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Früher Gegenwind

1

»Holla, du, Fredrik, an welchem Tag hat Gott die Sonne erschaffen?«

»Am vierten!« antwortete eine helle Jungenstimme aus einem Heckenrosenstrauch heraus, der eben seine grünen Zweiglein um ein eingefallenes Grab her entfaltete.

»Und die Pflanzen und Bäume?«

»Am dritten Tag.«

»Ganz richtig. Die sind früher erschaffen worden. Wie willst du das erklären? Meinst du, das Unkraut, das du eben herausziehst, hat ohne Sonne gedeihen können? Und wie stellst du dir das Licht vor, das er am ersten Tag erschaffen hat? Also, wenn du etwas davon begreifst, dann sag's!«

»Nei – ein«, kam nachdenklich die Antwort, und ein erdiger Fingernagel kraute in seines Besitzers zottigem Nacken.

»Ja, mein liebes Kind, auch ich kann dir das nicht erklären. Dumme Leute behaupten, es ist so eine Art von elektrischem Licht gewesen, weißt du, das er zuerst hervorbefohlen hat. Manche Pflanzen sollen in solchem Licht gedeihen können, unter anderen die Farnkräuter, die, wie man weiß, in der Vorzeit riesengroß waren und die Erde erfüllten. Ich aber meine, solches Kannegießern ist nicht bloß unnütz, sondern beinah Lästerung. Ich glaube, es war sein eigner Geist, den er zu Anfang über seine unvollendete Schöpfung strahlen ließ. Dies Licht, ja, hätte ich wohl sehen mögen!«

Barhaupt, die Weste bis zum Halsbündchen aufgeknöpft, wandelte Pfarrer Rosius auf seinen kurzen Beinen in der herrlichen Frühlingssonne umher, die er gleichsam kaute, während er die graubuschigen Augenbrauen in die Höhe zog und vor Behagen blinzelte. Er war keiner von den gelehrtesten Schriftauslegern; aber er liebte beschauliche Gedankenübungen im Freien, nur kurz mußten sie sein. Seine Laufbahn hatte er als Militärpfarrer begonnen und dabei sogar den Feldwebelrang erreicht. Völlig am Platz war also, was der alte Bussar, der Wortführer des Ortes, von ihm sagte: »Der Herr Pfarrer hat ein Herz wie reines Pulver und einen Willen, unbeugsam wie ein Flintenlauf.«

In diesem Jahr hatte sich die Vorbereitung zur Konfirmation durch Wiederherstellungsarbeiten in der Kirche sehr verzögert. Oder eigentlich nicht dadurch, denn den Unterricht gab er daheim im Pfarrhaus; aber er konnte doch die Kinder nicht ins Haus des Herrn treten lassen, ehe dieses inwendig fertig und gereinigt war. Eben jetzt hatte er bestimmt, daß die Konfirmation am Mittsommertag stattfinden sollte, mochten die Bauernstoffel sagen, was sie wollten. Und heute hatte er die ganze Schule zur Arbeit auf den Kirchhof befohlen; es sei ja eine Schande, wie der aussehe. Hier sei es wirklich notwendig, zu roden und zu reinigen, ehe das Unkraut im Sommer wieder überhand nahm. Löwenzahn, Gänsefuß, Primeln, gelbe Schlüsselblumen blühten natürlich in Massen, aber einige Ordnung müßte sein, sie sollten den heiligen Anger doch nicht zur Schafweide werden lassen.

Hier wanderte also Pfarrer Rosius im herrlichsten Sonnenschein umher, während zwanzig kleine Hände zwischen den Gräbern jäteten und scharrten. Zuweilen blieb er stehen und warf einem von seinen Konfirmanden eine Frage zu. Dabei ließ er seine Blicke gern an dem pyramidenförmigen Kirchturm hinaufgleiten, dessen Spitze kein Hahn zierte, sondern ein im blauen Himmel segelndes Schiff mit nur einem Mast und einer Rah, die zusammen ein Kreuz bildeten. Dann glitten seine Blicke wieder den Turm hinunter und den Dachlinien entlang und umfaßten zärtlich den ganzen alten Tempel aus dem zwölften Jahrhundert. Er hatte immer denken müssen, aus größerer Entfernung betrachtet sähe dieses Bauwerk genau so aus wie eine Kirche, die sich ein liebes großes Kind aus seinen Spielklötzchen aufgebaut habe. So von nah gesehen aber bezeugten die gewaltigen Feldsteinblöcke der Mauern, daß man vor etwas stand, was ursprünglich eine Festung gewesen war. Die rauhen, später immer wieder breiter und höher ausgehauenen Fensterbogen waren ursprünglich Schießscharten für Bogenschützen gewesen. Aus ihnen waren christlich schwedische Pfeiler gegen die heulenden Tavaster gesaust, gegen Esthen, und wie sie alle hießen, diese heidnischen Volksstämme. Oh, damals hätte man dabei sein sollen!

Der Pfarrer war ein strenger Lutheraner, und seine erste jugendlich rasche Tat hier auf dieser Stelle war gewesen, daß er eine alte holzgeschnitzte katholische Gruppe, die heilige Anna und die Jungfrau Maria mit dem Kind im Arm darstellend, von der Orgelempore weg ins Beinhaus hatte versetzen lassen. Doch rasch flogen jetzt seine Gedanken auf breiten Schwingen über die Fehden der späteren Jahrhunderte hin, bis zu dem ersten großen Kampf, und er dachte mit zustimmendem Kopfnicken: Ja, ja, damals hätte man dabei sein sollen!

»Gsch – gsch – ihr gottlosen Racker! Meint ihr, wir brauchten euch hier als Gärtner? Fort mit euch – gsch!«

Mit ausgebreiteten Armen fiel der Pfarrer eine Schar von Hühnern an, die durch ein Loch in der verfallenen Kirchhofmauer eingedrungen waren, aber nun gackernd und flatternd die Flucht ergriffen.

Auf jeden Fall war es doch schön, gerade jetzt zu leben und nicht seit dem zwölften Jahrhundert, der Auferstehung harrend, tot zu liegen. Wahrlich ein wunderbarer Tag! Am Himmel segelten ein paar leichte Schleierwolken dahin; es war, als strahle der Himmel von zauberhaften Träumen, deren Schatten wie Atemzüge über die Felder glitten, wo Kälber ihre Sprünge machten. Der weiche Wind war erfüllt vom Duft der dampfenden Erde und der noch klebrigen Blätter; Lerchen, Buchfinken, Stare und Dohlen gossen aus verschiedener Höhe in der Luft und von den Pappeln ringsum eine ganze Flut von Trillern, Flötentönen und munterem Krächzen auf die Erde herunter. Weit im Westen ahnte man das Meer durch ein Gewimmel von Strahlen, die einem Wald von blitzenden Silberspeeren gleich am Horizont standen.

Um Kreuze und Grabsteine her jäteten die jungen Hände, von denen einige schon recht breit und braun, andere aber noch blaß und schmal waren. Doch merkwürdig: die Mädchen machten im allgemeinen ihre Sache besser, und ihre Unkrauthaufen hatten etwas Ordentliches! Zum Beispiel das flinke Ding dort – wie hieß sie gleich? – ja, Tuva, Leuchtturmwächters Tuva. Ein verflixter Name! Weder Grete, noch Liese, noch Anne, sondern ausgerechnet Tuva – ja, eine Blüte, ein Krausköpfchen! Er konnte sich's vorstellen, wie sie zu diesem Namen gekommen war. Nachdem die glücklichen Eltern eine Woche lang den Kalender durchblättert hatten, war für ihr Wunderkind kein Name poetisch genug gefunden worden, und so hatten sie wie gewöhnlich auf eigene Faust zu dichten angefangen. Ach, richtig, die Mutter war vor fünfzehn Jahren gleich bei der Geburt dieses Kindes gestorben, und der hochmütige Stark war für die Dichterei allein verantwortlich … Der Pfarrer warf einen kleinen beschämten Blick zur Seite, wo sich der Mutter Grab befand. Und das bedurfte keiner Behandlung, es war eines der bestbepflanzten und -angesäten von allen.

Aber der Hügel, vor dem das Mädchen auf den Knien lag, ihn rein zu machen, war einer von den vergessenen und vergrasten, obgleich der Pfarrer diesen schiefen, moosbewachsenen Grabstein immer im Herzen trug. Ja, so sollte nach seiner Meinung eine Grabschrift lauten; und wieder las er die beinah überwachsenen Worte:

 

»Hier ruht
der Schiffer Matts Mattsson Bram
der jämmerlich zu Grunde ging
wie eine morsche Brigg.
Aber der am Jüngsten Tage auferstehen
und mit fester gefügten Spanten
und besseren Segeln
wieder ausfahren wird.«

 

»Mach hier ordentlich rein, Tuva!« sagte der Pfarrer. »Der Stein da, siehst du … Ja, ich weiß, du kannst deinen Katechismus.«

Das lutherische Herz hoch in der Brust, stiefelte er zu einem kleinen Benjamin hinüber, stellte an ihn eine Frage über Daniel in der Löwengrube und begab sich dann ans nächste Grab. Da lag ein langbeiniger Bengel, der anscheinend faulenzte.

»Lied 116!« kommandierte der Pfarrer. »Und nachher faß' richtig zu und nimm was zwischen die Finger!«

Der Junge leierte das Lied herunter. Es ging ordentlich, darum setzte der Pfarrer seinen Rundgang fort. Über die Inschrift dieses letzten Grabes mochte er nicht nachdenken, sie war ihm zu gefühlvoll. Aber der Junge, der hier reinmachte, tat es an seiner Statt. Über seinem Kopf erhob sich ein schwärzliches Kreuz aus Gußeisen, das wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln vier kleine Kreuze trug, auf jeder Schulter zwei, und darunter stand:

 

»Lebt wohl, meine Kleinen, lebt wohl!
Ihr steht an ewigen Lebens Strand,
Die Kron im Haar, die Goldharf' in der Hand!

Eine glückliche Mutter.«

 

Nicht als ob Valfrid noch an dieses Kindergeschwätz von Engeln geglaubt hätte, obgleich man allerdings da nie ganz sicher sein konnte, und der Konfirmationsunterricht hatte ihn gelehrt, doch manchmal an die letzten Dinge und das Jenseits zu denken. Nun versuchte er sich vorzustellen, wie Engel aussehen müßten, falls es doch welche gäbe … Eine goldene Harfe, weiße Kleider und lockiges Haar von derselben Farbe wie die Schlüsselblumen hier herum … Ja, leuchtend mußten sie sein, das war klar, so hatten sie auch auf allen Bildern ausgesehen, an die er sich erinnerte. Er blinzelte in die Sonne und versuchte, unter seinen Lidern, durch die der Sonnenschein schimmerte und sie zu blutroten Wölbungen vor seinen Augen machte, ein Engelsbild hervorzurufen; aber keine leuchtende weißgekleidete Gestalt wollte von dort oben her zu ihm niedersteigen. Statt dessen sah er immer deutlicher ein anderes Bild vor sich, eines in einem rotgestreiften Kleide, und das Haar nicht golden, sondern so braun wie Haselnüsse vom vorigen Jahr. Das war ein verteufeltes Engelchen! Tuva Stark – sollte wohl die versuchen, ein heiliges Wesen für ihn zu werden, die Hexe, die wahrhaftig wußte, daß sie lebte und nicht tot war? Er kannte sie gut von der Schule in Askvik her, aus den zwei Wintern bei der Großmutter. Zu jener Zeit war sie so hochmütig gewesen wie ihr Vater, der Leuchtturmwächter, und hatte auf gewöhnliche Leute herabgesehen, obgleich sie sich dazu auf die Zehen stellen mußte, klein, wie sie war. Jetzt schien sie ja ein bißchen in die Höhe geschossen zu sein und sich mehr zum Volk herabzulassen, obgleich sie immer noch kein Engel war trotz ihrer Katechismusweisheit.

Er machte die Augen auf und starrte ärgerlich nach einem der nächsten Grabhügel hin. Dort lag sie und kratzte so eifrig, wie die neue Dreschmaschine auf Storgrinda schaffte. Und natürlich hatte sie den Ankaröjunker, ihren Vetter, beinah in ihren Rockfalten …

Als der Junge dann wieder die Augen schloß und versuchte, in seinem Innern einen richtigen Engel hervorzurufen, fiel der Pfarrer wie der Blitz über ihn her und kommandierte: »Lied 116!« Nachher durfte er ruhig weiterjäten. Dieses Engelsgrab aber war rasch gereinigt, es wuchs ja kaum etwas darauf als etwas Stichelgras, das leicht mit den Wurzeln auszureißen war.

