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Hochgeehrte Herren!
Schon einmal, vor fünfunddreißig Jahren, habe ich am 2. August vor einer ähnlichen Versammlung, wie die heutige ist, in der Aula dieses Instituts auf dem Katheder gestanden und einen Vortrag über die Operation der Blutadergeschwülste gehalten. Ich war damals noch Eleve des Instituts und gerade am Ende meiner Studienzeit. Da ich nie eine Blutadergeschwulst hatte operieren sehen, so war der Inhalt meines Vortrags freilich nur aus Büchern kompiliert; aber Büchergelehrsamkeit spielte damals noch eine viel breitere und angesehenere Rolle in der Medizin, als man sie ihr heutzutage einzuräumen geneigt ist. Es war eine Zeit der Gärung, des Kampfes zwischen der gelehrten Tradition und dem neuen naturwissenschaftlichen Geiste, der keiner Tradition mehr glauben, sondern sich auf die eigene Erfahrung stellen wollte. Meine damaligen Vorgesetzten urteilten günstiger über meinen Vortrag als ich selbst, und ich bewahre noch die Bücher, welche mir dafür als Prämien zuteil wurden.
Die bei dieser Gelegenheit sich mir aufdrängenden Erinnerungen haben mir lebhaft das Bild des damaligen Zustandes unserer Wissenschaft, unserer Bestrebungen, unserer Hoffnungen zurückgerufen und mich vergleichen lassen, was damals war, mit dem, was daraus geworden ist. Viel ist geworden. Wenn auch nicht alles, was wir gehofft hatten, erfüllt wurde, und manches anders, als wir gehofft, so ist auch manches geworden, worauf wir nicht zu hoffen gewagt hätten. Wie die Weltgeschichte vor den Äugen unserer Generation einige ihrer seltenen Riesenschritte gemacht hat, so auch unsere Wissenschaft; daher ein alter Schüler, wie ich, das einst wohlbekannte, damals etwas matronenhafte Antlitz der Dame Medizin kaum wieder erkennt, wenn er gelegentlich wieder in Beziehung zu ihr tritt; so lebensfrisch und entwicklungskräftig ist sie in dem Jungbrunnen der Naturwissenschaften geworden.
Vielleicht ist mir der Eindruck dieses Gegensatzes frischer geblieben, als denjenigen meiner medizinischen Altersgenossen, welche ich vor mir als Zuhörer versammelt zu sehen heute die Ehre habe, und welche, in dauernder Berührung mit der Wissenschaft und Praxis geblieben, von den in kleinen Stufen sich vollziehenden großen Änderungen weniger überrascht und betroffen sein mögen. Dies wird Ihnen gegenüber meine Entschuldigung sein, wenn ich von der in dieser Periode vorgegangenen Metamorphose der Medizin rede, deren Entwicklungsergebnisse im einzelnen sie selbst freilich besser kennen werden als ich. Für die jüngeren aber unter meinen Zuhörern möchte ich den Eindruck dieser Entwicklung und ihrer Ursachen nicht ganz verloren gehen lassen. Wenn dieselben gelegentlich einen Blick in die Literatur jener Zeit werfen, werden sie dort einer großen Zahl von Sätzen begegnen, die ihnen fast erscheinen müssen wie in einer vergessenen Sprache geschrieben, so sehr, daß es ihnen nicht ganz leicht werden wird, sich in die Sinnesweise dieser so wenig hinter uns liegenden Periode zurückzuversetzen. Es liegt eine große Lehre über die wahren Prinzipien wissenschaftlicher Forschung in dem Entwicklungsgange der Medizin, und der positive Teil dieser Lehre wird vielleicht durch keine vorausgehende Zeit so eindringlich gepredigt, wie durch das letzte Menschenalter. Da mir selbst zur Zeit die Aufgabe zugefallen ist, diejenige von den Naturwissenschaften zu lehren, welche die weitesten Verallgemeinerungen zu machen, den Sinn der Grundbegriffe zu erörtern hat, und der deshalb nicht unpassend bei englisch redenden Völkern der Name » Natural Philosophy« geblieben ist: so fällt es ja wohl nicht zu weit aus dem Kreise meiner Berufsaufgaben und meines eigentlichen Studiums, wenn ich es unternehme, hier von den Prinzipien wissenschaftlicher Methodik für die Erfahrungswissenschaften zu reden.
Was meine Bekanntschaft mit den Gedankenkreisen der älteren Medizin betrifft, so hatte ich dazu außer der allgemeinen Veranlassung, welche für jeden gebildeten Arzt vorliegt, der die Literatur seiner Wissenschaft und die Richtung, sowie die Bedingungen ihres Fortschreitens verstehen will, noch eine besondere, da mir mit meiner ersten Professur in Königsberg vom Jahre 1849 bis 1856 die Aufgabe zufiel, in jedem Winter auch allgemeine Pathologie vorzutragen, d. h. denjenigen Teil der Krankheitslehre, der die allgemeinen theoretischen Begriffe von der Natur der Krankheit und die Prinzipien ihrer Behandlung enthalten sollte. Die allgemeine Pathologie war von den älteren gleichsam als die feinste Blüte medizinischer Wissenschaftlichkeit angesehen worden. In der Tat aber hatte das, was früher ihren Inhalt gebildet, für den Jünger moderner Naturwissenschaft nur noch historisches Interesse.
Über die wissenschaftliche Berechtigung dieses Inhalts hatten schon manche meiner Vorgänger den Stab gebrochen, wie namentlich kurz zuvor Henle und Lotze. Letzterer, der ebenfalls von der Medizin ausgegangen war, hatte in seiner allgemeinen Pathologie und Therapie 1842 mit vernichtendem kritischem Scharfsinn besonders gründlich und methodisch aufgeräumt.
Meine eigene ursprüngliche Neigung hatte mich zur Physik getrieben; äußere Umstände zwangen mich, in das Studium der Medizin einzutreten, was mir durch die liberalen Einrichtungen des Friedrich-Wilhelm-Instituts möglich wurde, übrigens war es die Sitte der alten Zeit gewesen, das Studium der Medizin mit dem der Naturwissenschaften zu vereinigen, und was darin von Zwang lag, muß ich schließlich als ein Glück preisen. Nicht allein, daß ich in einer Periode in die Medizin eintrat, wo der in physikalischen Betrachtungsweisen auch nur mäßig Bewanderte einen fruchtbaren jungfräulichen Boden zur Beackerung vorfand, sondern ich betrachte auch das medizinische Studium als diejenige Schule, welche mir eindringlicher und überzeugender, als es irgendeine andere hätte tun können, die ewigen Grundsätze aller wissenschaftlichen Arbeit gepredigt hat, Grundsätze, so einfach und doch immer wieder vergessen, so klar und doch immer wieder mit täuschendem Schleier verhängt.
Man muß vielleicht dem brechenden Auge des Sterbenden und dem Jammer der verzweifelnden Familien gegenüber gestanden haben, man muß sich die schweren Fragen vorgelegt haben, ob man selbst alles getan hatte, was man zur Abwehr des Verhängnisses hätte tun können, und ob die Wissenschaft auch wohl alle Kenntnisse und Hilfsmittel vorbereitet habe, die sie hätte vorbereiten sollen, um zu wissen, daß erkenntnistheoretische Fragen über die Methodik der Wissenschaft auch eine bedrängende Schwere und eine fruchtbare praktische Tragweite erlangen können. Der bloß theoretische Forscher mag vornehm kühl darüber lächeln, wenn Eitelkeit und Phantasterei sich für eine Zeit in der Wissenschaft breit zu machen und Staub aufzuwirbeln suchen, vorausgesetzt, daß er selbst in seinem Arbeitszimmer ungestört bleibt. Oder er mag auch wohl Vorurteile der alten Zeit als Reste poetischer Romantik und jugendlicher Schwärmerei interessant und verzeihlich finden. Demjenigen, der mit den feindlichen Mächten der Wirklichkeit zu ringen hat, vergeht die Indifferenz und die Romantik; was er weiß und kann, wird schärferer Prüfung ausgesetzt, er kann nur das grelle harte Licht der Tatsachen brauchen, und muß es aufgeben, sich in angenehmen Illusionen zu wiegen.
