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Es war ein nebliger Londoner Herbstabend, ein Schaufenster in Regent Street und ein Buch von Anatole France, die meine Reise nach Monte Carlo veranlaßten; welche der drei Ursachen die entscheidendste war, weiß ich noch heute nicht.
Das Schaufenster in Regent Street barg neben einem Gewimmel verlockender Anzeigen aller Eisenbahn- und Dampferlinien der Welt ein Panorama des Fürstentums Monaco. Der neblige Londoner Abend bot so ziemlich alles: schöne Lichteffekte der Bogenlampen, Orchestermusik von tausend Autos und ein Gedränge der Londoner Abendhorden, vor allem aber Ruß. Was das Buch von Anatole France betrifft, so hatte ich es soeben in der Oxford Street gekauft; es war Le Jardin d'Epicure; und auf meinem ersten Streifzug durch diesen philosophischen Garten war ich auf Aphorismen über das Spiel gestoßen.
»Spieler spielen, wie Liebende lieben, wie Alkoholiker trinken, aus Notwendigkeit, blind, unter dem Einfluß einer unwiderstehlichen Kraft. Es gibt Wesen, verdammt, zu spielen, wie es andere gibt, verdammt, zu lieben … Und sicherlich ist im Spiel etwas, das die Nerven aller Mutigen heftig spannt: es ist kein mittelmäßiges Vergnügen, das Schicksal zu versuchen. Es ist keineswegs ein Genuß ohne Rausch, in einer Sekunde Monate, Jahre, ein ganzes Leben an Furcht und Hoffnungen zu verkosten. Ich war kaum zehn Jahre alt, als M. Grépinet, mein Lehrer, in der Schule die Fabel Der Mensch und der Geist verlas; und dennoch entsinne ich mich ihrer besser, als hätte ich sie gestern gehört. ›Ein Geist gab einem Knaben ein Zwirnknäuel und sprach zu ihm: Dieses Knäuel entspricht deinem Leben. Wenn du willst, daß die Zeit verstreichen soll, so ziehe an dem Faden; deine Tage werden rasch oder langsam vergehen, je nachdem du den Faden rasch oder langsam abwickelst. Und solange du den Zwirn nicht berührst, verharrst du in derselben Stunde deines Lebens. Der Knabe nahm das Knäuel und zog an dem Faden; zuerst, um Mann zu werden, hierauf, um das Weib, das er liebte, ehelichen zu können, dann, um seine Kinder heranwachsen zu sehen, um seiner Sorgen ledig zu werden, um den mit den Jahren kommenden Leiden und Krankheiten zu entgehen, und endlich, um einem unerträglichen Alter ein Ende zu machen. Er hatte vier Monate und sechs Tage nach dem Besuch des Geistes gelebt.‹
»Und was ist das Spiel anderes als die Kunst, in einer Sekunde die Veränderungen zuwege zu bringen, die das Schicksal gewöhnlich erst im Verlauf vieler Monate oder vieler Jahre erzeugt, die Kunst, die für andere auf ein ganzes, langsam dahinfließendes Leben verteilten Gemütsbewegungen in einen einzigen Augenblick zusammenzupressen, das Geheimnis, ein ganzes Dasein in einigen Minuten zu verleben? Das Spiel ist ein Duell mit dem Schicksal. Es ist Jakob, der mit dem Engel ringt; es ist Doktor Fausts Kontrakt mit dem Bösen. Man spielt um Geld – um Geld, das will heißen, um die unmittelbaren und unendlichen Möglichkeiten. Die Karte, die aufgeschlagen wird, die Kugel, die schnurrt, kann dem Spieler Parks, Gärten und Felder schenken, große Wälder und Schlösser, die ihre spitzen Türme gen Himmel heben. Ja, die kleine Kugel, die da rollt, umfaßt Hektars guter Ackererde und Schieferdächer, deren skulptierte Giebel sich in der Loire spiegeln; sie umfaßt Kunstschätze, Wunderwerke des Geschmacks, wunderbare Juwelen, die schönsten Körper, die die Welt zu bieten hat, und Seelen – selbst solche, die man nicht für feil gehalten hätte; alle Auszeichnungen und Ehrenposten, alle Gunst und Macht der Erde. Was sage ich? Sie umfaßt noch Besseres. Sie umfaßt den Traum von diesem allen. Und ihr wollt, daß man nicht spielen solle! – Und dennoch, spendete das Spiel nur unendliche Hoffnungen, zeigte es uns nur das Lächeln seiner grünen Augen, man würde es mit weniger Raserei lieben. Aber es hat Klauen aus Demant, es ist furchteinflößend, es bringt uns, wenn es just will, Elend und Schande; und darum betet man es an. – Die Versuchung, die die Gefahr bietet, liegt allen großen Passionen zugrunde. Es gibt keinen Genuß ohne Schwindel. Der mit Furcht vermischte Genuß berauscht. Und was ist furchterregender als das Spiel? Es gibt, es nimmt. Seine Gründe sind nicht unsere Gründe. Das Spiel ist stumm, blind und taub. Das Spiel ist alles. Das Spiel ist ein Gott.