Der Junge begab sich zu einem andern Grabhügel dicht an der Mauer in einem verborgenen Winkel des Kirchhofs. Hier sah es schlimmer aus. Zwar schlechter gepflegt als die andern war dieses Grab kaum; es war auch irgendeinmal angesät und bepflanzt worden, das sah man noch; aber durch die Mauerritzen drangen von beiden Seiten her Nesseln und anderes Unkraut herein und breiteten sich auf dem Grabe aus. Er mußte aus dem alten Eisenzeug im Mittelgang etwas hervorsuchen, was sich als Hacke gebrauchen ließ, und nun hackte er in das Unkraut hinein, daß ihm Erdklumpen und Wurzelwerk um die Beine flogen. Was für eine Inschrift auf dem alten Holzkreuz stand, um das herum er wühlte, das beachtete er nicht, er hatte anderes zu bedenken.

Plötzlich hörte der Junge eine Stimme hinter sich, die sagte:

»So, so, sachte, sachte! Mach hier sorgfältig rein, Valle, du weißt ja, wer …«

Verwundert starrte der Pfarrer auf die Hacke, die in die Schollen um das Kreuz herum mit einer Heftigkeit niederfuhr, als wolle sie am liebsten den ganzen Hügel einebnen. Was war das ums Himmels willen! Hatte der Junge denn keine Spur von Gefühl im Leib? Oder war es möglich …? Konnte es sein, daß er wirklich nichts wußte?

Er sah, wie die Hacke gleichsam unwillig und verwundert stillstand. Der Junge fuhr sich in die kurzgeschnittenen Haare, starrte zuerst mit runden Augen seinen Religionslehrer an und dann lange das Kreuz, dessen Anstrich da und dort schon abfiel, dessen Inschrift aber noch gut zu lesen war. Dann setzte er sich taumelnd auf den Grabhügel nieder und sah starr zu Boden. Auf dem Kreuz hatte er seinen eigenen Namen gelesen. Es war schwer zu sagen, was sich in dem Dickschädel des Jungen regte. Er blieb ganz still …

Dem Pfarrer war die Lage peinlich, denn offenbar war hier irgend etwas verkehrt. Hatte er an eine allzu empfindliche Stelle gerührt? Oder, noch ungereimter – hatte er wirklich mit einem einzigen Wort vielleicht ein wenig unbedacht eine bittere Neuigkeit enthüllt? Na ja, dies Wort war einmal gesagt, nun mußte wohl noch ein Wort mehr gesagt werden. Er räusperte sich und fügte sanft hinzu: »Ja, mein Junge, hier liegt also dein Vater. Er war ein braver Mann. Gott hab' ihn selig! Ja, ich weiß, daß du deinen Katechismus kannst.«

Damit drehte er sich um und ging. Es war am besten, den Jungen seinem Nachdenken zu überlassen, wie das auch ausfallen mochte.

 

Auf dem aufgewühlten Grabhügel saß Valfrid vom Tveholm im Sonnenschein und starrte zwischen seinen grauen Strümpfen durch zu Boden. Verworrene Gedanken kreisten in seinem Kopf. Hier unter ihm, zwei Meter tief in der Erde, lag also sein richtiger Vater … Aber diese Gewißheit tat ihm nicht sehr weh, veranlaßte ihn weder dazu, zu weinen, noch die Hände zu einem Gebet zu falten, das merkte er selbst. Er wunderte sich nur über die Maßen, ungefähr so, wie wenn er vom Kirchturm heruntergefallen wäre, ohne sich weh zu tun. Und zugleich schämte er sich – fast bis zu Tränen – und war empört, daß es ihm förmlich weh tat, gerade weil er keinen Schmerz empfand. Ein Gedanke drehte sich um den andern, wie eine Schaukel, die zu hoch geschwungen ist und sich in der Luft überschlägt, daß man nicht mehr weiß, was oben und was unten ist; da heißt es dann, sich festhalten und nicht schwindlig werden.

Warum hatten sie ihm das niemals gesagt – weder die Mutter noch der Vater … also der Alte, der mit ihr verheiratet war … und auch nicht die Großmutter in Askvik? Warum hatte er das nicht früher erfahren? Oder hatte er es gewußt? Sonderbar, er konnte das selbst nicht bestimmt sagen. Daß Janne auf Tveholm sein Vater sei, war ja von Anfang an ebenso sicher gewesen, wie daß er eine Mutter, aber keine Geschwister hatte. Niemals hätte er sich etwas anderes denken können, denn grade so mußte wohl ein Vater gegen seinen Sohn sein. Aber wenn er richtig genau nachdachte, dann erinnerte er sich von langer Zeit her, als er noch klein gewesen war, wie oft da Worte gefallen waren, die er jetzt erst verstand. »Als Valle noch lebte«, hatte es geheißen, oder: »In dem Jahr, wo das Unglück geschah.« Er hatte nur nicht begriffen, daß dies auch ihn etwas anging, hatte nicht gefragt und vielleicht alles vergessen, bis es zu spät war und daheim kein Wort mehr von dieser Sache gesprochen wurde. Und wozu waren zwei Katen auf dem Tveholm, da man doch nur eine brauchte und die am Nordstrand unbewohnt war und verfiel? Das hatte er Janne einmal gefragt; aber da war der Alte stumm geworden wie ein Fisch. Nein, auf irgendeine Weise und ganz undeutlich hatte er immer gewußt, daß sich früher einmal noch ein Mensch auf dem Holm befunden hatte, aber wann und wer das gewesen war, darum hatte er sich nie gekümmert. Sonderbar … Hatten auch alle andern im Ort seinen Vater ganz vergessen, oder warum wurde er niemals mehr erwähnt? » Verunglückt am Heiligen Abend«, stand auf dem Kreuz, und dazu die Jahreszahl. Er überlegte einen Augenblick. Das war ja beinah gleichzeitig mit seiner eigenen Geburt gewesen, nur vier Tage nachher! … War das am Ende etwas, wovon die Leute nicht gern sprachen?

Valfrid stand auf, langsam und wirr im Kopf.

»Wenn der Tveholm-Janne nicht mein richtiger Vater ist, wer ist er dann eigentlich?« fragte er sich selbst. »Doch einerlei, ich will nicht tauschen. Aber Mutter und er könnten wohl hier auf dem Grabe besser Ordnung halten.«

Er fing wieder an, reinzumachen, jetzt vorsichtiger; aber lange, ehe er fertig war, klatschte dort drüben der Pfarrer in die Hände. Für heute war Schluß, sie sollten noch gemeinsam ein geistliches Lied singen und dann heimgehen.

Heute nacht sollte er mit dem Großnetzboot hinausfahren, und er hatte auch heute früh mit einigen andern dazu Urlaub vom Konfirmationsunterricht bekommen; übermorgen aber war er wieder hier und machte vollends rein. Er warf noch einen Blick auf das Kreuz. »Verunglückt am Heiligen Abend.«

Sollte er schon heute von dem reden, was er nun wußte, und Auskunft verlangen, überlegte er sich, als er mitten in der lärmenden Konfirmandenschar die Straße entlang ging. Er mußte ja heim nach dem Tveholm, um sich für den Fischfang fertig zu machen. Aber nein, er wußte wohl, daß man eine solche Frage nicht nur so beiläufig hinwarf – die war zu groß und ernsthaft.

Die Lerchen in der Luft barsten beinah vor lauter Trillern, von den Pflanzen um die Kirche wehte ein leichter Blumenduft herüber, die Kameraden liefen voran und pufften einander unter fröhlichem Rufen in den Rücken, und über alledem stand der Frühlingshimmel weit offen und goß sein wärmendes Nachmittagslicht nieder. Valle aber achtete nicht darauf. Erst als der Weg in den dämmrigen Föhrenwald führte, fühlte er sich in der Umgebung mehr zu Hause. Nein, eine weite, sonnige Welt war es nicht, die sich heute für ihn aufgetan hatte. Er war auf einen neuen Weg geraten, einen unbekannten und ernsten Weg.

Jetzt näherte er sich schon Bredby, von da hatte er nicht mehr weit nach Hause. Aber jener andere Weg – das sagte ihm eine jäh gereifte Ahnung – war krumm und weit.

2

Der Zugnetzkönig Glad wütete.

»Das hier wird, hol mich der Henker, eine Kälberei und nie ein Netzfang! Das nächstemal schicken sie mir wohl ganze Wickelkinder, was? … Takt gehalten dort an den Riemen! Das geht ja alles höllisch verflucht! Gibt's denn auf den Schären hier keine Erwachsenen mehr, was?«

Der Mann stand befehlshaberisch in einem von den zum größten Teil mit halberwachsenen Kindern bemannten Strömlingsbooten, die wie zwei kleine Prähme, nur eine kurze Strecke auseinander, auf den leicht gekräuselten Wellen des Fjordes schaukelten. In dem anderen führte der Tveholm-Janne den Befehl. Ein hölzernes Spill mit Handbetrieb arbeitete in jedem Boot gleich einer träge knarrenden Windmühle und rollte eine Trosse auf seine dicke Trommel, während drei Paar ungeheure Riemen aus den Bootseiten hinausstarrten wie die ausgreifenden Beine einer Riesenspinne. Weiter draußen im Wasser gingen die beiden Trossen in ein schwimmendes Tau über, das in Form eines riesigen Hufeisens verlief und einen großen Teil des Fjordes zu umfassen schien, bis es schließlich in der Tiefe verschwand. Das war das große Zugnetz. Und darüber in der Luft schwebte eine Masse von flatternden, kreischenden Möven, die ungeduldig ihren Anteil an der Beute forderten.

Es waren immer weniger festliche Tage für den Fang mit dem hundert Faden langen Zugnetz gekommen, der, den Höfen im Dorf entsprechend, in vierundzwanzig Lose aufzuteilen war. Ein Netzkönig nach dem andern kämpfte vergebens gegen die neuen Zeiten mit ihren Änderungen; dann war er der Sache müde, legte das Zepter nieder und wurde von einem andern abgelöst. Fische gab es noch ebensoviel wie früher, daran lag es nicht. Die Bauern, die eigentlichen Besitzer, kamen ihrer Zugnetzpflicht einigermaßen nach oder stellten wenigstens Ersatz, solange die Eisströmlinge noch fett im Wasser standen. Aber gegen den Sommer hin, wenn sich die mageren Laichströme im Fjord stauten und große Fänge gemacht werden konnten, wurde dies nicht mehr als heilige Pflicht betrachtet. Man war wählerisch geworden, wollte nur noch Fische haben, die sich im eignen Fett braten ließen. Mit dem Plunder konnten sich die Unbegüterten und die Leute von den Schären befassen. Immer mehr war es der Brauch geworden, das Zugnetz an sie auszuleihen unter der Bedingung, daß die Besitzer jedesmal eine Runde bekamen, das hieß, vierundzwanzig Viertelfaß ringsum an die Bauernhöfe, ein Viertel auf jedes Los. Was übrig blieb, durften die Zugnetzleute behalten. Aber mit einer Besatzung wie heute kam der Fang nicht von selbst ins Dorf hinauf. »Was ist das für eine Mannschaft, die sie mir neuerdings in die Netzboote schicken!« schnaubte Glad. Es waren hauptsächlich schreiende Buben im Stimmwechsel und dann noch ein paar fleißige Krabben von kleinen Mädchen, die nur den einen Fehler hatten, daß sie kaum ein Ruder aus dem Wässer heben konnten. Und das, obgleich er schon zwei Tage vorher sein Aufgebot hatte ergehen lassen! Mehrere von der Besatzung waren sicherlich auch nur aus Neugier mit dabei. Zum Beispiel die beiden dort, der Vetter und die Base von Ankarö, das Mädel des hochmütigen Stark und sein Bruderssohn, der Junker! Aber wahrhaftig, heute ließ es sich das Mädchen sauer werden …

»Heda, Junker! Zieh die Riemen ein und tausch mit deiner Base an der Winde. Das Mädchen fällt ja nächstens um!«

