Menschen?«
»Einer, glaube ich. Aber es können mehr gewesen sein.«
»Was, nur einer? Um den Kerl kann sich Ankarö annehmen, in ihrem eigenen Gewässer. Weißt du gewiß, Valle, daß es nicht einer von ihnen selbst ist?«
Valfrid gibt keine Antwort, sondern fuchtelt nur mit einem Arm in der Luft herum.
»Dann fahr' ich allein!« schreit er und läuft nach der Tür.
»Gott im Himmel, er wird ertrinken!« jammert Elfrida. Sie hat einen Mantel umgenommen und stürzt ihm nach.
»Ja, wir müssen wohl nachsehen, was eigentlich los ist«, sagt Janne.
Er fährt in seine hohen Wasserstiefel, zieht einen Lederrock an und eilt hinaus. Das sonderbare Benehmen des Jungen hat ihn mit einer trüben Ahnung erfüllt, es könnte wirklich nicht alles in Ordnung sein, und er müßte es am Ende bereuen, wenn er nicht sofort in See ginge.
Der alte Bussar zögert ein wenig. Nach seiner Gewohnheit hat er sich vollständig angekleidet zu Bett gelegt, diesmal in seinem dünnen und fadenscheinigen Sonntagsanzug. Irgendeinen wasserdichten Rock holt er sich nicht aus dem Kämmerchen im Flur, denn er hat noch niemals zugegeben, daß ihn je einmal frieren könnte. Zur Winterszeit und im Frühjahr beim Fischfang im Eis, – wenn andere sich in Pelze hüllen, weigert er sich hartnäckig, etwas anderes anzuziehen als seine unveränderliche Jahresmontur, bestehend aus einem wergleinenen Hemd, einem Rock und Barchenthosen. Man trinkt Seewasser, damit hält man sich frisch, toff, poff … Da kam es allerdings öfters vor, daß er in ein gefährliches Zittern geriet, das seine lange Gestalt in einen verfilzten Knäuel von Armen und Beinen verwandelte; aber frieren, nein, ihn fror nicht – bei all den liebestollen Mädchen in der Türkei, nein, ihn fror kein bißchen! Und nachdem er eine Weile gezittert und mit den Zähnen geklappert hatte, wurde ihm so warm von diesem nützlichen Sport, daß ihm die Schweißperlen im Gesicht standen – da seht ihr, Kinder, wer will behaupten, daß es den Bussar friere?
Aber jetzt, anstatt noch etwas anzuziehen, stöbert er im Wandschrank die letzte halbgeleerte Branntweinflasche auf, und in dem Gedanken, was ihm alles bevorstehen könnte, gießt er den ganzen Inhalt in sich hinein. Denn eigentlich fürchtet sich der alte Bussar vor der See. Nicht auf dem Deck eines richtigen Fahrzeuges, da niemals, aber in Booten, wo man das Wasser zwei Schuh weit vor der Nase hat. Wie ein durchtriebener böser Geist sitzt ihm der Schrecken noch in seiner innersten Herzkammer seit jenem Tag vor bald einem Menschenalter im ersten Jahr seiner Ehe, wo er gestrandet war und – pfui Teufel! – mit einem Tau um den Leib wie ein Strömling quer durch die Sturzseen und in Glads Boot hineingezogen und so gerettet worden war. Ein ganz junger Dachs war der Glad damals gewesen, er, der es dann bis zum Netzkönig gebracht hatte und im letzten Jahr gestorben war. Damals hatte er grade erst zwei Taschen in den Hosen, aber trotzdem rettete er des Bussars Frau noch dazu – ob zwar zu irgend jemandes Freude, das haben sich viele gefragt … Kurzum, die See war die unglückliche Liebe des alten Bussar, sie zog ihn an, sie behexte ihn, und er fand, wie er sich ausdrückte, das Klima hier an Land drinnen in dem allen Winden preisgegebenen Küstenort ungesund. Und trotzdem fürchtete er sich vor jedem schlimmeren Wetter auf See, obgleich er seine Angst niemals zeigte. Im Gegenteil, in den gefährlichsten Augenblicken an Bord riß er unweigerlich stets den Mund auf und schrie wie ein Papagei: »Morgen, Jungens, jetzt fahren wir fein!« – damit stärkte er sich selbst und andere. Nur wer ihn am besten kannte, wußte, daß sein übriger Sprechmechanismus dann verstummt war, und daß er so steif wurde wie ein getrockneter Fisch, beim Manövrieren nicht helfen konnte und nur als toter Ballast dasaß und Unsinn schwatzte. Zu denen, die ihn längst durchschaut hatten, gehörte selbstverständlich Janne.
Gluck – gluck – gluck – jetzt ist die Flasche leer! Der alte Bussar setzt die Mütze und zappelt sich ab, um durch den Wind an den Nordstrand zu gelangen. Dort unten in Lee merkt er, daß Leute hinter dem großen viereckigen Steinsarg liegen und durchs Fernrohr schauen. Weiter draußen ist die See eine einzige brausende Hölle.
»Siehst du etwas?« fragt er Janne.
Dieser aber schüttelt nur ärgerlich den Kopf. Seine Augen sind zu alt geworden. Und weshalb hat Valle sein eigenes Fernrohr weggeschmuggelt, das schärfer ist als dieses verrauchte Ofenrohr?
Der Bussar selbst macht gar keinen Versuch. Der Norweger ist auch da, Elfridas Mantel flattert ihm um die Wange, wenn er sich niederlegt und das Auge an das Fernrohr drückt.
»Ich glaub' … hol' mich der und jener, ist das nicht ein …«
Der Rest geht im Sturmgebraus über den Bussar weg, er hörte nur Janne sagen:
»Im Gegenteil, ich mein', ich hab' Augen im Kopf – verstehst du vielleicht kein Schwedisch?«
Durch das Heulen des Sturmes hindurch dringt wie ein Büchsenschuß das Knarren von Holz und das Klatschen eines Segels. Valle hat ein Großboot aus dem Schuppen geholt, darin den Mast aufgestellt und in Lee von der Wand ein ganz gerefftes Segel gehißt. Sie hasten zum Landungssteg, und Janne ergreift die Fangleine des Bootes.
»Stopp. Ich fahr' nirgends hin, und du auch nicht!«
»Dann fahr' ich mit Verlaub«, erklärt der Norweger gelassen und schreitet den Steg entlang.
Janne dreht sich um und mustert zuerst ihn und dann Elfrida. Ihr eines Auge ist voll Verzweiflung, ihr anderes voll jubelnden Stolzes. Er wird wütend. Hätte sie noch ein drittes Auge, so wäre es sicherlich voller Hohn und Verachtung für ihn, ihren angetrauten Mann. Das sieht er jetzt. Und im gleichen Augenblick plumpst etwas Schweres ins Boot hinunter. Das ist der wasserscheue Bussar, der ohne ein Wort, aber mit dem Aussehen eines Schlachtopfers seinen ihm von Rechts wegen zukommenden Platz einnimmt.
Oho, meinte vielleicht einer, der Tveholm-Janne sei feig? Meinte einer, es gebe unter den Jungen und Alten einen, der mutiger wäre als er? Er springt ins Boot.
»Alles klar?« fragt er Valle mit vor Wut zitternder Stimme. »Leinen – wieviel? Wenigstens dreißig Faden müssen es sein. Netzschwimmer sind da, seh ich. Hast du Sandbeutel und geteerte Leinen dazu? Aber eine Persenning zum Schleppen … Rasch, hol eine!«
»'rein ins Boot!« brüllt er dem Norweger zu, der einen Augenblick verschwunden ist. »Jetzt bin ich Kapitän, und du fährst mit! Eingestiegen!« Und mit der Ruderpinne unter dem Arm kommandiert er: »Loswerfen!«
Bei stürmischem Mitwind und dichtgerefftem Großsegel geht es zur Bucht hinaus. Aber nach dem Landungssteg sieht sich Janne nicht um. Von dort aus wird gewinkt. – Ja, winkt nur! Ich bin Kapitän an Bord, und alle Völker der Erde sind nur Ballast, und wenn auch Senegalesen an Bord kämen …
Die See ist eine einzige Schaumwehe, einen Augenblick grünlichweiß, den nächsten glitzernd von Sonne. Die Wolken jagen am Himmel wie langhalsige Gespenstervögel, die im Dahinsausen heulen. Je weiter sie ins offene Wasser hinauskommen, desto stärker wird der Schwall unter dem Kiel, und desto wütender zerren die Böen an dem kleinen Lappen von Segel. Der Schaum wird von den Wogenkämmen weggefegt; die spritzen von hinten ins Boot und treffen auch das Segel, die Sturzseen ringeln sich wie schaumbedeckte Schlangen damit um die Wette und sausen weiter. Janne hat eine Persenning als Schlepp ausgebracht, um die Achterseen, die hereinzustürzen drohen, niederzuhalten, und es war wahrlich nicht zu früh gewesen.
»Hurra!« schreit der Bussar. »Ein verdammt seetüchtiges Boot hast du!«
Aber weiter sagt er nichts mehr.
Bei diesem pfeifenden Mitwind ist der Weg zur »Morgengabe« nur ein Katzensprung im Vergleich zu dem, was er in der vergangenen Nacht gewesen war, als Valfrid gegen die Strömung rudern mußte; aber er kommt ihm unendlich lang vor. Er windet sich auf der Bank beim Segel, nahe daran, vor verzweifelt bösem Gewissen in Krämpfe zu verfallen. Die von hinten heranrollenden Wogen, der ächzende Mast und die wie Geigensaiten gespannten Stage, die Sturzseen, die hereinschlagen und ihm den Nacken peitschen – alles das ist für ihn gar nicht vorhanden. Zwei Gefühle pressen ihm die Brust zusammen, Angst und fressende Scham. Was um Himmels willen hat er angestellt? Hätte er ahnen können … Aber das Fernrohr log nicht, es hatte gesagt, was es gesagt hatte. Ein und dasselbe Gesicht sieht er immerfort vor sich: ein hilfloses junges Mädchen, das sich gegen die wild daherstürzende Brandung am Felsen festklammert. Wahrlich, das war weit entfernt von dem, was er erwartet hatte! Nicht eine Notzeichen gebende Gesellschaft, die sich auf die »Morgengabe« gerettet hatte und von ihm aus gerne da sitzen bleiben und sich fragen durfte, warum das Boot gesunken und zerschellt sei. Nein, nicht das, sondern Tuva allein auf dem Kalven, in Lebensgefahr! Kein Leuchtturmwächter dabei, nicht einmal der Junker. Oder waren die vielleicht ertrunken? Wir müssen beizeiten hinkommen, wir müssen!
Und dann noch ein anderes Gesicht. Ach, pfui Teufel, wenn er nur über die Reling speien könnte! Als er, gerade bevor sie loswarfen, in den Schuppen lief, um die Persenning zu holen … Hinter der Tür seine Mutter mit dem Norweger; sie hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen und sich an seinem Mund festgesaugt wie eine Ertrinkende, ja, sie ließ nicht einmal los, obgleich ihr eigener Sohn vorbeilief. Nun war also auch diese Sache am Tage …
Das Netzboot ächzt weiter, langsamer, wenn es die schäumenden Kämme hinaufgeht, wo die langen Wogen sich nach einem Ausbruch gleichsam bedenken, ehe sie einen neuen Sprung machen und ihren Spielball mit verdoppelter Wut in die nächste Wogenschaukel hineintreiben. Es zerrt an dem kleinen gerefften Segellappen, allein der ist aus prima heimgewebtem Tuch und hält viel aus. Janne sitzt ganz still und hält die Ruderpinne unter den rechten Arm gepreßt; er muß darauf achten, daß bei einer Bö der Großbaum nicht nach der anderen Seite übergeht, denn dann ist es aus mit Takelung und Segeln. Aber wie soll man auf die Leeseite kommen bei dieser Sackerments-Pfingstfahrt? Im Steven der Bussar, dieser Nichtsnutz, hier neben ihm der Norweger, der … Weiß der Teufel, was dieser Judas vorhatte … und dann Valle, sein herrlicher Junge; aber dieser Junge war heute ganz verrückt. Und Janne blinzelt ärgerlich nach der »Morgengabe« hin, die in dem hohen Seegang mit der tanzenden Bake obendrauf immer näher taumelt.
Seine Augen ziehen sich plötzlich zu zwei stechenden gelben Raubtierschlitzen zusammen. Nicht er allein sieht es, auch die andern strecken den Hals. Hinter den rollenden Wogen taucht von Zeit zu Zeit ein manövrierendes Motorboot auf, ein Lotsenkutter mit zwei Mann an Bord. Die Ankaröer! – Er kennt das Gelichter, den Stark und seinen Neffen. Und dort auf dem Kalven liegt sie und klammert sich an einen Felsblock, so oft die Brandung über sie hinstürzt … Wie ist sie dorthin gekommen? Aber mag Ankarö für sich selbst sorgen. Er ist in eine Falle gegangen, das da ist Schwindel und Betrug …
»Klar zum Wenden!« brüllt Janne und preßt die Ruderpinne nach Backbord. Aber schon fällt Valfrid über ihn her. Zum Henker, was ist der Junge stark!
»Laß das Teufelsbalg versaufen! Oder sie sollen sie selbst retten!«
Valle hält Jannes Arme wie in einem Schraubstock fest und die Ruderpinne gerade. Und der Norweger ruft in seinem halben Schwedisch:
»Schweinehund, es ist doch ein Mensch! Ein Weib!«
Sogar der Bussar im Steven hat etwas zu sagen. Er hat kaum die Kraft, den Mund zu öffnen, aber er nickt und preßt hervor: »Nein, Janne, nicht so! Wir sind feine Leute. Als ich in der Türkei war …«
Durch den sprühenden Schaum starrt Janne in Valfrids Augen, die er dicht vor sich hat. Beinah Wahnsinn liegt in dem Blick, der ihn trifft; er sieht, daß der Junge zu allem bereit ist. Plötzlich wird ihm angst, denn er begreift nichts davon. Zum erstenmal in seinem Leben beugt er sich einer Übermacht; er fühlt, daß er keine Wahl mehr hat, wenn sich nicht noch Schlimmeres ereignen soll.
»Dann steuer' ich also hin!« knurrt er durch die Zähne. »Aber weg da!«
Valle löst den harten Griff, mit dem er seinen Stiefvater gepackt hat. Als er vorhin das Motorboot mit dem Leuchtturmwächter und dem Junker entdeckt hatte, da schrie in seinem Innern etwas wie Befreiung laut auf. Sonderbar … Er gönnte den beiden alles Böse, hätte ihnen gegönnt, wie Ungeheuer zu ersaufen – nur nicht grade jetzt. Es war schon genug Entsetzliches da. Aber der Tveholm mußte Tuva retten, so mußte es sein. Er fühlt sich unmäßig stark, bereit zu jeglichem Wagnis, wenn er nur ungeschehen machen kann, was er getan hat.
Brausend fährt das Netzboot auf sein Ziel los. Der Leuchtturmwächter und der Junker sind verschwunden, sicherlich versuchen sie, an der Leeseite der »Morgengabe« zu landen und von dort eine Leine zum Kalven hinüberzuwerfen. Aber das geht nicht, heute gibt es keine Leeseite auf der runden Schäre; wie in einem Teufelskessel wogt und kocht es überall, rund herum. Dort im Norden ist die Brandung noch höher, denn da ist flacheres Wasser, so daß sie sich von beiden Seiten her auftürmt.
Als sie nach dem Kalven hinkommen, ist das Lotsenboot vor ihnen. Die Ankaröer fuchteln mit den Armen und rufen ihnen etwas zu; aber es ist nicht zu verstehen. Der Leuchtturmwächter sitzt am Steuer und bedient die Maschine, der Neffe wirft einmal ums andere ein großes Korkstück mit einer geteerten Leine und zieht es verzweifelt wieder ein. Denn es kommt nicht weit genug, die zurückschlagende See saugt es wieder mit sich hinaus. Dort drüben liegt Tuva und klammert sich an einen Felsblock; sie ist so durchnäßt, daß die zerrissenen Kleider an ihrem Körper kleben, und um ihre Beine schäumt das Wasser. Nach jeder Sturzsee rennt sie, ehe die nächste kommt, bis zur Steinkante vor, um die Rettungsleine zu erhaschen. Aber sie reicht nicht bis zu ihr hin, läuft zurück und klammert sich wieder an den Felsblock. Eine kleine Strecke von ihr entfernt tanzt ein Haufe von Trümmern in der schlimmsten Brandung hin und her; aus den Splittern ragt ein wippender Mast auf, der den Takt schlägt zu den Hebungen der See. Das sind Reste eines Bootes.
Der Lotsenkutter von Ankarö wird im Fahrwasser hin und hergeworfen, wo die Wellen von der Gegenströmung getroffen werden und sich hoch aufbäumen. Ach, die dort haben scheint's nicht so viel Grütze im Kopf, noch einige Klafter näher zu fahren, die Dummköpfe!
In einem sausenden Bogen fährt Janne an ihnen vorbei bis dicht zum Kalven hin und luvt auf. Es knallt wie eine Gewehrsalve in dem Segeltuch. Eine Welle schlägt über die Reling herein und gurgelt auf den Boden des Bootes nieder. Aber jetzt haben wir wenigstens gewendet, wenn wir auch noch ein wenig mehr Ballast eingenommen haben.
»Fock hissen!« ruft er. »Wir kreuzen!«
Im Augenblick hat Valle den kleinen Klüver gesetzt, und in der nächsten Sekunde wirft er einen Korkschwimmer an einer Leine aus. Aber es geht ihm nicht besser als dem Junker, obwohl er näher heran ist. Tuva rennt zwischen zwei Wellen herzu, wird von einer dritten überschüttet und beinahe mitgerissen. Aber bis zu dem Kork kann sie nicht gelangen. Valle versucht es mit einem Sandbeutel, schleudert ihn einmal ums andere hinaus, daß ihm fast die Arme brechen – einige Klafter vom Strand entfernt klatscht er nieder! Der Abstand ist noch zu groß, und näher hin getraut sich Janne nicht; da kämen sie in die Brandung und wären verloren.
Einige Zeit vergeht mit diesen nutzlosen Rettungsversuchen von beiden Booten. Die See wird immer schlimmer und es sieht aus, als sei Tuva am Ende ihrer Kraft. Sie läuft nicht mehr nach dem Kork oder dem Sandsack, sondern bleibt bei ihrem Felsblock und wird vor Kälte und Ermattung immer steifer.
Da bemerkt Valle etwas. Der Junker im Lotsenboot zieht die Stiefel und den Lederrock aus. Oho, das darf nicht sein, er muß ihm zuvorkommen! Im Nu ist er aus den schwersten Kleidern heraus und bindet sich die leichte Wurfleine um den Leib.
»Junge, was, um Gotteswillen!« schreit Janne. Allein schon springt Valfrid über Bord.
»Du kannst mich ja immer wieder einholen, Vater!«
Wie gelähmt sitzt Janne in dem stampfenden Netzboot und sieht zu, wie die Leine über die Reling abläuft. In seinem einfachen Kopf dreht sich alles im Kreis, so etwas hätte er sich niemals träumen lassen. Der Junge verschwindet einmal unter dem Wasser, taucht wie ein Rasender schwimmend wieder auf und wird von einer langen Woge nach dem Kalven hingetrieben, aber sofort wieder mit hinausgezogen, als sie zurückrollt. Die nächste Brandung aber spült ihn hinauf bis zu den Klippen; plötzlich hat er Boden unter den Füßen und kriecht auf allen Vieren durch den sprudelnden Schaum, bis er sich an demselben Felsblock festhält wie Tuva. Da knüpft er die Leine um sie und das Ende um sich selbst. Er faßt sie unter den Armen, um im richtigen Augenblick mit ihr abzuspringen. Nun gilt es für die im Boot, sie einzuholen. Der Norweger faßt schon zu.
Aber im gleichen Augenblick geschieht etwas. Die Reefbändsel in dem gerefften Großsegel reißen eins nach dem andern, als schneide sie der Sturm mit einer Schere durch, das Segel schwillt zu einem Sack an und zerplatzt mit einem Knall. An Bord entsteht Aufregung. Aus ist's mit Kreuzen und Steuern, die einzige Rettung ist, nach dem Riemen zu greifen, den Steven zu wenden und mit dem kleinen Notklüver und dem Wind von achtern um die wilde Brandung herum an die Ostseite des Kalvens zu segeln.
»Hurra, das geht fein!« schreit der Bussar grade in dem Augenblick, wo es am ungewissesten ist, ob es gelingt, um die äußerste Spitze des Riffs herumzukommen, oder ob man dagegenschmettern und ertrinken wird.
Janne manövriert nicht gut, es ist reine Gnade von den Wellen, daß es trotzdem gelingt. Seine Augen sind voll Angst; es ist nicht die Angst vor dem, was er vor Augen sieht, sondern vor dem, was sie hinter sich gelassen haben. Er sieht immer nur rückwärts und steht beinah auf. Jetzt ist auch Valfrid auf dem Kalven geblieben!
Währenddessen hat niemand im Boot darauf achtgegeben, daß die ganze Leine abgerollt und über Bord gegangen ist. Aber Valle holt sie ein, dreißig Faden, während er sich mit der linken Hand am gleichen Felsblock festklammert wie Tuva. Er löst die Wurfleine um ihren Körper nicht, macht nur sich selbst frei und nimmt noch einen doppelten Schlag um einen spitzen Stein – jetzt wird sie wenigstens nicht weggespült. Dann beginnt er sich mit dem anderen Ende der Trosse auf der schaumbedeckten Unterwasserbrücke zur »Morgengabe« hinüberzuarbeiten. Ein paarmal verliert er den Boden unter den Füßen und fällt in einer über ihn herwogenden Sturzsee hin; aber sofort steht er wieder auf, faßt von neuem festen Fuß, gerät jedoch abermals ins Unsichere und stößt so hart gegen die Klippen, daß er fast das Bewußtsein verliert, bis er schließlich doch mit der Leine in der Hand den Uferrand erreicht.
»Komm!« winkt er mit dem Leinenende in der Hand. »Ich zieh dich herüber!«
Tuva löst die Leine von dem Stein und macht sich, stolpernd und sich an den wellenüberspülten Klippen fast wundstoßend, auf den Weg. Aber die Leine ist fest um ihren Leib gebunden, und Valle zieht sie zu sich her wie einen gefangenen großen Fisch. Von den Brechern umgeworfen, beinah ertrunken, kommt sie an Land und hinauf zwischen das Riedgras am Ufer, wohin die Wellen nicht mehr gelangen. Er wirft sich über sie, kappt die einschneidende Leine und wälzt sie auf den Bauch, damit ihr das Wasser aus dem Munde laufe.
»Ich bin's, Tuva, ich! Siehst du es nicht?«
Sie stützt sich auf den Ellbogen und hustet einige kalte Wasserschlucke aus der Lunge. Dann taumelt sie den Hügel hinauf, von seinem Arm umklammert, der sich hart um ihre Brust unter der festgeklebten Bluse legt. Aber er merkt das nicht. Er weiß nur, daß er sie gerettet hat, jetzt ist alles wunderbar groß und neu.
Rasch fort zu der Bake, dort soll wieder Leben in sie kommen!
Auf dem Fußboden, neben der Feuerstelle aus Backsteinen, steht ein ganzer Stapel von getrocknetem, feingespaltenem Treibholz, und in der Kiste mit dem Blechdeckel sind Zündhölzer. In wenigen Augenblicken hat er ein Feuer gemacht, so groß er es zu machen wagt in der zwar weiträumigen, aber sturmumbrausten Bake, wo die Funken an die Holzwände fliegen. Tuva liegt auf der Luvseite des Feuers in ihren triefenden und zerrissenen Kleidern; aber allmählich kommt immer mehr Leben in ihre braunen Augen, bis sie sie wieder schließt und ganz leise murmelt:
»Ich dank dir, Valfrid.«
Und sie schläft ein, rasch, wie man ein Licht ausbläst. Ihre Worte schneiden ihm ins Herz wie ein aus Reue und bösem Gewissen geschmiedetes Messer, obgleich die Wunde auch vor Seligkeit blutet.