Ich freue mich deshalb, einmal wieder vor einer Versammlung reden zu können, die fast ausschließlich aus Medizinern besteht, welche die gleiche Schule durchgemacht haben. Die Medizin ist doch nun einmal das geistige Heimatland geworden, in dem ich herangewachsen bin, und auch der Auswanderer versteht und findet sich verstanden am besten in der Heimat.
Um den Grundfehler jener älteren Zeit gleich mit einem Wort zu bezeichnen, möchte ich sagen, daß sie einem falschen Ideal von Wissenschaftlichkeit nachjagte in einseitiger und unrichtig begrenzter Hochschätzung der deduktiven Methode. Zwar war unter den Wissenschaften nicht allein die Medizin in diesem Irrtum befangen, aber in keiner anderen Wissenschaft sind die Folgen davon so grell an das Licht getreten und haben sich dem Fortschritt mit solchem Gewicht entgegengestemmt, als gerade in der Medizin. Darum scheint mir in der Tat die Geschichte dieser Wissenschaft ein ganz besonderes Interesse in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes in Anspruch zu nehmen. Keine andere ist vielleicht mehr geeignet zu zeigen, daß eine richtige Kritik der Erkenntnisquellen eine auch praktisch höchst wichtige Aufgabe der wahren Philosophie ist.
Als Fahne gleichsam der alten deduktiven Medizin diente das stolze Wort des Hippokrates:
ιητρός φιλόσοφος ισόθεος
»Gottähnlich ist der Arzt, der Philosoph ist.«
Wir können es schon gelten lassen, wenn wir nur richtig feststellen, was unter einem Philosophen zu verstehen sei. Den Alten umfaßte die Philosophie noch alle theoretische Kenntnis; ihre Philosophen betrieben auch Mathematik, Physik, Astronomie, Naturgeschichte in enger Vereinigung mit eigentlich philosophischen und metaphysischen Betrachtungen. Will man also unter dem ärztlichen Philosophen des Hippokrates einen Mann verstehen, der vollendete Einsicht in den Kausalzusammenhang der Naturprozesse hat, so werden wir in der Tat mit ihm sagen können, ein solcher wird einem Gott ähnlich helfen können. So verstanden, bezeichnet der Satz in drei Worten das Ideal, dem unsere Wissenschaft nachzustreben hat. Ob sie es je erreichen wird, wer will es sagen?
Aber auf so lange Frist ihre Hoffnungen hinauszuschieben, waren diejenigen Jünger der Medizin nicht geneigt, die sich schon bei eigenen Lebzeiten gottähnlich zu fühlen und anderen also zu imponieren wünschten.
Man setzte die Ansprüche an den öéëüóïöïò erheblich herab. Jeder Anhänger eines beliebigen welterklärenden Systems, in welches wohl oder übel die Tatsachen der Wirklichkeit hineinpassen mußten, fühlte sich als Philosoph. Von den Gesetzen der Natur wußten ja die Philosophen jener Zeit nicht gerade viel mehr als die ungelehrten Laien; der Nachdruck ihrer Bestrebungen fiel also zunächst auf das Denken, auf die logische Konsequenz und Vollständigkeit des Systems. Es begreift sich wohl, wie es in jugendlichen Bildungsperioden zu einer so einseitigen Überschätzung des Denkens kommen konnte. Auf dem Denken beruht die Überlegenheit des Menschen über das Tier, des Gebildeten über den Barbaren; das Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen teilt er dagegen mit seinen niederen Mitgeschöpfen und in Sinnesschärfe sind ihm manche von diesen sogar überlegen. Daß der Mensch seinem Denken die höchste Entwicklung zu geben strebt, ist die Aufgabe, von deren Lösung das Gefühl seiner eigenen Würde, wie seine praktische Macht abhängt. Ein natürlicher Irrtum war es, wenn man daneben gleichgültig behandelte, was die Natur auch dem Tier von seelischen Fähigkeiten als Mitgift gegeben hat und wenn das Denken sich von seiner natürlichen Grundlage, dem Beobachten und Wahrnehmen, glaubte loslösen zu können, um den Ikarusflug der metaphysischen Spekulation zu beginnen.
In der Tat ist es keine leichte Aufgabe, die Ursprünge unseres Wissens vollständig aufzudecken. Eine ungeheure Menge davon ist überliefert in Rede und Schrift. Diese Fähigkeit des Menschen, die Wissensschätze der Generationen zu sammeln, ist ein Hauptgrund seiner Überlegenheit über das auf ererbten blinden Instinkt und nur individuelle Erfahrung beschränkte Tier. Aber alles überlieferte Wissen wird schon geformt übergeben; wo der Berichterstatter es her hat, wie viel Kritik er angewendet, ist oft nicht mehr zu ermitteln, namentlich wenn die Überlieferung durch die Hände vieler Berichterstatter hindurch gegangen ist. Man muß es auf Treu und Glauben annehmen; zur Quelle kann man nicht kommen, und wenn erst viele Generationen bei solchem Wissen sich beruhigt, keine Kritik daran geübt, ja auch wohl allerlei kleine Änderungen, die sich schließlich zu großen summierten, daran angebracht haben, so werden oft sonderbare Sachen unter der Autorität uralter Wahrheit berichtet und geglaubt. Eine seltsame Historie dieser Art ist die Geschichte des Blutkreislaufs, von der wir noch zu reden haben werden.
Aber für den, der über die Ursprünge des Wissens reflektiert, ist noch verwirrender eine andere Art der Überlieferung durch die Sprache, die lange unentdeckt geblieben ist. Die Sprache wird nicht leicht Namen ausbilden für Klassen von Objekten oder für Klassen von Vorgängen, wenn nicht sehr oft und bei vielen Gelegenheiten die betreffenden Einzeldinge und Einzelfälle zusammen zu nennen sind, um Gemeinsames über sie auszusagen. Sie müssen also viele gemeinsame Merkmale haben. Oder wenn wir, wissenschaftlich darüber reflektierend, einige dieser Merkmale auswählen und als Definition zusammenstellen, so muß der gemeinsame Besitz dieser auserwählten Merkmale bedingen, daß in den betreffenden Fällen noch eine große Menge anderer Merkmale regelmäßig aufzufinden sind, es muß eine naturgesetzliche Verbindung zwischen den erstgenannten und den letztgenannten Merkmalen vorhanden sein. Wenn wir zum Beispiel die Tiere, welche von ihren Müttern gesäugt worden sind, mit dem Namen der Säuger bezeichnen, so können wir von ihnen weiter aussagen, daß diese alle Warmblüter sind, lebendig geboren wurden, eine Wirbelsäule haben, kein Quadratbein haben, durch Lungen atmen, getrennte Herzabteilungen haben usw. usw. Also schon der Umstand, daß in der Sprache eines intelligent beobachtenden Volkes eine gewisse Anzahl von Dingen mit einem und demselben Worte bezeichnet wird, zeigt an, daß diese Dinge oder Fälle einem gemeinsamen naturgesetzlichen Verhältnis unterliegen; schon dadurch allein wird eine Summe von Erfahrungen der vorausgegangenen Generationen überliefert, ohne daß es so erscheint.
Ferner findet sich der Erwachsene, wenn er über den Ursprung seines Wissens zu reflektieren beginnt, im Besitz einer ungeheuren Menge alltäglicher Erfahrungen, die zum großen Teil bis in das Dunkel seiner ersten Kinderjahre hinaufreichen. Alles Einzelne ist längst vergessen; aber die gleichartigen Spuren, welche tägliche Wiederholung ähnlicher Fälle in seinem Gedächtnisse zurückließ, haben sich tief eingeschnitten. Und da nur das sich regelmäßig immer wiederholt, was gesetzlich ist, so sind diese tief eingegrabenen Reste aller vorausgegangenen Anschauungen gerade Anschauungen des Gesetzlichen in den Dingen und Vorgängen.