Valfrid stand an der entgegengesetzten Seite der Winde und drehte. Er begriff nicht recht, wie er in dieses Boot gekommen war, da Janne den Befehl im andern hatte. Und er machte die Arbeit für Tuva nicht leichter, im Gegenteil. Wohl griff er mit harten Fäusten um die langsam kreisenden Holzspeichen und schien nach Leibeskräften zu drehen, aber es sah nur so aus, denn er hing nur als totes Gewicht in dem Werk, schlapper als ein Angelwurm. Es machte ihm ein sonderbares Vergnügen, ihn, den feinen Engel von gestern, sich plagen und anstrengen zu sehen; es war ihm jedesmal ein Genuß, wenn sie auf ihrer Seite eine Speiche nicht herunterdrücken konnte, sondern den Fuß hochheben und fest darauf treten mußte, und mit spöttischem Blick sah er in ihre bald zornig schwarzschimmernden, bald flehend blickenden braunen Augen. »Willst vielleicht nachher petzen, sag?« Ihr ganzes schweißiges Gesicht arbeitete bei der Anstrengung mit; bald kroch ein hilfloses Zungenspitzchen aus dem flammendroten Mund, bald bewegte sich die sonnverbrannte Nasenspitze, wenn sie die Lippen zusammenpreßte, als ob sie sagen wollte: »Nein, du brauchst nicht zu denken, daß ich schlapp mache, du Scheusal …« Aber es war auch noch etwas anderes da. Von ihrer Seite der Winde her drang irgendetwas tief in ihn hinein, wie … ach, er wußte nicht, wie! Am ehesten war es eine Art Qual, obgleich er wünschte, daß diese Qual recht lange dauere. So etwas hatte er noch nie erlebt; dennoch empfand er ein unklares Schamgefühl, weil er diese neue Erfahrung grade am heutigen Tag machte, wo er ein anderer war mit all dem Geheimnisvollen, das er in sich trug. Zuweilen, wenn er sich vorbeugte, kam ihr Kopf dem seinen so nah, daß ihn eine verschwitzte Locke im Gesicht kitzelte und der schwere Zopf auf seiner Seite zwischen die Speichen fiel. Einmal faßte und drückte er ihn kräftig, ehe er ihn nachlässig wieder über ihre Schultern zurückwarf. Durch den kühlen Morgenwind wehte es wie ein warmer Dunst um ihren zarten Mädchenkörper in dem dicken Duffelmantel. So oft sie sich vorbeugte, schlug ihm unter der Wolle hervor ein Hauch von frischgebügelten Kleidern entgegen, und noch tiefer heraus eine laue, süßsäuerliche und ein wenig schwere Feuchtigkeit, die ihn wirr im Kopfe machte.

Als der Netzkönig sie nun wegbefahl, fehlte ihm plötzlich etwas, und er bedauerte es, daß er sie nicht anders behandelt hatte. Er sah, daß ihr ganzes Gesicht unter der Sonnenbräune blutrot wurde und kleine Schweißperlen darauf glitzerten. Armes Ding, sie schämte sich, weil man meinte, sie könnte nicht ordentlich drehen, und daran hatte doch er allein die Schuld getragen …

 

Tuvas Vetter, der Junker, hatte diesen Namen von einem neunzigjährigen Greis geerbt, der auf Ankarö gestorben war, kurz bevor der Junge zum Bruder seines Vaters dorthin kam. Unter den Leuten da draußen war es eine uralte Sitte, irgendeinem jüngeren männlichen Verwandten diesen Titel auf Lebenszeit zuzulegen; gewöhnlich einem Jüngling, der für den höchsten Posten auf der Insel vorbestimmt zu sein schien. Und ganz sicher und mit gutem Grund wurde vorausgesehen, daß dieser letzte Junker im Lauf der Zeit das Amt seines sohnlosen Oheims erben werde, der sich schon in seinen besten Jahren ebenso hoch hinaufgeschwungen hatte, wie die Laterne im Leuchtturm von Ankarö blinkte. Andererseits wurde der Junge von Älteren und Gleichaltrigen nicht mit Unrecht wenig geschätzt. Er war ein richtiger Teufelskerl für sein Alter, dazu gutmütig und gescheit, aber er hatte eine unangenehme Schädeldecke, die aussah wie ein Schweinsrücken mit dichten, aufrechtstehenden Borsten; es war sein höchstes Vergnügen, unter seinen Kameraden dumme Reden über die Mädchen zu führen, um recht erwachsen zu wirken, und dabei ließ sein fleischroter Mund ein stoßweises blechernes Gelächter hören, das jeden gesunden Jungen anwidern mußte. Nun ja, die Bewohner von Ankarö, insbesondere der Leuchtturmwächter Stark waren durch ein Ereignis, das fünfzehn Jahre zurücklag, in der allgemeinen Achtung gesunken. Aber man hatte doch einen gewissen Respekt vor jedem, der vorwärts gekommen war, wer er auch sein mochte, und es gab Dinge, von denen man ungern anders als flüsternd redete, und nur unter Erwachsenen, denn der leichte Sinn des Volkes hatte einen angeborenen Widerwillen gegen alles unnötige Aufwühlen von alten Kümmernissen.

 

Jetzt kam also der Junker vom Vorsteven dahergestiegen und nahm Tuvas Platz an der Winde ein. Sofort fing er an, von Mädchen zu quasseln.

»Ha, Männerarbeit und Weibsleute, jawohl … Nee, nee, die taugen nur zu einem.«

»Wozu?« fragte Valle und tat, als gähne er.

»Zum Pläsier! Hä, hä.«

Valle ließ das Rad schnurren, daß eine der Speichen den Junker vor den Bauch stieß. Dieser faßte das aber als Ermunterung zu einer Kraftprobe auf, und das Gangspill drehte sich plötzlich wie der Wind.

»Stopp dort hinten!« ertönte die Stimme des Netzkönigs. »Meint ihr, wir wollen das ganze Zeug hier herüber haben?«

Übrigens war die Trosse jetzt zu Ende, und das Netz tauchte auf. Die Boote hatten sich einander genähert. Die Leinenwinde wurde außer Betrieb gesetzt und dafür an der Reling die breite Holzrolle befestigt, über die hinweg das Garn ins Boot laufen sollte. Glad kommandierte weiter: »Drei Wickelkinder an die Leinen, drei ans Netz und die andern an die Riemen, dann werden wir sehen, wie's geht!«

Allein es wurde durchaus nicht der mißglückte Fischzug, den er befürchtet hatte. Schon die Netzränder glitzerten von lauter Strömlingen, als sie mit einem Ton wie ein leiser Regenschauer aus der Tiefe heraufkamen und in die Boote rannen, die jetzt beinah Seite an Seite lagen und langsam auf die Netzhütte in der Bucht zuruderten. Und als nach vielem Einholen die Hauptsache kam, der bauchige zehn Faden tiefe Steert, blinkte es dort unten im grünlichen Meeresdunkel wie eine einzige brodelnde Silbergrube. Zu allem anderen sah man auch einige Lachse in dem weiten Gefängnis hin und her fahren und mit der Nase gegen das feinmaschige Netz stoßen, wo erdrosselte Strömlinge in abschreckenden Reihen baumelten; bestürzt kehrten die Lachse um und versuchten es von neuem. Als alles miteinander endlich in den Booten war und diese, mit einem schreienden Gewimmel von Möwen über sich, an der Brücke unter dem Trockengestell des Zugnetzes anlegten, das viele Masten hatte und so hoch war wie die Takelage eines Fahrzeugs, lagen sie bedeutend tiefer im Wasser als zuvor. Ein zweiter Fang war heute nicht mehr nötig.

Die schüsselförmige und mit einem Wall von Dorngestrüpp umgebene Bucht sah aus wie immer nach einem Fischzug. Auf dem steilen und waldbestandenen Nordstrand hing das Zugnetz zum Trocknen, durch Taljen an seinen Masten hochgehievt. Wie ein dunkles Riesensegel, das von Schuppen glänzte, erhob es sich über die Wipfel der Föhren und bauschte sich in der Seebrise; es sah aus, als wolle die ganze Insel mit dem Wald davonsegeln. Die Fische waren längst aus dem Netz geschüttelt und gepflückt und mit hölzernen Spaten zu zwei ansehnlichen Haufen zusammengeworfen, die nun, zum Schutz gegen die Sonne mit Brettern bedeckt, in den beiden Netzbooten lagen. Der eine Haufe faßte die vierundzwanzig Viertel der Bauern und mußte ins Dorf gerudert werden, der andere wurde auf der Stelle verteilt, und Jollen und Netzboote fuhren ihn in verschiedene Himmelsrichtungen.

Auf dem kleinen grasbewachsenen Hügel dicht am Ufer der Bucht stand die Netzhütte, und es rauchte aus ihrem verfallenen Schornstein, der im Lauf der Zeit den Duft von recht viel Strömlingen genossen hatte. Da drinnen fand die große Kocherei von Fischen und Kartoffeln statt, die zusammen mit dem Ausruhen auf den wandfesten Bänken und dem Laufenlassen des Mundwerks den Höhepunkt des Tages bildete, bevor wieder das Aufräumen begann. In den Ritzen zwischen den Wandbänken stak eine lange Reihe von hölzernen Löffeln und Gabeln mit allerlei Kerben und Hausmarken. Man borgte sich ein Paar davon, holte sich eine steinerne Schüssel von dem Stapel in der Ecke und begab sich zu dem schwarzen eisernen Kessel, der bereits vom Feuer weggedreht war und an seinem rußigen Haken auf dem Rand der Feuerstelle langsam weiterköchelte. Tuva war es, die heute austeilte; eine ältere Wirtin gab es unter der Bootsmannschaft nicht.

Valle fühlte jetzt einen starken Drang, freundlich mit ihr zu sein. Er half ihr pünktlich bei dem Kessel und dem Feuer, und als sie schließlich für sich selber schöpfte und auf die obere Bankreihe unter dem niedrigen Dach kletterte, stieg er ihr nach und setzte sich neben sie. Etwas zu sagen, brachte er nicht fertig, obgleich dort unten das Geplauder mit dem Klappern der Holzlöffel und dem stoßweisen Gelächter des Junkers um die Wette lärmte. Auch Tuva machte den Mund nur zum Essen auf; sie aß unbekümmert, als wäre er gar nicht da. Schon fing das Schweigen an, ihm unbehaglich zu werden, als er einen willkommenen Anlaß fand, sich davonzumachen. Der Netzkönig, der unter der offenen Tür stand und auf die Bucht hinausschaute, kniff ihn ins Bein.

»Nimm den Junker mit und rudre zu den Strömlingen hinüber! Stell dort eine Vogelscheuche für die verdammten Großmöwen auf!«

Beide Jungen stiegen in eine Jolle und ruderten. Valle war sehr überrascht, als der Junker mitten auf der Bucht das Ruder ruhen ließ und ihn ernsthaft ansah.

»Hör du, ich glaub', du fängst an, der Tuva nachzusteigen.«

»Ha!« erwiderte Valle kurz.

»Jawohl, man hat doch Augen im Kopf. Aber ich sag' dir, Junge …«

»Ach was, vorwärts jetzt!« mahnte Valle; und gleich darauf waren sie auch bei den Netzbooten, von denen ein paar Großmöwen mit vollen Schnäbeln aufflogen und sich auf ihren grauen Flügeln durch die schreiende Wolke der kleinen weißen Möwen drängten.

Die Jungen schoben die Bretter über dem Fang besser zurecht, hängten einen alten Rock und eine Mütze an eine Stange und steckten die mitten in den Strömlingshaufen hinein. Da stand die Vogelscheuche und wehte im Winde.

Aber sie hatten auf dem Rückweg erst wenige Ruderschläge gemacht, als der Junker fortfuhr:

»Ich sag' dir, Jung, bleib von dem Mädel weg!«

Valle ruderte stärker, und der Junker schrie beinah:

»Sie ist für mich bestimmt, grade so gut, wie ich nach ihrem Vater Leuchtturmwächter werde.«

Valle ruderte, daß die Dollen knirschten und der andere genötigt war, Takt zu halten, und jetzt ging dessen Stimme in ein häßlich keuchendes Flüstern über:

»Ich hab' schon angefangen, – huh – an dem Zuckermäulchen zu lecken – huh – … Das schmeckt, Jung – hick, hick! Wenn sie'n bißchen größer ist – nehm ich sie auf den Heuboden mit – huh …«

Plötzlich hatte Valle das Ruder fahren lassen. Er stand auf und haute dem Junker eine Ohrfeige herunter, daß es knallte.