Nachdem Janne um den Kalven herumgekommen ist und gesehen hat, daß es Valfrid gelang, sich selbst und das Mädchen zu retten, bleibt ihm keine andere Wahl, als mit dem kleinen Lappen von Klüver südwärts zu halten. Wohin sollte er sich jetzt wenden? Auf dieser Seite gab es nur einen einzigen Hafen: Ankarö. Und gleich darauf fuhr, sie in dem wilden Seegang beinahe streifend, das Lotsenboot an ihnen vorbei; die zwei an Bord fuchtelten mit den Armen und deuteten einladend auf ihre Heimstätte. Mit einem Herzen voll von Flüchen fügte sich Janne in das Unvermeidliche.
Der Leuchtturmwächter hatte vor der »Morgengabe« gezögert, bis er sah, daß die Bake auf der Leeseite durch die dünnen Wände rauchte wie eine Badstube. Da erkannte er, daß die Gefahr vorüber war. Wenn nur der Sturm nicht lange anhielt … Auf jeden Fall war jetzt nichts anderes zu machen, als heimwärts zu steuern.
Als das Boot vom Tveholm mit zerrissenem Segel und zur Hälfte voll Wasser in den Hafen von Ankarö einfuhr, kam ihm der Leuchtturmwächter mit einem silbernen Pokal in der einen Hand und einer Flasche in der andern auf der Landungsbrücke entgegen. Er begrüßte die Insassen als Ehrenmänner und Helden. Der alte Bussar erlag sofort der Versuchung, und im nächsten Augenblick kam wieder Leben in seinen eingeschlafenen Körper. Auch der Norweger stieg bereitwillig an Land, aß und trank dem Pfingstfest zu Ehren mit allen Mannsleuten auf der Insel, kletterte auch im Leuchtturm auf und ab unter fleißigem Umherschauen und herzlicher Zwiesprache. Wie der Bussar auch, ging er am Abend rein wie ein Fürst in der Lotsenwohnung zu Bett.
Aber wer allen Vorstellungen zum Trotz nicht an Land ging, das war Janne. Er pumpte das Boot aus, als wäre es seine eigene Wut, die er mit dem weißen Gischt, den die Holzrinne über die Reling spuckte, aus sich herausleere. Dann blieb er während der zwei vollen Tage, die der Aufenthalt auf Ankarö dauerte, halsstarrig an Bord, schlief in seinen triefenden Kleidern unter der Fock und fastete trotz der vielen ihm angebotenen leckeren Gerichte. Das einzige, was er annahm, waren ein halber Laib Brot und einige Scheiben geräucherter Speck, und selbst diese Kost aß er nur widerwillig. Und als der Leuchtturmwächter dann noch zum fünftenmal zu ihm herunter kam und etwas verlegen sagte: »Hier hast du meine Hand! Und du weißt, daß es jetzt keine Wassergrenzen mehr gibt zwischen dir und mir«, da antwortete er trocken: »Ich hoffe, ich hab' künftig in deinem Wasser nichts mehr verloren!«
Erst am dritten Tag, als der Sturm nachließ und der Norweger droben in der Lotsenwohnung das Großsegel notdürftig zusammengeflickt hatte, konnte das Boot der Tveholmer loswerfen und unter zeitweise starken Böen heimsegeln. Jetzt war auch Valle an Bord, ebenso stumm wie die drei anderen. Nicht einmal der Bussar fand es angezeigt, den Mund aufzutun; ernüchtert und beschämt wie ein geprügelter Hund saß er vorn im Boot und grübelte über die menschliche Unzulänglichkeit nach, die einen dahinbringen kann, seinen besten Freund zu verkaufen, wenn auch nicht um dreißig Silberlinge, so doch um einen randvollen Becher. Ob Janne wohl furchtbar wütend auf ihn war? Dann mußte er den Kameraden eben besänftigen, und alles würde wieder gut werden; es geschah ja nicht zum erstenmal …
Alle vier schauten einander mit fragendem Unbehagen an; es war eine ungewöhnlich verdrossene Heimfahrt. Das Anerbieten, sich von Starks Motorboot schleppen zu lassen, hatte Janne glatt abgeschlagen.
Auf der »Morgengabe« aber hatte sich allerlei begeben.
Er steht neben ihr und sieht sie an, die ausgestreckt auf dem Bretterboden ganz nahe bei dem Ziegelherd mit dem lodernden Feuer liegt. In ihrer Ermattung schläft sie so ruhig, als hätte er sie auf Eiderdaunen gebettet. Kein Schimmer von Unruhe zeigt sich in den kindlichen Zügen, die umgeben sind von einem Wirrwarr gekräuselter nasser Haare. Das weckt seltsame Erinnerungen, die er längst begraben gewähnt hat! Ihre durchnäßten Kleider dampfen in der Hitze. Und sofort erscheint vor ihm wie in einer leichten Glorie ein halberwachsenes Mädchen, von jenem Dunst umgeben, der im Netzboot an dem Morgen um sie stand, wo er sie am Handspill gepeinigt hatte. Und wenn er in die Glut starrt, die in der fensterlosen, dämmerigen Bake ihren flackernden Schein auf Tuvas Gesicht wirft – sofort erinnert er sich an den Tanz um das Johannisfeuer auf dem Hof von Storgrinda in jener Nacht, wo alles für ihn zerbrochen war und er gemeint hatte, sie würden in diesem Leben niemals mehr etwas gemeinsam haben. Und nun liegt sie hier, und ich stehe neben ihr, und um uns her ist nichts als ein brüllendes Meer! Und das ereignet sich gerade auf der »Morgengabe«! Herrgott im Himmel, wie sonderbar ist das Leben! …
Aber wie anders ist jetzt alles als damals! Zuerst hätte er sie aus Irrtum beinah ertränkt. Warum? Dann hatte er sie gerettet. Warum? Er weiß es selbst nicht, alle seine Gefühle und Gedanken sind wie von einer Axt in zwei Hälften gespalten. Er begreift nur, daß es dieselbe Macht ist, die den Stiel der Axt beim Zuschlagen festgehalten hat, obgleich die eine Hälfte sehr rachgierig war, die andere etwas weich und … ja Gott weiß, was.
Könnte es vielleicht sein, daß …? Er merkt, daß seine Blicke unablässig von einer an ihrer linken Seite offenstehenden Stelle ihres Kleides angezogen werden. Da sind Bluse und Hemd zerrissen, und aus dem Riß quillt ihre eine Brust hervor. Langsam hebt und senkt sie sich, zart und feingeädert wie die schönen Quallen, die er in irgendeiner kleinen Bucht, den Kopf dicht über dem Wasserspiegel, so oft betrachtet hat; geradeso pflegt die blumenähnliche Qualle zu atmen und sich in dem sanften Wellengang zu bewegen, schillernd wie hellrote Seide gegen das grüne Meergras darunter. Tuva hatte eine grüne Bluse an … Und ein kleiner blasser Riß zog sich über die feine Haut hin; ein einziger Blutstropfen war herausgesickert und heruntergerollt, rot wie eine Vogelbeere im Schnee. Sicherlich hatte sie sich an einem spitzen Stein geritzt.
Unaufhörlich fühlt er seine Blicke zu diesem Punkt hingezogen, so sehr er sich auch müht, wegzusehen. Könnte es sein, daß …? Aber nein, hier ist von so etwas gar keine Rede!
Etwas hastig kniet er neben ihr nieder und deckt die verführerische Stelle mit einem Zipfel ihrer Jacke zu. Von der Berührung wacht sie auf. Zuerst irren ihre Blicke verständnislos in dem verräucherten Schlund des Turmes umher, der sich ächzend und die brummenden Stahlstage draußen anspannend in den Windstößen biegt. Dann kommt etwas wie Erinnerung in ihren Blick, und ohne den Kopf zu drehen, kehrt sie ihm die Augen zu und lächelt.
»Sag, Tuva, sag … wie um Himmels willen bist du hierher gekommen?«
»Das weißt du wohl, du hast mich doch gerettet.«
»Aber hierher? Allein im Boot?«
»Ich wollte Pfingsten ein wenig allein feiern. Es war nicht zum erstenmal.«
»Ach so …«
Sie erhebt ihre Stimme, um in all dem Lärm vom Strand und von der stöhnenden Bake her verstanden zu werden. »Beim schönsten Wetter hab' ich hier draußen vor der ›Morgengabe‹ im Boot unter dem Zelt geschlafen. Dann hat es angefangen zu wehen, aber ich schlief zu fest. Erst lange nach Tagesanbruch wache ich davon auf, daß ich in der Nässe liege, das Boot ist leck und beinahe ganz voll Wasser. Kannst du begreifen, wie das zugegangen ist?«
»Nein«, antwortet Valle und sieht zur Seite.
»Und es war ein Hundewetter. Ich kappe die Ankerleine und fasse die Riemen; aber es war, als ginge es einen Berg hinauf, ich kam nicht vom Fleck. Die Strömung trieb mich auf den Kalven zu, da ließ ich das Boot stranden und kletterte zu den Felsblöcken hinauf. Du hast ja gesehen, wie es mir dort ging.«
»Gewiß, Tuva.«
»Aber wie konntest du wissen, daß du kommen mußtest? Mein Vater und mein Vetter wußten ja, wo ich war. Aber du? Wie konntest du mich vom Tveholm aus sehen?«
»Ich weiß nicht recht. Es war wohl … ich glaube, da war jemand, der … Wir haben ein gutes Fernglas.«
»Ach so! Sonderbar war es aber doch.«
»Ja, sonderbar war es …«
Einige Augenblicke herrscht unheimliche Stille. Valle meint, selbst der Sturm draußen halte den Atem an. Ahnt Tuva etwas? Er starrt hartnäckig auf seine zerfetzten Strümpfe hinunter und merkt, daß er in einer ganzen Wasserpfütze herumtritt, die aus seinen Kleidern getropft ist. Etwas Blut ist auch darin von irgendeiner Wunde an seinen Füßen. Dann sagt er: »Du hast wohl gesehen, daß dein Bräutigam auch ins Wasser springen wollte?«
»Meinst du den Junker? Der ist nicht mein Bräutigam und wird es nie werden.«
»Ach so. Ich glaubte …«
»Das glauben viele, aber es ist nicht wahr.«
»Aber du hättest ebensogut von ihm gerettet werden können.«
»Das ist durchaus nicht sicher, Valle.«
Nein, er kann es nicht mehr aushalten, hier zu bleiben und immer verwirrter zu werden von all dem, was er zu hören bekommt. Und etwas Vernünftiges mußte er doch tun. Tuva ist ebenso triefend naß wie er selbst und sicherlich noch viel hungriger.
Er schürt das Feuer, daß es höher flammt.
»Kannst du dich aufsetzen, Tuva?«
Ja, das kann sie, und sie kann sogar noch mehr. Sie stellt sich auf die Beine, wohl etwas schwankend, aber ohne daß er nötig hätte, sie zu stützen.
»Dann ziehst du jetzt deine nassen Kleider aus, wringst sie tüchtig und trocknest sie dicht beim Feuer. Hier ist eine Stange, an der du sie aufhängen kannst. Aber wärm dich selbst auch gehörig. Ich geh so lange hinaus auf Eiersuche. In der Kiste ist nur Salz und schimmliges Brot. Mach die Tür von innen fest. Du brauchst keine Angst zu haben, ich komme nicht eher, als bis du aufmachst.«
»Und du guckst auch nicht durch eine Ritze?« scherzt Tuva und streckt eine kleine Zungenspitze heraus. Plötzlich fühlt sie sich von dem Abenteuer und der komischen Lage ganz aufgemuntert.
»Du kannst ganz ruhig sein«, antwortet er beinah unwirsch.
»Aber du bist ja selbst ebenso naß.«
»Ach was!« bricht er ab und macht die Tür mit beiden Händen auf, damit kein Windstoß sie ihm aus der Hand und aus den Angeln reißen kann.
In Lee der Bake entkleidet er sich schlotternd, wringt die sehr mitgenommenen Kleidungsstücke, Wams, Flanellhemd und Hosen, kräftig aus, versucht, sich die Haut mit einer Handvoll Sand warm zu reiben, und zieht die Lumpen wieder an.
Wie sonderbar! … Wollte allein ein wenig Pfingsten feiern … Nicht mein Bräutigam und wird es auch nie werden …
In dem starken Wind, der Heidekraut und Wacholderbüsche zu einem gefrierenden, dicht anliegenden Fell über dem Boden zusammenfegt, kann man kaum aufrecht gehen. Dort unten am Vogelsumpf stehen die Erlen wie gespannte Bogen; so oft der Sturm für eine Sekunde nachläßt, richten sie sich mit einem Ruck auf – piuuu – als schössen sie unsichtbare Pfeile auf ihren Bedrücker ab. Alles umher liegt unter einem ebenso wechselnden Licht wie die Bilder im Buch der Offenbarung; es flammt hier auf und wird dort finster, Himmel und Hölle durcheinander. An der Sonne, die bald zu einem rußigen Teller geschwärzt erscheint, bald strahlend wieder durchbricht, kann man sehen, daß es jetzt ungefähr Mittag ist.
Zuerst plündert er das Eiderentennest, an das er sich von seinem nächtlichen Kriechen her erinnert. Die Ente fliegt heute nicht auf; erst als er ihr beinah über den Rücken streicht, wackelt sie im Zickzack in die Büsche hinein, vergißt aber nicht, vorher ihre Eier mit ihrem stinkenden Firnis zu überschütten. Er nimmt sie alle, hier gelten die gewöhnlichen Gesetze nicht mehr. Am Vogelsumpf plündert er einige Nester der Braunente und der Reiherente, und droben auf den Felsenspitzen, wo er vor der Gewalt des Sturmes beinahe kriechen muß, macht er, einen schreienden und verzweifelt flatternden Schwarm von Flügeln über sich, einen guten Fang von Möweneiern. Unter einer Felskuppe niederhockend, prüft er die Eßbarkeit seiner Beute in einem mit Wasser gefüllten Loch. Mehr als die Hälfte der Eier sinken unter – frisch also. Die schon länger gelegten läßt er schwimmen, wo sie sind; ja, er kann sogar die verschmähen, die sich dazwischen halten, mit der Spitze gerade an der Oberfläche. Jetzt will er noch zu den Alken, deren Eier die besten Leckerbissen sind. Er weiß, daß sie sich drüben auf der Nordseite in der tiefen und langen Felsspalte aufhalten. Dort hinunter reicht man nicht mit den Armen, aber das gewöhnliche Werkzeug, das andere Eiersucher liegen gelassen haben, wird vorhanden sein, nämlich eine lange Stange mit zwei rechtwinklig eingeschlagenen Nägeln an dem einen Ende. Seine ganze übrige Beute muß er aus dem Hemd abladen, ehe er sich auf den Bauch legt und anfängt, den dunklen Spalt zu untersuchen, der, wie mit einem Riesenmesser eingeschnitten, quer über die Felswand läuft. Tief unten auf dem Grunde laufen vier Alkhühner ängstlich hin und her; jetzt entdeckt er – sie gleichen kleinen hellen Rollsteinen – die getüpfelten Eier, zwei auf jedem kleinen Absatz, und fischt sie mit der Stange zu sich herauf.
Um die Mitte rund wie eine Tonne, setzt er sich vor der Tür nieder und wartet; aber er schlottert so, daß das ganze Mittagmahl in Gefahr ist, zu zerbrechen. Was tut Tuva jetzt? Sicherlich sitzt sie nackt am Feuer, und ihr zarter Körper ist heiß und duftet nach Rauch.
Aber in diesem Augenblick macht sie die Tür halb auf und läßt ihn ein. Sie ist vollständig angezogen und hat auch die schlimmsten Risse in ihren Kleidern auf irgendeine schlaue Weise ausgebessert, vielleicht mit einem Stückchen Draht als Nadel und einem Endchen Bindfaden, das sie gefunden hat. Als sie den Wulst um seinen Leib bemerkt, bricht sie in ein helles Gelächter aus, und er denkt, das hätte sie sich für einen weniger ernsten Tag aufsparen können.
»Du siehst ja aus wie eine Leghenne! Und ich hab' auf dich gewartet und gewartet, denn ich wußte nicht, daß du draußen warst. Du hättest klopfen sollen. Aber nun ist die Reihe an dir. Ich geh' hinaus, bis du trocken bist.«
»Unnötig! Hier ist es ja so warm, daß die Kleider dampfen. Jetzt essen wir Mittag.«
Er lädt die Eier in einem Haufen auf dem Fußboden ab. Nach wenigen Minuten kochen sie in einem rostigen eisernen Topf, den er in einer Ecke der Bake gefunden und mit Wasser gefüllt hat.
Tuva lehnt an der Leiter, die zur Dachluke hinaufführt, und schaut ins Feuer. Ihre Augen glänzen immer heller.
»Erinnerst du dich noch«, beginnt sie zögernd, »erinnerst du dich noch an den Tanz ums Johannisfeuer, wo ich meine Kleider naß gemacht hatte, damit sie nicht versengt wurden? Jetzt sind wir beide gleich naß …« Sie streckt ihm plötzlich die Hände entgegen: »Komm, wir tanzen ums Feuer!«
Ist das Mädchen nicht bei Trost? Tanzen! … Erinnert sie sich denn gar nicht mehr daran, was einst hier in dieser Bake geschehen ist? Oder hat ihr das noch kein Mensch erzählt?
»Nein«, erwidert er schroff. »Ich hab' Schmerzen im Fuß. Und wir wollen jetzt essen.«
Enttäuscht beugt sich Tuva über die blechbeschlagene Kiste und sucht Salz daraus hervor, während er das siedende Wasser abgießt. Sie setzen sich jedes auf eine Seite des Kochtopfes und des Salzfasses und essen die kräftigen Seevogeleier. Ihre Zähne kauen hungrig das bläuliche, etwas gummizähe Weiß und das rötliche Gelb, und vor ihnen sammelt sich ein Haufe von ungleich gefärbten Schalen an. Die Alkeneier verschlingen sie mit besonderer Begier und hören nicht auf zu essen, bis der Topf leer ist.
»Auf Eieressen verstehst du dich nicht schlecht, Tuva!« nickt Valle und gähnt übersatt. »Na ja, meinetwegen darf es jetzt noch einen ganzen Tag stürmen.«
Valfrid nickt in der Wärme einmal ein, und die Lider werden ihm schwer wie Kupfermünzen. Wann hat er denn zuletzt geschlafen? Ja, und seitdem hat sich allerlei ereignet.
Aber ist dies nicht ein fremder Laut, der jetzt aus dem Sturmgeheul herausgurgelt? Motorgeknatter!
Hastig eilt er hinaus.
An der Luvseite erblickt er den Lotsenkutter mit Tuvas Vater, dem Junker und einem dritten Mann an Bord, wohl einem der Angestellten des Leuchtturms. Die See geht noch höher als heute morgen; kein Gedanke daran, zu landen. Er macht ihnen einmal ums andere Zeichen, daß alles wohl stehe, und deutet zur Bake hinauf, wo sich Tuva unter der Tür zeigt und heftig tausend Grüße winkt. Können sie etwas unterscheiden, während sie da in dem spritzenden Schaum tanzen? Kecke Burschen jedenfalls, heut' schon zum zweitenmal draußen. Aber es gilt auch nicht dem nächsten besten. Und jetzt erkennt er, worum es sich handelt. Aus dem Boot wird ein großer wasserdichter Öltuchsack mit Korkschwimmern rings herum gehoben, sicherlich sind Filzdecken und derartiges darin. Aber er wird zurückgesaugt, tanzt noch in der Brandung und reitet dann rund um die Schäre herum. Jetzt wird noch ein glänzendes Ding herausgeschoben, und damit geht es besser. Eine Sturzsee schleudert es auf den Strand. Valfrid ist schon da und schnappt es weg, bevor die nächste schäumende Woge bei der Hand ist. Es ist eine Blechdose mit verlötetem Verschluß, ein Riesending von der Art, wie sie mit Zuckerwaren gefüllt in den Läden auf den Borten stehen.
Noch ehe er die Verlötung mit seinem Messer aufgebrochen hat, ist der Lotsenkutter wieder heimwärts verschwunden. Die Blechdose ist so vollgepfropft mit Eßwaren, wie überhaupt angeht, damit noch Luft drin bleibt und sie schwimmen kann. Zu oberst liegt ein Papierzettel, und die linke Hand schützend darum haltend, liest er im Sturmwind:
»Geliebte Tuva, nimm dich vor dem Werwolf in acht! Ich verlasse mich auf dich. Heiße Küsse!«
Die Handschrift kennt er nicht, aber es ist ja klar, daß es die des Junkers, des Bräutigams ist. Heiße Küsse … Wer sonst dürfte so schreiben?
Valles Stimmung schlägt plötzlich wieder auf dieselbe Seite um wie gestern, als er seine Freveltat ausführte. Der Plan war ja nicht genau so ausgefallen, wie er von ihm erdacht war; aber dann hatte er sich nachher doch viel zu große Gewissensbisse gemacht. Der Henker kann sich gar zu leicht in den Beschützer verwandeln. Unnötig, unnötig … Alle Weibsleute lügen, lügen schamlos und verschlagen, das weiß er jetzt. Die Mutter lügt, Tuva lügt, sie lügen alle, alle! Wie Hündinnen müßten sie behandelt werden, mehr sind sie nicht wert. Heiße Küsse …
Droben in der Bake reicht er ihr die Dose mit den Worten: »Bitte, da hast du dein gewohntes Nachtessen!«
Sie nimmt den Deckel ab, ergreift den Zettel und liest ihn, über das Feuer gebeugt. Eine Blutwelle steigt ihr bis in die Ohren und die Nasenspitze, während sie den Zettel zusammenballt und in den Flammen verschwinden läßt. Sie sieht sehr unangenehm berührt aus, das zu bemerken kann er nicht umhin, und er wird wieder ein wenig weicher. Aber zu einem Gespräch kommt es heute nicht mehr, es fallen nur noch einzelne Worte.
Dann wird es Abend. Valle hat noch mehr Treibholz hereingetragen und neben der Feuerstelle ein Lager aus Heidekraut und vorjährigem Riedheu bereitet. Zweige des neuausgeschlagenen Erlengebüsches wagt er nicht zu verwenden, darin könnten schon Zecken sitzen.
»Jetzt gehst du in die Koje!« befiehlt er und häuft dicke Klötze aufs Feuer.
Sie bohren sich eine gute Armlänge voneinander entfernt in das stechende Reisig hinein und decken sich mit Büscheln von Riedheu zu. Aber in den dünnen und noch feuchten Kleidern ist das keine beneidenswerte Schlummerstätte; zu der lockeren Reisigunterlage bläst es aus den Spalten im Fußboden und durch die nächste Wand kalt herein, nur die dem Feuer zugewendete Seite ist übermäßig heiß.
»Gut Nacht!« sagt er trocken.
»Gut Nacht, Valle!«
»Aber vergiß nicht, dir was zu wünschen!« fügt er scherzend hinzu. »Heut' ist ja Pfingstnacht, und da soll man Glück haben.«
Er sieht im Feuerschein, daß ihre Augenspiegel feucht und dunkel werden; aber sie blinzelt nicht, und ihr Gesicht bleibt ruhig, es ist nur, wie wenn zwei dunkle Waldquellen leicht überlaufen. Und sie antwortet tonlos:
»Ich hab' nichts zu wünschen. Du denkst wohl, ich bekomme alles, was ich haben will. Aber was ich am allermeisten haben möchte, darauf muß ich verzichten.«
»Ach, das ist ja traurig. Na, gut Nacht!« Er will nicht unnötigerweise weiche Gefühle über sich Herr werden lassen. Aber es hilft nichts, seine Neugier ist geweckt, und nach einer Weile fragt er wieder: »Du willst doch nicht behaupten, daß du mit deinem Spitzkopf von Junker unzufrieden bist?«
»Er hat mir niemals etwas zu leid getan. Der Fehler ist nur der, daß ich ihn nicht mag.«
»Ha, sein Brief lautet ein wenig anders. Heiße Küsse … Und was er über mich schrieb, war ja fein! – Werwolf!«
»Was ihm an mich zu schreiben einfällt, dafür kann ich nichts. Und warum hast du es gelesen?«
»Beim Satan, konnte ich denn wissen, daß der Papierfetzen ein Liebesbrief war! Na, was hast du dann gegen ihn?«
»Er ist schuld, daß ich es daheim nicht mehr aushalten kann. Immer bewacht er mich wie ein Hofhund.«
»Und dein Vater hilft noch zu diesem Liebeshandel, und er zwingt dich wohl?«
»Oh, da kennst du meinen Vater schlecht! Er zwingt mich nie zu etwas, sondern will nur mein Bestes. Aber, siehst du … Manchmal überkommt mich eine unwiderstehliche Lust, auf und davon zu gehen und ein wenig allein zu sein. Das hab' ich nun gestern getan, und dann ist es so gegangen.«
Natürlich lügt Tuva, wenigstens zum Teil. Oh, sie soll sich nur nicht einbilden, ihm was vormachen zu können! Er weiß, was er weiß. Die Weiber haben glatte Zungen, sind aber falsch wie die Katzen; eben noch miauten und jammerten sie, dann wollen sie plötzlich tanzen, und mitten im Tanz fahren sie einem mit den Krallen ins Gesicht und laufen zu einem andern.