Das Spiel ist ein Gott. Es hat seine Anbeter und seine Frommen, die es um seiner selbst willen lieben, nicht um dessentwillen, was es verheißt, und die es anbeten, wenn es Schläge erteilt. Plündert es sie noch so grausam, so messen sie sich selbst die Schuld bei, nicht ihm. – Ich habe schlecht gespielt, sagen sie. Sie klagen sich selbst an und lästern nicht.«
Ich las dies im Café Ye Olde Gambrinus in Regent Street, und meine Gedanken kehrten unmittelbar zu dem gegenüberliegenden Schaufenster zurück. Ich sah die Hauptstadt des Hasards vor mir, mit gelbweißen Häusern auf palmenbekleideten Terrassen, zwischen einem Meer und einem Himmel liegen, die um das tiefste Tiefblau wetteiferten; und starrte ich dazwischen durch das Fenster, so sah ich den Verkehr der Regent Street dahintosen wie einen schmutzigen angeschwollenen Fluß unter einem peitschenden Novemberregen. Die Dachplachen der Wagen, die Gummimäntel der Wachleute erglänzten blankschwarz im elektrischen Licht, während Kaskaden von Schmutzwasser um die Pferdehufe und Automobilräder aufspritzten. In rascher Laune faßte ich meinen Entschluß und stürzte quer über die Straße. Das Reisebureau mit dem verlockenden Panorama war eben im Begriff zu sperren. Zehn Minuten später kehrte ich zu dem ängstlichen Kellner im Gambrinus zurück mit einem Billett in der Tasche, das mich über Folkestone, Boulogne und Paris nach Monte Carlo zu reisen berechtigte.
Die erste Ausstrahlung von Monte Carlo erreichte mich schon in Toulon; ganz wie das Rauschen der Grottenmühle, das schon in meilenweiter Distanz erschallt, gleich dem Heulen der Wölfe im Föhrenwalde. Wir hatten einen neuen Schaffner bekommen; ich wies auf seine Aufforderung meine Fahrkarte vor, die er murmelnd abzwickte. Nachdem er gegangen war, setzte ich mich in meiner Ecke zurecht und nahm ein Tauchnitz-Buch vor, als ein Herr mir gegenüber den Hut lüftete.
»Monsieur!« flüsterte er verstohlen.
Ich blickte auf; es war ein Mann in mittleren Jahren, mit großem schwarzem Schnurrbart, nervösen Zuckungen um den Mund und einem intelligenten, aber schwer deutbaren Blick. Seine Kleidung machte einen etwas schäbigen, im übrigen aber respektabeln Eindruck. Ich betrachtete ihn fragend.
»Sie reisen nach Monte Carlo, Monsieur? Nicht wahr? Ich sah Ihr Billett. Verzeihen Sie, ist es des Spiels wegen?«
»Hm, ja, vielleicht; warum fragen Sie?«
»Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Monsieur. Spielen Sie nicht, spielen Sie nicht! Sie verlieren unbedingt. Ich habe so viele dahinreisen gesehen, Monsieur, junge Männer wie Sie und alte. Ich habe auch viele von dort zurückkommen sehen, aber nicht so viele, als hingefahren sind … Ein Teil bleibt dort zurück, unter der Erde, und ein Teil …«
»Unter dem Eise!« unterbrach ich ihn. »Ich verstehe, aber die, die von dort abreisen?«
»Einige reisen mit Geld, – wenige, Monsieur, sehr wenige; andere retten sich beizeiten mit einem Teil dessen, was sie mithatten; und viele reisen auf Kosten des Kasinos ab.«
»Wie?« sagte ich. »Des Kasinos? Sie meinen des Konsulats?«
»Nein, Monsieur, des Kasinos. Sie wissen, was das Kasino jährlich verdient? Über vierzig Millionen, ganz richtig. Nun denn, das Kasino ist ein edelmütiges Institut und liebt überdies Skandale nicht. Hat man daher alles verloren, so zahlt die Leitung einem eine Viatique aus; Sie erhalten die Fahrkarte nach Ihrem Wohnort und Geld für die Reisespesen. Aus welchem Land sind Sie, Monsieur?«
»Aus Schweden.«
»Ah, Monsieur, ich gratuliere; da erhalten Sie dreihundertfünfzig Franken, das Billett nach Berlin eingerechnet. O, ich kenne gar viele Schweden, die die Viatique genommen haben. Dreihundertfünfzig Franken, die Sie zurückzahlen müssen, wenn Sie das Kasino wieder betreten wollen. Man sagt, daß das Kasino jährlich hunderttausend Franken in Viatiques ausgibt.«
Er unterbrach sich einen Augenblick und lachte leise vor sich hin.