»Hört ihr wohl auf, zum Teufel!« schrie der Netzkönig unter der Tür. Er sah, wie sich vor der Bucht ein Durcheinander aus Armen und Beinen abhob. Zwei Jungenkörper umfaßten sich in wildem Kampf, das Boot schaukelte unter ihnen, das Durcheinander neigte sich zur Seite und ging mit Gebrüll über Bord.

Der Junker war der breitere und stärkere von den beiden; aber im Wasser ließ er den Gegner sofort los und klammerte sich eiligst an der Reling des Bootes fest. Valle konnte schwimmen. Jetzt hatte er das Übergewicht und fuhr fort, von hinten mit den Fäusten auf den spitzen Schädel seines Feindes zu trommeln. Aber schon war der Netzkönig in einer zweiten Jolle über ihnen.

Zwei mürbgeschlagene Gesellen verfrachtete der alte Glad zu der Netzhütte hin, wo die gesamte Bootsmannschaft als Zuschauer am Strand versammelt war. Er packte die triefenden Missetäter beim Genick und schleuderte sie unsanft an Land. Aber im gleichen Augenblick erhob sich Jannes Stimme, zitternd vor Empörung:

»Laß das, Glad! So geht man nicht mit meinem Jungen um!«

Und vor sich hin murmelte er: »Kein Wunder, wenn der Jung über einen von der Ankaröbande herfällt!«

Valle bekam ein Paar trockene Hosen ausgehändigt und sollte sich in dem Haselgesträuch umziehen. Als er um die Ecke der Hütte bog, lief er Tuva in die Arme, und da blieb er stehen. Einen Augenblick sagte sie nichts, sondern schaute ihn nur unentschlossen an. Aber plötzlich streckte sie ihm die Hand hin.

»Ich danke dir. Grob bist du, aber ich weiß schon, warum du ihn gehauen hast, den Erzlügner.«

Da stand er mit ihrem trockenen Händchen in seiner nassen Faust. Ein glückseliger Schwindel erfaßte seinen mürbgeschlagenen Kopf. Dann schwang er seine geliehenen Hosen hoch durch die Luft und lief auf das Haselgehölz zu.

3

»So, du willst also nicht mit ins Dorf zum Johannisfest?« sagte Janne, der sich, schon halb festtäglich gekleidet, vor dem Spiegel in der Schlafkammer die grauen Bartstoppeln rasierte.

Und aus der Stube antwortete Elfridas Stimme:

»Nein, ich hab' keine Zeit. Ich muß noch aufräumen und die Sachen für Valle herrichten, damit alles fertig ist, wenn wir aus der Kirche heimkommen. Bedenk doch, Janne, der Junge wird morgen konfirmiert!«

»Dann muß ich also allein fahren?«

»Ja, und ich weiß schon, wie du aussiehst, wenn du wiederkommst.«

»Das kann wohl sein«, meinte Janne sanftmütig. »Gewiß, Bussar und Glad und …«

»Und vielleicht der Leuchtturmwächter Stark?«

Jetzt hatte er genug und machte die Tür zu, aber mit sanfter Hand.

Janne war in seiner Ehe nicht befriedigt. Er hatte nicht aus Neigung geheiratet, sondern hauptsächlich aus Pflichtgefühl. Als sein jüngerer Bruder umkam, war es seine Pflicht gewesen, für die Witwe und das Kind zu sorgen, denn die Mutter in Askvik hatte nichts zu geben. Diese Verpflichtung stand ihm ebenso klar vor Augen wie das Bewußtsein, daß er jetzt der einzige Mann auf dem Holm war, und daß das Unglück nicht geschehen wäre, wenn die Leute auf Ankarö als Christen gehandelt hätten. Aber wie die Verhältnisse jetzt lagen, mußte er wohl oder übel Frau und Vaterschaft als Erbschaft seines Bruders übernehmen, weil man eben auf diesen dreizehn Morgen Steinen gelandet war und hier weiterleben mußte. Und da war es am einfachsten, nach dem Trauerjahr vor aller Welt einen regelrechten Ehestand zu stiften. Nach langem Überlegen fuhr Janne an einem Spätherbsttag übers Wasser nach Bysund und löste eine langjährige Verbindung mit einer älteren, sogenannten »Amerikaner-Witwe« (deren Mann in Amerika lebte) mit folgenden Worten: »Ich brauch dich nun nicht mehr, ade!« Kurz darauf fuhren er und Elfrida in aller Stille zum Pfarrer – zwei gehorsame Menschen, die sich ins Unabänderliche fügten.

»Der Ehestand ist, wie wenn einer Flöhe mit den Zehen fangen will; wenn's glückt, so glückt's«, pflegte der Bussar zu sagen. Aber Janne hatte niemals angenommen, sein Zusammenleben mit Elfrida könne je etwas anderes bedeuten als zwei Boote nebeneinander in demselben engen Nothafen, und so kam es auch. Kühl war das Ehebett, das sie ihm bereitete; er fühlte, daß er für die zwanzig Jahre jüngere Frau niemals der Mann werden konnte, dem sie richtige Wärme gab, sondern daß er immer der unvermeidliche Nachfolger blieb. Und Kinder konnte sie ihm auch nicht schenken; weiter als zu einem armen Totgeborenen hatte sie es in dieser Hinsicht nicht gebracht. Irgend etwas in ihrem Weibtum war in Unordnung geraten. Es war, als sei mit den vielen Tränen nach dem Unglück alle Lebenskraft aus ihr geflossen. Sie pflegte ihren Kummer, wie man eine heilige Krankheit pflegt, nicht um wieder gesund zu werden, sondern um die Krankheit für immer festzuhalten. Immer noch sah sie ständig verweint aus, obgleich die Tränen längst getrocknet waren; und ins Dorf oder zu andern Menschen fuhr sie selten, nicht einmal auf den Kirchhof. Janne versuchte jederzeit väterlich freundlich gegen sie zu sein, da konnte sie nicht klagen. Streit gab es auch nicht zwischen ihnen, höchstens, wenn er zu tief ins Branntweinglas geguckt hatte, aber das kam nicht allzu häufig vor. Er gedieh nur nicht neben ihrer trübseligen Natur.

So war die Zeit gegangen. Elfrida tat, was bei der Kuh, den Schafen und dem Kartoffelacker zu tun ihre Pflicht war, und in den ersten Jahren hatte sie ihm auch gewissenhaft beim Fischen geholfen. Sonst aber war mit dem früher fröhlichen und gesunden Mädchen nicht mehr viel los. Immer überdrüssiger wurde er ihres ewigen Gewimmers. Was hatte sie zum Beispiel heute früh für einen Grund dazu? Und dann diese lästige Vornehmtuerei, wie wenn sie, ja sie alle drei, feinfühliger und etwas Besseres wären als andere Leute. Weiß Gott, warum! Wie viele reiche Bauern hatten kein eigenes Badhaus! Auf den Tveholm aber mußte eins hin, obgleich da schon eine unbewohnte Kate stand. Er hatte versucht, sich mit seiner österbottnischen Weisheit zu wehren: »Wenn der Körper gesund ist, reinigt er sich von selbst.« Aber das half nichts, er bekam keine Ruhe, bis ein Badhaus gebaut war. Nein, es war einem nicht mehr wohl daheim, aber wenn man von Hause davonlief, war es auch nicht gut.

In Jannes schlichtem Denken hatte sich all dies, was ihn bedrückte, zu einer einzigen unvernünftigen Anklage verdichtet. In seinem Bruder vermißte er nicht nur den Verstorbenen. Wenn dieser Bruder lebte, hätte er selbst niemals eine Kette um den Fuß gehabt, noch sich mit einer Last schleppen müssen, die er sich niemals hatte aufladen wollen. Und wer war schuld an alledem? Geh und frag dort im Norden nach, auf Ankarö!

Jannes Anklage verstummte nicht mit den Jahren; sie wurde zu einem gewaltigen Haß.

Aber etwas Gutes hatte Elfrida ins Haus gebracht. Den Jungen, Valle – ihn hatte Janne vom ersten Augenblick an lieb gehabt. Und gleich nach der Hochzeit hatte er gesagt: »Wenn ich der Vater des Jungen sein soll, will ich es auch ganz sein, von außen und von innen, verstehst du? Niemals darf er etwas andres meinen, als daß ich …«

Janne bedurfte dieses Ersatzes für einen lustlosen Ehestand. Er hatte Elfrida zu dem Versprechen gezwungen, dem Jungen niemals etwas von dem Unglück zu offenbaren. Als der größer wurde, gab es einen kurzen Kampf zwischen den Eltern. Die Mutter wollte ihn hinter sieben Schlössern vor allen Fährlichkeiten, und besonders denen auf dem Meere, schützen, während Janne einen tüchtigen Mann aus ihm machen wollte. Und da er alles, was verlocken konnte, auf seiner Seite hatte – Boote, Büchsen, Fischereigerät –, trug er mit Leichtigkeit den Sieg davon. Aber trotz aller Bitterkeit hatte Elfrida ihr Versprechen unverbrüchlich gehalten; und sie und Janne wachten auch noch auf andere Weise über dem Geheimnis. Länger, als Janne zu hoffen gewagt hatte, war es gut gegangen, aber für immer konnte es so doch nicht weitergehen. Jetzt war Valle beinah erwachsen, und eines Tages mußte er in die düstere Wahrheit eingeweiht werden. Sie hatten beschlossen, daß es nach der Konfirmation geschehen solle. Und das war morgen …

Das Rasiermesser zitterte in Jannes Hand, und er schnitt sich ins Kinn, als er die grauen Bartstoppeln rasierte.

4

Es war Bredbys jährliche höchste Festzeit, wenn die Mittsommerstange aufgerichtet wurde, die einige Wochen zuvor niedergelegt, von den traurigen Resten des vorjährigen Putzes befreit und frisch angemalt worden war und nun wieder neu geschmückt wurde. Auf seinen Böcken ruhte der achtzig Fuß lange Mastbaum in nackter Majestät oben auf dem Gipfel des Hügels und wartete auf den Schmuck, der kommen sollte. Aber dicht daneben, in der Getreidedarre von Storgrinda, ging es an den letzten Abenden sehr geschäftig zu. Unter dem schallenden Gesang von Mädchenstimmen wurden frisches Laub und rotgefärbte wollene Troddeln an endlose Schnüre gebunden, wurde dem »Säemann« ein blaugelber Überrock angemalt und die »Sonne« aufs großartigste vergoldet; da wurde der besaitete Bogen der »Harfe« geschmückt, da wurde der Toppwimpel zugeschnitten und beschrieben; da wurden die vier Schiffe auf den Kreuzarmen mit sturmsicher genähten Segeln und kleinen Ketten als Schoten getakelt, während eine Schar von barfüßigen Jungen noch einmal an den Infjord bei Hasselöra mußte, Schilf für die große laternenförmige Krone zu holen.

Das Aufrichten selbst am Johannisabend ging mit vereinten Kräften vor sich, und zwar auf zwei wesentlich verschiedene Arten, je nachdem, wie es mit dem Winde stand. Wehte er kräftig, dann gebot der große Windfang, den die Stange mit ihrem ganzen Schmuck darstellte, äußerste Vorsicht, und die Mannschaft fand sich früh am Abend und in guter Ordnung ein. Herrschte dagegen Windstille, so ging die Festlichkeit sehr häufig mit gewaltiger Verspätung, viel Branntwein und allgemeiner Heiterkeit vor sich.

Heuer war es ein windstiller Mittsommerabend, und die längst versammelten Frauen und Kinder hatten das Warten schon gründlich satt, als endlich das Mannsvolk unsicheren Schritts sichtbar wurde, ausgerüstet mit allem Nötigen. Zu allerletzt kam der Stangenkapitän, Schiffer Andersson, zum Vorschein, und er sah rein beklagenswert aus; aber kommandieren konnte er wie sonst. Einige Frauen schlugen die Augen ergeben zum Himmel auf, kleine Kinder begannen einen Ringeltanz im Hofe von Storgrinda, dann krachte ein Dutzend Büchsenschüsse, und mit kurzen lauten Zurufen des Stangenkapitäns fing das große Manöver an.