Er liegt auf dem Rücken und starrt zu den Rauchwolken hinauf, die sich über seinem Kopf im Turmhaus umherwälzen. Der Sturm heult ärger denn je in dem Holzwerk und spannt, bald zischend, bald brummend, die draußen in den Felsen verankerten Stahlstage. Das Feuer auf dem Backsteinherd flackert in der Zugluft wild hin und her. Wahrhaftig, das ist ein ganz gottloses Pfingstwetter geworden! Oder vielleicht johlt der Südwind jetzt eben in seinem letzten, wütendsten Anlauf, und wir haben dann morgen nur noch leichten Seegang. Dann gilt es, rasch einen Besuch auf Ankarö zu machen und sich als großartigen Retter aufzuspielen … Seine boshafte Phantasie freut sich schon im voraus auf die Rolle; sie ist gewagt, aber großartig. Wie wird der Junker aussehen, der Judas, wenn er seine Braut als Geschenk aus der Hand eines andern Mannes zurückbekommt? Hier hast du dein Zuckerpüppchen, he! Ich hab' mich tüchtig um das Mädchen bemüht, aber ihr Boot hab' ich nicht retten können …
Über ihm kreist die Rauchwolke, scharf und brenzlig riechend wie angebrannte Säcke. Seine entzündeten Augen sehen in all diesem wogenden Grau Gesichte. Die ganze alte Schuld zieht vorbei, Bild um Bild, alle gleich anklagend und düster … Jener Tag auf seines Vaters Grab, als er durch einen Zufall die Wahrheit erfuhr und auf einmal anders wurde als alle andern Kinder … Der Tanz ums Johannisfeuer auf dem Hofe von Storgrinda, der widerwärtige Auftritt hernach mit allem, was er an geflüstertem Klatsch und Verleumdung im Gefolge hatte … Tuva, wie sie Arm in Arm mit dem Junker heimwanderte, die blühende Fliederdolde, mit der sie ihn streichelte, nur um zu zeigen, wen sie gewählt hatte … Die Konfirmation mit ihrer neuen Qual … die folgende Nacht, als er das Erbe seines Vaters übernahm und alle die unheimlichen Einzelheiten darüber zu wissen bekam, wer die Schuld trug … Die ewig verweinten Augen der Mutter und die vergrämte Schweigsamkeit des Stiefvaters, außer wenn er sich mit dem Bussar betrunken hatte … Ja, das waren also die Freuden seiner Kindheit gewesen! Und später, nach dem Krieg … Der an den Haaren herbeigezogene Kniff mit der neuen Wassergrenze, die ganze Teufelei mit wegbugsierten, zerschnittenen Fischnetzen … Der völlig ungleiche Kampf, der den Tveholm immer ärmer und elender machte … Jannes Augen immer wilder vor ohnmächtigem Haß, die Mutter noch willenloser und kläglicher … Bis ihr widerliches falsches Spiel mit dem Norweger losging, an dessen Mund sie sich heute morgen hinter Jannes Rücken festgesaugt hatte …
Eine einzige Kette von Unrecht, Elend und Lüge war es. Und hier in der Bake hatte das seinen Anfang genommen. Dort in der Ecke, da hatte der erfrorene Vater gesessen, mit der angenagten Pelzjacke und der kleinen Spieldose zwischen den Knien. Warum? Weil sich dieser Stark nicht aufmachen wollte, ihn zu retten oder den andern auf Ankarö Nachricht zu geben. Deshalb, weil ihm nichts wichtig war als das Neugeborene, als sie, die jetzt neben ihm auf dem Reisig lag.
Aus seinem Gedächtnis ist weggewischt, was er selbst und der Stiefvater Böses getan oder zu tun versucht haben; aber die Schuld des Feindes legt er bis auf den letzten herübergeworfenen Stein in die Wagschale. Er denkt nicht einmal mehr an seine eigene Freveltat in der letzten Nacht. Es ist der Brief des Junkers, der durch seine beschämte Reue einen Strich gemacht hat, obgleich er das selber nicht weiß.
Lange starrt er grübelnd und mit dem Kopf in der Hand nach der dunkeln Ecke drüben. Dort ist es also gewesen, da hat er gesessen …
Schließlich wird er auf der rechten Seite steif vor Kälte und wendet sie zum Feuer, um wieder warm zu werden.
Da merkt er, daß Tuva mit den Zähnen klappert. Sie sieht ihn flehend an. »Kannst du nicht näher kommen? Ich frier' so.«
Was meint das Mädel? Kann es ein schlauer Versuch sein? Er steht auf und wirft noch mehr Holz aufs Feuer. Dann kriecht er gleichgültig wieder ins Reisig, nur wenig näher zu ihr hin.
Sie sieht ihn noch flehender an und streckt einen Arm aus. »So komm doch, komm richtig her zu mir! Nicht nur, weil's mich friert, ich hab' auch so schrecklich Angst. Hörst du nicht, es heult wie die bösen Geister! Aber wenn ich dich neben mir hab', dann …«
Unmöglich, sich zu täuschen. Das Mädchen meint, was es sagt. Ach so, es hat Angst, aber nicht vor ihm. Und im gleichen Augenblick wird er von einer schwarzen Eingebung erfaßt. Der Werwolf … Er erinnert sich plötzlich daran, daß ihm seine Mutter einmal erklärt hat, was das Wort bedeutet: der Geist eines Abgeschiedenen ist's, der in Wolfsgestalt Rache an den Lebenden nimmt. Hatte er nicht gefühlt, wie an dem Konfirmationstag, als er das Erbe seines Vaters antrat, der Geist des Toten gleichsam in ihn einzog? Und war nun nicht der Augenblick für eine wirkliche Rache da, nicht nur so ein paar zerstörte Netze oder ein zertrümmertes Boot? Der Werwolf … Der Junker sollte recht behalten! Wie ein Wolf wollte er sich auf das stürzen, was Ankarö das Teuerste war, wollte sie kränken, ihre Zärtlichkeit oder ihr leichtsinniges Blut – was es auch sein mochte – kalt verhöhnen und ihr nachher wie einem zertrampelten Fetzen einen Fußtritt geben … Bitte, Herr Leuchtturmwächter und Herr Bräutigam, hier kriegt ihr zurück, was ich nicht mehr haben will! Ich hab mir das Meinige genommen, nehmt ihr vorlieb mit dem Rest …
Das Herz hämmert ihm in der Brust, als er zu ihr hinkriecht und heftig ihren zarten Körper umschlingt, der von der Wärme des Feuers vorn warm, aber im Rücken eiskalt und feucht ist. Sie sieht ihn etwas erschrocken und verwundert an. Als er aber dann seinen harten Griff lockert, schlingt sie ihren einen Arm um seinen Nacken und lehnt ihren Kopf an seine Schulter.
Eine Weile bleiben sie so regungslos, während sie aneinander warm werden; er weiß, daß er wohlüberlegt und vorsichtig handeln muß. Aber je länger er da neben ihr liegt und fühlt, wie ihre eine Brust, die er am Morgen gesehen hat, sich unter dem Kleiderstoff sacht hebt und senkt, da wird ihm immer klarer, daß es sich nicht einfach um eine kalte, überlegte Rache handeln kann. Noch etwas anderes ist mit im Spiel, etwas für ihn selbst Quälendes und Gefährliches. Vielleicht Begierde. Oder vielleicht … vielleicht eine törichte Zärtlichkeit oder … ja weiß Gott, wie man es nennen soll!
Er versucht alle Gefühlsduselei abzuschütteln und wieder der Wolf zu sein, der er zu sein beschlossen hat, da ist ihm plötzlich, als höre er ein Flüstern. Aber nicht Tuva ist's, die flüstert, nein, es kommt aus der dunklen Ecke dort. Obgleich sie ja keine Stimme hat, dringt dieses Flüstern durch den Lärm bis zu ihm!
»Schäm dich, Valle! So will ich dich nicht haben.«
Er zuckt zusammen. Was um des Himmels willen will er denn tun? Hat er vergessen, wo er sich befindet, oder will er den Ort, wo sein Vater starb, besudeln?
Aber bald nimmt die Leidenschaft wieder überhand. Er schwankt zwischen Begierde und Scham hin und her, während der Sturm draußen steigt und sinkt. Zuletzt ist er am Unterliegen; er hört kein Flüstern mehr, weiß nicht mehr, warum es geschehen oder nicht geschehen soll, weiß nur noch, daß er sie haben muß, jetzt, grade jetzt. Er preßt ihren warmen, weiblich duftenden Körper immer enger an sich.
Da merkt er etwas, was mit einem Schlag jede schwarze Absicht entwaffnet. Tuva ist mit dem Kopf an seiner Schulter eingeschlafen, ruhig und vertrauensvoll wie ein Kind.
Am nächsten Tag ist der Lotsenkutter wieder da. Landen aber kann er nicht, obgleich der rasende Südwind am Morgen den Geist aufgegeben hat. Die Wellen wälzen sich noch himmelhoch, der neue leichte Nordwest kann sie nicht dämpfen, sondern sie höchstens noch ein wenig höher aufschäumen lassen. Aus dem Boot kommen zwei kleinere Öltuchsäcke dahergeflogen; sie sind mit beschwerten Leinen versehen, damit sie nicht so leicht zurückgesaugt werden und dann um die Schäre herumtreiben. Einer von ihnen gelangt ans Ufer. Er enthält eine zusammengerollte Filzdecke, ein Paket mit Nahrungsmitteln und einen vollgeschriebenen Bogen Papier, den Tuva freilich nur ansieht und dann sofort zerrissen ins Meer hinauswirft. Für Valle aber bedeutet dieser ungelesene Brief mehr als sie ahnt. Den ganzen Tag ist er freundlich und fürsorglich, denn jetzt ist er sich darüber klar geworden: er kann sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sie kommt nie wieder. Und ob es auch auf der »Morgengabe« sei, der Vergeltung muß ihr Recht werden. Sonst bekommen der Leuchtturmwächter und der widerliche Junker sie zurück, wie wenn nichts geschehen wäre, und alles bleibt beim alten – Wohlstand und Verlobung auf Ankarö, Armut und Lüge auf dem Tveholm. Was hat ein zertrümmertes Netzboot zu sagen? Wieviel wiegt es gegen all das Unrecht, das den Tod eines prächtigen Mannes verschuldet und seitdem drei weitere Leben auf eine schiefe Ebene gebracht hat.
Obgleich für Tuva jetzt mehr als genug zu essen da ist, geht er wieder auf die Eiersuche und ißt selbst nur sparsam von ihren Leckerbissen. Besorgt ist er, weil er kein Treibholz mehr am Strand entdecken kann. Die saftgeschwellten Zweige der Erlenbüsche, der Heidekrautbüschel und Rauschbeerensträucher geben mehr Rauch als Wärme.
»Aber wir haben ja die Filzdecke für die Nacht«, erklärt Tuva unbekümmert.
Und als es Abend wird, kriecht er ohne Zögern zu ihr und hüllt sie beide in die warme Decke. Aber Tuva schläft sofort ein, den Kopf an seiner Brust, und noch deutlicher hört er jetzt das Flüstern von der andern Seite her aus der dunklen Ecke, wo sein Vater einst starb. Er weiß, das Mädchen ist jetzt ganz in seiner Gewalt; er kann mit ihr tun, was er will; aber sonderbar – der Tote, den er ja vor allem rächen will, grade er steht jetzt wie ein drohender Schatten zwischen Valle und dieser Rache. Dann ist er also auf falschem Weg, aber wo kann er den richtigen finden? Er fühlt nur, daß er es nicht wagt, daß er ihr nicht auf diese Art Böses antun kann. Sie schläft ja, als liege sie an der Brust eines Schutzengels.
Na ja, aber etwas soll sie doch von diesem Abenteuer erfahren. Etwas, das sie aus ihrer Arglosigkeit herausreißen und ihr zeigen wird, wer er ist! Er schüttelt sie heftig. »Sag, Tuva, warum ist denn dein Boot gesunken?«
»Das weiß ich ja nicht.«
»Aber ich weiß es. Denn ich hab' es versenkt. Du darfst das ruhig deinem Vater und dem Junker mitteilen, das tut nichts. Ich sitze, ohne zu mucksen, ein paar Monate im Gefängnis. Und die Ankaröer werden aus dieser Geschichte keine Seide spinnen, nur auslachen wird man sie.«
Tuva setzt sich auf und starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Du lügst!« keucht sie mißtrauisch.
»O nein, ich bin nicht der feine Retter, für den du mich hältst.«
»Ja, schwatz nur! Wenn du lügst, was kümmert's mich! Und sagst du die Wahrheit, so denkst du doch wohl nicht, daß ich klatschen werde, nach all der Hilfe, die du mir geleistet hast?«
Kalt und sachlich fängt er es ihr zu erklären an. Ihre aufgerissenen Augen werden immer größer. Als er fertig ist, erwartet er, sie werde aufspringen, ihre kleinen Fäuste ballen und mit ohnmächtigen Mädchenflüchen auf ihn losfahren. Aber seine Worte haben eine ganz andere Wirkung, als er denkt. Die Spannung in ihren Zügen läßt nach, ihr Gesicht leuchtet auf, es strahlt beinah.
»Du Ärmster! Wenn es so ist, wie du sagst, dann hast du mich ja sehr, sehr lieb.«
Er prallt stöhnend von ihr zurück und vergräbt seinen Kopf in dem stechenden Reisig. Wie von einem Keulenschlag getroffen, weiß er plötzlich, daß sie recht hat. Jetzt ist er der Schwächere, der Ohnmächtige, der sich niemals rächen kann. Aber er reißt sich zusammen und ruft: »Nein, es ist nicht wahr! Ich hab dich nicht lieb!«
»Jawohl hast du mich lieb«, erwidert Tuva gelassen.
Noch nie war es so stumm und unlustig auf dem Tveholm zugegangen als nach diesem stürmischen Pfingstfest. Der Norweger mußte immer an Jannes wilde Augen denken und wagte nicht mehr hinzugehen. Auch der Bussar hielt sich während der nächsten Wochen fern, vielleicht weil er sich schämte, vielleicht in schlauer Berechnung, daß sein Kamerad ihn in einiger Zeit schon wieder nötig haben werde; und damit rechnete er richtig.
Um die drei auf dem Holm lag gleichsam ein großer Strang von verwirrtem Garn; sie fühlten sich bei jedem Schritt und jedem Wort gehemmt und eingeschnürt. Das beste war, zu schweigen und zu versuchen, der ganzen Qual so viel wie möglich zu entrinnen. Valle hatte sein Geheimnis, Elfrida das ihre, obgleich sie wußte, daß schon allzuviel davon entdeckt worden war. Der einzige, der das Messer zur Hand nehmen und den verwirrten Strang mit scharfen Fragen hätte zerschneiden können, war Janne; der aber schwieg unberührt, jedoch drohend wie eine geladene Flinte. Was er von seiner Frau dachte, war offensichtlich; schwerer ergründen ließ sich, ob er ahnte, wie es sich mit der Rettungsfahrt und mit dem verrückten Benehmen des Jungen dabei verhielt. Nicht mit einer Silbe hatte er je diese Sache berührt. Alle drei gingen oft von Hause fort. Nach seiner Tagesarbeit im Dorf als Zimmermann blieb Janne immer öfter über Nacht bei dem Bussar, der ihn mit seiner salbungsvollen Gutmütigkeit bald milder gestimmt hatte und trotz allem sein letzter branntweinfroher Trost geblieben war. Dazu trug viel bei, daß die Frau des Bussar, ein dicker, aber stachliger Igel, mit geschwollenen Gliedern im Bett lag und die Gäste nicht aus dem Haus jagen konnte. Elfrida hatte plötzlich eine heiße Liebe zu der Großmutter in Askvik gefaßt; aber wer wußte, ob nicht auch der Norweger den Weg dorthin fand! Valle lag die meiste Zeit zum Fischen und Jagen draußen auf See. In kurzem würden die Sommerseehunde kommen, sobald das letzte Eis droben in der Bottensee geschmolzen war und der Seehund südwärts in die Ostsee zog. Dann würden die Lockrufe auf den äußersten Felskuppen ertönen, und wieder fröhliche Zeiten kommen.
So schleppten sich die Wochen mühsam dem Mittsommer zu.
An einem Samstagabend kam der Bussar zum erstenmal nach dem merkwürdigen Pfingstfest auf den Tveholm. Was er und Janne während der Nacht im Haupthaus drüben trieben, wußte Valfrid nicht, er ging zur gewohnten Zeit drunten bei sich schlafen. Als er aber am Sonntagmorgen zur Tür heraustrat, stand seine Mutter vor der Haustreppe und wartete auf ihn.
»Ich muß mit dir reden, hab' die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagte sie ängstlich.
Valle schwieg.
»Nun, du hast ja damals etwas gesehen … drunten im Bootsschuppen. Hast du mit Vater darüber geredet?«
Valfrid schwieg. Er dachte, es sei unnötig, sie mit der Wahrheit zu beruhigen, daß er nichts verraten hatte und auch nicht daran dachte, es zu tun. Janne wußte schon genug, das war deutlich zu merken.
»Mein Junge, richte mich, richte mich!« rief Elfrida mit einer Heftigkeit, die ihr gar nicht gleichsah. »Aber du weißt nicht, was lieben heißt … Man ist wie verhext.«
»Ach so.«
»Ja, und nach dem Bibelspruch wird mir viel vergeben werden, denn ich hab auch …«
»Ach pfui Teufel!« brach Valle los, spuckte aus und drehte ihr den Rücken, obgleich er sah, wie sie sich die Schürze vor die Augen hielt und sie mit Tränen näßte.
Planlos wanderte er am Strand hin. Und er sollte nicht wissen … nicht wissen, was man fühlt, wenn man verhext ist! Und hatte doch alle Rachsucht verloren, alles, was früher das Rückgrat seines Lebens gewesen war! Einmal hatte sich der Boden unter seinen Füßen aufgetan, damals, vor langer Zeit auf dem Hofplatz von Storgrinda. Und er war auf der Seite gelandet, auf die er hatte nicht kommen wollen. Aber jetzt wußte er nicht mehr, wo er war – o ja, er wußte es doch! Was gingen ihn Jannes haßerfüllte Augen, was die Tränen seiner Mutter an! Er hatte versucht, Rache zu nehmen, aber es war nicht gegangen. Und es war nicht nur Feigheit, die ihm im Weg stand, sondern etwas Unbezwingliches, ja Heiliges. Wie sich doch alles verwirrte und in Stücke sprang – er fühlte, daß er jetzt ganz er selbst war: ein Sklave, ein Wurm unter einem übermächtigen kleinen Fuß! Worin lag die Kraft dieses Fußes? Darin, daß er unbefleckt über Schmutz und Jämmerlichkeit hinschritt, daß er von einem so kindlichen Vertrauen geleitet wurde. Das machte es unmöglich, neue Schlingen für ihn zu legen, neue hinterlistige Fallgruben für ihn zu graben.
Er sollte nicht wissen, was lieben heißt! … Wie oft hatte er in einer ruhigen Bucht gelegen, die Augen dicht an der Wasserfläche, und in die Tiefe gestarrt, um die rosigschimmernde Qualle zu beobachten, die sich aufatmend dehnt wie eine weibliche Brust und sich dann in dem leichten Wellengang wieder zusammenzieht.
Aber was hatte Tuva gesagt? Als sich das Meer am Morgen des dritten Tages so weit beruhigt hatte, daß der Lotsenkutter mit Mühe an der Leeseite anlegen konnte, war sie ja sofort mit Fragen bestürmt worden, wie es mit dem Schiffbruch zugegangen sei. Aber nichts hatte sie gesagt als das eine: sie wisse es nicht. Der Leuchtturmwächter vermutete schließlich, in den alten Spanten seien wohl einige verrostete Nägel gewesen, und da sei bei dem hohen Seegang ein Brett herausgeschlagen worden. Aber dies schien ihm nicht am meisten am Herzen zu liegen. Als er Valles Hand ergriff und ihm feierlich dankte, bohrte sich zugleich sein Blick forschend in die Augen des Retters: wie hast du meine Tochter hier in der Einsamkeit behandelt? Und ich, der Valle vom Tveholm, sah ihm auch freimütig ins Gesicht: darüber kannst du beruhigt sein. Aber nachher der Junker … Trotz der wilden Brandung am Strand, bei der es für das Ankaröboot schwierig war, mehr als ein paar Minuten dazubleiben, war er wie ein Spürhund den Hügel hinaufgerannt und hatte die Ausrede gebraucht, er wolle nachsehen, ob nicht etwas vergessen worden sei. Dort hatte er ihr gemeinsames Nachtlager gesehen, ganz genau so, wie es war, und als er zurückkam und das Boot endlich abfahren konnte, hatte sein langes Gesicht dem eines Hechtes mit seinen grimmig scharfen Zähnen geglichen. Auf Ankarö gab es dann keinen Aufenthalt, trotz allen Ehrenbezeugungen. Janne wollte augenblicklich abfahren, Valle hatte kaum Zeit, sich die alten Ölkleider überzuziehen. Und Tuvas Hand lag beim Abschied so sonderbar in der seinen. Erst drückte sie sie fest, als wollte sie sagen: du weißt … Aber in derselben Sekunde erschlaffte sie entmutigt. Ja, ich danke dir, und was nützt es, daß wir beide wissen …!
Hatte sie wohl nachher ihrem Vater und dem Junker erzählt, wie alles zusammenhing? Nein, das konnte er nun und nimmer glauben. Das war ihr gemeinsames Geheimnis.
Am gleichen Sonntag wurde ihm gegen Abend noch eine Überraschung zuteil, die bestätigte, daß er sich nicht getäuscht hatte.
Die innerlich aufgelöste Familie saß bei ihrer düsteren Abendmahlzeit: aber sie hatte eine Hilfe an dem Bussar, dessen zähe Gutmütigkeit ihn befähigte, jede eintretende Stille mit sorglosem Geschwätz auszufüllen. Da erklang plötzlich in der Nähe das Knattern eines Motors. Valfrid ging auf die Haustreppe hinaus und sah bestürzt, daß es der Lotsenkutter von Ankarö war, der eben am Landungssteg des Bootsschuppens anlegte.
»Satan!« zischte Janne.
Aber es war zu spät, sich über den Sund davonzumachen und zu verschwinden. Als er sich anschickte, nach der anderen Kate zu laufen und sich da einzuriegeln, zog ihn der Bussar am Rock und sagte:
»Sie könnten ja meinen, du hättest Angst, wie …«
Und darauf blieb Janne da, obgleich er aussah wie eine eingesperrte Feuersbrunst.