Die beiden genannten Vorgänge verschaffen dem Menschen den Besitz einer ausgedehnten Menge von Kenntnissen, von denen er nicht weiß, wo sie herkommen, die dagewesen sind, solange er zurückdenken kann. Wir brauchen nicht einmal auf die Möglichkeit einer Vererbung durch die Zeugung zurückzugehen.
Die Begriffe, die er sich gebildet, die ihm seine Muttersprache überliefert, bewähren sich als ordnende Mächte auch in der objektiven Welt der Dinge, und da er nicht weiß, daß er oder seine Vorfahren diese Begriffe nach den Dingen ausgebildet haben, so scheint ihm die Welt der Dinge von geistigen Mächten, seinen Begriffen ähnlich, beherrscht zu werden. Diesen psychologischen Anthropomorphismus erkennen wir wieder von den Ideen des Plato an, bis zur immanenten Dialektik des Weltprozesses bei Hegel und zu dem unbewußten Willen Schopenhauers.
Die Naturwissenschaft–und sie fällt in der älteren Zeit mit der Medizin im wesentlichen zusammen–folgte dem Wege der Philosophie; die deduktive Methode schien alles leisten zu können. Sokrates hatte freilich die induktive Begriffsbildung in der lehrreichsten Weise entwickelt. Aber das beste, was er geleistet hatte, blieb, wie es gewöhnlich geht, so gut wie unverstanden.
Ich will Sie nicht durch das bunte Gewirr von pathologischen Theorien hindurchführen, die je nach wechselnden Neigungen ihrer Autoren, gewöhnlich veranlaßt durch diesen oder jenen Zuwachs naturwissenschaftlicher Kenntnisse, auftauchten und meist, wie es scheint, zuerst von Ärzten aufgestellt wurden, die als große Beobachter und Heilkünstler, unabhängig von ihren Theorien, sich Ruhm und Ansehen erwarben. Dann kamen die weniger begabten Schüler, welche den Meister kopierten, seine Theorie übertrieben, sie einseitiger und logischer machten, unbekümmert um den Widerspruch der Natur. Je strenger das System, desto weniger und desto eingreifender pflegten die Methoden zu sein, auf welche sich das Heilverfahren reduzierte. Je mehr die Schulen den anwachsenden wirklichen Kenntnissen gegenüber ins Gedränge gerieten, desto mehr steiften sie sich auf die alten Autoritäten, desto intoleranter wurden sie gegen Neuerungen. Der große Reformator der Anatomie Vesalius wurde vor die theologische Fakultät von Salamanca geladen, mit Servetus wurde in Genf sein Buch, in dem er den Lungenkreislauf beschrieb, verbrannt, und die Pariser Fakultät verbot, in ihren Hörsälen den von Harvey entdeckten Blutkreislauf zu lehren.
Dabei waren die Grundlagen der Systeme, von welchen diese Schulen ausgingen, zum großen Teil naturwissenschaftliche Anschauungen, deren Verwertung innerhalb eines begrenzten Kreises durchaus in der Ordnung gewesen wäre. Nicht in der Ordnung war nur der Wahn, daß es wissenschaftlicher sei, alle Krankheiten auf einen Erklärungsgrund zurückzuführen, statt auf verschiedene. Die Solidarpathologen wollten alles aus veränderter Mechanik der festen Teile, namentlich aus ihrer veränderten Spannung, aus dem Striktum und Laxum, dem Tonus und der Atonie, später aus den gespannten oder abgespannten Nerven, den Stockungen in den Gefäßen, herleiten. Die Humoralpathologen kannten nur Änderungen der Mischung. Die vier Kardinalflüssigkeiten, Repräsentanten der klassischen vier Elemente, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, bei anderen die Akrimoniae oder Dyskrasien, welche durch Schwitzen und Purgieren ausgetrieben werden mußten, im Anfang der neuren Zeit auch Säure und Alkali oder die alchimistischen Spiritus und Qualitates occultae der aufgenommenen Stoffe, waren die Elemente dieser Chemie. Dazwischen spielten allerlei physiologische Anschauungen, von denen einzelne merkwürdige Vorahnungen enthielten, wie das Ýìöõôïí èåñìüí die eingepflanzte Lebenswärme des Hippokrates, welches durch die Nahrungsmittel unterhalten wird, diese wiederum im Magen kocht und die Quelle aller Lebensbewegung ist; hier ist schon die Frage angesponnen, die später von ärztlicher Seite zur Auffindung des Äquivalentverhältnisses zwischen mechanischer Arbeit und Wärme, sowie zur wissenschaftlichen Formulierung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft führte. Dagegen hat das ðíåõ?ìá, halb Geist, halb Luft, welches man aus den Lungen in die Arterien dringen und diese füllen ließ, viel arge Verwirrung angerichtet. Der Umstand, daß man in den Arterien toter Körper der Regel nach Luft findet, die freilich erst im Augenblicke, wo man die Gefäße anschneidet, hineindringt, verleitete die Alten zu dem Glauben, diese Luft sei auch im Leben in den Arterien enthalten. Dann blieben für das Blut nur die Venen übrig, in denen es nicht zirkulieren konnte. Man meinte, es entstehe in der Leber, bewege sich von da zum Herzen und durch die Venen zu den Organen. Jede aufmerksame Beobachtung eines Aderlasses hätte lehren müssen, daß es in den Venen von der Peripherie kommt und zum Herzen hinfließt. Aber diese falsche Theorie hatte sich mit der Erklärung der Fieber und Entzündungen so verwebt, daß sie das Gewicht eines Dogmas enthielt, welches anzugreifen gefährlich war.
Indes der wesentliche prinzipielle Fehler dieser Systeme war und blieb doch die falsche Art von logischer Konsequenz, zu der man sich verpflichtet glaubte, die Vorstellung, es müsse auf einen solchen Erklärungsgrund ein vollständiges, alle Formen der Erkrankung und deren Heilung umfassendes System gebaut werden. Die vollendete Kenntnis des Kausalzusammenhanges einer Klasse von Erscheinungen gibt allerdings schließlich ein logisch konsequentes System. Es gibt keinen stolzeren Bau des strengsten Denkens als die moderne Astronomie, deduziert bis in die einzelnsten kleinen Störungen hinein aus Newtons Gravitationsgesetz. Aber einem Newton war ein Kepler vorausgegangen, der die Tatsachen induktiv zusammengefaßt hatte; und niemals haben die Astronomen geglaubt, daß Newtons Kraft das gleichzeitige Wirken anderer Kräfte ausschlösse. Fortdauernd sind sie auf der Wacht geblieben, um zu erspähen, ob nicht auch Reibung, widerstehende Mittel, Meteorschwärme Einfluß haben. Die älteren Philosophen und Ärzte glaubten, sie könnten deduzieren, ehe sie ihre allgemeinen Sätze durch Induktion gesichert hatten. Sie vergaßen, daß jede Deduktion nur so viel Sicherheit hat als der Satz, aus dem deduziert wird, und daß jede neue Deduktion zunächst immer nur wieder ein neues Prüfungsmittel ihrer eigenen Grundlagen an der Erfahrung werden muß. Dadurch, daß ein Schluß in sauberster logischer Methode aus einem unsicheren Vordersatz hergeleitet wird, gewinnt er nicht um eines Haares Breite an Sicherheit oder an Wert.