 

Schon ist es nah an Mitternacht, aber noch immer hat der Mast in seiner steinernen Grube, die größer ist als ein geräumiger Brunnenschacht, nicht richtig Fuß gefaßt. Einer Riesenlanze gleich, mit Siegeszeichen behängt und von der gesamten Manneskraft des Dorfes gehandhabt, zeigt die Stange schief zum friedlichen Sommernachthimmel hinauf, bereit, dessen einzigen bleichen Stern aufzuspießen. Von der Mitte der Stange aus laufen drei steifgeholte Manilataue über den Kopf des Festkochs hin zu den nächsten standfesten Dingen, den alten Ahornstämmen von Storgrinda, und dort, im Schatten der Laubkronen, wird an den Taljen geholt, wieder losgelassen, abgestoppt und geschrien im Takt nach dem Kommando des Stangenkapitäns.

»Hol steif die Taljen! – Fier die östliche! – Einen Schlag auf die mittlere! – Stopp!«

Vorläufig wird aber doch die schwierigste Arbeit von der Mannschaft unterhalb des schiefstehenden aufgeputzten Riesen geleistet. Da schieben und stoßen die vier Scheren mit Hilfe von zwei Dachleitern, die als Sperren dienen. An jedem Ende der langen Scherenbäume hängen mehrere Männer wie Sklaven, spucken sich in die Hände und keuchen. Das ist nicht nur eine anstrengende, sondern auch eine verflucht peinliche Arbeit, wenigstens für benebelte Augen. Denn es gilt, im rechten Augenblick das schwere Gerät weiter zu bewegen, ohne sich in der leichtverletzlichen Takelage um den Mast herum zu verfangen, nämlich in den eine gewaltig große Sanduhr bildenden Laubgewinden, die noch wie ein wallendes grünes Haargewoge herunterhängen.

»Hoch auf die Scheren! – Klemmt mit der mittelsten! – Hoch auf damit!«

»Hoch auf damit!« gellt es als Antwort zurück, und die Stange hebt sich langsam zwei Fuß hoch, aber schief und nur von der östlichen Seite her.

»Stopp, zum Henker, festgehalten die Leitern!« brüllt der Kapitän. »Alle Hagel, haben wir denn lauter Besoffene auf der Westseite? Hinüber ein paar nüchterne Kerle und ihnen geholfen!«

Er hat vollständig recht. Die östlichen Scherenbeine nach dem freien Feld zu bewegen sich sehr taktfest und kräftig, aber die westlichen ebenso ungleich und schlapp. Von einem magnetischen Gesetz angezogen, haben sich die Bezechtesten auf dieser Seite versammelt, und die Besatzung hier zeichnet sich durch häufiges Davonrennen vom Dienst aus. Einmal stehen dort zwanzig Mann, schwankend und berstend vor Lachen, dann nur ein Dutzend, und hauptsächlich junge Burschen. Die Erklärung liegt im Wäldchen nebenan. Vor der Nase von Frauen und Kindern den Flaschenboden hoch in die Luft zu heben, gilt für unanständig, aber dort drinnen zwischen den Bäumen liegt eine glänzende Buddel unter jedem wohlbelaubten Ast, und man macht mit ebenso durstigen Kumpanen fleißig Ausflüge dorthin. Auch der Mannschaft unter den Ahornbäumen leuchtet von der Feuerstelle auf Storgrinda her in der schwachen Dämmerung ein Flammenschein entgegen und meldet: »Hier, Mannsleute, gibt es Kaffee mit Branntwein!«

Auf den Befehl hin gibt es also eine Umgruppierung der Sturmtruppen: auf die Westseite hinüber wird Verstärkung geschickt.

Auf dieser Seite hat der Tveholmer Valfrid gestanden und sich so heftig an einem Scherenbein abgemüht, daß ihm zwei Knöpfe von seinem neuen Konfirmationsanzug abgesprungen sind. Zu Anfang sind es mehrere Männer gewesen, die mit ihm zusammen arbeiteten, aber dann standen plötzlich nur noch zwei da. In der Schar um das entsprechende Scherenbein auf der Ostseite hatte er schon lange den Junker und dessen Onkel mit der glänzenden Borte um die Uniformmütze wahrgenommen, und nun sieht er, daß der Leuchtturmwächter selbst herüberkommt, um hier zu helfen.

Zu dem bequemen, hauptsächlich sitzenden Leuchtturmwächterberuf gehört es, rasch Fett anzusetzen, wovon Starks dunkelblauer Uniformrock schon Zeugnis gibt. Er macht die großen Messingknöpfe des stramm sitzenden Kleidungsstücks zu und legt seine ansehnlichen Fäuste an die Schere. Mit geheimem Unbehagen betrachtet er den Jungen neben sich, den er zwar von der Geschichte vor fünfzehn Jahren her nur zu genau kennt, aber nur selten so ganz in der Nähe gesehen hat. Dann sagt er in scherzendem Ton: »Holla, so, du hältst dich an diese Seite? Das kann ich mir denken, ihr Tveholmer gehört wohl auch hierher. Wo hast du deinen Alten? Im Wäldchen drinnen, ha?«

Hinter dem Scherz des Leuchtturmwächters liegt eine durch Jahre aufgespeicherte Bitterkeit, die ihre Ursache in untergrabenem Ansehen hat und in etwas, was er für planmäßige Verleumdung hält. Aber er ist sich dessen selbst kaum voll bewußt, und noch weniger ahnt Valle den Zusammenhang. Die Anrede ärgert ihn aber, und er wäre am liebsten fortgelaufen, bleibt aber doch halsstarrig da und schweigt. Welchen Grund hat Tuvas Vater, so von den Tveholmern zu reden? Nach der Schlägerei von neulich bei der Netzhütte war ihm schon so gewesen, als ob … Hatte sie nichts gesagt, oder wurde bei ihr daheim der Junker am Ende sogar Tuva selber vorgezogen? Sie hatte ihm doch gedankt …

Das Unglück will es, daß in diesem Augenblick ein Lachen losbricht, das dem ganzen Dorf bekannt ist; es dringt durch all den Mittsommerlärm hindurch wie ein fröhliches Hundegekläff durch den von hellem Vogelgezwitscher erfüllten Wald, bis es in einem sechzigjährigen Sumpf von Schwindsucht, Branntwein und Tabaktaft ertrinkt: toff, toff, poff! Aus dem Wäldchen heraus torkeln Arm in Arm zwei magere Gestalten. Janne ist der nüchternere von beiden und sieht im Gesicht ebenso vertrocknet wie gewöhnlich aus; die sehnigen Züge gleichen dem braunen Flechtwerk eines Binsenkorbs. Der alte Bussar ist schlimmer dran; wenn sein Kumpan den Zugriff lockert, fängt er mit seinen langen, baumelnden Armen in der Luft herumzufuchteln an wie ein schwimmender Schimpanse. Sein verwüstetes Kindergesicht glänzt vor Wonne; aber mitten darin ragt ein rotes Horn von Nase heraus, auf dessen beiden Seiten sich der Schnurrbart spreizt wie eine abgenutzte Lampenbürste, die bereit steht, dieses blanke Ding zu putzen.

Als die zwei zum Arbeitsplatz gelangt sind, merkt Janne, daß sein Platz an der Schere von einem eingenommen ist, dem er nur ungern in die Nähe kommt; er zieht sich zurück und packt die Sperrleine am Fuß der Stange. Aber der Bussar bleibt in verwirrter Begeisterung stehen, blickt erst einmal nach dem schlafenden Meer hin, wendet dann seine wäßrigen Augen gegen den ebenso blaßblauen Himmel, wo die ganze Mittsommerherrlichkeit ihm zu Häupten schwankt. Und er nimmt andächtig den ausgefransten Strohhut ab und wackelt mit dem grauen Schädel: »Schön, verflixt schön! Ach, ach, da kann man gar nicht mehr!«

Für einen Augenblick wendet sich aber die allgemeine Aufmerksamkeit einer andern Seite zu. Lassas-Isak, der dickste Bauer des Dorfes, ist mitten zwischen den Leitern umgefallen. Wie ein Holzpferd steht er auf allen vieren da und brüllt; aber es glückt ihm nicht, sich aufzurichten. Außerdem hat er den Eimer mit der frischen Vergoldung für die Sonne erwischt und sich den Hosenboden mit der königlichen Farbe angeschmiert, er will damit wahrscheinlich seine Hochachtung für diesen gewaltigen Körperteil bekunden.

»Grausig, grausig, man schämt sich ja zu Tode!« jammern einige gellende Frauenstimmen; und Lassas-Isak wird fortgeschafft unter furchtbarem Gebrüll, die vergoldete Hinterfront nach oben.

Jetzt hat die Mittsommerstange trotz allem den Grad von Schiefe erreicht, wo die Taljen richtig zu ziehen anfangen.

»Holt steif die mittlere! Die anderen mitholen! Festhalten da unten!« kommandiert Schiffer Andersson; und aufwärts geht es im Hui. Schon sind kleinere Steine in den Schacht geworfen worden, jetzt poltern größere Brocken um den Fuß der Stange hinunter. Eine Bockleiter wird herbeigetragen, der Bauer von Storgrinda klettert hinauf, um die drei Faden hohen Stützen um die Stange festzunageln. Aber der beinah viereckige Mann ist zu klein und wagt nicht, auf der wackligen Leiter hoch genug zu steigen. Als er ein gutes Stück über seinem Kopf mit der Rückseite der Axt zu hämmern anfängt, schlägt er immerzu daneben, so daß es um die Nägelköpfe knistert.

»Gebt ihm 'ne Bratpfanne, sonst trifft er doch nichts!« hetzt einer.

Unten steht der Schmied und hält die Leiter. Sonderbarerweise ist er der spindeldürrste Mann im Dorf, aber dafür mit einem haarscharfen Schwertmaul begabt, und da ihm eine Eigenheit des Bauern dort oben einfällt, läßt er nun sein geschmiertes Mundwerk laufen und ruft hinauf: »Ich glaub', du hast die Hosen voll und kannst darum nicht klettern!«

Der Storgrinder schaut auf ihn hinunter, wie etwa ein Eisenklotz eine Nähnadel betrachten könnte. »Nimm dich in acht, sonst kannst du heut abend deinen Kopf unter dem Arm heimtragen!« sagt er schließlich und hämmert weiter.

Aber der Schmied ist jetzt in Schwung gekommen. Erhitzt durch eine seit langer Zeit versteckte Wut, fuchtelt er mit der knochigen Faust in der Luft herum. »Nimm du dich selbst in acht, du Ochsenblase, oder willst du die da kennenlernen? Jedenfalls bin ich nicht der von uns zweien, der seine Knochen zusammenlesen muß!«

»Hört doch nur den verfluchten Schmied!« lacht der Stangenkapitän Andersson. »Gibt's einen von euch, Kinder, der nicht weiß, wie dieser dürre Stecken von einem Mannsbild auf die Welt gekommen ist? Als seine Mutter noch ledig war, ist sie einmal über einen Zaunpfahl gestolpert. Und von dem Unglück her schreibt sich der Schmied.«

»Kinder, Kinder, werdet nur nicht gar zu fein! Was ihr da von euch gebt, ist lauter Mist!« läßt sich der Netzkönig Glad vernehmen.

»Hä-hä-hui-hui!« lacht der Bussar aus vollem Halse, und die Derbheiten laufen weiter in munterem Ringeltanz. Aber mit heller Gutmütigkeit wird hier gegeben und empfangen. In der Johannisnacht ist das Wort frei, und wenn einer ernstlich böse wird, darf er es wenigstens nicht zeigen.

Jetzt steht die Stange völlig aufrecht, mit dem Lot von den verschiedenen Himmelsrichtungen aus geprüft. Um den Fuß her hat sie einen dichten Zaun von Pfählen, die mit zwei waagrechten Querhölzern als Sitz und Lehne beschlagen sind; das gibt wie immer die Schwatzecke für die kommenden Sommersonntage. Eben hat man Hurra gerufen und ein Dutzend feuerspeiende Büchsenmündungen in die Luft knallen lassen, als der Pfarrer langsam den Hügel heraufgewandelt kommt; da flaut der Lärm ein wenig ab.