Es war der Leuchtturmwächter mit dem Junker, beide in Uniform; Tuva war nicht dabei. Feierlich kamen sie den Hügel herauf und ins Haus herein, reichten jedem höflich die Hand und stellten sich mitten im Zimmer auf. Dann zog der Leuchtturmwächter eine große silberne Medaille aus seiner Brusttasche und hielt eine Rede. Diese Medaille, sagte er, habe er einst vom Staat für Lebensrettung im Dienst erhalten; eine Dreimastbark sei damals in einer Novembernacht gestrandet – habe ihre halbe Besatzung verloren; aber diese Auszeichnung gehöre besser an einen anderen Platz, das wisse er jetzt. Deshalb habe er auf die leere Rückseite gravieren lassen: »Dem übergeben, der meine Tochter am Pfingstfest 1920 gerettet hat.«
Diese hochtrabenden Worte tönten schneidend in Jannes Ohren, und in die Valles noch schneidender, als er die mit einem rotgelben Band versehene Silbermünze verblüfft und wortlos entgegennahm. – » Der hat also eine Rettungsmedaille!« dachte der Alte wütend. – »Ja, wenn der wüßte …« hämmerte es beschämt in Valles Kopf.
Elfrida hatte die Kaffeekanne aufs Feuer gestellt, und der Bussar bediente die Schwatzmühle. Von der herannahenden Seehundzeit wurde geredet; der Leuchtturmwächter schlug vor, einmal eine Schützengesellschaft zu bilden – »aber außerhalb dieser unnötigen Grenzen, die ich mir zugeschanzt habe«, fügte er mit einem vorsichtigen Blick auf Janne hinzu. Seine Stimme klang bedauernd und natürlich zugleich, kein Zweifel: er meinte, was er sagte, und war versöhnlich gestimmt. Aber Janne hüllte sich in unergründliches Schweigen. Und weder der Bussar noch Valle wagten es, sich näher auf diesen Vorschlag einzulassen, sie fürchteten sich vor den Folgen.
Der Junker war die ganze Zeit über fast kriechend höflich aufgetreten. An der Uniformmütze auf seinem Kopf saß ein neues Zeichen, das bedeutete, daß er jetzt zur staatlichen Seevermessung gehörte, und auf eine Frage des Bussars erklärte er, daß er in einigen Tagen an Bord eines Vermessungschiffes gehen und bis zum Herbst fortbleiben werde. – »Verdienen – Verdienen!« erklärte er so nebenher.
Aber kurz nachdem von der Seehundjagd die Rede gewesen war, verschwand er plötzlich, es sah aus, als gehe er nur hinaus auf den Hügel, seine Notdurft zu verrichten. Valle folgte ihm lauernd, Unrat ahnend, in einem gewissen Abstand nach. Und da zeigte es sich, daß der Junker geradewegs an den Landungssteg hinunterging, wie wenn er einen Blick auf das Lotsenboot werfen wolle, um sich zu vergewissern, daß es nicht an den Pfosten scheuerte. Grade als er den Fuß auf die Balken des Stegs setzte und anscheinend gelassen an dem Bootsschuppen vorbeigehen wollte, machte er einen Katzensprung zur Seite, schlüpfte hinein und schloß hastig die Tür hinter sich zu.
Im nächsten Augenblick hatte sich Valle auf Strümpfen lautlos durch den hinteren Eingang in die entgegengesetzte Hälfte des Schuppens, wo die Netze verwahrt wurden, geschlichen. Eine Ritze in der Bretterwand zwischen den beiden Kammern half ihm, das Tun des Junkers zu beobachten. Der spitzige Kopf drehte sich in der Halbdämmerung suchend umher, bis er anhielt und in einen Winkel starrte, wo zwischen kurzen Seehundspießen, Ruderpinnen und anderen Geräten zwei mit Fett eingeschmierte Vorderlader standen. Der Junker wählte das beste von den Gewehren; es war Jannes alte Lieblingsflinte. Aus der Uniform kam nun ein kleiner Meißel zum Vorschein; diesen drückte der Junker in die geriffelte Mündung hinein und schlug mit einem Senkstein darauf. – Knack! – Es war das Werk einer Sekunde und kaum vernehmlich. Dann öffnete er vorsichtig wieder die Tür und wanderte aufs Haus zu, wie wenn nichts geschehen wäre.
Aber damit war das Spiel noch nicht zu Ende. Aus dem Werkzeugkasten im Schuppen nahm Valle einen scharfen Pfriemen und einen Hammer heraus. Viele Schritte hatte er nicht bis zum Ankaröboot, das harmlos am Landungssteg lag. Der Leuchtturmwächter hatte davon gesprochen, daß er und der Junker sich vom Tveholm aus auf eine nächtliche Rundfahrt bis zu den äußersten Schären begeben wollten, um Ausschau zu halten, ob die Seehunde schon unterwegs seien; der Sonntag sei ja schon fast zu Ende. Also hatten sie Gewehre im Boot mit.
Nach einigem Suchen fand Valle unter verschiedenen Tüchern und Schaffelldecken zwei funkelnagelneue Mausergewehre von handlichster Art. Er steckte den Pfriemen in die engen Mündungen und schlug noch fürsorglich drauf, einmal ums andere, aber so sacht, daß die kleinen Schrammen in den Zügen kaum sichtbar waren, wenn man das Schloß herausnahm, den Lauf gegen das Licht hielt und durchsah. So, jetzt, jetzt konnten die Gewehre nicht mehr besser schießen als zwei Schürhaken!
Unter gegenseitigen Ehrenbezeugungen trennte sich die Gesellschaft, nur Janne unterließ es eigensinnig, die Gäste zum Landungssteg zu begleiten. Aber sobald das Motorboot ein Stück auf See hinausgeknattert war, kam er heran und trat dicht vor Valle hin.
»Ja, ja, beim Satan, der Stark hat die Rettungsmedaille! Grade für ihn paßt sie ja ausgezeichnet. Und jetzt sollst ausgerechnet du die Münze übernehmen. – Na, soll dir wohlbekommen, das Blutgeld, Valle!«
Ohne etwas zu erwidern, zog Valle die Medaille aus seiner Hosentasche, schwang sie an ihrem rotgelben Band einmal im Kreis herum und ließ sie dann weit hinaus in den Sund fliegen, wo sie mit einem kurzen endgültigen Klatschen aufschlug.
»Recht so, Junge!« grunzte der Stiefvater und streckte ihm seine wetterharte Faust hin.
Es war lange her, seit er zum letztenmal gelächelt hatte.
Bei der Zimmermannsarbeit im Dorf hatte Janne einen Unfall; seine Axt glitt an einem steinharten Balken ab und fuhr ihm in die Sohle des linken Fußes. Der Stiefel ließ sich nicht ausziehen, er mußte aufgeschnitten und das Bein unter der Wade abgebunden werden, um die heftige Blutung zu stillen. Dann mußte die Wunde genäht werden; aber Janne vertraute dies nicht dem ersten besten an. Mit dem verbundenen Fuß hinkte er zum Kaufladen, erstand Nadeln und Pechdraht sowie eine Flasche Tischlerlack, das erprobte Mittel gegen jede Art Vergiftung und Unreinlichkeit bei Wunden. Dann ging er hinkend weiter zum Bussar. Der Kamerad war in seiner Jugend einmal nahe daran gewesen, im Björneborger Bataillon Feldscher zu werden, und alte Leute pflegten auch heute noch ab und zu ihre Zuflucht zu seinen Spritzen zu nehmen, um sich verdorbenes, eiteriges Blut aus kranken Gliedern heraussaugen zu lassen. Besonders sauber war er selbst zwar nicht, aber jedenfalls geschickt, wenn es galt, zu nähen und zu pflastern.
Als Janne bei Bussars ankam, saß der Mann rittlings auf seinem Dachfirst und deckte bei dem schönen Wetter sein Haus mit neuen Schindeln.
»Hallo, du mußt herunterklettern und mich zusammennähen! Ich hab alles Notwendige mit.«
Aber der Bussar glotzte mit seinen triefenden Hundeaugen geschäftsmäßig prüfend hinunter. »Nei-ein, Kamerad, du bist jünger und kannst dich heraufbemühen, wenn du zusammengeflickt werden willst. Hab keine Lust, unnötig hinunter zu turnen, ich sitz hier gut.«
So blieb Janne nichts anderes übrig, als mit seinem unterbundenen Bein die Leiter hinaufzuklettern und mit allen seinen Heilmitteln dem Bussar gegenüber Platz zu nehmen.
Und da saßen die beiden Freunde rittlings auf dem Dachfirst und schwatzten vertraulich miteinander von früheren Seehundjagden und Otterfängen, während der Bussar mit kunstgeübter Hand den Pechdraht hinein- und herauszog und Jannes Blut als ein roter Bach auf das frischgedeckte weiße Schindeldach herabrieselte. Schließlich war die Wunde zugenäht und mit einer Lage von dunklem Tischlerlack überschmiert.
»Jetzt kannst du nächste Woche wie ein Füllen herumspringen, wenn dir sonst nichts fehlt, hä-hä-hä-hui-huiii …«
Drunten auf dem Weg kam Ira mit ihrem Knotenstock dahergetrollt. Die beiden Freunde spuckten sorgfältig nach der Seite hin, wo sie ging, jeder dreimal. Bei dem Bussar ging das ohne alle Schwierigkeiten vonstatten, er hatte einen unerschöpflichen Breikessel in der Brust. Janne aber brachte es nur zu drei zischenden Strahlen durch die Zähne.
Wenn Janne und der alte Bussar eine Seehundjagd vorbereiteten, geschah das meist auf solche Weise:
Sie trafen sich bei der Mittsommerstange, dem allgemeinen Versammlungsplatz des Dorfes, und schauten nachdenklich zu dem Wimpel empor, der seine lange Korkzieherlocke immer flauer um die eiserne Spitze dort oben drehte. Und nach einem kurzen Kopfnicken ertönte Jannes Stimme: »Schönes Wetter, unbedingt!«
»Schön, unvernünftig schön! Oj, oj, unbeschrien!«
»Sieht nach Lockwetter aus. Oder was meinst du?«
Der Bussar schaut mit seinen hervorquellenden Augen aufs neue zu dem erschlafften Wimpel hinauf. »Was ich meine? Noch einige Stunden steht der Wind so, daß wir segeln können. Aber bald, Kamerad, bald haben wir vollkommene Flaute und Lockwetter da draußen.«
»Ja, also geht's los«, stimmt Janne eifrig zu.
»Jawohl, potz Blitz! Zu Wasser, zu Wasser! Fort von allen Mistbauern und allen Weibsbildern! toff – poff …«
Ungefähr so verlief auch an diesem frühen Morgen ihr Zusammentreffen, es war am ersten Werktag nach dem Johannisfest. Sie kamen überein, sich in einer Stunde am Bysund einzufinden und von da auf den Weg zu machen. Janne hielt sich zur Zeit von der Zimmermannsarbeit fern, denn die Wunde an seinem Fuß tat ihm ab und zu noch so weh, daß er ein wenig hinkte und anstatt des Stiefels nur einen ungeheuren Pantoffel aus Seehundsfell an dem verbundenen linken Fuß trug.
Der Bussar ging heim, musterte zärtlich seinen alten Vorderlader und stopfte Proviant in einen Sack. Es waren Sachen, die sich eine Woche lang hielten. Knäckebrot, auf der Darre getrockneter Speck und geräucherte Seevögel, braun wie Leder, aber leicht in dünne Scheiben zu schneiden; dazu das hölzerne Fäßchen mit saurer Milch, eine Dose gemahlenen Kaffee und ein ansehnliches altmodisches Tönnchen mit neumodischem Schmuggelbranntwein gefüllt. Außer mit den Gewehren, der Kugeltasche und dem Pulverhorn, dem Sack mit den Eßwaren und verschiedenem anderem belud er, den es niemals fror, sich noch mit einem Schafpelzrock. Und so behängt wanderte er schwitzend zum Bysund hinunter. Aber kaum war er um Sinders Ecke herumgekommen, da begegnete ihm Ira. Verflucht, wie oft die in letzter Zeit hier herumstrich! Heute morgen sah sie fast christlich aus, auch glatter im Gesicht als gewöhnlich; aber einem alten Weibsbild begegnen, und besonders einem solchen Luder, wenn man auf die Jagd gehen wollte – das war das Schlimmste. Gerade vor ihr blieb er stehen und versperrte ihr den Weg. Die Alte sah auf, und die boshaften Adern begannen sich in ihrem vertrockneten Gesicht hervorzuschlängeln.
»Ho! was will Er?« fragte sie und drehte ihm blinzelnd die rechte Wange zu.
Der Bussar neigte seinen Mund zu ihrem rechten tauben Ohr herunter und schrie wie in einen Trichter hinein: »Drecksau!«
Dann machte er kehrt und ging nach Hause zurück, während Ira ihre krallenartigen Finger in die Höhe streckte und zischend Verwünschungen gleichsam auf ihn herunterkratzte.
Erst nachdem der Bussar wieder eine Weile daheim geblieben war, seine ganze Ausrüstung abgelegt, ein Kreuz über den Schießwaffen gemacht und zu weiterer Sicherheit auch noch die Bibel aufgeschlagen hatte, begab er sich zum zweitenmal auf den Weg. Jetzt erreichte er den Bysund, ohne einem alten Weib oder irgendeinem andern unheilverkündenden Zeichen zu begegnen. Janne saß ungeduldig und verstimmt schon lange im Boot. »Ungesund hier an Land«, ließ er sich mit einem wohlbekannten Ausspruch seines Kameraden vernehmen.
»Zu Wasser, zu Wasser!« schrie der Bussar. In dieser herrlichen Jahreszeit fürchtete er sich nicht, in ein Boot zu klettern.
Aber zuerst mußte nach dem Tveholm gefahren werden, um Valle und alle weiter notwendige Ausrüstung an Bord zu nehmen.
»Schade um alle Mistfinken von Bauern!« sagte der Bussar und gähnte vergnügt der Sonne entgegen. »Wenn es Sonntag ist und sie Zeit hätten, können sie nicht hinaus zum Jagen und Fischen, denn keiner darf ja an dem Tag etwas heimholen vom Acker des Herrn. Und wenn es dann wieder Werktag geworden ist, wie eben jetzt, dann haben die Ärmsten keine Zeit wegen all ihrer Schweinearbeit! Nein, wir können Gott danken, Kameraden, wir sind freie Barone, und uns geht's recht gut!«
Bei leichter nördlicher Brise und mit einem schaukelnden Kahn im Schlepptau ist das Tveholmer Kleinboot vom heimatlichen Strand abgefahren. Sie nehmen Kurs westlich auf zwei von den äußersten Schären im offenen Meer. Diese heißen »die Sättel«, und jedenfalls gehen sie den Stark auf Ankarö gar nichts an. Im übrigen hat man an Bord keine Eile, man hofft, gar nicht rudern zu müssen, sondern hinzukommen, bevor die Brise sich gelegt hat, denn so ein leichter Sommernordwind geht früher oder später immer zur Ruhe. Sonst ist es ihnen einerlei, wann sie ankommen.
Obgleich es Jannes kleineres Fischerboot ist, gleicht das Fahrzeug doch einer tiefen, breit ausladenden Badewanne von ansehnlichem Ausmaß. Das ganze weite Vorschiff ist mit allerhand Notwendigem beladen: Polstern und Schafpelzjacken für die Nacht, Eßkobern, Sauermilchtönnchen, Fernrohrfutteralen, Seehunddraggen, einem Kaffeetopf und zwei schön geschnitzten altmodischen hölzernen Zielböcken für die Flinten. Aus diesem Berg von Gerätschaften strecken drei Flinten ihre Hälse hervor, die sich feierlich an die nächste Bank lehnen. Aber die Schießgewehre sind sehr verschieden voneinander. Eines von ihnen ist Valfrids feinkalibriges schwedisches Mausergewehr, das er als gute Prise nebst Halbmantelpatronen aus dem Krieg mitgebracht hat; die andern beiden sehen eher wie Handkanonen aus mit ihrem gewaltigen Kaliber, ihrer rostroten eisernen Brechstange von Lauf und einem richtigen Dampfhammer von Hahn. Und doch haben sie von hundert glücklichen Jagden her eine vielfach längere Schußliste auf dem Gewissen als der schlanke Neuling, der erst seit zwei Jahren mittut.
»Ei, ei, was du für ein gutes Boot hast!« fährt der Bussar fort; er will Janne, der für einen Augenblick die Ruderpinne sich selbst überlassen hat, Honig ums Maul schmieren. »Der Kahn, ja, der ist mit Verstand gebaut! Weder luvgierig noch leegierig. Steuert sich ja gradezu selbst – seht nur!«
Langsam schaukeln sie durch das helle Vormittagsglitzern über die leichtgekräuselte Dünung, die aber hier außen höher ist, als sie erwartet hatten. Die Küste versinkt immer mehr, die Höfe weit drüben in Bredby vereinigen sich zu einem einzigen langgestreckten Familienhof, die roten Zieldächer gleiten ineinander, die Windmühlenflügel verschwimmen in der Luft, der drahtdünne Streifen der Mittsommerstange hoch über dem Ganzen wird von dem Licht aufgesogen. Noch ist der Tveholm mit einem rauchenden Schornstein genau zu erkennen, bis auch er undeutlich wird.
»Leb wohl, all du Ungeziefer drüben an Land! Wir kommen erst wieder, wenn es Wind und Wetter gefällt!«
Alles, was sich um sie her zuträgt, wird aufmerksam beobachtet und besprochen. Da sind die Großmöwen, die Straßenräuber des Meeres, die das Boot außer Schußweite begleiten und sich fragen, ob da unten nicht bald die Eßkober geöffnet und gute Dinge über Bord geworfen würden; friedlich schaukelnde Eiderentenscharen und flinke kleine Alke, die beim Untertauchen mit ihren Schnäbeln gleichsam Löcher in die Wellen picken; dann erscheint ein einzelner Seehund, der für einen Augenblick seinen dunkeln walzenförmigen Kopf über die hellere Meeresfläche herausstreckt und wieder verschwindet. Oder es ist eine dahinsegelnde Wolke, die nicht die richtige Gutwetterfarbe hat, oder der Rauch von Dampfern, oder es sind die zur Hälfte unter den Horizont hinabgesunkenen Masten draußen auf dem großen Schiffahrtsweg vom Bottnischen Meerbusen hinter zur Ostsee. Kurz vor Mittag frischt der Wind ein bißchen auf, wie das hier oft vorkommt, ehe er sich entschließt, heimzugehen oder sich auf die andere Seite zu legen.
Sie fahren an der Slätschäre vorbei, einem flachen Stück Grasland, wo die Graugans nistet. Ein Seeadler kreist königlich und für unverletzlich erklärt darüber – nehmt euch in acht, ihr kleinen Gössel!
Jetzt hebt sich allmählich das niedrige Steinbett des Inneren Sattels aus dem Wasser, und die drei im Boot sehen Seehundköpfe, die dort auf den Strandklippen nicken und sich kurz danach von der die Felseninsel umgebenden Meeresfläche abheben. Aber da können sie nicht halten; es muß unbedingt windstill sein, wenn der Schuß auf eine so kleine Klippe gelingen soll; beim geringsten Luftzug geht jeder ankommende Seehund in Lee von ihr, bekommt Witterung von den Jägern und ist verschwunden. Trotz allen Anzeichen sieht es nicht so aus, als ob heute Windstille eintreten würde; sie müssen also eine größere Schäre aufsuchen, und mit guter Fahrt segeln sie nach dem hochgelegenen Äußeren Sattel, der eine halbe Seemeile weiter liegt. Dort scheinen noch keine anderen Schützen zu sein.
Bei der Ankunft aber wird ihnen eine Überraschung zuteil. Sie fahren um die südliche Landspitze herum und kreuzen auf der westlichen Seite der Schäre in einen natürlichen Hafen hinein. Grade als sie auf die Hafenmündung zusteuern und das Segel wegfieren, entdecken sie, daß ein Seehund auf den flachen Klippen an der Pforte der Felsinsel schläft. Es ist eine kleine Schwarzrobbe. Von dem Segelflattern erwacht sie sofort und plumpst ins Wasser. Aber anstatt nach außen gegen die Jäger zu unterzutauchen, verleitet sie der Schrecken, sich in den Hafen hinein zu wenden. Ihr Kopf ist einen Augenblick drinnen über dem Wasser zu erkennen, taucht aber gleich wieder unter. Rasch wird nun das Boot in dem engen Sund quer gelegt, so daß es die schmale Fahrbahn vollständig absperrt, und mit dem einen Riemen läßt Janne überdies das Wasser unter dem Kiel aufschäumen.
»Auf und schieß, Valle, du kannst's ja aus freier Hand!« kommandiert er.
»Ja, jetzt haben wir den Selbstmörder, schlauer ist er nicht gewesen«, nickt der Bussar und sperrt verdutzt das Maul auf. Auf all seinen unzähligen Jagden hat er selten etwas Behenderes gesehen.
Valle ergreift rasch sein Gewehr und klettert nach vorn. Der Mord ist nicht gerade ehrenvoll, er gleicht eher einem Abschlachten im Pferch, aber immerhin ist es keine ganz leichte Sache. Hier gilt es, sich rasch zu drehen und zu wenden. In dem Hafenrund taucht der Seehund unter; man sieht den langgestreckten Körper wie einen dunklen Schatten zum helleren algenbewachsenen Meeresboden hinunterschießen. Er schwimmt von einem Strand zum andern; nur für einen Augenblick streckt das Tier an irgendeiner unvermuteten Stelle die Nase heraus und füllt sich die Lungen mit einem einzigen Schnaufen – man kommt nicht zum Zielen. Ein Schuß geht ins leere Wasser; der Seehund ist schon wieder drunten, als die Kugel an der Stelle, wo der Kopf soeben sichtbar gewesen war, das Wasser aufspritzen läßt. Aber jetzt – kommt er nicht wieder an die Oberfläche? Valle steht mit dem Gewehr am Auge und verfolgt das Dahingleiten des dunklen Streifens dort unten; dieser kommt höher herauf, wird deutlicher, und in dem Augenblick, wo der Wasserspiegel von der ersten Ahnung von Schwärze zerbrochen wird, schießt er. Dem Seehund wird der Schädel durchbohrt, mausetot dreht er den helleren Bauch nach oben und geht wieder langsam unter.
Der Bussar bricht in sein herzliches schallendes Gelächter aus und zieht einen Draggen hervor.
»Herrlicher Anfang, holt ihn! poff – toff … fünfzig Mark Schießprämie und ein prächtig gezeichnetes Fell!«
Nach diesem unbeabsichtigten Vorspiel wird das Netzboot in das Hafenrund hineingezogen, wo es hinter den Felsklippen verborgen liegt; der Mast wird umgelegt, damit er sich nicht gegen die Luft abhebt. Nur der Kahn muß zur Hand sein und wird in einer tiefen Felsspalte im Sund versteckt.
Sie klettern an Land, um ihr eigentliches Vorhaben ins Werk zu setzen. Auf der nördlichen Luvspitze der kahlen Schäre lassen sie sich nieder, die beiden Alten mit ihren Handkanonen, die auf den Felsplatten in den geschnitzten Flintenböcken liegen, und Valle mit seinem leichten Mausergewehr über den Knien. Dann recken sie die Hälse und stimmen in einem miauenden Dreiklang an: »Buuiioo! … Buuiiooo! …«
Der Lockruf des alten Bussar erinnert an eine ausgediente Sirene, die langgezogen darüber klagt, daß sie keine Stimme mehr hat. Übrigens kommt es nicht so sehr darauf an, wie man ruft; der Seehund hat selbst so viele Töne, daß alles, was auch der Hals hervorbringt, fast immer einem von ihnen gleicht, und er ist ja überdies von allen Tieren eines der neugierigsten. Viel schwieriger ist er in geringer Entfernung zu behandeln, wenn er glücklich da ist. Aber nur die Graurobbe horcht wirklich auf die Lockrufe; ihr kleiner Vetter, die Schwarzrobbe, kümmert sich wenig darum.