Charakteristisch aber für die Schulen, die auf solchen als Dogmen angenommenen Hypothesen ihr System errichten, ist die Intoleranz, deren Äußerungen ich zum Teil schon eben erwähnt habe. Wer auf wohlgesicherter Basis arbeitet, kann einen Irrtum gern zugeben; ihm wird dabei nichts genommen als das, worin er sich geirrt hat. Wenn man aber den Ausgangspunkt auf eine Hypothese gestellt hat, die entweder durch Autorität gewährleistet erscheint oder nur gewählt ist, weil sie dem entspricht, was man für wahr halten zu können wünscht, so kann jeder Riß das ganze Gebäude der Überzeugungen rettungslos einreißen. Die überzeugten Anhänger müssen deshalb für jeden einzelnen Teil eines solchen Gebäudes denselben Grad von Infallibilität in Anspruch nehmen, für die Anatomie des Hippokrates ebensoviel wie für die Fieberkrisen; jeder Gegner kann ihnen nur als dumm oder schlecht erscheinen, und die Polemik wird nach einer alten Regel um so leidenschaftlicher und persönlicher, je unsicherer der Boden ist, der verteidigt wird. Bei den Schulen der dogmatisch deduktiven Medizin haben wir reichlich Gelegenheit, diese allgemeinen Regeln bestätigt zu finden. Ihre Intoleranz wandten sie teils gegen einander, teils gegen die Eklektiker, die bei verschiedenen Krankheitsformen verschiedene Erklärungsgründe herbeiholten. Letzteres in der Sache vollkommen begründete Verfahren trug in den Augen der Systematiker den Makel der Inkonsequenz an sich. Und doch waren die größten Ärzte und Beobachter, Hippokrates an der Spitze, Aretaeus, Galenus, Sydenham, Boerhave, Eklektiker oder wenigstens sehr laxe Systematiker gewesen.
Um die Zeit, als wir älteren in das Studium der Medizin eintraten, stand diese noch unter dem Einfluß der wichtigen Entdeckungen, welche Albrecht von Haller über die Erregung der Nerven gemacht hatte, diese in Verbindung gesetzt mit der vitalistischen Theorie von der Natur des Lebens. Haller hatte die Erregungsvorgänge an den Nerven und Muskeln abgeschnittener Glieder gesehen. Das auffallendste daran war ihm gewesen, daß die verschiedenartigsten äußeren Einwirkungen mechanische, chemische, thermische, zu denen später noch die elektrischen kamen, immer denselben Erfolg, nämlich Muskelzuckung, hervorriefen. Nach ihrer Einwirkung auf den Organismus waren diese Erregungsvorgänge also nur quantitativ unterschieden, nur durch die Stärke der Wirkung; er bezeichnete sie deshalb mit dem gemeinsamen Namen der Reize, nannte den veränderten Zustand der Nerven die Reizung, und deren Fähigkeit, auf Reize zu antworten, welche mit dem Absterben verloren ging, die Reizbarkeit. Dieses ganze Verhältnis, welches, physikalisch genommen, eigentlich weiter nichts aussagt, als daß die Nerven betreffs derjenigen inneren Bewegungen, die nach der Erregung auftreten, in einem äußerst leicht störbaren Gleichgewichtszustand sind, wurde als die Grundeigenschaft des thierischen Lebens angesehen und ohne Bedenken auch auf die übrigen Organe und Gewebe des Körpers übertragen, für welche gar keine ähnlichen Tatsachen vorlagen. Man glaubte, daß sie alle nicht von selbst tätig wären, sondern erst durch Reize den Anstoß erhalten müßten; als die normalen Reize galten Luft und Nahrungsmittel. Die Art der Tätigkeit erschien dagegen durch die besondere Energie des Organs unter der Leitung der Lebenskraft bedingt. Steigerung oder Herabsetzung der Reizbarkeit waren die Kategorien, unter welche die sämtlichen akuten Krankheiten subsumiert und aus denen die Indikationen für schwächende und erregende Behandlung hergenommen wurden. Die starre Einseitigkeit und rücksichtslose Konsequenz, mit welcher R. Brown dies System einst durchgeführt hatte, war allerdings gebrochen; doch wurden immer noch die leitenden Gesichtspunkte daher genommen.
Die Lebenskraft hatte einst als luftartiger Geist, als Pneuma, in den Arterien gehaust, hatte dann bei Paracelsus die Gestalt des Archeus, einer Art hilfreichen Kobolds oder »inwendigen Alchimisten« angezogen, und ihre klarste wissenschaftliche Fassung als Lebensseele, Anima inscia, bei Georg Ernst Stahl erlangt, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Professor der Chemie und Pathologie in Halle war. Stahl war ein klarer und feiner Kopf, der selbst da, wo er gegen unsere jetzigen Ansichten entscheidet, durch die Art, wie er die richtigen Fragen stellt, belehrend und fördernd ist. Er ist derselbe, der das erste umfassendere System der Chemie, das phlogistische, gründete. Wenn man sein Phlogiston in latente Wärme übersetzt, so gingen die theoretischen Grundzüge seines Systems wesentlich auch in die Lavoisiers über; nur kannte Stahl den Sauerstoff noch nicht, wodurch einige falsche Hypothesen, z. B. über die negative Schwere des Phlogiston, bedingt waren. Stahls Lebensseele ist im ganzen nach dem Vorbilde dargestellt, wie sich die pietistischen Gemeinden jener Zeit die sündige menschliche Seele dachten; sie ist Irrtümern und Leidenschaften, der Trägheit, Furcht, Ungeduld, Trauer, Unbedachtsamkeit, Verzweiflung unterworfen. Der Arzt muß sie bald besänftigen, bald aufstacheln oder strafen und zur Buße zwingen. Sehr gut ausgesonnen war es, wie er daneben die Notwendigkeit der physikalischen und chemischen Wirkungen begründete. Die Lebensseele regiert den Körper und wirkt nur mittelst der physikalisch-chemischen Kräfte der aufgenommenen Stoffe. Aber sie hat die Macht, diese Kräfte zu binden und zu lösen, sie gewähren zu lassen oder zu hemmen. Nach dem Tode werden die gehemmten Kräfte frei und rufen Fäulnis und Verwesung hervor. Um diese Hypothese vom Binden und Lösen zu widerlegen, mußte das Gesetz von der Erhaltung der Kraft klar ausgesprochen werden.
Die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts war schon zu sehr von Aufklärungsprinzipien angesteckt, um Stahls Lebensseele offen anzuerkennen. Man übertünchte sie mehr naturwissenschaftlich als Lebenskraft, Vis vitalis, während sie im wesentlichen ihre Funktionen beibehielt und unter dem Namen der Naturheilkraft in Krankheiten eine hervorragende Rolle spielte.
Die Lehre von der Lebenskraft trat ein in das pathologische System der Erregbarkeitsänderungen. Man suchte zu trennen die unmittelbaren Einwirkungen der krankmachenden Schädlichkeit, soweit sie von dem Spiel blinder Naturkräfte abhingen, die Symptomata morbi, von denen, welche die Reaktion der Lebenskraft einleitete, den Symptomata reactionis. Die letzteren sah man hauptsächlich in der Entzündung und im Fieber. Dem Arzte fiel kaum mehr als die Rolle zu, die Stärke dieser Reaktion zu überwachen und sie, je nach Umständen, anzustacheln oder zu dämpfen.
Die Behandlung des Fiebers erschien jeder Zeit als die Hauptsache, als der eigentlich wissenschaftlich begründete Teil der Medizin, woneben die Lokalbehandlung als verhältnismäßig untergeordnet zurücktrat. Die Therapie der fieberhaften Krankheiten war dadurch schon sehr einförmig geworden, wenn auch die durch die Theorie indizierten Mittel, wie namentlich das seit jener Zeit fast ganz aufgegebene Blutlassen, noch kräftig gebraucht wurden. Noch mehr verarmte die Therapie, als die jüngere und kritischer gestimmte Generation herantrat und die Voraussetzungen dessen prüfte, was man als wissenschaftlich betrachtete. Es waren damals unter den jüngeren Ärzten viele, die in Verzweiflung an ihrer Wissenschaft fast jede Therapie aufgaben oder prinzipmäßig nach einer Empirie griffen, wie sie Rademacher damals lehrte, welche grundsätzlich jede Hoffnung auf wissenschaftliches Verständnis als eitel ansah.
Was wir damals kennengelernt haben, waren nur noch Ruinen des alten Dogmatismus, aber die bedenklichen Seiten desselben traten noch deutlich genug hervor.