Pfarrer Rosius ist kein engherziger Feind dieser Johannisfeier, obwohl er zugeben muß, daß sie oftmals einen bedenklichen Anstrich von heidnischen Gebräuchen aus der grauen Vorzeit hat, woher sie auch stammt. Aber liegt nicht auch etwas Schönes, ja fast Unbegreifliches in dieser Treue gegen eine alte Sitte? Geizige Bauern und arme Fischer, die sonst wahrhaftig die Pfennige mit allen zehn Fingern festhalten, opfern plötzlich Geld und Arbeitskraft für etwas, wovon sie nicht den mindesten Nutzen haben, für etwas so vollständig Unnötiges wie eine Mittsommerstange! Wozu? Nur aus Freude daran. Und die Freude soll ihr Recht haben, denkt der Pfarrer, da darf man nicht kleinlich am Anstand festhalten. Laßt nur die Männer sich einmal im Jahr Leib und Seele mit Branntwein spülen – vielleicht schwemmt er einen gärenden Bodensatz weg, der sonst liegen bliebe und Pestilenz verbreitete! Laßt die Hausmütter einmal je nach Lust und Laune lachen oder weinen, wenn sie ihren Mattsson oder Andersson nicht mehr wiedererkennen! Laßt die Kinder tanzen und die Jugend sich austoben, laßt das eine oder andere geschehen – aber geschieht es, daß jemand in wirkliche Not gerät, damit ist meine Stunde gekommen! In einer Welt ohne Beelzebub hat die Erlösung keinen Platz, und es muß erst richtig gesündigt werden, ehe die Gnade niedersteigen kann!

Immerhin kommt der Pfarrer gewöhnlich aus seinem friedlichen Kirchdorf hierher gewandert, sobald ihm eine Ahnung sagt, daß das heidnische Fest einen Punkt erreicht hat, wo ein christliches Einschreiten nichts schaden kann. Und heute hat er es getan im Gedanken sowohl an die heutige Windstille als auch an die morgige Konfirmation.

Pfarrer Rosius ist ein Mann, der mit beiden Füßen auf der Erde steht, und nach einigen Händedrücken nach rechts und links bleibt er stehen und betrachtet die Mittsommerstange. Jawohl, sie sieht aus wie immer, wie immer hebt sie ihren Schmuck da in die Sommernacht hinauf. Zu oberst auf seinem Stängchen der Säemann, das Sinnbild des alljährlichen Saatfeldes. Da drischt er, einen Flegel in beiden Händen, die blaue Luft. Unter ihm hängt der lange Wimpel, der sich gleich einer langen weißen Korkzieherlocke windet mit seiner Inschrift: Johannisfest 1914. Dann die Sonne, nach Osten gewendet mit den heuer wacker vergoldeten Strahlen, die schon in der Vorahnung des Morgen glänzen. Weiter die Kehrichtkiste; was sie bedeutet, weiß niemand mehr, aber sicherlich hat sie etwas mit Musik zu tun – ja, möge diese niemals im Dorf aussterben! Dazu scheint auch keine Gefahr zu sein – aus dem Dorf ertönen von Storgrinda her, wo der Ringtanz im Gang ist, Geigen, Ziehharmoniken und Gesang in wildem Wetteifer; Gott segne die Jugend! Dann die Schiffe. Eben erhebt sich eine leichte Brise, die Segel dort oben werden lebendig, die Kettenschoten rasseln, und auf ihrem talggeschmierten Kreuzarm fangen die vier Fahrzeuge an, sich langsam nach der Windrichtung zu drehen, wie sie sicherlich in Hunderten von Jahren um jede neue Mittsommerstange surrten.

Aber der Pfarrer kommt mit seinem Betrachten nicht weiter auf den Boden herunter. Neben sich hört er einen Lärm, und da steht Ira und starrt mit boshaften Augen zum Himmel hinauf.

Die richtigen Vornamen der Dorfhexe lauten eigentlich Serafia Safira, aber sie wird allgemein nur Ira genannt, was, wie der Pfarrer sagt, ein treffender Name für sie ist, wenn man Latein versteht. In ihrer Jugend hat sie zweimal wegen Kindsmord im Zuchthaus gesessen, und sie ist auch der Schrecken für alle lebendigen Kinder. Sieht man sie von hinten, so erinnert sie an eine gewöhnliche kleine alte Frau mit einem Stock in der Hand. Aber von vorn gesehen kommt die Hexe zum Vorschein. Ihr Gesicht gleicht einer einzigen kribbelnden Schlangengrube, und aus dieser Anhäufung von Bosheit und Laster glimmen zwei haßfunkelnde schwarze Knöpfchen von Augen hervor. Heut ist sie wie gewöhnlich aus ihrem Nest gekrochen, um Gift in den Freudenbecher zu spucken.

»Jagt sie fort! Weg mit dem Pack!« rufen ein paar wütende Männerstimmen; aber niemand mag sich so recht mit ihr befassen.

Ira steht neben dem Pfarrer und starrt zu dem hellen Nachthimmel hinauf, als sähe sie dort anstatt einiger weißer Möwen eine Wolke von Fledermäusen und schwarzen Geistern. Unaufhörlich streckt sie ihre schmutzigen Klauen von Fingern in die Luft und zieht sie wieder an sich, als scharre sie Flüche über das Dorf herunter.

»Woran denkst du, Ira?« fragt der Pfarrer, den Mund nah an ihrem tauben Ohr.

»Ich denk' – ich denk' an all das, was heute Nacht hier gesündigt wird«, zischt sie mit gelbem Schaum in den Mundwinkeln. »Völlerei, Unzucht, Sauferei … Burschen und Mädel durcheinander in Haufen, hui, hui, und der Teufel mitten drin …«

Der Pfarrer deutet auf das Laubgewinde um die Mittsommerstange, dessen große Ranken ihre Schatten in die Luft abzeichnen. »Denk du an deine eigenen Sünden, Ira! Sieh dort die Sanduhr, deine Stunden sind gezählt.« Er erhebt seine Stimme und schreit ihr befehlend in das taube Ohr: »Aber kommst du zum Tanz und störst die Freude der Kinder, dann schlag' ich das Kreuz vor dir und verfluche dich!« Damit dreht er ihr den Rücken und geht.

In Bredby tanzt man nicht um die Mittsommerstange, dazu ist der Boden zu uneben; aber auf dem ebenen Hofplatz von Storgrinda tut man es um so eifriger. Schon lange, ehe die Stange aufgerichtet war, haben die kleinen Kinder damit angefangen, und dadurch blieben ihre Augen von vielem verschont, was nicht für ihr Alter paßt. Allmählich hat sich auch die halberwachsene Jugend dazugesellt, und nun steht schon ein dichter Wall von alten Leuten, die dem Vergnügen zuschauen, um den Platz. Mitten auf dem Hof ist ein Feuer angezündet, kein loderndes Johannisfeuer, sondern nur eine flackernde Glut, um die herum der Ring der Tanzenden im Flammenschein kreist. Drei Geigen kreischen um die Wette, und eine Ziehharmonika mit eingestellten Baßknöpfen brüllt wie ein Stall voll ungemolkener Kühe; zwei Dutzend Stimmen schallen, und die wehenden Röcke der Mädchen geben zuweilen dem Feuer eine Backpfeife, daß die Lohe aufflammt, als wolle sie wegfliegen an einen ruhigeren Ort.

Valfrid tanzt mit Tuva. Erst war er wegen der Worte, die ihr Vater bei der Stange gesagt hatte, etwas zaghaft gewesen, bald aber hatte er beschlossen, es nun grade zu versuchen; und als er den Leuchtturmwächter ein paarmal unter den Zuschauern erblickt hat, wird er nur um so eifriger. Wäre er etwas älter gewesen, so hätte er vielleicht begriffen, daß sich ein Ritter seinen Lohn wohl auch ertrotzen kann; jetzt aber weiß er nur, daß er ganz wirr im Kopf ist vor Glück, und daß die ganze Welt es sehen soll, wer die zwei sind, die bei diesem Johannisfest am meisten miteinander tanzen. So oft er innen im Kreis an der Reihe ist, fordert er sie auf, und sie sagt niemals nein, obgleich der Junker und einige andere Jungen es ebenso machen, so daß sie schon nah am Umfallen ist. Im Gegenteil, auch sie fordert ihn viel häufiger auf als ihren Vetter, dessen Gesicht allmählich ebenso lang wird wie sein Schädel.

»Komm, komm, wir woll'n nach Åland gehn!« schallt die Tanzweise aus dem immer größer werdenden Kreis, in dem jetzt haufenweise auch die Erwachsenen mitmachen. Tuvas heiße kleine Hände klammern sich fest an Valfrids Hände, um nicht losgerissen zu werden, wenn er sie wild um das Feuer schwingt. Es ist jetzt ein Wettlauf geworden, welches Paar sich am nächsten an die Flammen wagt, und jetzt eben weht ihr Rock so nah daran vorbei, daß es bei jedem Drehen einen kleinen Knall gibt, als bliese man ein Licht aus.

»Noch näher!« keucht sie.

»Traust du dir's auch?«

»Jawohl, weißt du, ich war am Brunnen und hab meine Röcke naß gemacht.«

Jetzt tanzen sie beinah mitten im Feuer und pressen sich die Hände, damit es sie nicht auseinanderreißt. So oft er sie nach außen dreht, flackert der Schein in ihr Gesicht mit dem weitoffenen kleinen Mund und spiegelt sich in ihren lachenden Augen. Die Flammen lodern, die andern Paare erscheinen hinter ihnen nur noch wie vorbeihuschende Schatten, die Umstehenden sind gar nicht mehr sichtbar, und sie hören nur noch die Tanzweise: »Komm, komm, wir woll'n nach Åland gehn!«

Doch plötzlich sieht Valle, wie sich ein taumelnder Schatten von den anderen löst und hastig auf sie beide zukommt. Ein Arm haut ihre Hände auseinander, hart wie ein Beil, das niedersaust. Tuva fliegt auf den Rasen hinaus, Valle selbst ist nah daran, rücklings ins Feuer zu purzeln.

Vor ihm steht Janne mit verzerrtem Gesicht. »Mit dem Mädel da sollst du nicht tanzen!« brüllt er.

Alles bleibt stehen und schweigt; aber aus der Menge heraus tritt der Leuchtturmwächter und kommt langsam näher. Er versucht, gelassen zu erscheinen, obwohl leicht zu merken ist, daß er vor Empörung zittert. »Was soll das bedeuten?« fragt er amtsmäßig kühl.

»Ich sage, er soll aufhören, mit deiner Krabbe zu tanzen!«

»Ach so, sie ist wohl nicht gut genug für einen Jungen wie deinen – Nichtsnutz da!«

»Er ist nicht mein. Du weißt am besten, wem er gehört, denn du hast seinen Vater ums Leben gebracht. Gerade du, weil du nicht zur Hilfe ausgefahren bist!«

Der Leuchtturmwächter fühlt, wie ihm der Herzschlag stockt, und er ringt schwer nach Luft. Kommt ihm die verwünschte alte Geschichte wieder über den Hals? Und dazu hier und vor den Ohren des ganzen Dorfes … Aber er sucht sich zu beherrschen.

»Ha!« sagt er mit dicker Stimme. »Willst du uralte Geschichten aufrühren, so laß mich wenigstens in Ruh damit! Dein Bruder war ganz einfach betrunken und ist irrgefahren und erfroren. Er war genau so besoffen wie du jetzt. Das weiß doch jeder, daß ihr Tveholmer …«

»Du lügst!« brüllt Janne. »Er hat niemals gesoffen wie ich! Das ganze Dorf weiß, daß du Schandkerl lügst!«

Außer sich vor Wut und Branntwein zerstampft er einen Feuerbrand mit dem Absatz. Er ist bereit, sich auf den Feind zu stürzen, und das Dorf macht sich fertig, Zeuge zu sein bei etwas so Seltenem wie einer Prügelei zwischen Erwachsenen. Aber im gleichen Augenblick ist schon der Pfarrer da und dämpft den Sturm.