»Alles hat seine humoristische Seite, Monsieur, nicht wahr? Auch die Viatique. Die Deutschen hörten davon reden und pflegten längere Zeit hindurch, ehe es entdeckt wurde, den Heimweg vom Ausland, von Italien beispielsweise, über Monte Carlo zu nehmen. Sie riskierten fünfzig, vielleicht hundert Franken bei der Roulette; gewannen sie, war es gut; verloren sie, war es auch gut, denn sie nahmen auf alle Fälle ihre Viatique nach Berlin mit, hundertfünfundsiebzig Franken, die Fahrkarte mitgerechnet. Ja, Monsieur, diese Deutschen!«
Wieder unterbrach er sich einen Augenblick, um eine übelriechende Regiezigarre anzuzünden, worauf er fortfuhr:
»Aber ach, Monsieur, ein gefährlicher Ort ist es, dieses Monte Carlo. Ein kleines Fürstentum« – er begann zu gestikulieren –, »aber Untertanen in der ganzen Welt. Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, Monsieur: es ist eine neue heilige Stätte, gegründet von M. Camille Blanc und seinem Vater. Ein neues Mekka, ein neues Rom! Was sage ich, ein neues Lourdes, das Lourdes der Halbruinierten, eine wundertätige Quelle für Schwindler und durchgebrannte Spekulanten! Der Wunder aber sind wenige, Monsieur, ganz wie in Lourdes. Nicht viele sind es, die dort ihr Vermögen zurückgewonnen haben. Ein gefährlicher Ort. Ich habe viel dort gesehen; ich kam zum erstenmal vor zehn Jahren dahin.«
»Entschuldigen Sie,« sagte ich, »warum aber reisen Sie dorthin? Doch nicht, um zu spielen?«
»Ja, Monsieur«, erwiderte er ohne Zögern, während er in der Rocktasche zu wühlen begann.
»Wie, Sie wollen dort spielen. Sie, der Sie betonen, welch gefährlicher Ort es sei, der Sie erzählen, wie es anderen dort ergangen ist, der Sie mich vor dem Spiel warnen?«
Er unterbrach mich mit gedämpfter Stimme; in seine Augen war ein neuer Ausdruck gekommen – es war, als hätte sich ein Häutchen über sie gesenkt.
»Monsieur, Sie verstehen nicht, was ich sagen wollte, Monte Carlo ist ein gefährlicher Ort, ein sehr gefährlicher Ort, aber nur für den, der die Gefahren nicht zu erkennen und hierdurch nicht zu vermeiden versteht. Dies eben habe ich getan« – er senkte die Stimme noch mehr –, »indem ich ein System gefunden habe, ein System, das allen Chancen gegenüber vollständig unfehlbar ist. Dank ihm darf ich mich, ohne Gefahr zu laufen, an diesen Ort wagen. Ich trachte nur ein Kapital für mein System zu verschaffen; es ist schwierig; man glaubt eben nicht an Systeme, was auch ganz richtig ist, denn fast alle versagen, fast alle. Dasjenige aber, das ich nun habe, o, das ist einzigstehend …«
Ich unterbrach ihn.