Dem vitalistischen Arzte hing der wesentliche Teil der Lebensvorgänge nicht von Naturkräften ab, die, mit blinder Notwendigkeit und nach festem Gesetz ihre Wirkung ausübend, den Erfolg bestimmten. Was solche verrichten konnten, erschien als Nebensache und ein eingehendes Studium derselben kaum der Mühe wert. Er glaubte mit einem seelenähnlichen Wesen zu tun zu haben, dem ein Denker, ein Philosoph und geistreicher Mann gegenüberstehen mußte. Darf ich es Ihnen durch einzelne Züge erläutern?
Es war eine Zeit, wo Auskultation und Perkussion der Brustorgane in den Kliniken schon regelmäßig betrieben wurde; aber noch manchmal habe ich behaupten hören, es seien dies grob mechanische Untersuchungsmittel, deren ein Arzt von hellem Geistesauge nicht bedürfe; auch setze man dadurch den Patienten, der doch auch ein Mensch sei, herab und entwürdige ihn zu einer Maschine. Das Pulsfühlen erschien als das direkteste Verfahren, um die Reaktionsweise der Lebenskraft kennenzulernen, und wurde deshalb als bei weitem das wichtigste Beobachtungsmittel fein eingeübt. Dabei mit der Sekundenuhr zu zählen, war schon gewöhnlich, galt aber bei den alten Herren als ein Verfahren von nicht ganz gutem Geschmack. An Temperaturmessungen bei Kranken wurde noch nicht gedacht. In bezug auf den Augenspiegel sagte mir ein hochberühmter chirurgischer Kollege, er werde das Instrument nie anwenden, es sei zu gefährlich, das grelle Licht in kranke Augen fallen zu lassen; ein anderer erklärte, der Spiegel möge für Ärzte mit schlechten Augen nützlich sein, er selbst habe sehr gute Augen und bedürfe seiner nicht.
Ein durch bedeutende literarische Tätigkeit berühmter, als Redner und geistreicher Mann gefeierter Professor der Physiologie jener Zeit hatte einen Streit über die Bilder im Auge mit dem Kollegen von der Physik. Der Physiker forderte den Physiologen auf, zu ihm zu kommen und den Versuch zu sehen. Der letztere wies dies Ansinnen entrüstet zurück: »ein Physiologe habe mit Versuchen nichts zu tun, die seien gut für den Physiker«. Ein anderer bejahrter und hochgelehrter Professor der Arzneimittellehre, der sich viel mit Reorganisation der Universitäten beschäftigte, um die alte gute Zeit zurückzuführen, drang inständigst in mich, die Physiologie zu teilen, den eigentlich gedanklichen Teil selbst vorzutragen und die niedere experimentelle Seite einem Kollegen zu überlassen, den er dafür als gut genug ansah. Er gab mich auf, als ich ihm erklärte, ich selbst betrachtete die Experimente als die eigentliche Basis der Wissenschaft.
Ich erzähle Ihnen diese selbst erlebten Züge, um Ihnen anschaulich zu machen, wie die Stimmung der älteren Schulen, und zwar die von gefeierten Repräsentanten der ärztlichen Wissenschaft gegenüber dem andringenden Ideenkreise der Naturwissenschaften war; in der Literatur haben diese Ansichten natürlich schwächeren Ausdruck gefunden, weil die alten Herren doch zu vorsichtig und weltgewandt waren.
Sie begreifen, wie sehr eine solche Stimmung von einflußreichen und geachteten Männern dem Fortschritt hinderlich gewesen sein muß. Die medizinische Bildung jener Zeit beruhte noch wesentlich auf Bücherstudium; es gab noch Vorlesungen, die sich auf das Diktieren eines Heftes beschränkten; für Versuche und Demonstrationen in den Vorlesungen war zum Teil schon gut, zum Teil nur dürftig gesorgt; physiologische und physikalische Laboratorien, wo der Schüler selbst hätte eingreifen können, gab es überhaupt noch nicht; für die Chemie war Liebigs große Tat, die Gründung des Laboratoriums in Gießen, schon vollzogen, aber anderswo noch nicht nachgeahmt worden. Indessen besaß die Medizin in den anatomischen Übungen ein großes Erziehungsmittel für selbständige Beobachtung, welches den anderen Fakultäten fehlte, und dessen Einfluß ich sehr hoch zu schätzen geneigt bin. Mikroskopische Demonstrationen kamen nur sehr vereinzelt und selten in den Vorlesungen vor. Die Instrumente waren noch teuer und selten; ich selbst gelangte dadurch in den Besitz eines solchen, daß ich die Herbstferien 1841 in der Charité am Typhus darniederliegend zubrachte, als Eleve unentgeltlich verpflegt wurde, und mich als Rekonvaleszent im Besitz meiner aufgesparten kleinen Einkünfte sah. Das Instrument war nicht schön; doch war ich damit imstande, die in meiner Dissertation beschriebenen Nervenfortsätze der Ganglienzellen bei den wirbellosen Tieren zu erkennen und die Vibrionen in meiner Arbeit über Fäulnis und Gärung zu verfolgen.
Wer überhaupt von meinen Studiengenossen Versuche anstellen wollte, mußte dafür mit seinem Taschengelde einstehen. Eines haben wir dabei gelernt, was die jüngere Generation in den Laboratorien vielleicht nicht mehr so gut lernt, nämlich die Mittel und Wege, um zum Ziele zu gelangen, nach allen Richtungen hin zu überlegen und alle Möglichkeiten in der Überlegung zu erschöpfen, bis ein gangbarer Weg gefunden war. Aber freilich hatten wir auch vor uns ein kaum angebrochenes Feld, in welchem fast jeder Spatenstich lohnende Ergebnisse herauffördern konnte.
Es war ein Mann vorzugsweise, der uns den Enthusiasmus zur Arbeit in der wahren Richtung gab, nämlich Johannes Müller, der Physiolog. In seinen theoretischen Anschauungen bevorzugte er noch die vitalistische Hypothese, aber in dem wesentlichsten Punkte war er Naturforscher, fest und unerschütterlich: alle Theorien waren ihm nur Hypothesen, die an den Tatsachen geprüft werden mußten, und über die einzig und allein die Tatsachen zu entscheiden hatten. Selbst die Ansichten über diejenigen Punkte, welche sich am leichtesten in Dogmen versteinern, über die Wirkungsweise der Lebenskraft und die Tätigkeiten der bewußten Seele, suchte er unablässig mittelst der Tatsachen fester zu begrenzen, zu beweisen oder zu widerlegen.
Wenn auch die Technik anatomischer Untersuchungen ihm am geläufigsten war und er auf diese am liebsten zurückging, arbeitete er sich doch auch in die ihm fremderen chemischen und physikalischen Methoden ein. Er lieferte den Nachweis, daß der Faserstoff in der Blutflüssigkeit gelöst sei, er experimentierte über Schallfortpflanzung in solchen Mechanismen, wie sie sich in der Trommelhöhle finden, behandelte als Optiker die Tätigkeit des Auges. Seine für die Physiologie des Nervensystems, wie für die Erkenntnistheorie bedeutsamste Leistung war die feste tatsächliche Begründung der Lehre von den spezifischen Energien der Nerven. In bezug auf die Scheidung der Nerven von motorischer und sensibler Energie lehrte er, wie der experimentelle Beweis des Bellschen Gesetzes über die Rückenmarkwurzeln fehlerfrei zu führen sei. Betreffs der spezifischen Energien der Sinnesnerven stellte er nicht bloß das allgemeine Gesetz auf, sondern führte auch eine große Anzahl von Einzeluntersuchungen durch, um Ausnahmen zu beseitigen, falsche Deutungen und Ausflüchte zu widerlegen. Was man bis dahin aus den Daten der täglichen Erfahrung geahnt und in unbestimmter, das Wahre mit Falschem vermischender Weise auszusprechen gesucht, oder nur erst für einzelne engere Gebiete, wie Young für die Farbentheorie, Bell für die motorischen Nerven fest formuliert hatte, das ging aus Müllers Händen in der Form klassischer Vollendung hervor, eine wissenschaftliche Errungenschaft, deren Wert ich der Entdeckung des Gravitationsgesetzes gleichzustellen geneigt bin.