»Ruhig, ruhig! Daß ihr euch nicht schämt, ihr alten Kerle! Böse Worte zünden nicht, heißt es; aber nun ist Schluß. Übrigens meine ich, die Konfirmanden sollten jetzt heimgehen und sich schlafen legen. Es wird ja schon Tag.«

Die moosgrünen Fensterscheiben im oberen Stock von Storgrinda blinken wehmütig in der rötlichen Morgendämmerung. Mit dem Arm um Valles Schultern treibt sich Janne fern von den andern planlos herum. Mit hartem Griff hält er den Jungen fest; aber nicht mehr aus irgendeinem unvernünftigen väterlichen Machtgefühl heraus, nein, es ist, als wollte sich der Arm nur vergewissern, daß ihm nicht ein Kleinod abhanden kommt, daß es noch da ist und ihm nahe, trotz allem, was geschehen ist. Wenn der Junge einen Versuch macht, loszukommen, drückt er ihn nur noch enger an sich. Zuweilen läuft ein Schauder durch seinen alternden Körper, und es zuckt in dem braunen Geflecht seines Gesichts. Jetzt, wo er plötzlich nüchtern geworden ist, friert ihn, er schämt sich und ist ängstlich. Nicht, daß er sich des Auftritts schämte, den er veranlaßt hat, oder gar bang wäre wegen der Beleidigung, die er dem Stark ins Gesicht geschleudert hat – darin zu weit zu gehen, war in alle Ewigkeit unmöglich. Aber was sollte Valle von seinem Wutanfall denken, was von dem allen, was er plötzlich hörte? Es war ja so überstürzt herausgekommen und ihm in einem unglückseligen Augenblick über die Lippen geflossen. Zu Hause hätte es geschehen sollen, das war die Absicht gewesen, feierlich und mit der Bibel auf dem Tisch; und nun … Janne hat das Gefühl, ein Mann zu sein, der heimlich und während langer Jahre einen schweren Felsblock den Berg hinaufgewälzt hat und, grade auf dem Gipfel angekommen, ihn nicht mehr halten kann. Jetzt rollt er auf der andern Seite wieder bergab, zu früh, und niemand weiß, wohin. In welche Richtung wird er sausen und wen wird er treffen?

Janne sieht, daß sie jetzt an der hinteren Tür von Sinders Viehstall angekommen sind; in diesem Hof hat Valle bei einem Mitkonfirmanden sein Nachtlager. Janne bleibt stehen, drückt den Jungen noch einmal an sich und läßt ihn dann los. Es ist beinah heller Tag. Ein Pferdehuf scharrt ungeduldig auf der andern Seite der Balkenwand, Möwen fliegen durch die Luft mit ihren drei kurzen Morgenschreien, Hahnengekräh erschallt im Dorf, die Vögel fangen schon zu zwitschern an und lassen in den Baumwipfeln ihr Lied ertönen. Über die blühenden Mehlbeerhecken des Hofes weg ist das Meer zu sehen, das jetzt lebendig wird und sich mit streitenden Brisen für den Wind des Tages einzurichten beginnt. Bald geht die Sonne auf. Von allen Seiten sind Menschen zu hören. Irgendwo singt eine hohe Mädchenstimme. Ein ganzer Knäuel von Jugend lärmt und lacht aus vollem Halse. Zwei betrunkene Männer lallen und weinen und beteuern einander irgend etwas. Und manchmal kommen Leute hier vorbei mit Fliederzweigen und Kastanienblüten auf den Hüten und in den Händen.

»Gut' Nacht, Vater!« sagt Valle sonderbar nachdrücklich. Aber er geht nicht gleich, nachdem er das gesagt hat, sondern zögert, als warte er auf etwas.

Janne lehnt sich mit dem Rücken an die Stallwand. Er schnauft schwer, und mit unsicherer Stimme bricht aus ihm heraus:

»Mein Jung, jetzt weißt du also, daß du nicht mein Jung bist …«

»Das hab' ich schon vorher gewußt«, antwortet Valle tonlos. »Ich hab' meines Vaters Grab gesehen. Nur wußte ich nicht, daß der Leuchtturmwächter …«

»Aber jetzt hast du's gehört!« schreit Janne wieder beinah. »Es ist nicht alles Gold, was glänzt, Jung. Und als ich schon an der Netzkoje merkte … und als ich dich wie einen Narren mit seinem verwünschten Balg tanzen sah … ja, ich war heut abend ganz außer mir. Dies Mädel, siehst du … Damit sie auf die Welt kam, mußte mein Bruder sterben, der dein Vater …« Und mit den Fäusten gegen die moosige Wand des Viehstalls hämmernd, aufgeregt und ruckweise wälzt er sich das vom Herzen herunter, was er von seines Bruders Unglücksfahrt und unheimlichem Tode weiß, von der Hilfe der Ankaröer, die niemals kam, und von allem, was später aufgedeckt worden war.

Vielleicht hat Janne erwartet, der Junge werde flammenden Auges aufspringen und in seine Flüche einstimmen. Aber schweigend und ergeben steht Valle an der Hoftür und schaut zu Boden. Alles, was kommt, läßt er auf sein Haupt niederfallen, hier heißt es, duldend hinnehmen, davonlaufen hilft nichts. Er fühlt gar nichts mehr; zu viel auf einmal kommt über ihn. Noch vor kurzem war er so glücklich gewesen. Und dann, als das beim Feuer geschah, war ihm ganz jämmerlich zumut geworden; aber stärker als das Entsetzen über das, was er von Tuvas Vater hörte, empfand er eine glühende Erbitterung gegen den Stiefvater. Nicht nur, weil Janne sich selber und dem ganzen Tveholm Schande machte – es war etwas anderes: es wurde etwas mit harter Hand auf einmal abgehackt. Noch während der Stiefvater ihn hier auf der Landstraße festhielt, war er nahe daran gewesen, sich loszureißen und ihm eins auf den branntweinstinkenden Mund zu hauen. Zum erstenmal im Leben hatte er das Gelüst verspürt, seinen Vater zu schlagen. Er hatte schon begriffen, daß sich ein Riß mitten durch den Tanzplatz aufgetan hatte, der vor einer kleinen Weile so glatt und fest unter den Füßen gewesen war. Aber auf der andern Seite dieses Risses erblickte er Tuvas ausgestreckte Hände, die er so fest in den seinen gehalten hatte, damit sie ihm nicht entglitt. War sie ihm jetzt für immer entglitten? Nein, er wollte, er mußte sie wieder zu fassen kriegen! Und wenn er den Alten totschlagen müßte und ihren Vater dazu – diese Hände konnte er nicht loslassen. So war ihm noch vorhin zumut gewesen.

Jetzt aber merkt er, wie der Riß durch jedes Wort, das der Pflegevater aus sich herauskeucht, breiter und breiter wird. Immer mehr wird er nach der Seite hingetrieben, auf die er doch nicht kommen will. Aber das ist zuviel für ihn, er kann nichts mehr denken, nichts fühlen, er steht nur da und läßt die Unglücksbotschaft in seinen verfinsterten Verstand hineinlaufen wie ein dunkles Fahrzeug in einen dichten Nebel.

Da geschieht etwas. Auf der Straße kommt der Leuchtturmwächter mit Tuva und dem Junker vorbei. Niemand sagt ein Wort, niemand dreht den Kopf, aber grade vor ihnen steckt das Mädchen seinen Arm unter den des Vetters und schlägt ihm scherzend mit einer Fliederdolde ins Gesicht.

Als sie auf der andern Seite des Hügels verschwunden sind, merkt Janne, daß er allein an der Stallwand steht.

 

Die Sonne ist nach dieser Johannisnacht schon ein Stück am Himmel aufgestiegen und beleuchtet die menschenleeren Straßen. Sie begrüßt ihr vergoldetes Abbild auf der Mittsommerstange; aber sonst ist alles wie immer, sie sieht nur noch einige traurige Nachwirkungen von dem, was sich im Dorf ereignet hat. Ein wütendes Frauengesicht guckt hinter des Bussars Rollvorhang mit dem schön gemalten Palmenhain hervor; auf einem andern Hof wird vorsichtig ein Spältchen an einer Tür aufgemacht; eine junge Frauengestalt schleicht sich heimlich durch ein Gehölz nach Hause; ein betrunkener Bauer sitzt eingeschlafen auf seiner Hausstaffel; ein Segelboot biegt bei Trutnabben ab und fährt bei günstigem Winde auf den Tveholm zu. In die Gruppe moosbewachsener Bootschuppen am Bysund und die schmalen Wege dazwischen kann die Sonne nicht eindringen. Dort unter einigen der grauen Strohdächer in dem unbeschränkten Paradies der jungen Leute ist das Fest noch jetzt in vollem Gang. Petroleumkocher summen, Kaffee und Branntwein schwappen in den Tassen, fuchtelnde Arme geben hundertmal erzählten Geschichten neuen Nachdruck. Nur wenn die Lügengeschichten des alten Bussar sich in sein Lieblingsland, die Türkei, verlieren, werden sie von Lärm übertönt, und niemand hört zu.

Oberflächlich betrachtet, sieht die Ortschaft aus wie gestern; aber sie ist doch eine andere geworden. In dem verborgenen Gewirr des Schicksals haben sich viele Fäden gerührt, haben sich angespannt oder sind locker geworden, haben sich umeinander geschlungen, sind abgerissen oder haben Knoten geschürzt. Worte sind gefallen, die irgendwo nachhallen, Taten haben andere Taten in Trab gesetzt, Hände, Stimmen und Blicke haben ihr Werk getan. Alte Feinde haben sich bei der Flasche versöhnt, und Freunde sind Feinde geworden. Eine Ehefrau hat beschlossen, ins Wasser zu gehen, eine andere, auszuhalten, eine dritte hat in froher Hoffnung auf ein Erstgeborenes geschlafen. Einige Mädchen haben den ersten Schritt auf dem Weg am Rosenhag getan, von dem sie bisher nur im Liede gesungen hatten; zwei von ihnen haben gefunden, daß das Lied recht hat, zwei andere, daß es eine häßliche, blutige Lüge ist, und einige, die nichts gefunden haben, werden vielleicht im Lauf der Zeit erkennen, daß der Weg am Rosenhag in eine Kate voller Kinder führt und in einen Stall mit nur zu wenig Kühen.

Aber unter einem der sonnenbeschienenen Ziegeldächer liegt ein Junge wach auf einem Schlafsofa. In seinem hastig klopfenden Herzen kämpft ein frischgelerntes Christentum den ungleichen Kampf mit einem wachsenden Haß. Er wirft sich unruhig hin und her und sieht, wie draußen der Morgen strahlt. Heute soll er zum Tisch des Herrn gehen.

5

In der mit weichen, silberglänzenden Eibenzweigen geschmückten Kirche saß Elfrida zwischen ihrer wohlbeleibten Mutter aus Askvik und einer mageren Bauernfrau. Lange vor allen andern hatte sie aus ihrer feierlichen Stimmung heraus zu weinen angefangen, aber nicht laut oder schluchzend; ihre Tränen rieselten ebenso still und regelmäßig in das zusammengeknautschte weiße Taschentuch hinunter, wie eine Dachtraufe im März auf die letzte Schneewehe rinnt. Von Zeit zu Zeit wurde Elfrida von ihrer Mutter vorsichtig mit dem Ellbogen angestoßen: »So, so, Dirn, faß dich nun …« Aber der Tränenfluß war nicht zu hemmen; Elfrida fühlte ihr Herz ungewöhnlich schmerzlich bewegt, ob mehr aus Unglückseligkeit oder aus Stolz, wußte sie selber nicht. Gestern war Janne nüchterner als gewöhnlich heimgekommen, das mußte sie nach ihrer schlaflosen Nacht zugeben, aber finster und schweigsam war er mehr als gewöhnlich. Die Bootfahrt nach dem Dorf war auch zu guter Zeit vor sich gegangen und gut abgelaufen; aber kaum waren sie an Land, als sie auch schon hörte, wie davon geflüstert wurde, was Janne gestern in der Betrunkenheit angerichtet hatte. Ach, es war ein Elend zum Verrücktwerden! Aber mochte er – sie selber war es ja, die bis zu ihrer letzten Stunde beweinte, was in jener Weihnacht geschehen war. Warum aber mußte Janne auf so grobe und unwürdige Weise an eine heilige Sache rühren? Weshalb hatte er nicht ihre Übereinkunft gehalten und bis heut abend gewartet? Ach, daß doch wenigstens Valfrid, ihr Sohn, seinem richtigen Vater nachschlüge!

Vorn an den Altarschranken wanderte der Pfarrer ebenso gelassen auf und ab wie daheim auf seinem Bodenläufer und hielt eine kurze Prüfung mit seinen Konfirmanden in der ersten Bank ab. Er wußte freilich, was sie konnten, es war nur eine notwendige kleine Vorstellung, und er sprach: »Ja, ihr Kinder, wir haben nun schon gezeigt, daß wir beten und eine Anzahl prächtige Lieder singen können, angefangen mit denen von Vater Luther und dem großen Dichter Paul Gerhardt. Am besten für den heutigen Tag paßt aber wohl: Geh aus mein Herz und suche Freud', nicht wahr? Ebenso haben wir kundgetan, daß wir im Verhältnis zu unseren Kräften versucht haben, die höchste Klippe der Menschheit zu ersteigen, die Bibel genannt wird. Lasset uns darum übergehen zu ihrem kleinen Ableger, dem Eckstein, den eine Menschenhand aus dem gewaltigen Berg des Wortes Gottes herausgebrochen hat. Der ist nicht größer, als daß jedes von uns ihn zum Alltagsgebrauch in der Tasche tragen kann. Was glaubst du, daß ich meine, Signe?«

»Den kleinen Katechismus!« antwortete eine bebende Mädchenstimme.