»Buuiioo! … Buuiiiooooo! …«
Sie haben einen ziemlich hohen Felsen im Rücken, so daß sie, von See her betrachtet, mit dem Berg verschmelzen, sonst aber sind sie ganz ohne Deckung. Der Seehund, der große Fischräuber, hat Wasseraugen. In der Luft kann er sich nicht auf sie verlassen, und er muß außerdem bedenklich farbenblind sein; anscheinend ist ihm seine ganze Umgebung ein unklares Schattenspiel. Am wichtigsten für den Jäger ist es, sich wie eine Bildsäule vollkommen ruhig zu verhalten, solange der Seehund den Kopf über dem Wasser hat, und rasch die Stellung zu ändern, während er untertaucht; das schlimmste ist, wenn man sich so bewegt, daß sich das Gewehr oder der Hut oder ein Arm gegen die helle Luft abzeichnet – da sind des Seehunds Augen gut genug, den Menschen zu ahnen, und wie der Blitz ist er dann verschwunden.
»Buuiioooooo! …«
Der Ruf dringt heute nicht weit hinaus, es weht zu stark am Strand, und der Wind treibt den Ton in verkehrter Richtung zwischen die Schären hinein statt hinaus aufs Meer. Weit, weit draußen sehen sie manchmal einen Seehundkopf wie einen dunklen Punkt auf der Wasserfläche, und dann wieder einen, aber alle ziehen stolz vorbei; sie hören die Rufe nicht, oder kümmern sich nicht darum. Es ist jetzt bald ein Uhr, die Zeit des Tages, wo ein sanfter Nordwest schon wieder schwächer geworden zu sein pflegt; aber heute scheint er keine Lust zu haben, sich zu legen. Irgendwo an der schwedischen Küste drüben befindet sich ein Loch, aus dem die Böen hervorkommen, um sich wie eine Trichteröffnung auszudehnen, die weiter und immer weiter wird. Die drei warten und warten und lassen die Fernrohre nach allen Seiten spielen. Nein, es sieht nicht aus, als ob sich der Wind legen wollte, die Wasserfläche ist überall gekräuselt, stellenweise stärker und streifiger, stellenweise weicher und bläulicher schimmernd.
Dann entdecken Jannes fernsichtige Späheraugen etwas, und er deutet darauf hin. »Ja, jetzt wird's jedenfalls windstill – seht dorthin!«
Drüben beim Leuchtturm von Ljungarn auf der schwedischen Seite bewegt sich ein Dampfer. Eben fährt der qualmende Schornstein an dem weißen Leuchtturm vorbei, der wie eine dünne Kerze direkt aus dem Meer steigt. Aber die Rauchfahne liegt nicht über dem Wasser, sondern steigt kerzengerade auf und breitet sich langsam aus, wie der Wipfel einer schwarzen Palme. Also ist dort drüben im Nordwesten luvwärts eine vollkommene Windstille. »Gut, dann haben wir sie nach einer Weile auch hier.«
Und die Windstille tritt ein.
Die Brisen fangen miteinander zu streiten und von allen Seiten zu wehen an. Bald wehen sie auf die Sonne zu, bald sind sie sanfter und haben die Sonne im Rücken. Glänzende Streifen fressen sich in den blauen Teppich des Meeres hinein, sie bilden eine Schlinge um das Feuerschiff der Brotthällen herum, dessen dicker Mast wie ein dunkles Insekt dort im Lichte schwebt; sie legen eine riesengroße silberne Platte unter den Ziegelturm des Galten und heben dieses einer Festung ähnliche Spielzeug ein Stück empor, sie breiten sich aus in ölige Gürtel, fließen ineinander zu runden, schlafenden Inseln und fressen sich weiter auf dem Antlitz des Meeres wie eine wuchernde Hautkrankheit. Aber das Meer leuchtet und lacht nur über die Krankheit und schlägt sein gewaltiges Auge der Sonne entgegen immer größer auf. Die letzten Brisen verziehen sich nach den Schären zu und legen sich als schwarzblaue Streifen da und dort unter Land; aber rings um den Sattel her wird alles zu einer spiegelnden Unendlichkeit von Luft und Wasser. Irgendwo mitten in dem glühenden, schwankenden Ungewissen schweben zwei blendendweiße Sommerwolken. Man weiß nicht recht, wo, denn sie liegen ebenso klar hier unten wie dort oben. Die Augen verlieren sich in diesem Abgrund von Sonne, das einzige Feste ist die rote von Strahlen übergossene Felsinsel mit ihren glühendheißen Steinblöcken. Einige Einsiedler von Maikäfern surren den Schützen um die Köpfe, das ist alles, was geschieht. Und unter der spiegelglatten Oberfläche atmet das Meer mit gleichmäßigen Zügen; die Strandlinie vor ihren Füßen weicht zurück und rollt in einer von Schaum eingefaßten Dünung hinaus.
Irgendwie erscheint es immer verkehrt und unrichtig, wenn in einem Zweikampf der Naturmächte die Windstille, das reine Nichtstun, die Schlacht gewinnt. Das ganze Dasein und der Mensch selbst sind so sehr auf Gegensätze eingestellt. Auch die drei dort auf der Landspitze sitzen eine Weile grübelnd still und schicken nur ab und zu ihren flehenden Lockruf in die Weite. Nicht einmal der Bussar rückt mit irgendeiner Behauptung heraus; er faltet nur seine Hände auf dem Leib und nickt andächtig. »Jetzt, Kameraden, jetzt haben wir die Flaute.«
Dann kommt er plötzlich daher, der alte graue Seehund in eigener Person. Niemand hat ihn vorher bemerkt; plötzlich aber streckt er nur zwei Kabellängen entfernt seinen schnaubenden großen Hundekopf heraus. Und nun beginnt das Spiel.
Die Reihe zu schießen ist am Bussar; das geht dem Alter nach. Janne soll die Köterlaute machen und das Versteckspiel weiterführen. Valfrid hat nur regungslos dazuliegen und zuzusehen. Solange der spähende Kopf dort drüben verschwunden ist, bleiben alle drei still wie Bildsäulen. Auch der Lockruf wird augenblicklich eingestellt – auf so kurze Entfernung kann ein erfahrener alter Seehund allzuleicht hören, daß ein falscher Ton in dem Pfeifen ist. Nur Janne, der geriebenste von ihnen, läßt ein ganz schwaches Wimmern durch die Nase hören, das in ein Mittelding zwischen einem Zischen und Schnarchen übergeht. Und der Bussar flüstert vor sich hin: »Ein gefährlicher Kerl, dieser alte Großvater!«
Aber beim ersten Untertauchen vollzieht sich eine rasche Veränderung. Auf seinem kranken Bein und mit seinem mageren Hinterteil in der Luft, kriecht Janne bis ans Wasser, wo er sich zusammenkauert und seinen Rock von hinten her über den Kopf zieht, während der Bussar sich vornüber auf einen flachen Stein wirft und seinen Körper in bequeme Schußstellung bringt, mit dem Flintenlauf noch immer auf dem Bock und dem Kolben an der Wange. Jetzt taucht der Seehund wieder auf, und zwar bedeutend näher; er bewegt die Nase und wittert. Nein, heute bekommt er keine Witterung von Menschen, nicht ein Lüftchen regt sich. Alle drei fauchen leise, so wie der männliche Seehund es zu tun pflegt, wenn Gesellschaft kommt. Und jetzt beginnt Janne sein Spiel. Aber trotz der Spannung muß Valle unwillkürlich an ein Bild denken, das er irgendwo einmal gesehen hat, und das einen betenden Mohammedaner auf seinem Teppich darstellte. Etwas murmelnd, was von fern einem Gebet gleicht, beginnt sein Stiefvater mit dem Kopf zu nicken, ein paar schweißtriefende Haarsträhnen hängen aus dem zusammengezogenen Rockkragen aufs Wasser hinunter, und jetzt wirft die Dünung über den grauen Haarschopf und den ganzen Oberkörper eine gewaltige Abspülung. Aber behend hustet Janne das Wasser aus dem Mund und setzt das Spiel mit einer anderen Bewegung fort: jetzt wiegt und krümmt er sich in seinem demütigen Gebet mit heraufgezogenen Schultern, die Arme um den Leib gepreßt, als ob sich sein ganzes elendes Innere vor Schmerzen bäumte. Und der erfahrene Seehund lauscht willig auf das Flehen, er möge doch so freundlich sein und sich erschießen lassen. Er nähert sich im Zickzack unter wiederholtem Untertauchen, und so oft er den Kopf wieder herausstreckt, hat der Bussar seinen Schießbock über die Steinplatte weitergeschoben und sein unhandliches Kanonenrohr auf einen Punkt gerichtet, der bis auf wenige Meter richtig berechnet ist. Der Seehund schaukelt auch nicht merklich in der Dünung, schwimmt überhaupt kaum oben auf dem Wasser; er streckt seinen Kopf hoch heraus, dreht ihn hin und her, schnaubt und glotzt. Er ist offenbar ganz arglos und ahnt keine Gefahr.
Jetzt ist er kaum noch fünfzig Meter vom Land entfernt, jetzt taucht er unter – da, jetzt ist er wieder oben, noch näher; wie eine Boje und mit dem ganzen breiten Hals sichtbar, steht er im Wasser. Gerade unter ihm ist seichtes Wasser und nicht sehr steiniger Grund – warum schießt der Bussar nicht? Ach nein, er will das Biest ganz dicht vor sich haben, er verläßt sich nicht auf seine trüben Augen. Valle richtet den Blick auf ihn, ohne den Hals zu drehen. Der Bussar liegt da und preßt unentwegt seine gedunsene Altmännerwange gegen den Gewehrkolben; auf seinem leuchtend roten Riechhorn sind zwei Adern wie blaue Regenwürmer hervorgetreten und legen Zeugnis ab, daß er aufs höchste gespannt ist. Das linke Auge hält er während des Zielens geschlossen, das rechte aber steht mit einem gehässigen Blick aus dem triefenden matten Spiegel weit offen; seine abgenützte Lampenbürste von Schnurrbart hängt zu beiden Seiten des Kolbens vom Hals herunter, und aus dem offenen Mund mit den tabakbraunen Zahnstumpen steigt ein zorniges Zischen. Komisch, wie sehr er selbst gerade jetzt so einem alten grauen Großvater von Seehund gleicht!
Als das Tier abermals untertaucht, schlägt der Bussar mit dem Zeigefinger der linken Hand hastig ein Kreuz über seinen Flintenlauf. Aber vielleicht hat sich der Seehund jetzt für immer verabschiedet – er bleibt gar so lange drunten … Nein, eben steigt er wie ein Haublock wieder aus dem Wasser herauf, nur ein paar Armlängen vom Strand, man kann die Schnurrhaare um seine Nase zählen. Er glotzt geradezu nach dem Bussar hin, der den Gewehrlauf kaum merklich zur Seite rückt. Und endlich fällt der Dampfhammer, das Zündhütchen sprüht, und der Schuß knallt. Es ist ein Volltreffer; langsam sinkt der vom Schuß durchbohrte große Hundekopf unter, und rotschäumende Blasen steigen perlend herauf.
Trotz der kurzen Entfernung bleibt der Bussar nach allen Regeln der Kunst mit seinem Schießgewehr im Arm unbeweglich liegen, bis Janne den Kolben von beiden Seiten zwischen einigen Steinen fest verstaut hat; erst dann steht der Schütze auf. Der Flintenlauf in seinem Schießbock deutet wie ein Wegzeiger auf einen Punkt draußen im Wasser: dort ist der Seehund gesunken.
Sie fahren im Kahn hinaus, die Beute zu bergen. Sie brauchen nicht lange zu spähen und zu suchen, schon nach einigen Ruderschlägen ist die richtige Stelle gefunden, ohne daß sie sich nach dem Flintenlauf am Strand hätten umsehen müssen. Aus dem klaren, aber doch zwei Faden tiefen Wasser quillt es blutig herauf und breitet sich wie eine schwere Wolke über die Umgebung. Janne läßt seinen scharfen Draggen da, wo die Blutwolke am dichtesten ist, auf den Boden hinuntergleiten; mit einem Ruck hat er die Beute erfaßt und zieht sie ohne Schwierigkeit an die Oberfläche herauf. Aber in der Luft wird der gewaltige Körper schwer. Erst als Valle die mit Schwimmhäuten versehenen Füße fest gepackt hat, gelingt es ihnen mit vereinten Kräften, den Teufelskerl über den Bootsrand hereinzuziehen.
»Nehmt euch vor den Seehundläusen in acht!« sagt der Bussar und betrachtet mit Sachkenntnis den struppigen, teilweise kahlen Pelz. Aber er entdeckt keines von den kleinen Tierchen, die feinem rotem Sand gleichen und ein heftiges Brennen hervorrufen, auf der menschlichen Haut aber kaum länger als eine Stunde weiterleben.
»Hinauf an Land und den Kessel aufgesetzt!« poltert er. »Jetzt wollen wir uns einen ordentlichen Kaffeeschnaps genehmigen!«
Tatsächlich lohnt sich's vorderhand gar nicht, an einen weiteren Schuß zu denken, wenigstens nicht auf der äußeren und besseren Seite der Schäre. Um die Landspitze her, auf der sie saßen, hat sich die Farbe des Wassers in weitem Bogen verändert; es erinnert jetzt an das Rote Meer, so wie sich ein Kind dieses vorstellt. Kein Seehund mit einer gesunden Nase kann da herankommen, und so bleibt den Jägern nichts anderes übrig, als zu warten, bis die Strömung und die leichte Dünung alle Unreinlichkeit ins Meer hinausgeschwemmt haben. Deshalb kann für eine Weile auch ein starker Kaffeegeruch nichts schaden.
Es ist jetzt so unerträglich heiß zwischen dem glühenden und schattenlosen Gestein, daß Valle auf der andern Seite der kleinen Felsinsel einmal ums andere in Hosen und Hemd ins Wasser watet. Selbst der dürre Janne schnauft und schwitzt, aber sein Kamerad weiß einen anderen Kniff. Er schlüpft in seinen Schafpelz und zieht sich eine dicke wollene Mütze über die Ohren. »Da kommt die Sonne nicht durch«, erklärt er sachlich.
Bisher haben sich die beiden alten Männer standhaft jedes starken Getränkes enthalten, denn sie haben oft die Erfahrung gemacht, wie es mit dem Schießen geht, wenn die Augen trüb werden und die Hand branntweinzittrig. Da scheint alles glatt zu gehen, wenn auch überall der Teufel los ist. Überdies hat der Bussar, der eingefleischte Trinker, sich schon seit heute früh im Zaum gehalten. Aber er hat schon seine Belohnung dafür bekommen, und so darf es mit der Nüchternheit jetzt Schluß sein. Als er den Kaffeetopf von dem kleinen Feuerloch in einer Felsenspalte weggenommen und drei gewaltige Blechhumpen vollgegossen hat, zaubert er bedeutungsvoll sein Tönnchen hervor.
Janne hat lange stumm und mürrisch dabeigesessen. Doch wie Bileams Esel bekommt er plötzlich eine Stimme; ob ihm aber ein Engel von oben seine Worte eingegeben hat, ist nicht sicher. »Eingegossen, eingegossen, daß es in der Bucht hier Wellen schlägt!« kommandiert er und streckt seinem Kameraden den Humpen hin.
Der Bussar ist nicht faul, dem Befehl zu gehorchen. Pul-pul-pul … gluckert es aus dem Tönnchen, und auf der Oberfläche von Jannes breitem Trinkgefäß voll Kaffee schäumt und siedet der starke geschmuggelte Branntwein wie eine jäh aufgekommene Brise in einer dunkelbraunen Bucht.
Ein und zwei Kaffeehumpen voll werden es, ja, es werden viele. Valle, dem solche Sauferei gar nicht gefällt, wird ungeduldig und zieht sich allein auf die andere Seite der Schäre zurück. Die ganze abendliche Jagd droht in die Brüche zu gehen. Er sieht mehr als einen Seehund in Locknähe, und er gibt sich alle Mühe zum Schuß zu kommen; aber der Lärm, den die beiden Alten vollführen, ist zu störend. Als er endlich zu ihnen hinüberklettert, um sie wieder zur Vernunft zu bringen, hört er, daß sich ihre Unterhaltung jetzt um seine Mutter dreht.
»Ach du Esel«, grölt der Bussar, »wegen des Norwegers, da kannst du ruhig sein! Meinst du, ein Mann in seinen besten Jahren kümmert sich um Elfrida? Blödsinn, Junge, Blödsinn! Selbst wenn ich dreißig Jahr jünger wär', würd' sie mich nicht in Versuchung führen.«
Janne sieht erlöst aus und mischt sich einen neuen Humpen. »Ja, du bist ein Kenner in dieser Sache, mit all dem Wildhafer, den du gesät hast«, stimmt er zu.
»Bist du eifersüchtig?«
»Niemals! Und das muß ich sagen: als du endlich auf die Freite gingst, hast du keine Laterne mitgehabt. Sonst sähe dein Weib etwas anders aus.«
Der alte Bussar blickt plötzlich recht trübselig in seinen Kaffeeschnaps hinein, als ob darin die Wahrheit zu finden wäre. »Ja, das war wohl der Fehler«, sagt er wehmütig. »Da fällt mir eben ein Gleichnis ein. Als ich in der Türkei war …«
»Halt's Maul, das weiß ich schon!«
»Vielleicht war es auch nur in England. Jedenfalls war es in einer fremden Hafenstadt, wo ich ein altes Wirtshausschild sah, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand: ›Heute um Geld – morgen umsonst.‹ Jawohl, aber siehst du, wann kommt das Morgen, das nicht heute ist? Ich habe versucht, die Leute auf diese Weise hereinzulegen, daß ich einfach in der Kneipe sitzen blieb, bis sie in der Frühe die Wirtschaft wieder aufmachten, aber da haben sie mich hinausgeworfen. Und gerade so hat mir's mein Weib gemacht, und ich hab' die ganze Zeit in fremden Häfen gelegen.« Wie alle Witzbolde hat auch der alte Bussar eine tieftraurige Ader in seinem Innern. Trotz dem glücklichen Schuß hat sich diese am heutigen Abend bei Jannes giftigen Worten geltend gemacht, und der Branntwein gräbt alle Rinnen noch tiefer, einerlei, wohin sie führen. Plötzlich aber rafft sich der Alte auf und sagt: »Ho ho, ich glaub', ich fang' zu heulen an! Janne, kannst du mir sagen, wieviel Pfund Blei hier um den Äußern Sattel herum auf dem Grunde des Meeres liegen? Einige Kilo dazu hab' auch ich von Kindesbeinen an beigetragen. Aber eins ist merkwürdig. Die ganze Welt wackelt jetzt. Als ich noch ein Kind war und zum erstenmal hier draußen stand, ging die Sonne um Johanni gerade hinter der Bergkuppe dort unter. Aber bald, bald wirst du sehen, daß sie ein gutes Stück weiter nordwärts verschwindet. Wie soll man das deuten? Die Erde torkelt aus ihrer alten Bahn, ja ja, glaub mir nur …« Die frommen Hundeaugen des Bussar blinzeln verwundert nach der Meeresfläche hin, die in ihrem unendlichen Spiegel die erste Ahnung des Abendrots auffängt.
Jetzt hält Valfrid den Augenblick für gekommen, das Trinkgelage zu unterbrechen und die beiden Alten an die Jagd zu mahnen, weil es um diese Abendzeit meist die größte Ausbeute gibt. Die Männer fügen sich willig, obgleich sie ziemlich wacklig sind.
Aber kurz vor Sonnenuntergang schießt Janne daneben. Es handelt sich um ein etwa zweijähriges Tier, das sich von einer ganzen Schar klügerer Verwandten getrennt hat und aufs Geratewohl allein auf Abenteuer ausgegangen ist. Allerdings steht sein Kopf tief im Wasser und mitten in dem blendenden Sonnenstreifen; aber die Schußweite ist die beste, als der Schuß fällt.
»Das ging zum Teufel!« sagt der Bussar, während die Bleikugel über die leere Wasserfläche tanzt.
Janne hebt seinen schweren Vorderlader in die Höhe und fuchtelt zornig damit herum.
»Entweder bist du zu besoffen, oder jemand droben an Land hat dir die Flinte verhext«, meint der Bussar tröstend. »Vielleicht die Ira, das Lumpenmensch.«
Als Janne wieder ladet, macht er es wie sein Kamerad; er schlägt ein Kreuz über der Kugel, ehe er sie mit dem langen Ladestock durch den Gewehrlauf stößt. Aber er sagt mißtrauisch: »Wie merkwürdig es in der Mündung kratzt!«
Valle schweigt.
Und sie trinken noch mehr Branntwein, Trostbranntwein. Grade bei sinkender Sonne schießt Valle auf der andern Seite der Schäre einen ausgewachsenen weiblichen Seehund. Aber das Tier ist zu weit draußen gesunken, das Wasser ist dort seine vier Faden tief und der Boden steinig. Irgendeine Hilfe zum Suchen des Seehunds ist an diesem Abend nicht mehr aufzutreiben; die Beute muß also liegen bleiben, bis morgen die beiden Alten wieder nüchtern sind und es heller Tag ist.
Jetzt geht die Sonne unter. Glutrot und gewaltig plumpst die feurige Kugel ins Meer, man meint fast zu hören, wie das Wasser um den glühenden Ball her aufkocht. Jetzt leuchtet es nur noch wie der Widerschein einer Feuersbrunst unter dem Gesichtskreis und sendet zitternden Purpurstaub in die Luft. Ein leichter Schauer zieht über die Wasserfläche; es ist der nächtliche Nordwind; aber er stirbt rasch dahin.
Valle richtet unter freiem Himmel ein Nachtlager für die zwei älteren Männer, legt Polster auf den kahlen Boden und Schaffelle darüber. Es fängt plötzlich kühl zu werden an. Die beiden Kameraden wanken heran, um ein paar Dämmerstunden zu verschlafen. Janne hat sich dick eingehüllt, der Bussar aber trotz der eintretenden Kühle die warmen Hüllen abgenommen. Er wirft sich sofort nieder, faltet die Hände über der Brust und flüstert zu dem blaßblauen Himmel hinauf: »Ja, ihr Leute, jetzt haben wir die Flaute.«
Dann vergeht eine kurze Nacht auf dem Äußeren Sattel. Nicht ein Lüftchen regt sich, der Tabakrauch steigt kerzengerade in die Höhe. Um sie her verschmelzen Himmel und Wasser ins Ungewisse. Nicht einmal die gewohnten Lichtstreifen von den Leuchttürmen her kreuzen sich auf der Wasserfläche in dieser hellsten Zeit des Jahres, weil die Feuer gelöscht sind. Nur von der schwedischen Seite herüber flammt der Ljungarn in der blauen Meeresnacht wie eine weiße Blume auf, viermal und wieder viermal; das sind Grüße aus Schweden. Und über der stillen Schäreninsel schwirren kleine Mücken in wirbelndem Tanz durch die Luft, während die leise atmende Dünung ab und zu einen murmelnden Schaumkranz um den Strand wirft.
»Gut Nacht! Jetzt schlafen wir … Buuiiooooo! …«
Janne dreht sich um und schlägt mit seinem kranken Fuß im Seehundschlappen aus. In demselben Augenblick erwachen alle drei. Ist nicht irgendwo in der Nähe Motorgeräusch zu hören?
Dem Bussar ist alles gleich; er liegt gut und brummt etwas davon, die Sonne sei ja noch nicht aufgegangen. Aber die beiden andern nehmen die Fernrohre in die Hand und knieen sich im ersten Tagesgrauen auf.
»Gehorsamer Diener!« zischt Janne, »das Leben ist beim Satan so verrückt geworden, daß man auf alles gefaßt sein muß. Der Stark von Ankarö und sein Mädel, glaub ich … Aber nicht der Junker, der Spitzkopf. Sie steuern hierher.«
Er richtet sich zu seiner ganzen Länge auf, daß er wie ein Seezeichen gegen die Luft dasteht, und dies bedeutet, daß der Platz besetzt und weitere Gesellschaft nicht erwünscht sei.
»Hoho, zum Teufel, der Stark begnügt sich nicht mit seinen eigenen schönen Gewässern, er will auch noch die allgemeinen Fischgründe besteuern, obgleich er schon alle Hosentaschen voll Geld hat und Sparbücher und alles. Ja, du sperrst dein Maul weit auf, Geierschlund, sieh zu, ob du auch schlucken kannst, was du hineinschlingst!« So ausführlich hat Janne schon lange nicht mehr gesprochen; vielleicht war er vom Trinken noch ein wenig benommen.