Sein Geist und sein Beispiel vorzugsweise arbeitete fort in seinen Schülern. Uns waren schon vorausgegangen, Schwann, Henle, Reichert, Peters, Remak, ich traf hier als Studiengenossen E. du Bois-Reymond, Virchow, Brücke, Ludwig, Traube, J. Meyer, Lieberkühn, Hallmann; es folgten nach A. von Graefe, W. Busch, Max Schultze, A. Schneider.
Die mikroskopische und pathologische Anatomie, das Studium der organischen Typen, die Physiologie, die experimentierende Pathologie und Arzneimittellehre, die Augenheilkunde entwickelten sich unter dem Einfluß dieses mächtigen Anstoßes in Deutschland schnell hinaus über das Maß der mitstrebenden Nachbarländer. Zu Hülfe kam das Wirken ähnlich gesinnter Zeitgenossen Müllers, unter denen vor allen die drei Leipziger Brüder Weber zu nennen sind, die in der Mechanik des Kreislaufs, der Muskeln, der Gelenke, des Ohrs festen Grund gemacht haben.
Man griff an, wo man irgendwie einen Weg sah, um einen der Lebensvorgänge verständlich zu machen; man setzte voraus, sie seien verständlich, und der Erfolg entsprach dieser Voraussetzung. Jetzt ist eine feine und reiche Technik für die Methoden des Mikroskopierens, der physiologischen Chemie, der Vivisektionen ausgebildet, letztere namentlich mit Hilfe des betäubenden Äthers und des lähmenden Curare außerordentlich erleichtert, wodurch eine Fülle von viel tiefer gehenden Problemen angreifbar werden, die unserer Generation noch ganz hoffnungslos erschienen. Das Thermometer, der Augen-, Ohren- und Kehlkopfspiegel, die Nervenreizung am Lebenden geben dem Arzte Möglichkeiten feiner und sicherer Diagnostik, wo uns noch absolutes Dunkel erschien; die immer steigende Anzahl nachgewiesener parasitischer Organismen setzt greifbare Objekte an die Stelle mystischer Krankheits-Entitäten und lehrt den Chirurgen, den furchtbar tückischen Zersetzungskrankheiten zuvorzukommen.
Aber glauben Sie nicht, meine Herren, daß der Kampf zu Ende sei. So lange es Leute von hinreichend gesteigertem Eigendünkel geben wird, die sich einbilden, durch Blitze der Genialität leisten zu können, was das Menschengeschlecht sonst nur durch mühsame Arbeit zu erreichen hoffen darf, wird es auch Hypothesen geben, welche, als Dogmen vorgetragen, alle Rätsel auf einmal zu lösen versprechen. Und so lange es noch Leute gibt, die kritiklos leicht an das glauben, wovon sie wünschen, daß es wahr sein möchte, so lange werden jene Hypothesen auch noch Glauben finden. Beide Klassen von Menschen werden wohl nicht aussterben, und der letzteren wird immer die Majorität angehören.
Zwei Motive sind es namentlich, welche die metaphysischen Systeme immer getragen haben. Einmal möchte sich der Mensch als ein über das Maß der übrigen Natur hinausragendes Wesen höherer Art fühlen; diesem Wunsche entsprechen die Spiritualisten. Andererseits möchte er unbedingter Herr über die Welt durch sein Denken sein, und zwar natürlich durch sein Denken mit denjenigen Begriffsformen, zu deren Ausbildung er bis jetzt gelangt ist; dem suchen die Materialisten zu genügen.
Wer aber, wie der Arzt, den Heil oder Verderben bringenden Kräften handelnd gegenübertreten soll, dem obliegt unter schwerer Verantwortlichkeit die Verpflichtung, die Kenntnis der Wahrheit und nur der Wahrheit zu suchen, ohne Rücksicht, ob, was er findet, den Wünschen der einen oder der anderen Art schmeichelt. Sein Ziel ist ein ganz fest gegebenes, für ihn ist schließlich nur der tatsächliche Erfolg entscheidend. Er muß streben, voraus zu wissen, was der Erfolg seines Eingreifens sein wird, wenn er so oder so verfährt. Um dieses Vorauswissen des Kommenden oder des noch nicht durch Beobachtung Festgestellten zu erwerben, haben wir keine andere Methode, als daß wir die Gesetze der Tatsachen durch Beobachtung kennenzulernen suchen; und wir können sie kennenlernen durch Induktion, durch sorgfältige Aufsuchung, Herbeiführung, Beobachtung solcher Fälle, die unter das Gesetz gehören. Glauben wir ein Gesetz gefunden zu haben, dann tritt auch das Geschäft des Deduzierens ein. Dann haben wir die Konsequenzen unseres Gesetzes möglichst vollständig abzuleiten, aber freilich zunächst nur, um sie an der Erfahrung zu prüfen, so weit sie sich irgend prüfen lassen, und um durch diese Prüfung zu entscheiden, ob das Gesetz sich als gültig bewähre und in welchem Umfange. Dies ist eine Arbeit, die eigentlich nie aufhört. Der echte Naturforscher überlegt bei jeder neuen fremdartigen Erscheinung, ob nicht die bestbewährten Wirkungsgesetze längst bekannter Kräfte eine Abänderung erhalten müssen; natürlich kann es sich dabei nur um eine Abänderung handeln, die dem ganzen Schatze der bisher aufgesammelten Erfahrungen nicht widerspricht. So kommt er freilich nie zur unbedingten Wahrheit, aber doch zu so hohen Graden der Wahrscheinlichkeit, daß sie praktisch der Gewißheit gleichstehen. Lassen wir die Metaphysiker darüber spotten; wir wollen uns ihren Spott zu Herzen nehmen, wenn sie einmal Besseres oder auch nur ebenso viel zu leisten imstande sein werden, als die induktive Methode schon geleistet hat. Noch aber sind die alten Worte des Sokrates, des Altmeisters induktiver Begriffsbildung, genau ebenso jung, wie vor zweitausend Jahren: »Jene glaubten zu wissen, was sie nicht wüßten, und er selbst habe wenigstens den Vorzug, daß er nicht vermeinte zu wissen, was er nicht wisse.« Und wiederum: »Er wundere sich nur, daß jene nicht merkten, wie unmöglich es den Menschen sei, dergleichen zu finden; da ja selbst die, welche auf ihre darüber vorgetragenen Theorien im allerhöchsten Grade eingebildet seien, unter sich nicht übereinstimmten, sondern sich wie die Rasenden (τοι̃ς μαινομενοι̃ς ομοι̃ος) gegen einander betrügen.« »Tούς μέγιστον δρονούντας« nennt sie Sokrates. Einen »Montblanc neben einem Maulwurfshaufen« nennt sich Schopenhauer, wenn er sich mit einem Naturforscher vergleicht. Die Schüler bewundern das große Wort und suchen dem Meister nachzuahmen.
Wenn ich gegen das leere Hypothesenmachen spreche, glauben Sie übrigens nicht, daß ich den Wert der echt originalen Gedanken herabsetzen wolle. Die erste Auffindung eines neuen Gesetzes ist die Auffindung bisher verborgen gebliebener Ähnlichkeit im Ablauf der Naturvorgänge. Sie ist eine Äußerung des Seelenvermögens, welches unsere Vorfahren noch im ersten Sinne »Witz« nannten; sie ist gleicher Art mit den höchsten Leistungen künstlerischer Anschauung in der Auffindung neuer Typen ausdrucksvoller Erscheinung. Sie ist etwas, was man nicht erzwingen und durch keine bekannte Methode erwerben kann. Darum haschen alle danach, die sich als bevorzugte Kinder des Genius geltend machen möchten. Auch scheint es so leicht, so mühelos, durch plötzliche Geistesblitze einen unerschwingbaren Vorzug vor den Mitlebenden sich anzueignen. Der rechte Künstler zwar und der rechte Forscher wissen, daß große Leistungen nur durch große Arbeit entstehen. Der Beweis dafür, daß die gefundenen Ideen nicht nur oberflächliche Ähnlichkeiten zusammenraffen, sondern durch einen tiefen Blick in den Zusammenhang des Ganzen erzeugt sind, läßt sich doch nur durch eine vollständige Durchführung derselben geben, für das neu entdeckte Naturgesetz also nur an seiner Übereinstimmung mit den Tatsachen. Es ist das nicht etwa als eine Wertschätzung nach dem äußerlichen Erfolge anzusehen, sondern der Erfolg hängt hier wesentlich zusammen mit der Tiefe und Vollständigkeit der vorausgegangenen Anschauung.