»Richtig. Und da die Konfirmation, die feierliche Taufbundserneuerung, nicht eine Sache ist, die nur Gott und euer junges Selbst angeht, sondern die ganze Kirchengemeinde und besonders die Sippe, in deren langer Kette jedes einzelne von euch das jüngste christliche Glied ist, ja, so ist es nicht mehr als recht und billig, wenn wir mit dem vierten Gebot anfangen. Karl, sag es ganz auf mit der Erklärung und allem!«

Karl plapperte eine Weile, als ziehe er ein Ende von einer schnurrenden Drahtrolle zu seinem Hals heraus.

»Richtig, Ehre Vater und Mutter … Aber auch hier sehen wir, daß die Botschaft nicht immer zu wörtlich genommen werden darf, daß sie sich gewissermaßen zu einer höheren Pflicht als dem, was sie direkt aussagt, erweitert. Wenn du zum Beispiel so übel daran bist, daß dein Vater nicht mehr lebt …« Der Pfarrer unterbricht sich selbst und schluckt. Was im Namen Gottes schwatzte er da? Spukte vielleicht von gestern her etwas in seiner Erinnerung und verwirrte ihm die Zunge? Allein: gesagt bleibt gesagt. Etwas verwirrt schaut er seine Beichtkinder an. Die ganze Reihe sitzt da und starrt zu Boden, um ja nicht zur Beantwortung einer so kniffligen Frage aufgerufen zu werden. Nur einer in der Reihe sieht aus, als wäre er gründlich bereit dazu, und als gälte die Frage ihm allein. Ohne Aufforderung hat er sich schon beinah erhoben und den Mund aufgemacht, er kann unmöglich übergangen werden. Noch einmal schluckt der Pfarrer, nickt ihm dann zu und wiederholt: »Wenn du so übel daran bist, was tust du dann?«

Und so laut, daß es durch die ganze Kirche schallt, antwortet Valfrid vom Tveholm: »Ich ehre den Verstorbenen!«

 

Später, sogar während der Feier des Abendmahls, hatte der Pfarrer noch einmal allen Grund, auf Valfrid zu achten. Die anderen Beichtkinder knieten niedergebeugt da und preßten die Hände gegen den Samt der Altarschranken; aber über ihnen erhob sich nackensteif der kurzgeschorene Kopf des Tveholmjungen. Seine seltsam flammenden Blicke suchten quer über die Rundung des Altars hin eines von den weißgekleideten schluchzenden Mädchen. Das Sakrament nahm er entgegen wie die übrigen, aber es sah aus, als bedeute es für ihn alles andere als Sündenvergebung und Einweihung zu christlicher Liebe.

6

Weihnachten ist auf dem Tveholm stets eine besonders düstere Zeit; aber es sieht aus, als sollte auch dieser Juniabend kaum munterer werden. Wenigstens meint das Janne, als er nach der Heimfahrt von der Kirche mit den andern in der Stube zu Tisch sitzt. Er weiß nicht recht, wie er diese feierliche Stunde begehen soll; alles Derartige ist ihm so ungewohnt, darum findet er es am besten, zu schweigen und etwas weniger als sonst zu essen. Eine Herzstärkung hat er aber dennoch heimlich im Bootschuppen am Wasser zu sich genommen. Ebenso schweigsam sitzt der Junge da und schaut zur Decke hinauf, an der noch ein paar Flundern vom vergangenen Jahr an Schnüren aufgereiht hängen, dünn und braun wie alte Gesangbuchblätter. Und Elfrida ißt beinah nichts von allen ihren Gerichten; sie sieht aus, als diente sie durch Hungern Gott und der Menschheit, und als gäbe es nichts so Edles auf der Erde wie ihre tränenreiche Mutterschaft.

Nur die Großmutter spricht mit vollem Mund in einem fort. Das rosige Ferkelfleisch ihrer Wangen strotzt in vergnüglicher Fülle. Sie ist eine Frau, die im Leben allzuviel Sorgen gehabt hat, als daß sich diese in ihrem Gesicht niederzuschreiben vermocht hätten. Gelegentlich bei den schwersten Prüfungen hatte wohl etwas Gefahr dazu bestanden; aber bald kam das gutmütige Fett wieder und wischte alles aus.

Jetzt meint Janne aber doch, er müsse etwas äußern. »Das war gut, Jung, was du in der Kirche gesagt hast.«

»O ja!« schluchzt Elfrida. »Wenn nur dein Vater es hätte hören können!«

»Ach, laß doch die Toten in Ruhe, Schwatzliese!« schilt die Großmutter kauend. »Die werden allein fertig, ohne daß wir so oft von ihnen reden. Sieh lieber zu, daß dich Janne dick macht, damit mehr Jungen hierher auf den Holm kommen. Ich meine, es ist mehr als genug, schon fünfzehn Jahr damit zu trödeln … Nein, ruhig, ruhig, Dirn!«

Blutrot ist Elfrida aufgestanden und zur Tür hinausgegangen, empört über diese Lästerung von seiten ihrer eigenen Mutter.

»Sie ist so zarthäutig wie eine Blume«, sagt Janne. »Es ist nicht immer leicht, zu wissen, wie man sie behandeln soll. Wird wohl so sein, daß Valles Vater ein besserer Mensch als ich war. Aber vielleicht bin ich in seinem Alter auch so gewesen.«

Als sie vom Tisch aufstehen, faltet er dem Tag zu Ehren die Hände und murmelt etwas vor sich hin. Aber er bleibt bei der Schwiegermutter in der Kate, als Valle seine Mütze nimmt und hinausgeht. Es ist schon spät am Abend, und die Alte gähnt, aufgebläht vom vielen Essen, und findet es gut, daß sie so schlau gewesen ist, hier über Nacht zu bleiben. Janne selbst sehnt sich eigentlich nach seinem Bett; aber er weiß, daß jetzt die feierliche Stunde gekommen ist, die er sich gestern verdorben und vorweg genommen hat. Er begreift, daß er nun zum zweitenmal nicht mit dabei sein kann, trotz dem Zerren und Spannen in seiner Herzgegend. Und nach einer Weile sieht er, wie Mutter und Sohn langsam dem Nordstrand zuwandern, Hand in Hand.

 

Die Brautstangen neben der Hausstaffel sind längst morsch geworden und vom Sturm zerblasen; nur ein Stumpf mit abgefallener Rinde ragt noch an der einen Seite aus dem Boden. Ehe sie über die Schwelle treten, bleibt die Mutter stehen und sagt: »In dieser Kate hier bist du geboren, Valfrid, und sie gehört jetzt dir. Und du kannst herüberziehen, wann du willst. Hier drinnen ist auch heute nacht für dich gebettet.«

Der Junge empfindet eine feierliche Verwunderung, gemischt mit Neugier. Er ist schon öfters hier gewesen, um Netze oder andere Fischereigeräte zu holen. Als sie jetzt eintreten, ist die Stube noch ebenso kahl wie immer; aber als sie die Kammertür öffnen, sieht er, daß hier alles anders geworden ist. Feingehacktes Wacholderreis auf dem Fußboden, Vorhänge um das aufgeschlagene Ehebett, eine Kommode, eine Wanduhr, die tickt, zwei Stühle und ein Tisch mit einer gemusterten Decke aus ungebleichtem Leinen mit langen Fransen! Und auf dem Tisch … Seine Augen werden rund und starr. Mitten darauf liegt selbstverständlich eine schwarze Bibel mit einem goldenen Kranz darauf, aber rechts und links davon eine Seehundbüchse und ein Vogelstutzen mit Pulverhorn, Zündhütchendose und Kugelform. Noch mehr – zwischen den Gewehren ein langes Fernrohr aus Messing und ein mit Riemen versehenes Holzfutteral dazu, ein schönes Taschenmesser und endlich ein kleines rostiges Ding aus Blech … Er denkt sich, das sieht aus wie eine Art Spieldose.

Hinter sich vernimmt er die bebende Stimme seiner Mutter: »Dies alles hat deinem Vater gehört, mein Junge. Er, Valfrid, … er, siehst du … Nie hätte er sich so aufgeführt wie gestern Janne, nie … Wir können den Mann, der ihn umkommen ließ, nicht strafen, aber ich weiß, die Vorsehung wird es tun. Die Rache ist mein, spricht der Herr … Du weißt ja, wie es zugegangen ist, das meiste wenigstens …«

An einem Nagel in der Ecke hängt eine alte Schaffelljacke. Elfrida nimmt sie herunter, zeigt ihm, wo in der Ecke die Wolle abgebissen ist, und berichtet. Und unter vielen Tränen schluchzt sie die Geschichte von der Spieldose hervor, die des Vaters erstes Weihnachtsgeschenk für sein Kind hätte werden sollen.

Valle ist gerührt, fühlt sich aber mehr noch gequält. Er legt seinen Arm um die Mutter, versucht sie zu beruhigen und nötigt sie auf seinen Stuhl nieder. Nach einer Weile schlägt sie die Bibel auf und liest ihm vor, zuerst die Bergpredigt, dann das Buch Ruth und zuletzt den Jakobusbrief. Diese Stücke liebt sie um ihrer Milde willen am meisten. Er sitzt da und hört geduldig zu, die Blicke unverwandt den Dingen auf dem Tische zugekehrt.

Endlich ist die Mutter fertig, sie küßt ihn heftig zur guten Nacht und geht. Er bleibt lange stehen und betrachtet den Tisch in dem schattenlosen Halblicht, das durchs Fenster fällt, aber er rührt nichts an, sondern zieht sich langsam aus und kriecht ins Bett.

Die Wanduhr rasselt mit dem Schlagwerk und schlägt elf. Und noch eine Stunde vergeht, sie schlägt zwölf. Dies alles ist viel zu groß und verwunderlich. Schließt er die Augen, so sieht er in ein schauerliches Bilderbuch, das nicht zu beschreiben ist, von dem er aber weiß, daß es die Wahrheit zeigt. Er steht auf und zieht sich Hemd und Hosen an. Jetzt steht er wieder vor dem Tisch, lange steht er so. Aber nun kann er die Hände nicht mehr zurückhalten, er legt sie sacht auf die Dinge und befühlt sie, streichelt vorsichtig die kühlen Büchsenläufe und das Fernrohr. Aus den toten Dingen strömt etwas in ihn über; es ist, als steige der Geist des Vaters aus dieser Berührung auf, als übernehme Valle ein Erbe von Kraft und werde in dieser Nacht zum Mann.

Schließlich nimmt er vorsichtig die Spieldose in die Hand und dreht die kleine Kurbel; einige rostige, spröde, klagende Tönchen werden laut.

Er öffnet die Tür und geht hinunter an den Strand. Dort, weit draußen, schwimmt die »Morgengabe« auf dem bleichen Meer. Dort also war es … Im Norden hat sich's getrübt, die Wolken hängen tief und leicht aschfarben über der Dämmerung, aber zu ihnen hinauf strebt die Bake gleich einer erhobenen Faust. Und noch weiter hinten steht der Leuchtturm von Ankarö, eine dünne Salzsäule, die in der schwebenden Ungewißheit fast ertrinkt.

Unbeweglich bleibt er stehen und schaut mit weit offenen Augen hinüber. Da merkt er, daß sich einer von den großen Steinen am Strand bewegt, ein magerer Körper trennt sich davon, und Janne kommt ihm entgegen.

»Auch ich hab' nicht schlafen können«, sagt der Stiefvater leise. »Es ist so viel da, Jung … Aber nach dem, was du in der Kirche gesagt hast, glaub' ich, daß wir einander jetzt verstehen. Nicht?«

»Ja!« antwortet Valfrid klar und deutlich.

Janne erinnert sich, daß er heute noch nichts Biblisches gesagt hat. Und er ballt seine Faust mit den dicken Adersträngen gegen die See im Norden:

»Sie kommt, die Stunde!«


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