Der Bussar aber bleibt ganz gleichgültig. Als er seinen Morgenhusten herausgestoßen hat, stimmt er, noch immer behaglich auf dem Boden liegend und sein leuchtendes Riechhorn zum Himmel erhoben, an:
»Nach einem großen Erwerber
Kommt gewöhnlich ein Erber,
Der wird ein großer Verderber!«
Valles Herz hämmert krankhaft hart. Er sieht, wie das Ankaröboot Kurs auf den Inneren Sattel zu nimmt. Es ist nicht der Lotsenkutter, sondern das kleine Motorboot des Leuchtturmwächters. Tuva ist darin, das sieht er deutlich, Tuva und ihr Vater. Vielleicht war Stark schon gestern hier gewesen und hatte die drei entdeckt und wollte jetzt einen Versuch machen, die Schützengesellschaft zu bilden, von der er gesprochen hatte, als er mit der Erinnerungsmedaille daherkam, die dann ins Meer geflogen war. Aber Janne stand im Wege, natürlich. Valle schielt nach dem Stiefvater hin, der hoch aufragt wie ein Signal, auf dem geschrieben steht: »Pack dich!« Er hat die größte Lust, dem Alten einen Fußtritt zu geben, daß die mageren Beine einknicken.
Das Ankaröboot steuert glatt auf den Inneren Sattel zu und verschwindet in dem tiefen Hafenrund zwischen den Klippen. Gleich nachher ertönen Lockrufe von der Schäre her, deren holperige Steinplatten mit Vogelmist von den widerwärtigen Kormoranen übersät zu sein pflegen. Mit bloßem Auge kann man den Leuchtturmwächter dort auf der Westseite in einer verborgenen Felsenspalte sehen und Tuva neben ihm. Sonderbar, daß sie bei allen seinen Seefahrten mit dabei sein muß! Aber der Junker ist ja jetzt im Sommer wegen der Vermessungen nicht zu Hause, und die Lotsen und die Feuerwärter haben wohl Urlaub, solange die Feuer während der hellsten Nächte gelöscht sind.
Allerdings weht es etwas, und es ist nicht grade günstiges Wetter für den Inneren Sattel; aber eine ganze Karawane von Seehunden scheint jedenfalls dahin zu treiben, Kopf an Kopf. Gleich darauf schießt der Leuchtturmwächter, einmal und nach ein paar Minuten noch einmal, aber immer daneben. Kein Boot wird ausgesetzt, eine Beute zu bergen. Jannes Augen leuchten zustimmend. Ja, du sperrst das Maul auf, du Geierschlund … Und als ein dritter Schuß vom Inneren Sattel her dröhnt, kippt er einen tüchtigen Morgenschnaps, der das Gegenteil von einem Schlachttrunk ist und noch zehnmal angenehmer.
Aber es dauert nicht lange, bis sie um ihre eigene Schäre her Seehunde haben. Janne liegt in Schießstellung, und er schießt auf kürzesten Abstand vorbei – der Bussar verstand die Kunst, den Seehund so nah herbeizulocken, daß es schien, als wolle er sich an den Klippen festkrallen. Hier kann aber weder ein Sonnenstreifen, noch etwas anderes schuld sein.
»Der Schuß zum Teufel«, verkündet der Bussar bedauernd. »Ja, entweder bist du noch benebelt, oder es hat jemand droben an Land … Vielleicht die Hexe, pfui Kuckuck …«
Janne richtet sich nach dem Schuß auf, er sieht furchtbar aus. Wild faßt er seine schwere Flinte mit beiden Händen und haut damit wie mit einem Hammer auf die Felsen. Holzsplitter fliegen vom Kolben und Vorderschaft, das Schloß sprüht Funken auf den Stein und wird zu zermahlenem Schrott, selbst der lange Lauf biegt sich, und dann schleudert Janne das mißhandelte Skelett seines getreuen Dieners ins Meer hinaus. »Teufel«, röchelt er heiser, »jetzt weiß ich, wie's zugegangen ist!«
Valle klettert zu ihm hin und faßt ihn behutsam am Rockärmel. »Es hat keinen Sinn, so heftig zu sein, Vater«, sagt er ruhig. »Du hast doch gehört, daß der Leuchtturmwächter dreimal daneben geschossen hat. Und weißt du, warum? Dafür hab ich gesorgt …«
Der Stiefvater starrt ihn erst mißtrauisch, doch allmählich immer freundlicher an. »Gott segne dich, Junge! Und jetzt holen wir die Beute herein.«
Sie fahren mit dem Kahn hinaus und suchen nach Valles Seehund von gestern abend; nach einer Weile entdecken sie auch das Tier in der von der Sonne immer heller durchleuchteten Tiefe und lassen den Draggen hinunter. Da wo der Seehund, ungefähr vier Klafter tief, im Wasser liegt, ganz ruhig und ohne Blutspuren, sieht er aus wie ein Strömling; aber oben in der Luft bekommt er einen ganz anderen Umfang und ein anderes Gewicht.
»Hä-hä-huii!« grunzt der Bussar, als sie den toten Seehund in den inneren Hafen bis zu einer Strandklippe hinbugsieren. Da legen sie ihn ins Kielwasser neben die zwei anderen aufgedunsenen und schon stinkenden Körper; der erste ist gewaltig groß, der zweite klein, aber kugelrund wie ein Mehlsack, und der letzte an Größe ungefähr mittendrin. »Dies sieht ja, potz Türkensäbel, aus wie ein Kapitalfang! Wenn wir eine Woche so weitermachen … Was meinst du, wie viele der aufgeblasene Stark an Land hat? Den Rauch von drei Fehlschüssen, Junge, aber nicht ein einziges Härchen. Ich meine, wir haben uns jetzt einen Kaffeeschnaps verdient.«
Grade in diesem Augenblick knallt es vom Inneren Sattel her zum viertenmal; aber kein Kahn wird ausgesetzt, um etwas hereinzuholen. Jannes Augen beleben sich aufs neue und funkeln schadenfroh. Na ja, wenn er auch seine eigene Flinte kaputt geschlagen hat, dann gibt's ja schönere und neuere Gewehre, die, scheint's, auch nicht mehr Glück haben. Valle, Valle, Gott segne dich!
Der Bussar gießt einen ordentlichen Schwall Branntwein in Jannes Humpen mit einem Rest von kaltem Kaffee; aber grade in diesem festlichen Augenblick sieht er, daß mit seinem Gefährten etwas nicht in Ordnung ist.
»Du zitterst ja mit der Hand, daß der Branntwein überschwappt«, sagt er bekümmert.
»Ach was«, erwidert Janne, »ich war nur ein wenig wütend.«
Aber es ist kein Zittern, das ohne weiteres vorübergeht. Jannes magerer Körper wird von einem Schüttelfrost nach dem andern gerüttelt. Er trinkt unmäßig viel Branntwein; aber die Wärme will nicht in seinen Körper zurückkehren, obgleich die Steinplatten unter ihm schon lau werden.
»Du hast Fieber und bist nah daran, irre zu reden«, stellt der krankheitskundige Bussar fest. »Aber von deinem Fuß kommt das nicht her, niemalen nicht, Junge, den hab ich selbst zugepflastert.«
Janne wird immer unklarer und verwirrter; es ist deutlich, daß er von hier fortgeschafft und ins Bett gesteckt werden muß, und schließlich sieht er das selbst ein. »Jungens, setzt das Segel und lotst mich heim zu meiner Frau. Denn jetzt fall' ich bald um!«
Wahrhaftig, das sieht ihm nicht gleich. Heim zu meiner Frau … Bedeutet dies, daß wirklich Gefahr im Verzug ist?
Aber in einem Augenblick klaren Bewußtseins glotzt Janne mit seinen rot unterlaufenen Augen Valle befehlend an. »Du bleibst hier, Valle! Laß den Schurken von Ankarö nicht kommen, schieß auf ihn, wenn er sich zeigt! Der Bussar fährt mich heim. Du hast den Kahn und kannst rudern, aber er wird nicht viele Zoll über Wasser liegen, wenn du heimkommst. Denn du kannst schießen, Junge.«
In aller Eile schaffen sie ein Polster in das Netzboot und legen Janne darauf; fast alles andere wird bei Valle auf der Schäre zurückgelassen, auch die toten Seehunde.
»Ich bin wohl morgen wieder hier«, sagt der Bussar.
Seine borstigen Trossen von Armen fahren durch die Luft, als er den Mast aufrichtet und das Segel hißt, während Valle bis an die Brust ins Wasser watet und das Boot aus dem inneren Hafen holt.
Der Bussar läßt sein Gesicht in bekümmerten Falten hängen, gleich einem alten Gerberfell; wortlos holt er die Schot ein, umfährt die Südspitze und nimmt bei der schwachen Brise Kurs zur Küste.
Wie langsam es geht! Valle verfolgt die Fahrt mit dem Fernrohr, das Netzboot macht seinen Weg gleichmäßig bei dem leichten Morgenwind. Eine einzige Gestalt ragt über den Bootrand auf, das ist des Bussars bekümmert nickender Kopf ganz hinten an der Ruderpinne, Janne mußte also vorn auf dem Polster liegen geblieben sein. Aber grade, als sie an dem Inneren Sattel vorbeistreichen, geschieht etwas Sonderbares. Das Boot dreht mit flatternden Segeln bei und fährt fast bis auf den Strand hinauf. Der Bussar richtet sich auf, fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und ruft etwas. Auf den Steinplatten dort drüben wird es lebendig. Schon nach wenigen Minuten ist der Stark mit seinem Motorboot draußen, wirft eine Fangleine hinüber und nimmt das Netzboot in Schlepp. Er allein … Tuva steht auf dem Holm und sieht ihnen nach.
Was hatte das zu bedeuten? War es mit Janne plötzlich schlimmer geworden, so daß Hilfe nötig wurde? Oder schlief er in seinem Rausch so fest, daß er nicht wußte, was sein Kamerad tat? Na, dann würde es wahrhaftig ein friedliches Erwachen geben … Denn der Bussar war ja kein Todfeind des Leuchtturmwächters, der Alte war zu faul zum Rudern, und vor dem Steven hatte er bald einen schwer zu überwindenden Gürtel von Windstille. Aber daß er das wagte! Und daß Stark sofort bereit war, den beiden betrunkenen Alten zu helfen! Sonderbar alles miteinander …
Die beiden Boote verschwinden langsam auf die Küste zu, das vordere aus dem Auspuff qualmend und das andere mit geborgenen Segeln, bis der Rumpf mit den niederen Klippen weiter draußen zusammenfließt und undeutlich wird. Aber das Stampfen der Maschine ist noch lange, lange zu hören.
Jetzt ist weder Motor- noch Segelboot mehr auf den Sätteln, nichts als zwei Kähne, auf jedem Sattel einer.
Valle sieht, daß Tuva wieder wie zuvor in dieselbe Felsspalte auf der Westseite hineinkriecht. Hat das Mädchen etwa die Absicht, zu schießen, wenn sich Seehunde zeigen? Er glaubt zu sehen, wie sie sich auszieht und nun im bloßen Hemd dasitzt, ein buntes Tuch um den Kopf, sicherlich als Schutz gegen die Sonne. Aber das ist keine passende Tracht, wenn ein Seehund in Schußweite kommen soll, so blind ist der doch nicht. Auch ist kein Lockruf zu hören.
Warum sitzt er eigentlich selbst hier auf der östlichen und schlechtesten Seite der Schäre, wo der sehr steinige Boden eine kleine Strecke vom Strand schon mehrere Faden tief jäh abfällt und sich das Schießen kaum verlohnt? Und er ruft nicht einmal, starrt nur geradeaus auf einen kleinen grellfarbigen Punkt, der sich eine halbe Seemeile entfernt aus einer Felsspalte abhebt. Sogar sein Fernrohr läßt er unberührt liegen, er begehrt gar nicht zu erfahren, wie Tuva dort drüben wirklich aussieht; nein, auf diese Weise ist es am besten und schönsten. Mit dem Fernrohr verbinden sich allzu trübe Erinnerungen; das macht alles so kalt, hart und unheimlich, aber ohne das Rohr kann er sehen, was er will. Eigentlich weiß er ja gar nicht, ob sie in einem dünnen feinen Hemd und mit einem seidenen Tuch um den Kopf dort drüben sitzt – aber irgendwie sitzt sie jedenfalls dort. Und aus dem dünnen weißen Zeug lugen ihre fein geäderten Brüste hervor, heben und senken sich wieder wie zwei rosenrote Quallen. In seinem Gedächtnis ist alles, was sich soeben zugetragen hat, wie ausgelöscht. Was gehen ihn zwei betrunkene alte Männer an, der eine krank und zum Platzen voll Haß, der andere gut Freund mit der ganzen Welt und schlapp wie ein Handschuh? Was geht ihn der Leuchtturmwächter an und die ewige Feindschaft? Was unbrauchbar gemachte Netze, unbrauchbar gemachte Boote und Gewehre oder die heutige sonderbare Schleppfahrt? Für ihn gibt es nur einen Menschen auf der weiten Welt, Tuva, und sie sitzt in einem Felsspalt dort drüben, nur eine halbe Seemeile von ihm. Woran denkt sie wohl in diesem Augenblick? Wenn er das doch wüßte …
Heute tritt die Flaute früher ein. Es ist, wie wenn das Meer am Morgen einen großen, dunstigen blauen Atem über die Wasserfläche hingehaucht hätte, der ihr nachher helfen soll, mit unsichtbarer Hand ihren Spiegel blank zu reiben. Alles ringsum ist dann wieder eine unendliche sonnenerfüllte Wölbung, in der ein paar zerstreute Wolken schweben. Nicht die allergeringste Dünung plätschert gegen den Strand, jede Bewegung hat aufgehört, wie gleich nach der Erschaffung der Welt. Nur bisweilen werden in der Ferne Vogelstimmen laut; wo aber, ist nicht zu unterscheiden. Doch nirgends ein Dampfboot, das mit dem Ton einer dumpfen Trommel auf der großen Wasserstraße einherzieht, und auch kein Geknatter eines Motors zwischen den Schären. Von dem Leuchtturmwächter ist nichts zu sehen noch zu hören.
Valle versucht es mit einem Lockruf. Da merkt er, daß, wie man sagt, ein »Hall« in der Luft ist. Das Echo aus dem leeren Raum wirft den Ruf zurück, der gleichsam an unsichtbare Glaswände schlägt, einmal ums andere, erst näher und stärker, dann immer ferner und schwächer. Noch nicht oft hat Valle dieses zauberische Klingen hier draußen auf dem Meer erlebt, und seine Phantasie erblickt darin ein Zeichen, daß diese Stunde zu den auserwählten gehört, die nie wiederkehren.
Im gleichen Augenblick hat er den Lockruf vergessen, er hat ja nicht einmal seine Flinte zur Hand. Ein einziges Wort will ihn fast zersprengen, und wie im Taumel ruft er mit der ganzen Kraft seiner Lunge übers Wasser hin:
»Tuva! Tuuuva …!«
Und tausendfältig wirft das Echo den Namen zurück: »Tuva! – Tuuva! – Tuuuva …!«
Ohne zu wissen, wie lange er so gerufen hat, wacht er davon auf, daß ein Kahn aus dem Inneren Sattel herausschießt und mit mädchenhaft kurzen Ruderschlägen hierher hält.
Einen kaum bemerkbaren Strich, schwarz wie Kohle, ritzt er in den glänzenden Wasserspiegel. Als Valle den Kahn näherkommen sieht, weiß er nicht, was er lieber will, fluchen oder segnen. »Soll die Qual noch größer werden?« jagt ihm die Frage durch den Kopf. – »Sie kommt, sie kommt!« jubelt es gleichzeitig.
»Du hast mich gerufen«, sagt Tuva und zieht den Kahn an Land.
»Vielleicht … Nein, ich glaub' nicht«, antwortet er verwirrt.
»Doch, du hast gerufen! Eine gute Weile sogar.«
Sie ist gar nicht so angezogen, wie er sich gedacht hat; sondern in Bluse und Rock, zwar ohne Strümpfe, aber ihre Füße stecken in Schuhen, denn die Steinplatten werden allmählich empfindlich heiß. Um den Kopf aber hat sie wirklich ein buntseidenes Tuch.
»Sag doch, Tuva … Warum hat denn dein Vater das Boot in Schlepp genommen? … Was um Himmels willen war denn los?«
»Ach, sei ruhig! Der Bussars-Matte schrie, dein Stiefvater sei todkrank; aber wer weiß, ob nicht die beiden Alten eher betrunken waren. Zuerst wollte mein Vater mich mitnehmen, dann aber sagte er, es sähe in ihrem Boot zu gräßlich aus, voll Erbrochenem und so. Deshalb bat er mich zu warten, bis er wiederkommt. Mein Vater ist sehr gut, weißt du.«
»Ach so! Mein Alter war allerdings krank und nicht nur betrunken, wie du meinst.« Valle fühlt sich plötzlich gekränkt und erbittert; in seinem Innern regt sich eine Spur des alten Familienhasses, und er fragt spöttisch: »Warum bemühst du dich eigentlich hierher? Das ist eine lange Ruderfahrt für ein kleines Mädel.«
Aber zugleich sieht er Tuva an. Sie schwingt eine Blechkanne sorglos in der rechten Hand, und ihre braungebrannte Nasenspitze wippt schalkhaft auf und ab, als sie antwortet: »Meinst du vielleicht, ich komm' deinetwegen? Nein, meinetwegen kannst du rufen, solang du willst. Aber ich muß Trinkwasser haben, das ist das Ganze. Man verdurstet ja fast.«
Auf dem kleinen Inneren Sattel gibt's manchmal nichts als schmutziges Regenwasser in irgendeiner geschützten Felsspalte, aber bei der langen Trockenheit ist auch das verschwunden. Hier jedoch auf der größeren Schäre findet sich droben auf dem Gipfel zwischen Moos und kriechendem Gewächs ein tiefes Loch, das einem schwarzen Auge mit langen grünen Wimpern gleicht. Die einen meinen, es sei eine Quelle, die mitten im Meere aufgetaucht sei, andere behaupten, es seien ganz einfach Niederschläge, die sich dort durch Rinnen und Erdschichten hindurch sammeln. Kühl und gut ist dieses Wasser jedenfalls; es versiegt nie, und jetzt läuft Tuva wie eine Bachstelze hinauf und füllt ihre Kanne. Valle bleibt unten beim Kahn stehen und schaut ihr nach – lieber Gott, wie sein Blick auf ihrem zarten Nacken brennt!
»So, jetzt troll ich mich wieder«, sagt sie etwas scherzhaft und wehmütig zugleich, als sie mit der gefüllten Blechkanne zurückkommt. Sie macht einen Schritt auf den Kahn zu.
»Nein«, stöhnt Valle, »nein, bleib da!«
Plötzlich wirft sie die Kanne in die Steine hinein, daß das Wasser überschnappt, schlingt ihre Arme heftig um seinen Hals und gibt ihm einen schallenden Kuß. »Ich wußte es«, flüstert sie mit den Lippen an seinem Ohr. Und in der nächsten Sekunde ist sie verschwunden.
Ganz wirr im Kopf, bleibt Valle wie angewurzelt stehen. Jetzt weiß nicht nur sie, sondern auch er … Oder was soll er glauben? Sie hatte ihn geküßt, aber nicht auf den Mund, sondern auf die rote, etwas runzlige Narbe über seinem linken Auge, die er im Krieg davongetragen hat, als er ganz einfach auf dem Eis stolperte und auf das Schloß einer Kugelspritze fiel. Hält sie ihn vielleicht noch immer für eine Art Helden, trotz allem, was sie von seinem Frevel bei der »Morgengabe« weiß? Und nach allem, was nachher geschah, während sie zusammen in der Bake waren? Hatte ihr denn der Junker nicht erzählt, wer ihn bewußtlos aus der Schußlinie herausgeschleppt und sich dann sofort selbst hinter die Kugelspritze gelegt hatte? Das sähe ihm nicht gleich, dem Hund … Oder … war Tuva blind … so wie man werden soll, wenn …?
Aber wohin ist sie denn? Der Kahn liegt ja immer noch da?
Auf der Nordseite der kleinen Felseninsel findet er sie auf einem flachen Felsen dicht am Wasser.
»Wollen wir jetzt nicht Seehunde jagen?« fragt sie ganz unbefangen. »Ich sehe, du hast deine Flinte mit.« Und sie fängt auf eigene Faust ganz geschickt zu locken an. Er stimmt in ihren Ruf ein; aber hauptsächlich betrachtet er ihren kleinen Mund, der sich lustig rundet, wenn sie ruft: »Buuiioooo!«
Sonst sprechen sie kein Wort.
Nach einer Weile taucht plötzlich ein runder, dunkler Schädel auf, eine Schwarzrobbe. Die macht sich gar nichts aus ihren Künsten. Sie dreht und wendet sich, taucht da und dort unter, hält aber ihre Nüstern immer nur grade über Wasser, kaum zwei Zoll hoch, also ein kleines Ziel. Aber mit seinem leicht beweglichen Gewehr kann Valle sie schließlich aufs Korn nehmen, und er erzielt auch einen Volltreffer. Tuvas Augen leuchten in heller Bewunderung. Sie fahren im Tveholmer Kahn hinaus und bergen die Robbe. Sie ist nicht gerade ein Prachtstück, aber sie hat ein schönes Fell.
»Diese Robbe gehört dir!« sagt Valle, als sie das Beutestück an Land bugsieren und zu den übrigen drei im Hafen legen.
»Danke«, antwortet Tuva und streicht mit ihrer sonnenheißen Hand leicht über seine. Aber dieses Wort ertönt so verspätet, als hätte sie unterdessen an andere Dinge gedacht. Denn sie sitzen aufs neue nebeneinander auf der Felsplatte, gleich still alle beide. Und so vergeht wohl eine Stunde.
Schließlich fragt Valle: »Hast du keine Angst vor deinem Vater? Wenn er dich hier findet? … Allerdings hört man den Motor bei diesem Wetter schon fast vom Tveholm herüber. Aber du mußt doch auch ein gutes Stück zurückrudern.«
Fast empört sieht sie ihm gerade in die Augen. »Ich bleibe hier, bis er kommt. Meinst du, ich tu etwas hinter seinem Rücken? O nein, du kennst ihn nicht. Ich hab ihm gesagt, wie gut du gegen mich auf der ›Morgengabe‹ warst.« Sie senkt die Stimme: »Aber von dem andern, wo du auch häßlich gewesen bist, hab ich nichts gesagt.«
»Und hast du ihm gesagt, warum dein Boot gesunken ist?«
»Nein.«
»Deshalb ist alles auf einer Lüge aufgebaut, nur weil er nichts weiß.«
»Einerlei. Siehst du, diese Geschichte versteht außer dir und mir niemand. Deshalb ist es schon recht, wie er es sich denkt. Und dann will ich dir noch etwas sagen. Vater ist auf den Junker gar nicht mehr besonders gut zu sprechen; er merkt, daß er mich quält und alles verdreht mit seiner Eifersucht. Und das sag ich dir, die Medaille damals, die kam von Vaters eigener Brust.«
Valle denkt daran, wohin die Erinnerungsmedaille gekommen ist; aber Tuva fährt fort: »Wenn du dich also auf ein Jahr nach Australien anheuern läßt und nachher auf die Navigationsschule gehst und das Steuermannsexamen machst … dann bist du in meines Vaters Augen genau so viel wie mein Vetter.«
»Nein, nein, du träumst, Tuva«, unterbricht Valle sie bitter. »Steuermann werden, das kostet Geld.«
Aber Tuva sieht keine Hindernisse. Mit hellem Blick schaut sie ihm in die Augen und legt wieder ihre sonnenheiße Hand auf die seine. »Valle, merkst du denn nicht, daß die alte Feindschaft vorbei ist? Haben wir denn nicht schon angefangen, einander zu helfen? Vater ist ja eben dabei, und du schießt Seehunde für uns! Nein, nein, jetzt wird alles gut.«
Er wendet den Kopf weg und denkt an die unbrauchbar gemachten Gewehre. Aber heute will er sie damit nicht quälen.