Oberflächliche Ähnlichkeit finden ist leicht, ist unterhaltend in der Gesellschaft, und witzige Einfälle verschaffen ihrem Autor bald den Namen eines geistreichen Mannes. Unter einer großen Zahl solcher Einfälle werden ja auch wohl einige sein müssen, die sich schließlich als halb oder ganz richtig erweisen; es wäre ja geradezu ein Kunststück, immer falsch zu raten. In solchem Glücksfalle kann man seine Priorität auf die Entdeckung laut geltend machen; wenn nicht, so bedeckt glückliche Vergessenheit die gemachten Fehlschlüsse. Andere Anhänger desselben Verfahrens helfen gern dazu, den Wert eines »ersten Gedankens« zu sichern. Die gewissenhaften Arbeiter, welche sich scheuen, ihre Gedanken zu Markte zu bringen, ehe sie sie nicht nach allen Seiten geprüft, alle Bedenken erledigt und den Beweis vollkommen gefestigt haben, kommen dabei in unverkennbaren Nachteil. Die jetzige Art, Prioritätsfragen nur nach dem Datum der ersten Veröffentlichung zu entscheiden, ohne dabei die Reife der Arbeit zu beachten, hat dieses Unwesen sehr begünstigt.
In den Letterkästen eines Buchdruckers liegt alle Weisheit der Welt zusammen, die schon gefunden ist und noch gefunden werden kann; man müßte nur wissen, wie man die Lettern zusammenzuordnen hat. So sind auch in den Hunderten von Schriften und Schriftchen, die alljährlich erscheinen über Äther, Beschaffenheit der Atome, Theorie der Wahrnehmung, ebenso wie über das Wesen der asthenischen Fieber und der Karzinome, gewiß schon längst alle zartesten Nüancierungen der möglichen Hypothesen erschöpft, und unter diesen müssen notwendig viele Bruchstücke der richtigen Theorie sein. Wer sie nur zu finden wüßte!
Ich hebe dies hervor, um Ihnen klar zu machen, daß diese Literatur der ungeprüften und unbestätigten Spekulationen gar keinen Wert für den Fortschritt der Wissenschaft hat; im Gegenteil, die wenigen gesunden Gedanken, die darin stecken mögen, werden von dem Unkraut der übrigen zugedeckt. Wer nachher wirklich Neues und wohlgeprüfte Tatsachen bringen will, sieht sich der Gefahr unzähliger Reklamationen ausgesetzt, wenn er nicht vorher mit dem Durchlesen einer Menge absolut unfruchtbarer Bücher Zeit und Kräfte vergeuden und den Leser durch die Menge unnützer Zitate ungeduldig machen will.
Unsere Generation hat noch unter dem Drucke spiritualistischer Metaphysik gelitten, die jüngere wird sich wohl vor dem der materialistischen zu wahren haben. Kants Zurückweisung der Ansprüche des reinen Denkens hat allmählich Eindruck gemacht, aber Kant ließ noch einen Ausweg offen. Daß alle bis dahin aufgestellten metaphysischen Systeme nur Gewebe von Trugschlüssen seien, war ihm so klar wie dem Sokrates. Seine Kritik der reinen Vernunft ist eine fortlaufende Predigt gegen den Gebrauch der Kategorien des Denkens über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus. Aber die Geometrie schien ihm so etwas zu leisten, wie die Metaphysik es anstrebte, und er erklärte deshalb die Axiome der Geometrie, die er ansah als a priori vor aller Erfahrung gegebene Sätze, für gegeben durch transzendentale Anschauung, oder als die angeborene Form aller äußeren Anschauung. Seitdem ist die reine Anschauung a priori der Ankerplatz der Metaphysiker geworden. Sie ist noch bequemer als das reine Denken, weil man ihr alles aufbürden kann, ohne sich in Schlußketten hineinzubegeben, die einer Prüfung und Widerlegung fähig wären. Die nativistische Theorie der Sinneswahrnehmungen ist der Ausdruck dieser Theorie in der Physiologie. Alle Metaphysiker vereinigt kämpfen gegen jeden Versuch, die Anschauungen, seien es sogenannte reine oder empirische, die Axiome der Geometrie, die Grundsätze der Mechanik oder die Gesichtswahrnehmungen in ihre rationellen Elemente aufzulösen. Eben wegen dieses Sachverhalts halte ich die neueren mathematischen Untersuchungen von Lobatschewsky, Gauß, Riemann u. a. über die logisch möglichen Abänderungen der Axiome der Geometrie und den Nachweis, daß die Axiome Sätze sind, die durch die Erfahrung bestätigt oder vielleicht auch widerlegt, und deshalb aus der Erfahrung gewonnen werden können, für einen sehr wichtigen Fortschritt. Daß alle Sekten der Metaphysiker sich darüber ereifern, darf Sie nicht irremachen; denn diese Untersuchungen legen die Axt an die scheinbar festeste Stütze, die ihren Ansprüchen noch blieb.
Ich bitte Sie nicht zu vergessen, daß auch der Materialismus eine metaphysische Hypothese ist, eine Hypothese, die sich im Gebiete der Naturwissenschaften allerdings als sehr fruchtbar erwiesen hat, aber doch immer eine Hypothese. Und wenn man diese seine Natur vergißt, so wird er ein Dogma und kann dem Fortschritte der Wissenschaft ebenso hinderlich werden und zu leidenschaftlicher Intoleranz treiben, wie andere Dogmen. Diese Gefahr tritt ein, sobald man Tatsachen zu leugnen oder zu verdecken sucht zu Gunsten entweder der erkenntnistheoretischen Prinzipien des Systems, oder zu Gunsten von Spezialtheorien, die naturwissenschaftlich klingende Erklärungen von einzelnen Gebieten zu geben suchen. So hat man z. B. gegen solche Forscher, welche aus den Sinneswahrnehmungen herauszulösen suchen, was darin von Wirkungen des Gedächtnisses und der im Gedächtnisse zustande kommenden Verstärkung wiederholter gleichartiger Eindrücke, kurz, was der Erfahrung angehört, ein Parteigeschrei zu erheben gesucht, sie seien Spiritualisten. Als ob Gedächtnis, Erfahrung und Übung nicht auch Tatsachen wären, deren Gesetze gesucht werden können, und welche sich nicht wegdekretieren lassen, wenn sie auch nicht schon jetzt glatt und einfach auf die bekannten Gesetze der Erregung von Nervenfasern und deren Leitung zurückzuführen sind, so günstigen Spielraum der Phantasie auch das Gewirr der Ganglienzellenfortsätze und Nervenfaserverbindungen im Gehirn darbieten mag.
Überhaupt, so selbstverständlich der Grundsatz erscheint und so wichtig er ist, sooft wird er vergessen, der Grundsatz nämlich, daß die Naturforschung die Gesetze der Tatsachen zu suchen hat. Indem wir das gefundene Gesetz als eine Macht anerkennen, welche die Vorgänge in der Natur beherrscht, objektivieren wir es als Kraft, und nennen eine solche Zurückführung der einzelnen Fälle auf eine unter bestimmten Bedingungen einen bestimmten Erfolg hervorrufende Kraft eine ursächliche Erklärung der Erscheinungen. Wir können dabei nicht immer zurückgehen auf die Kräfte der Atome; wir sprechen auch von einer Lichtbrechungskraft, elektromotorischen und elektrodynamischen Kraft. Aber vergessen Sie nicht die bestimmten Bedingungen und den bestimmten Erfolg. Wenn diese nicht anzugeben sind, so ist die angebliche Erklärung nur ein verschämtes Geständnis des Nichtwissens, und dann ist es entschieden besser, dafür ein offenes Geständnis zu geben.
Wenn z. B. irgendein vegetativer Prozeß auf Kräfte der Zellen zurückgeführt wird ohne nähere Bestimmung der Bedingungen, unter welchen, und der Richtung, nach welcher diese wirken, so kann dies höchstens noch den Sinn haben auszudrücken, daß entferntere Teile des Organismus dabei ohne Einfluß sind; aber auch dies möchte in den wenigsten Fällen sicher konstatiert sein. Ebenso ist der ursprünglich wohl bestimmte Sinn, den Johannes Müller dem Begriff der Reflexbewegung gab, allmählich dahin verflüchtigt, daß, wenn an irgendeiner Stelle des Nervensystems ein Eindruck stattgefunden hat, und an irgendeiner anderen eine Wirkung eintritt, man dies erklärt zu haben glaubt, wenn man sagt, es sei ein Reflex. Den unentwirrbaren Verflechtungen der Hirnnervenfasern kann man vieles aufbürden. Aber die Ähnlichkeit mit den Qualitates occultae der alten Medizin ist sehr bedenklich.
Aus dem ganzen Zusammenhange meiner Darstellung geht eigentlich schon hervor, daß das, was ich gegen die Metaphysik gesagt habe, nicht gegen die Philosophie gerichtet sein soll. Aber die Metaphysiker haben sich von jeher das Ansehen zu geben gesucht, als wären sie die Philosophen, und die philosophischen Dilettanten haben sich meistens nur für die weitfliegenden Spekulationen der Metaphysiker interessiert, durch welche sie glaubten, in kurzer Zeit und ohne zu große Mühe die Summe alles Wissenswerten kennenlernen zu können. Ich habe schon bei einer anderen Gelegenheit das Verhältnis der Metaphysik zur Philosophie mit dem der Astrologie zur Astronomie verglichen. Die Astrologie hatte das aufregendste Interesse für das große Publikum, namentlich für die vornehme Welt, und machte ihre angeblichen Kenner zu einflußreichen Personen. Die Astronomie dagegen, trotzdem sie das Ideal wissenschaftlicher Durcharbeitung geworden ist, muß sich jetzt mit einer kleinen Zahl still fortarbeitender Jünger begnügen.
Ebenso bleibt der Philosophie, wenn sie die Metaphysik aufgibt, noch ein großes und wichtiges Feld, die Kenntnis der geistigen und seelischen Vorgänge und deren Gesetze. Wie der Anatom, wenn er an die Grenzen des mikroskopischen Sehvermögens kommt, sich Einsicht in die Wirkung seines optischen Instrumentes zu verschaffen suchen muß, so wird jeder wissenschaftliche Forscher auch das Hauptinstrument, mit dem er arbeitet, das menschliche Denken, nach seiner Leistungsfähigkeit genau studieren müssen. Zeugnis für die Schädlichkeit irrtümlicher Ansichten in dieser Beziehung ist unter anderem das zweitausendjährige Herumtappen der medizinischen Schulen. Und auf die Kenntnis der Gesetze der psychischen Vorgänge müßte der Arzt, der Staatsmann, der Jurist, der Geistliche und Lehrer bauen können, wenn sie eine wahrhaft wissenschaftliche Begründung ihrer praktischen Tätigkeit gewinnen wollten. Aber die echte Wissenschaft der Philosophie hat unter den üblen geistigen Gewohnheiten und falschen Idealen der Metaphysik vielleicht noch mehr zu leiden gehabt als die Medizin.
Nun noch eine Verwahrung; ich möchte nicht, daß Sie glaubten, meine Darstellung sei durch persönliche Erregung beeinflußt gewesen. Daß jemand, der solche Meinungen hat, wie ich sie Ihnen vorgetragen habe, der seinen Schülern, wo er kann, den Grundsatz einschärft: »Ein metaphysischer Schluß ist entweder ein Trugschluß oder ein versteckter Erfahrungsschluß«, von den Liebhabern der Metaphysik und der Anschauungen a priori nicht günstig angesehen wird, brauche ich nicht auseinanderzusetzen. Metaphysiker pflegen, wie alle, die ihren Gegnern keine entscheidenden Gründe entgegenzusetzen haben, nicht höflich in ihrer Polemik zu sein; den eigenen Erfolg kann man ungefähr an der steigenden Unhöflichkeit der Rückäußerungen beurteilen.
Meine eigenen Arbeiten haben mich mehr, als die übrigen Jünger der naturwissenschaftlichen Schule, in die streitigen Gebiete geführt, und die Äußerungen metaphysischer Unzufriedenheit haben mich deshalb auch mehr als meine Freunde betroffen, wie dies viele von Ihnen wissen werden.
Um also meine persönlichen Meinungen außer Spiel zu lassen, habe ich schon zwei unverdächtige Gewährsmänner für mich sprechen lassen, Sokrates und Kant, welche beide sicher waren, daß alle bis zu ihrer Zeit aufgestellten metaphysischen Systeme Gewebe von eitel Trugschlüssen waren, und selbst sich hüteten, ein neues hinzuzufügen. Nur um zu zeigen, daß weder in den letzten zweitausend, noch in den letzten hundert Jahren die Sache sich geändert hat, lassen Sie mich schließen mit einem Ausspruch von Friedrich Albert Lange, dem uns leider zu früh entrissenen Verfasser der Geschichte des Materialismus. In seinen nachgelassenen »Logischen Studien«, die er schon in der Aussicht auf sein herannahendes Ende geschrieben hat, gibt er folgende Schilderung, die mir aufgefallen ist, weil sie ebensogut von den Solidar- und Humoralpathologen oder beliebigen anderen alten dogmatischen Schulen der Medizin gelten könnte. Lange sagt: »Der Hegelianer schreibt zwar dem Herbartianer ein unvollkommeneres Wissen zu als sich selbst, und umgekehrt; aber keiner nimmt Anstand, das Wissen des anderen gegenüber dem des Empirikers als ein höheres, und wenigstens als eine Annäherung an das allein wahre Wissen anzuerkennen. Es zeigt sich also, daß hier von der Bündigkeit des Beweises ganz abgesehen und schon die bloße Darstellung in Form der Deduktion aus dem Ganzen eines Systems heraus als apodiktisches Wissen anerkannt wird.«
Werfen wir also keine Steine auf unsere alten medizinischen Vorgänger, die in dunklen Jahrhunderten und mit geringen Vorkenntnissen in genau dieselben Fehler verfallen sind, wie die großen Intelligenzen des aufgeklärt sein wollenden neunzehnten Jahrhunderts. Jene machten es nicht schlechter als ihre Zeitgenossen, nur trat das Widersinnige der Methode an dem naturwissenschaftlichen Stoffe stärker hervor. Arbeiten wir weiter. Die Ärzte sind berufen, in diesem Werke der wahren Aufklärung eine hervorragende Rolle zu spielen. Unter den Ständen, welche ihre Kenntnis gegenüber der Natur fortdauernd handelnd bewähren müssen, sind sie diejenigen, welche mit der besten geistigen Vorbereitung herantreten und mit den mannigfachsten Gebieten der Naturerscheinungen bekannt werden.
Um endlich unsere Konsultation über den Zustand der Dame Medizin rite mit der Epikrisis zu schließen: so meine ich, wir haben alle Ursache, mit dem Erfolge der Behandlung zufrieden zu sein, die ihr die naturwissenschaftliche Schule hat angedeihen lassen, und wir können der jüngeren Generation nur empfehlen, in derselben Therapie fortzufahren.
Hermann von Helmholtz