Lange sitzen sie mäuschenstill, und die Steinplatten unter ihnen werden von der Sonne immer heißer. Ab und zu schaut er sie verstohlen an. Die Wasserreflexe spielen auf ihrem heißen Gesicht und in dem braunen Haargekräusel, das unter dem buntseidenen Kopftuch hervorquillt. Das Sonnengeglitzer auf der Meeresfläche dringt durch die langen verschleierten Wimpern in ihre Augen und schießt wieder in zwei funkelnden Strahlen daraus hervor, wer weiß wohin.
»Wollen wir nicht wieder locken?« fragt sie.
Ach freilich, das hatte er ganz vergessen. Und sie stimmen an. Tuva hoch und mit spröder Vogelstimme, wie die jungen Robben tun, er gröber und sicherer wie ein alter Seehund. Mit zwei schlanken Fingern faßt sie die Haut ihrer Kehle unter dem Kinn und schüttelt sie, um den Ton richtig schallend herauszubringen.
Doch plötzlich hört sie auf und lauscht. Valle hat den Ton geändert, was in aller Welt schickt er denn da ins Weite? Ja, hat sie es nicht gedacht …
»Tuva!« ruft er. »Tuva!« Es klingt, als müsse er vor Durst vergehen. Und das Echo kehrt mit dem Wort zurück, einmal ums andere: »Tuva – Tuuva – Tuuuva! …«
Lachend legt sie ihm ihre heiße Hand auf den Mund: »Du bist verrückt. Ich bin doch auch kein Seehund, den du erschießen willst.«
Sacht schiebt er ihre Hand weg. »Ja, ich bin verrückt«, gibt er betrübt zu und sieht starr nach dem Berg hinüber.
Da wird sie plötzlich ernst, und er fühlt, wie sich ihr einer Arm tröstend um seinen Hals schmiegt. »Valle«, sagt sie leise, »du brauchst mich nicht mehr zu locken, du brauchst nicht mehr in die leere Luft hinaus nach mir zu rufen. Denn ich bin ja ganz von selbst gekommen und bin hier neben dir, hier hast du mich.«
»Aber was wird dadurch besser?« fragt er verzweifelt. »Du bist von Ankarö, und ich bin nur vom Tveholm. Und … ja, du bist ihm doch schon geschenkt, deinem Vetter …«
Tuva drückt ihren Arm fest um seinen Hals.
»Nein«, erklärt sie, und ihr Stiefelabsatz klopft bekräftigend auf den Boden, »ich bin nicht verschenkt, weder dem Teufel, noch dem Vetter, noch irgendeinem andern. Das bestimm' ich selbst. Dir gehör' ich, sonst keinem!«
Er fährt zusammen und beugt sich wie im Taumel über sie.
Leicht wie ein jagender Wolkenschatten zieht ein Schein von Angst über ihr Gesicht, und das spielende Sonnenlicht erlischt in den weit offenen Augen. Aber er sieht, daß es nur sein eigener toller Kopf ist, der den Schatten wirft. Gleich darauf leuchtet wieder ein Strahl in ihren Augen auf; aber jetzt kommt er aus ihrem eigenen Innern, hell und hingebend ohne Grenzen.
Und auf dem roten Felsen, mitten im flammenden Meer, wird sie sein.
Es ging schon gegen Abend, aber von Tuvas Vater kam keine Nachricht. Valle war glückselig über die Verzögerung; er durfte sie Stunde um Stunde behalten, und doch kämpfte er gegen eine zunehmende Unruhe an. Irgend etwas mußte ja mit Janne nicht in Ordnung sein; oder sollte der Motor am Ende gestreikt haben?
Schließlich zittert durch die Luft der Ton einer Maschine weit drinnen von den Schären her; er klingt leise wie das Ticken einer Taschenuhr, aber in dem Takt kann man sich unmöglich täuschen. Valle sieht stumm zu Tuva hinüber. Würde sie nun zurück auf den Inneren Sattel rudern und tun, als ob gar nichts geschehen wäre? Aber sie macht keine Miene, aufzubrechen, sondern küßt ihn nur auf ihre selbstverständliche Art, wie wenn sie sagen wollte: »Jetzt soll Vater sehen, wo ich zu finden bin.« Und auch für Valfrid ist alles anders geworden. Er denkt nicht mehr an Schleichwege noch an Hinterlist. Etwas Wunderbares ist geschehen, etwas, was alle seine Begriffe über den Haufen geworfen hat. Er fühlt sich als ein fertiger Mann im Bund mit dem Stärksten im Leben und bereit, alle möglichen Stöße entgegenzunehmen. Mag Tuvas Vater fragen, was er will – ich werde ihm erzählen, wer seine Tochter, seinen Augapfel beinahe ertränkt hatte; aber jetzt sitzt sie hier neben mir und ist mein. Daran kannst weder du, noch der Pfarrer mehr etwas ändern, ja nicht einmal Gott Vater selbst.
Langsam wird das Motorboot des Leuchtturmwächters auf der glänzenden Wasserfläche größer. Beim Inneren Sattel vermindert es seine Eile; aber da ist niemand, und so steuert es hierher und fährt an der tiefen Ostseite mit dem Steven geradewegs aufs Land zu. Um die Hafenbucht am anderen Strand drüben kümmert er sich gar nicht; es ist augenscheinlich keine Rede davon, daß er hierbleiben und die Seehundjagd fortsetzen will.
Als Stark an Land springt, gerade vor die Füße seiner Tochter, sind seine Augen ebenso kugelrund wie sein wohlgenährter Körper. Aber schweratmend wendet er sich an Valle: »Du mußt sofort nach Hause, ich nehm' dich in Schlepp. Dein Vater ist ernstlich krank. Zuerst meinte ich, er wäre hauptsächlich betrunken; aber er hat eine Blutvergiftung von der Fußwunde und schon blaue Streifen bis an die Brust herauf. Ich fürchte, es geht mit ihm zu Ende.«
»Hat meine Mutter den Doktor holen lassen?« fragt Valle mit unsicherer Stimme.
Der Leuchtturmwächter schnauft schwer und schaut auf seine Stiefelspitzen herunter.
»Ja, da ist noch etwas – deine Mutter ist fort.«
»Wohin denn?«
»Wenn das einer wüßte! Sie hat einen Brief hinterlassen, und ich glaube … denn deine Großmutter war ganz sonderbar, als sie ihn las. Ich hab' sie von Askvik geholt und bin auch ins Dorf gefahren und habe einen Doktor in der Stadt angerufen; aber er kann erst spät in der Nacht da sein. Der Bussar ist ja auch dort und treibt Unfug mit seinen Spritzen, der Kakerlak!«
»Hat Vater den Brief gelesen?«
»Nein, ich glaube nicht – wir trugen ihn geradewegs in die Kammer hinein. Aber jetzt rasch fort!«
»Ich danke«, bringt Valle heraus. Er ist ganz wirr im Kopf. Ein anderer Stoß, als den er erwartete, hat ihn getroffen.
Eilig verstauen sie alle Gerätschaften in das Motorboot und die Seehundkörper in die beiden Kähne, die nachgeschleppt werden. »Zwei davon gehören euch«, sagt Valle und schiebt als letzte die Schwarzrobbe über den Rand von Tuvas Kahn.
»Danke«, nickt Stark flüchtig und läßt den Motor an.
Sie machen einen Abstecher nach dem Inneren Sattel und nehmen alles mit, was dort noch liegt. Dann geht es dem Tveholm zu, und diese Fahrt kommt Valle endlos vor. Als die beiden von Ankarö dort hören, daß Janne bei Bewußtsein ist, steigen sie nicht aus.
Valfrid drückt dem Leuchtturmwächter heftig die Hand und will etwas sagen, aber es bleibt ihm im Halse stecken. Der andere sieht ihn mit einem sonderbar gemischten Ausdruck im Gesicht an, als denke er: »Ja, mein Junge, jetzt will ich dich nicht quälen; aber später werden wir einander wohl allerlei zu sagen haben.«
Und als Valle Tuvas ein wenig feuchte und ängstliche Hand eine Sekunde lang zum Abschied in seiner fühlt, da wallt eine Sturzwelle in seiner Brust empor, obgleich sie nicht in seinen Augen sichtbar wird.
»Ja, ade also …«
Ein einziger Tag war es nur. Ein Tag, der nicht zu dem gewöhnlichen verfluchten Leben gehörte. Und jetzt beginnt das alte Elend aufs neue.
Der Leuchtturmwächter setzt die Maschine in Gang. Valfrid wandert mit schweren Schritten den Hügel hinauf, dem Unglückshaus zu.
»Soll ich nicht nach dem Pfarrer schicken?« fragt Valle zögernd. »Denn du weißt ja, Vater, es geht zu Ende.«
Janne liegt halb bewußtlos auf seiner Lagerstatt. Jetzt öffnet er seine vom Fieber geröteten Augen einen Spalt weit: »Der Pfarrer hat nichts bei mir verloren. Sag ihm, er soll zur Hölle fahren, dort treffen wir uns! Hol lieber deine Mutter her! Ihr hab' ich allerlei zu sagen. Aber wo ist sie?«
Auf diese Frage kann Valle keine Antwort geben. Ahnte der Stiefvater den Zusammenhang, oder war er im letzten Augenblick von einer verspäteten Zärtlichkeit für die Ärmste ergriffen, mit der er sich während seines Ehestands nie hatte vertragen können? Das waren Fragen, die mit ihm ins Grab sinken würden.
Draußen in der Stube las Valle einen Brief, den ihm die Großmutter zugesteckt hatte. »Ja, ja, was hab' ich von der Feuersbrunst auf dem Tveholm gesagt? Dieser Brief lag hier mitten auf dem Tisch. Lies ihn, dann weißt du, wie es um unsere unselige Familie steht.«
Die Alte hatte, als sie ihn den Brief übergab, plötzlich ein ganz runzliges Gesicht bekommen, und er las:
»Meine Liebsten! Ich weiß, was Menschenpflicht ist, aber Liebe will mehr. Jetzt wo ich endlich den Mann hab' den ich liebe und der mich auch liebt, folge ich ihm wohin es auch geht. Fehlen tu ich doch keinem von euch. Nein ihr haltet mich doch für eine Hur, aber einer der denkt anders. Weiß Gott, ich hab' es all die schrecklichen Jahr her nicht leicht gehabt. Jetzt geh ich mit ihm weit fort, fragt ja nicht wohin. Bei euch zurück meine Liebsten, bleiben meine Tränen.«
»Pfui Teufel!« sagte Valle, und mit blassem Gesicht gab er den Brief zurück.
Die Großmutter faltete das Papier zusammen und ließ es in ihrer geräumigen Rocktasche verschwinden.
»Ach, ja, ja«, schnaufte sie. »Es kommt mehr und immer mehr. Wann werde ich alter Leichnam endlich Frieden finden? Er, der Alte, hat den Brief nicht gelesen, gottlob!«
Das war beim Tagesgrauen geschehen. Eine Stunde vorher war der Arzt aus der Stadt dagewesen und hatte erklärt, hier sei nichts mehr zu tun, als auf das Ende zu warten, die Blutvergiftung habe schon das Herz erreicht! Auf der Hausstaffel saß der Bussar und weinte wie eine Gießkanne, halbberauscht, und schämte sich wegen seiner mißglückten Krankenpflege.
Jetzt steht Valle in der Kammer bei seinem Stiefvater. Der Kranke hat eine Weile geschlummert, plötzlich aber schlägt er die Augen auf.
»Hör du, mein Jung, es wird mir schwer, grad jetzt gut Nacht zu sagen. Es ist so viel noch nicht geschehen. Ankarö, siehst du, nie ist's mir gelungen, das Pack im Ernst zu fassen! Sie kommt, die Stunde – so steht's in der Schrift, und ich hab' mich auf das Wort verlassen. Aber für mich ist die Stunde nie gekommen.«
»Diese Sache hab' ich besorgt«, entgegnet Valle. »Weißt du, warum ihr Boot dort bei der ›Morgengabe‹ gesunken ist? Ich hab's versenkt; ich bin ins Meer hinausgeschwommen und hab' den Bodenkorken durchgestochen.« Es ist ihm furchtbar schlecht zumut, als er diese heikle Sache verrät; er sieht Tuvas vertrauende Augen auf sich gerichtet, sieht sie sich vorwurfsvoll verdunkeln; aber er muß den Sterbenden mit dem einzigen erfreuen, womit es ihm noch möglich ist.
Und Jannes fieberheißer Blick leuchtet auf. »Gott segne dich, Junge! Aber warum hast du das verdammte Mädel dann nicht ersaufen lassen? Warum hast du uns gezwungen, hinauszufahren und sie zu retten? Ich hoffe wenigstens, daß du grob gewesen bist, als ihr dort allein in der Bake wart?«
Auf diese Frage gibt Valle keine Antwort; sie zerrt an den empfindlichsten Fäden in seinem Innern, an denen, die er um keinen Preis bloßlegen kann.
Mühsam setzt sich der Stiefvater im Bett auf.
»Vergiß nicht, Valle, vergiß niemals, daß du zu unserem Rächer ausersehen bist! Du mußt all das ausrichten, was ich ungetan lassen muß. Quäl die Teufel, kränk sie und zerstör alles, was sie besitzen! Das ist mein Testament für dich, etwas anderes hab' ich dir kaum zu vermachen.«
Er streckt die Hand aus zu einer feierlichen Bekräftigung dieser Verabredung über Wiedervergeltung; aber im gleichen Augenblick fällt er stöhnend auf sein Lager zurück und schließt die Augen.
»Soll ich nicht doch lieber den Pfarrer holen? Ihr zwei habt vielleicht etwas miteinander zu besprechen, bevor …«
»Nein«, murmelt Janne, »wir haben nichts Unbesprochenes.«
Aber der Morgen ist noch nicht weit vorgeschritten, als Pfarrer Rosius breit und würdig in die Kammer tritt. Drüben im Dorf hat er gehört, daß es sich auf dem Tveholm um die letzte Reise handelt, und da drückt er sich niemals. Der Knecht hat ihn hergerudert, was das Zeug halten wollte.
Wuchtig, unbeweglich wie ein Meerfels, setzt er sich auf die Kante des Krankenbettes und nimmt Jannes knochige Hand in die seine. Einen Augenblick hält er sie fest umschlossen, dann sagt er: »Es kann ja sein, daß du jetzt in eine bessere Welt hinübergehst. Aber hast du hier auf dieser Seite reinen Tisch gemacht? Tveholmer, ich glaube, du bist nicht ganz frei von Haß.«
»Nein, weiß der Teufel!« stößt Janne zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Dann, alter Freund, schleppst du einen Feldstein mit dir nach dort drüben, einen Stein, der dich schwer drücken wird.«
»Nicht nur einen, sondern zwei. Und die werd' ich denen an den Kopf schmeißen … Ich weiß schon, wer sie verdient, haben Sie nur keine Sorgen.«
»Pfui Teufel!« bricht der Pfarrer los. »Willst du als Christ so sterben?«
In diesem Augenblick wird Janne bewußtlos, und als er wieder zu sich kommt, ist er milderen Sinnes und nimmt das Abendmahl ohne Widerspruch.
Pfarrer Rosius sieht ihn nach der heiligen Handlung lange an und sagt dann langsam und weich: »Fahr hin in Frieden, lieber Freund. Und wenn wir uns wieder treffen, reden wir noch weiter über diese Sache.«
Danach erwacht Janne nicht mehr. Die Großmutter drückt ihm die Augen zu. »Herrgott«, flüstert die Alte und schüttelt ihr weißes Haupt. »Herrgott, daß man verdammt ist, so lange zu leben!«
Ihr sonst so glattes Gesicht ist von tiefen Furchen durchzogen.
Pfarrer Rosius wandert breit und sicher über die Landstraße auf die Kirche zu; er läßt sich nur selten fahren. Als er sich dem Heiligtum nähert, schwebt um den Turm wie gewöhnlich eine schreiende schwarze Wolke von Dohlen. »Jawohl, ja«, denkt er, »diese Sorte kenn ich. Schwarze, widerwärtige Vögel sind es, die zu sammeln unsere christliche Kirche verpflichtet ist. Hasser, Rächer und unselige Existenzen – und dazu eine Menge einfältige Weiber, selbstverständlich. Aber die weiße Taube der Unschuld, wann kommt die?« Er ist heute richtig niedergedrückt und wischt sich schweratmend die Stirn; aber die Leute, die ihm begegnen, merken nichts davon.
Beim Begräbnis hielt der Pfarrer eine Rede, daß die ganze versammelte Gemeinde die Taschentücher und Rocksäume benützen mußte. Er sprach über das Wort: »Die Rache ist mein, spricht der Herr.« Und ohne unzart auf Gewesenes anzuspielen, gab er diesem Bibelwort eine so erschütternde Auslegung, daß sie auch das verhärteteste Herz zum Schmelzen brachte.
»Ja, wenn«, dachten viele, »wenn die Welt voll wäre von Menschen wie unser Pfarrer, dann gäbe es keinen Streit und keine Niedertracht, nur Macht und Kraft und Versöhnung.«
Es fiel den Leuten auf, daß sich Stark von Ankarö in seiner schönsten Uniform eingefunden hatte. Der Neffe, der Junker, war nicht zu sehen; er befand sich wohl auf See. Aber dafür war Tuva da, und sie weinte strömende Tränen. Es schien beinah, als ersetze sie die Witwe Elfrida, von der das ganze Dorf wußte, daß sie durchgegangen war, grade als die schwere Krankheit ausbrach und den Alten niederwarf. Um das Grab her bildete sich wie gewöhnlich ein leerer Kreis. Valle und die Großmutter versuchten, ihn auszufüllen, der Totengräber schaufelte von der einen Seite und der alte Bussar drüben von der andern; aber das half wenig, und er sah aus, als wollte er am liebsten mit hinunter in die Grube. Erst als die Tochter des Leuchtturmwächters an den zugeworfenen Hügel trat, wurde das Begräbnis gleichsam vollständig. Denn wenn ein Mann begraben wird, soll immer eine junge Frauensperson am Grab stehen und Tränen über den Abgeschiedenen vergießen, sonst ruht er nicht sanft in der Erde. Die Frage war nur, warum gerade Tuva das tat. Die Ankarötochter am Grabe des Tveholmers! Und dicht daneben unter dem schwarzgewordenen Holzkreuz lag seit zweiundzwanzig Jahren ein anderer Mann. » Am Weihnachtsabend verunglückt« – der war auch nicht vergessen. Hatten wohl diese beiden Toten dem Gewissen des Mädchens einen Stoß versetzt, jetzt, wo es alt genug war, um selbst zu denken? Meinte es, ihnen sei bei Lebzeiten Unrecht geschehen, und wollte es nun offen vor aller Welt zeigen, daß es nicht auf der Seite des eigenen Vaters stand? Oder sollte sich vielleicht zwischen Tuva und dem jüngsten Tveholmer, dem Valfrid, etwas angebahnt haben? Ja, was sollte man glauben?
Als die Schar geschlossen den Kirchhof verließ und sich auf dem schmalen Hauptweg nach dem Tor staute, ging Tuva dicht an Valle vorüber. In dem Gedränge drückte sie ihm unbemerkt die Hand und flüsterte: »Vergiß nicht, daß ich dein bin für immer!«
»Du siehst erbärmlich aus, Jung, nächstens geht dir dein Schmachtriemen zweimal um den Leib. Wann willst du dich endlich aufraffen? Weißt du nicht, daß der Mensch kann, was er will?« so ließ sich die Großmutter eines Herbstabends gegen ihren Enkel vernehmen. Die tiefsten Furchen in ihrem Gesicht fingen wieder an, sich mit gleichmütig-rosigem Ferkelfleisch zu füllen. Man ist zu dem geboren, was man ist. Es gibt so unzerstörbar gesunde Naturen, daß sie sich auch von dem siebenundsiebzigsten Schlag wieder erholen, und es gibt andere, deren Leben durch ein einziges Wort oder eine verschwundene Lieblingskatze für immer verdüstert wird. Aber ganz wie früher war die Alte nach allen den letzten Ereignissen doch nicht mehr.
Valle antwortete ruhig: »Ja, liebe Großmutter, du und noch einige andere sind von dieser Art. Ihr wißt, daß der Mensch kann, was er will. Aber siehst du, es kommt darauf an, ob man genügend stark wollen kann. Das bringe ich nicht fertig.«
Keines von beiden wußte, welche unlösbaren Fragen sie berührten. Die Großmutter atmete tief auf und fuhr fort: »Muß ein verflixtes Land sein, das Norwegen da drüben. Dort war's, wo sich dein Großvater, Gott hab' ihn selig, am abscheulichsten mit Hafenschmetterlingen und Seemannsgeiern, und wie sie das alles dort heißen, im Dreck wälzte. Und, und … ach du lieber Gott, jetzt ist wahrscheinlich auch Elfrida dort! Aber das muß ich gerechterweise zugeben, daß ihr Norweger kein gefährlicher Kerl war. Gutmütig und freundlich und in allem rechtlich. Er kam nur zu so ungelegener Zeit. Denk dir, wenn ihr Schiff hier untergegangen wäre, bevor Janne Elfrida nahm, damals, als sie eine junge Witwe und noch keine so schreckliche Heulliese war. Er hätte sie getröstet: ›Komm, Herzliebste, komm, komm!‹ … Oder wenn er erst nach Jannes Tod gekommen wäre. Lauter Freude und Frieden hätt's da sein können! Anstatt daß sie jetzt durchgegangen ist. Ja, ja, Junge, hier auf der Welt will nichts richtig stimmen.«
Valle saß niedergedrückt da und grübelte. Das wenigstens hatte er einsehen lernen müssen, daß hier auf der Welt nichts stimmen will. Wuchs auf einer Seite etwas heran, sofort kam jemand mit Sense oder Axt von der andern Seite daher. Streckte sich irgendwo ein Haken aus, sofort verschwand die Öse dazu. Nichts fand zu dem, was ihm entsprach, nichts durfte gedeihen und so werden, wie es sollte, alles hinkte und ging nicht im Takt. Und das vom Willen: daß der Mensch kann, was er will … Könnte er jemals an ein anderes Mädchen denken als an Tuva, die sein war in Leid und Lust und unter Gottes freiem Himmel Hochzeit mit ihm gehalten hatte. Aber hatte er sie seit fast zwei Monaten ein einziges Mal getroffen, konnte er überhaupt nach des Stiefvaters hartem Testament je wieder mit ihr zusammen sein? Janne war auf jeden Fall der Mensch gewesen, der ihn Zeit seines Lebens am allermeisten geliebt hatte, und sterbend hatte er gesagt: »Vergiß niemals, Valle, daß du unser Rächer sein mußt!« … Nachher hatte sich Valle fast zu Tode geschämt, daß er grade an dem Tag, als seine Mutter durchging und der Stiefvater sich aufs Sterbebett legte, seines Lebens glücklichsten Augenblick genossen hatte.
Da war er wieder entzweigespalten, war einer, der zwei einander ausschließende Dinge zugleich wollte, aber keines von beiden ungehemmt und stark genug. Jannes Röcheln auf dem Sterbebett, und was ihm Tuva nach dem Begräbnis zugeflüstert hatte – wie war das zu vereinen? Ja, was er im Grunde seines Herzens wollte, wußte er vielleicht, aber da lagen schwere und schmerzliche Dinge im Wege. Wenn er doch nie weder einen Vater, noch eine Mutter, noch einen Stiefvater gehabt hätte! Die Toten und die Durchgegangenen klammerten sich mit ihren Forderungen an ihn. Er hatte gute Lust, alles abzuschütteln und geradewegs zum Leuchtturmwächter zu gehen. Denn Tuva liebte er, und jetzt, wo sie sein gewesen war, noch tausendmal mehr. Aber das Vergangene warf ihm Fesseln um die Beine.
Mitten in seinem nutzlosen Grübeln ertönte die tröstende Stimme der Großmutter, ein wenig unklar vor lauter Wohlwollen: »Dafür werd' ich sorgen, daß du nicht wie ein Tollpatsch in diesem neuen Ringeltanz dastehst. Den soll lieber der Spitzkopf machen. Ich mein die verwirrte Geschichte mit dem Ankarömädel. Denn das hab ich schon oft genug gesehen, daß es in Teufels Küche führt, wenn die Liebe nicht bekommt, was sie will. Nein, du und das Mädel von Ankarö … Und du Barmherziger, dann kommt es endlich zur Versöhnung nach einem lebenslangen Streit! Diese Torheit darf nicht das Leben auch noch im zweiten Glied zerstören, ich meine, es ist wahrhaft genug mit einem. Ich will die Sache mit dem Pfarrer besprechen, der versteht so was ins Gleichgewicht zu bringen.«
»Nein, tu das nicht!« entfuhr es Valle entsetzt.
Er hatte der Großmutter alles bis in die kleinsten Einzelheiten erzählt und gemeint, da sei es gut verwahrt; jetzt aber kam es ihm vor, als ob auch sie der Sache zu einfach und zu grob zu Leibe ginge. Was wogen Tuvas Händedruck und ihre geflüsterten Worte nach dem Begräbnis gegen alles, was zwischen ihnen stand? Sie hatten sich ja seit zwei Monaten nicht mehr getroffen.
»Ich werd' die Sache schon deichseln«, erklärte die Großmutter bombensicher und gähnte zum Gutenacht. »So alt bin ich wirklich noch nicht, daß ich einen jungen Liebeshandel nicht noch ins reine bringen könnte. Sei du ganz ruhig, Jung! Wir haben einen Pfarrer, gegen den der Stark und der Junker und ganz Ankarö nur erbärmliche Stichlinge sind. Und ihn kenn ich. Dein Mädel ist übrigens prima.« Damit begann die Großmutter ihre erdfarbige dreißig Jahr alte Jacke auszuziehen, und Valle verschwand in die Kammer.
Was, um Himmelswillen, hat die Alte im Sinn? fragte er sich, und das Einschlafen fiel ihm schwer. In der letzten Zeit hatte er sich meist bei ihr in Askvik aufgehalten. Die Kuh auf dem Tveholm hatte er geschlachtet, die Schafe auf dem Außenholm mit der ungeschorenen Herbstwolle verkauft. Dann hatte er die beiden Katen sowie das Badehaus und den Schuppen am Wasser verriegelt und sich so gut wie ganz hier bei der Großmutter niedergelassen; nur ein paarmal in der Woche segelte er zu seiner früheren Heimat hinüber. Er konnte es auf dem Unglücksholm allein nicht aushalten.
Wenn er sich aber richtig erforschte, so fand sich vielleicht noch ein anderer Grund. Er hoffte auf etwas … Die Waldwiesen hier drinnen im Lande pflegten im Spätsommer gemäht zu werden, und nicht zum wenigsten von den Ankaröern, die auf ihren eigenen Besitzungen nicht genug Winterfutter hatten. Seit undenklichen Zeiten hatten sie hier unter vielen andern ihre gepachteten Teilstrecken mit eigenen Scheunen. Ganz Hasselöra gehörte zum Pfarrhof; aber Rosius, der heutige Pfarrer, verlangte fast keine Pacht. Er behauptete kurz und bündig, er selbst habe niemals Bedarf für diese abgelegenen Wiesen. Grade zu dieser Zeit im Spätherbst pflegten die Mäher nach Hasselöra hinauszuziehen, die Burschen in gestreiften Hemdärmeln und die Mädchen in bunten Kopftüchern. Die ganze Gesellschaft schlief meist in den Scheunen, wo die duftenden und mit Wiesenblumen vermischten Heuhaufen unter den Strohdächern mit jedem Tag höher wurden.
Tuva hatte hier in Askvik eine Verwandte, eine kränkliche, schwerhörige Tante, bei der sie um diese Jahreszeit wohnte, wenn sie bei der Heuernte tätig war. Sie schlief nicht mit den andern in den Scheunen.
Hatte Valle vielleicht auf dem Tveholm darum alles zugeschlossen und war hierher zur Großmutter gezogen, weil er das wußte? Aber bei allen Heiligen, er würde es nicht sein, der den ersten Schritt tat, um Tuva zu treffen, falls Tuva auch heuer herkäme!
Valle sah viele Mäher ankommen, teils zu Wagen vom Land her, teils in Booten von den Schären, nur Tuva war nicht zu sehen.
Eines Tages aber stand ein kleiner barfüßiger Knirps vor Großmutters Kajütentür mit einem zusammengefalteten Zettel in der schmutzigen Faust. Valle las die mit Bleistift hastig hingekritzelten Krakelfüße:
»Liebster, willst du mich treffen, dann sei heut abend um elf Uhr an der Scheuer dicht beim Infjord, du weißt, dort hinter den Hainbuchen. Kein Mensch ist in der Nähe. Komm, Liebster!«
Gern hätte er dem Jungen alles Geld, das er hatte, gegeben; doch um Aufsehen zu vermeiden, steckte er den Zettel gelassen in die Hosentasche und sagte kurz: »Ja, gut, geh nur!«
Und um elf Uhr war er dort. Er hatte alle offenen Wiesen und Lichtungen vermieden, hatte sich durch die dichtesten Laubgehölze durchgearbeitet und sich rasch versteckt, wenn er Menschenstimmen in der Nähe hörte. Aber hier am Strande des Infjords war man außerhalb des eigentlichen Heuerntegebiets. Umherspähend und vorsichtig schlich er sich zu der alten Scheune mit dem abgeblühten Hainbuchengehölz dahinter hin. Fast wie ein Verbrecher kroch er heran, bis er sah, daß die Scheunentür weit offen stand und Tuva sich an die moosbewachsene Balkenwand lehnte. Sie erschrak nicht im geringsten, als er plötzlich vor ihr auftauchte, sondern sagte nur: »Ich wußte, daß du kommen würdest. Und jetzt ist niemand hier als wir beide und der Halbmond – sieh, wie rot er dort aufgeht!«
Valle sah nicht hin. Was ging ihn der Mond an und der ganze Infjord mit seinem dichten Schilfrohr und den abendlich ziehenden Enten! Er sah nur Tuva; ein leichter Abglanz vom Abendrot schimmerte in ihren Augen.
Mit ihrer kleinen und doch von der Arbeit recht ausgetrockneten, harten Hand zieht sie ihn in die Scheune, steckt eine abgebrochene Weidengerte durch den Türspalt und hängt damit den Hacken auf der äußeren Seite ein. Die Scheune ist halb gefüllt, aber nicht mit gewöhnlichem Heu. Da sind: ›Jungfrau-Maria-Bettstroh‹ mit seinem fast betäubenden Geruch, Margeriten, Storchschnabel, Rainfarn und andere Spätsommerblumen, und ganz besonders das schwach, aber angenehm duftende Strandgras. Er sinkt neben ihr nieder in all das duftende Weiche, atmet durch weitgeöffnete Nüstern ein, was der heiße Sommer an Geheimnisvollstem und Stärkstem gehabt hat, der Sommer, der ungenossen an ihnen vorbeigegangen ist. Aber noch ist es nicht zu spät. Was weiß er noch von dem Tveholm und all dem Elend! Ist es hundert oder mehr Jahre her, seit ein Sterbender ihn zum Rächer erkoren hat? Um Rache zu üben, dazu gehört Haß; aber dieses Gefühl trägt er nicht in der Brust.
Als Tuvas Augen im Dämmerlicht in bodenloser Hingabe immer voller in die seinen schauen und er das Gefühl hat, als dringe er in diese Spiegel hinein und falle durch alle sieben Himmel bis in die tiefste Tiefe der Seligkeit alles Daseins – da weiß er nur das eine: er will das Leben, er will sie.
Er breitet die Arme aus, und in einem Rausch von Düften wird ihr Bund besiegelt.
Wenn das Glück des irdischen Paradieses zur Nachtzeit blüht, und zwar auf so unsicherem Boden, daß es bei jedem neuen Tagesanbruch zerbrechen kann, so war es für einige Spätsommerstunden in eine verfallene Scheune auf Hasselöra eingezogen. Das verstohlene Glück der beiden war vollkommen; aber sie wußten selbst, daß es nur kurz sein würde.
Der Halbmond hatte sich schon gerundet und war voll geworden. Wie ein gewaltiges gelbes Tierauge, seelenlos und doch zauberhaft, ging er irgendwo über den Waldwiesen auf, von dem dunklen Geäst wie von Adern durchzogen, bis er sich von all dem freimachte, Silberfarbe bekam und in einem Bogen über den Infjord hinzog. An manchem Abend war der Waldsee dicht von Nebel umhüllt, schwoll zu einem ganzen Meer an und dampfte wie ein riesengroßer Kessel mit Entengeschnatter auf dem Grund, während das weiße Licht durch all die wogenden, wallenden Dünste hindurch unbeweglich herunterstrahlte. An andern Abenden dagegen war der Wasserspiegel klar, einige Sterne stachen sich gleichsam in die Oberfläche hinein und funkelten da wie zitternde silberne Nagelköpfe.
Aber dunkle Mitternachtswolken beschatteten dieses Paradies. Vor allem wühlte die Frage in beider Brust: Wie lange wird dies währen, und was kommt nachher?
Jeden Morgen mußten sie schon beim ersten Tagesgrauen aufwachen. Um sich in reinem Wasser zu waschen, watete Tuva in die Bucht hinaus, bis dahin, wo der Schlick entlang dem Strand aufhörte und man Kies unter den Füßen hatte. Valle betrachtete sie: unter den aufgeschürzten Röcken schnitten ihre braunen Beine in den Wasserspiegel wie eine Schere in von der Morgenröte rosenrot angemaltes Papier hinein. Dann hatten sie es sehr eilig, auf den verborgensten Viehpfaden in die Nähe des Außenbezirks von Askvik zu kommen, ehe die andern Mäher und Mäherinnen unterwegs waren. Tuva mußte unbemerkt durch das niedere Kammerfenster ihrer Tante kriechen und das Bett so herrichten, wie wenn sie die Nacht darin gelegen hätte und erst jetzt aufgestanden wäre, um sich an die Arbeitsstätte zu begeben. Für Valle war die Sache einfacher. Die Großmutter wußte alles, und sie gab ihm ihren vollen Segen zu allem, was er tat.
Als er einmal in der Morgendämmerung zurückkehrte, nachdem er zwei Tage und Nächte weg gewesen, war die Großmutter nicht daheim. Tiefe Wagengleise vor dem Hauseingang zeugten davon, daß sie gestern Pferd und Wagen gemietet hatte und weggefahren war. Und als sie am Nachmittag wieder heimkam und mit ihrem gichtbrüchigen Körper mühsam aus dem Gefährt stieg, sah sie aus wie jemand, der seine Reise mehrfach bezahlt hat.
»Jung«, sagte sie kurzatmig in der Stube, »jetzt bin ich beim Pfarrer gewesen. Du mein Herr und Gott, was ist das für ein Prachtkerl! Meinst du, er hätte das Gesetz hervorgeholt und etwa die Rute? O nein, du, im Gegenteil! Ich sagte, die Liebe muß ihr Recht haben, sie ist das einzige, was etwas Befriedigung in dieses Leben bringt. Und was meinst du, daß er geantwortet hat? ›Ja‹, sagte er, ›da hat Sie recht, meine Gute, obgleich die Sache ja bedauerlich ist, denn, sieht Sie, Zucht und Ordnung muß auch in den Gefühlen sein‹. Und dann las er die Worte des Paulus aus der Heiligen Schrift vor: ›Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.‹ Nun, du weißt ja … Und dann sagte er: ›Es hat keinen Sinn, Elfrida allzu sehr zu betrauern, denn sie hat es wahrhaftig mehr als schlimm gehabt, ehe sie davonging, und jetzt wird sie vielleicht noch ein richtiger Mensch. Solche bedenkliche Sachen tut man niemals des Vergnügens wegen‹, sagte er. Ich alter Waschlappen war wahrhaftig fast zu Tränen gerührt; aber nun kam Kaffee herein, und da wurde mir natürlich wieder leichter ums Herz. Ach, du lieber Gott, so ein Mann! Vergiß nicht, den haben wir auf unserer Seite, du!«
Valle hörte schweigend zu, ganz bestürzt darüber, daß die Großmutter, wie angekündigt, den Pfarrer aufgesucht hatte. Er war der Meinung gewesen, die Alte hätte nur so ins Blaue hineingeredet. Und zugleich fühlte er, wie sich ihm vor lauter Widerwillen und Ärger der Hals zusammenschnürte. Die Großmutter war der einzige Mensch, dem er alle seine Geheimnisse anvertraute, aber trotz all ihrem Wohlwollen zeigte es sich nun, daß sie dieses Vertrauen nicht wert war. Von nun an würde sie auch kein Wort mehr zu hören bekommen. Jetzt war die Sache jedenfalls verraten. Einerlei, ob es sich um den Ehrenmann Rosius handelte, einerlei, ob sie vielleicht von ihm irgendwelche Hilfe bekommen konnten – jedenfalls war etwas Geheimes und Heiliges zerbrochen. Die Scheune am Infjord würde hiernach nicht mehr dieselbe sein wie früher.
Als an diesem Abend die Zeit dazu gekommen war, machte sich Valle wie gewöhnlich auf den Weg. Aber Tuva war nicht da, und sie kam auch am nächsten Abend nicht. Höchst beunruhigt wälzte er sich in der Scheune auf dem Heu; beim geringsten Laut fuhr er heftig zusammen, naß vor Angstschweiß. Was war geschehen? War es nun für immer aus mit ihren Zusammenkünften, würde er sie nicht wenigstens ein letztes Mal treffen können? Übermorgen war er auf dem Weg nach der Stadt, wie ausgemacht war, um sich anheuern zu lassen. Die Bark Penelope lichtete am 3. September den Anker.
Endlich in der letzten Nacht kam Tuva keuchend und aufgeregt daher. Wortlos küßten sie sich müde; aber erst nachdem er sie lange fragend angesehen hatte, öffnete sie die kindlich weichen Lippen zu einer Erklärung, die wie eine Entschuldigung klang. »Ich glaube, meine Tante hat Verdacht geschöpft, denn ich wurde nach Ankarö heimbefohlen. Vater nahm mich hinauf in die Kammer unter der Leuchtturmlaterne; das tut er immer, wenn es sich um etwas recht Schweres handelt. ›Tuva‹, sagte er, ›sieh mir in die Augen!‹ Das tat ich, und mir war dabei, als ständest du neben mir. Dann fragte er mich, ob ich mich dir hingegeben hätte, und ich antwortete: ›Ja, das hab ich getan!‹ Er forschte nicht weiter und atmete nur eine ganze Weile schwer. Siehst du, auf meinen Vetter ist Vater nicht gut zu sprechen, er meint, der ist nicht viel wert und wird nie ein richtiger Mann. Aber, aber, Valle … Auch du bist nicht mehr derselbe für ihn, der du warst, als er mit der Medaille nach dem Tveholm kam. Da hatte er die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Warum hast du sie nicht ergriffen, weder du, noch …«
»Ich war nicht schuld daran. Es waren andere da, die …«
»Aber Vater brachte häßliche Anklagen gegen dich vor. Er behauptet, jetzt endlich weiß er, wer damals seine beiden Gewehre unbrauchbar gemacht hat. Das ist der Dank gewesen, sagt er. Ach, wie um Himmels willen können wir ihn milder stimmen?«
Valle erwidert nichts, er zieht sie in die Scheune hinein zwischen das Heu und die gemähten Wiesenblumen.
»Aber, aber«, sagt sie zögernd, »wenn du nun ein Jahr auf großer Fahrt bist, was wird dann aus mir? Früher wollte ja Vater Aug in Aug mit dir reden, aber es ist nie etwas daraus geworden. Und jetzt ist es zu spät.«
Zum erstenmal sieht Valle, daß das mutige Feuer in ihren Augen erloschen ist. Wie mager und schmal ihre Wangen geworden sind!
Ein paar fortziehende Würgervögel lärmen und lachen im Hainbuchengehölz draußen. Es klingt, als ob jemand eine Feldknarre drehte.
Valle wird es bei diesen widerwärtigen Tönen noch beklommener zumut. Ja, grade so muß es tönen, da ist die Wahrheit. Gleichen sie denn nicht feigem gejagten Wild, das sich in sein Versteck drückt? Und er ist schuld daran. Schleichwege, betrügerische krumme Pfade ist er die ganze Zeit gegangen. Allerdings, er war dazu gezwungen, ist gleichzeitig von zwei Seiten her gedrängt worden; aber darum wurden die Wege nicht gerader. Beim Himmel, in was hat er Tuva hineingeschleppt! Wenn er sich nur hätte rächen wollen, dann könnte er jetzt stolz und befriedigt sein, dann könnte Janne im Frieden in seinem Grabe ruhen. Aber diese Sache war längst von etwas Stärkerem durchkreuzt worden, deshalb fühlte er sich so unselig und voll stechender Gewissensqual, als hätte er eine Tonne Nägel verschluckt. »Tuva«, sagte er gequält, »du weißt, ich habe deinen Vater alles Böse, was er uns angetan hat, verziehen, deinetwegen, siehst du … Und wenn du willst, geh ich morgen früh zu ihm und rede mit ihm. Ich kann vor der Abreise schon noch nach Ankarö kommen.«
»Nein, laß das!« flüstert Tuva erschrocken. »Das macht es nur noch schlimmer.«
Er drückt ihren zerzausten Kopf schützend an seine Schulter, aber mit einem trostlosen Gefühl der Ohnmacht. »Du darfst nicht zuviel von mir verlangen, Tuva. Wie ein Mühlrad dreht sich mir die ganze Geschichte im Kopf herum. Und gute Ratschläge hab ich bekommen, aber was helfen die! Zuletzt sogar noch von der alten Hexe Ira. Vorgestern war ich im Dorf drüben, und da begegnete sie mir auf der Landstraße. Weißt du, was sie sagte? ›Ha‹, sagte sie und glotzte mich dabei an wie eine Ratte, ›ich hab gehört, daß du verliebt bist. Gefährliches Spiel, mein Jung. Aber wenn du sie nicht verlieren willst, dann steck zwei Äpfel auf die Borste eines Ebers und gib ihr die zu essen. Dann kannst du sicher sein‹.«
Da müssen beide lächeln.
»Aber wie kann das widerliche alte Weib es wissen, Valle?«
»Es wird wohl im Dorf bekannt geworden sein.«
»Gewiß nicht! Hat uns vielleicht jemand hier gesehen?«
»Nein, aber es gibt andere Wege. Ich weiß nicht, wo sie anfangen und wie sie sich verzweigen.«
Eine Weile herrscht Schweigen zwischen ihnen. Dann flüstert sie ihm ganz leise zu; das klingt wieder überaus zuversichtlich, denn ihr Arm umschlingt seinen Hals: »Liebster, verlier den Mut nicht! Was sollte uns denn noch trennen können?«
Grillen zirpen in der Scheune und in dem schwach raschelnden Laub draußen. Alles atmet eine friedevolle Güte, und mit schweren Augenlidern versinken die beiden in diese sichere Ruhe.
Sie sind eben Arm in Arm eingeschlafen, als irgendwo in der Nähe zwei leise Stimmen vernehmlich werden. Sie fahren zusammen. Valle springt auf und legt das Auge an den Türspalt. Diese Stimmen kennen sie nur zu gut. Über die nächste Lichtung hat der Mondschein eine breite Decke wie von neugefallenem Schnee gelegt, und auf dieser weißen Fläche nähern sich zwei dunkle Gestalten, die eine mit einer Heugabel über der Schulter. Ach so, der Junker ist heimgekommen …
Wortlos wühlt Valle eine tiefe Grube in das Heu, zieht Tuva hastig mit sich hinein und häuft über beide noch einige dicke Bündel.
Vorsichtig, als gelte es, eine Pulverkammer zu öffnen, drücken die draußen das Scheunentor zuerst einen kleinen Spalt weit auf, ehe sie es richtig aufreißen. Eine elektrische Taschenlampe knackt, der scharfe Lichtkreis spielt von einer Wand zur andern über die schwellenden Hügel aus dürrem Gras und Blumen hin und dringt stechend zwischen die Halme hinein. Aber Valle und Tuva liegen genügend tief vergraben, und sie halten den Atem an, damit die Decke über ihnen sich ja nicht bewegt.
»Auch hier leer«, sagt der Leuchtturmwächter. »Da soll doch der Teufel …«
»Oder sollen wir die Heugabel nehmen, wie der Däne einst gegen Gustav Wasa, hick, hick?« grinst der Junker.
»Unsinn, du Quasselfritze!« fährt ihm Stark über den Mund und macht die Tür wieder zu. Es klingt, als jucke es ihn, dem Neffen einen Fußtritt zu geben.
Die Schritte draußen verschwinden langsam auf die Baumwiesen zu.
Valle gräbt Tuva und sich selbst aus dem Heu heraus.
»Jetzt hast du doch deinen Vater betrogen«, flüstert er und küßt sie.
Rauh und mit Pollenmehl bestreut wippt ihre Nasenspitze an seiner Wange auf und ab, während sie antwortet: »Betrogen, ja … Aber was blieb mir andres übrig? Hätte ich vielleicht aufstehen und dich verraten sollen? Auf der ganzen Welt kommst du zuerst für mich, und alles andere erst nachher.«
Der Mond hat seine leuchtende Bahn vollendet, die Grillen sind verstummt. Und wieder ertönt ihre Stimme etwas ängstlich aus der Dunkelheit: »Aber was soll aus mir werden, wenn du jetzt Heuer nimmst und mindestens ein Jahr lang fortbleibst? Ohne dich bin ich gar nichts.«
»Daran ist nichts zu ändern, Tuva. Du weißt, daß das für uns beide am besten ist.« Er hat ihr dieses beschützend und mit vielen Liebkosungen zugeflüstert; aber plötzlich wird er von einer wilden Angst erfaßt. Betrogen … Dies Wort, auf das er selbst verfallen ist, jetzt brennt es in ihm wie eine nagende Ungewißheit, fast wie eine Vorbedeutung. Auch Tuva könnte ihn betrügen …
Hastig reißt er sie an sich und schreit beinah: »Länger als ein Jahr bleib ich fort, ja vielleicht zwei. Nun schwör mir, schwör mir bei allem, was dir heilig ist, schwör mir bei dem Kinde, das wir einmal zusammen haben werden, daß du dich nie einem anderen Mann hingibst! Ich meine: deinem Vetter, dem Satan!«
Sie sperrt die Augen weit auf. »Wie kannst du so etwas denken? Ich gehöre ja dir.«
»Verzeih«, stöhnt er, »ich bin verrückt.«
Bekräftigend streckt Tuva trotzdem drei schlanke Finger in die Höhe. Sie sind in der Dunkelheit kaum zu sehen, und alles miteinander ist ja eine Auswirkung der kindlichen, überhitzten Einbildung der beiden.
Dann sagt sie leise und eifersüchtig? »Aber du selbst? Ein Jahr oder vielleicht zwei … Alle die Häfen, und all die Verlockungen für die Seeleute …«
Er drückt sie fast tot aus Widerspruch. »O du Närrchen, meinst du, es gibt auf der weiten Welt irgendeine andere für mich als dich?«
Es ist ihnen unmöglich, noch einmal einzuschlafen. Sie setzen sich in den wilden Rosmarin am Strand; der betäubende Duft zieht über sie hin. Weit draußen vom Infjord her tönt der nächtliche Schrei des Meertauchers. Der Ton klingt klagend wie von einem neugeborenen Kind; er dringt aus dem Nebel heraus, bisweilen fast unhörbar, bisweilen so deutlich, als stünde man an einer Wiege.
Tuva schaudert zusammen; aber er merkt es nicht. Mit krampfhafter Heftigkeit klammern sich ihre zarten Glieder an ihn, und Valle beantwortet ihren Gefühlsausbruch mit Leib und Seele. Und zugleich sieht er vor sich die Viermastbark Penelope, die jetzt wohl Ballast einnimmt für die Seefahrt nach Westindien und Australien, wo sie mit Weizen für England beladen werden soll.
Seine Seekiste ist schon gepackt und wartet auf ihn. Morgen nachmittag muß er aufbrechen.