»Verzeihen Sie, Sie sind ja zwölf Jahre, nein. zehn Jahre in Monte Carlo gewesen; Sie haben natürlich gespielt und müssen folglich auch wohl gewonnen haben? Daß Sie es nötig haben, ein Kapital zu suchen –!«
»O, Sie verstehen nicht, Monsieur, Sie sind jung, im Spiel unerfahren. Man muß modifizieren, man muß abändern. Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden. Das Ei des Kolumbus muß auf einen einzigen bestimmten Punkt gestellt werden – aber ich habe ihn gefunden! Monsieur, ich habe ihn gefunden! Sehen Sie hier« er zog aus seiner Tasche einige dicke Papierbündel und die Spezialzeitung der grünen Tische mit den authentischen Nummernfolgen hervor. – »Sehen Sie hier, Monsieur, – einen Augenblick!« – überzeugte sich, ob die Coupétür gut verschlossen »Dies ist mein Gewinstresultat: viertausend Franken in einer Woche mit einem Kapital von fünftausend. Das ist unerhört, und es versagt nicht; ich habe es Woche um Woche, Monat um Monat nachgerechnet, und es versagt nicht. O, ich werde meine Verluste wettmachen, ich werde diesen Menschen zeigen … aber um Gottes willen, ich bedenke erst jetzt, daß Sie mir vollkommen fremd sind. Sie versprechen mir, nichts von meinem System zu sagen? Sie verstehen, sie haben überall Spione. Erführen sie etwas von meinem wunderbaren System, würden sie mir ohne weiteres meine Eintrittskarte abnehmen, sogleich. Sie versprechen zu schweigen, Monsieur?«
Ich versprach es.
»Danke! Aber Monsieur« – er neigte sich vor und fixierte mich mit demselben verschleierten Blick »erlauben Sie, daß ich Ihnen mein System zeige! Spielen Sie ohne System, verlieren Sie; spielen Sie mit anderen wohlfeilen Systemen, verlieren Sie auch. Wir wollen zusammen spielen.«
Ich hörte ihm kaum mehr zu. Der Mann hatte mich anfänglich interessiert, jetzt aber begann er langweilig zu werden. Um ihn los zu werden, sagte ich:
»Danke, ich gedenke gar nicht in Monte Carlo zu spielen.«
»Monsieur, Sie werden spielen, Sie können es nicht lassen. Sie werden verlieren, das ist unausweichlich; erlauben Sie …«
»Nein, danke; ich habe übrigens selbst ein System, nach dem ich spielen werde.«
»Es wird versagen, es wird versagen«, rief er flehend. »Mein System ist unfehlbar, ganz unfehlbar. Lassen Sie mich Ihnen zeigen …«
»Nein, ich bitte Sie, mich in Frieden zu lassen, um so mehr als ich alle Systeme als Schwindel und alle Systemspieler als Bauernfänger betrachte. Leben Sie wohl, Monsieur!«
Ich rettete mich in den Restaurationswagen und blieb da, bis Monte Carlo ausgerufen wurde.
Beim Ausgang der kleinen Station fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, und eine Stimme flüsterte neben mir:
»Monsieur, wenn Sie Ihre Ansicht ändern, so suchen Sie mich auf oder schreiben Sie ein paar Zeilen. Hier ist meine Adresse, ich komme sofort, wenn Sie schreiben.«
Eine Karte wurde in meine Hand gesteckt, und mein Reisekamerad verschwand mit einem artigen Gruß nach dem Weg, der längs des Kasinoparks entlangläuft. Bei der nächsten Gaslaterne blieb er plötzlich stehen, holte sein Bündel Papiere hervor und schrieb rasch etwas nieder. Offenbar ein neues Detail, das dem unfehlbaren System eingefügt wurde.
Während ich in meine Droschke stieg, verschwand er mit nervösen Schritten hinter der Ecke bei Hotel Metropole; und es schien mir, als leuchte sein Überrock mit einem Abglanz des glaubenssicheren Fanatismus seiner Augen zu mir herüber.
*
Das Fürstentum Monaco liegt, wie bekannt, im südöstlichen Frankreich, an, Fuße der Alpen, im Departement Alpes-Maritimes. Es gehört seit dem Mittelalter dem Geschlecht Goyon-Grimaldi, das seine Burg auf dem Felsen von Monaco erbaut hat; besitzt einen Flächeninhalt von 22 Quadratkilometer, eine Bevölkerung von 19 121 Menschen und seit der großen Revolution vor einigen Jahren eine Konstitution. Sein Fürst heißt Albert I., interessiert sich für ozeanographische Forschungen und hat ein Museum von großen Dimensionen in Monaco gegründet; sein wirklicher Herrscher aber heißt Camille Blanc, ist der Sohn des Gründers des Monte Carlo-Kasinos, das 1878 erbaut wurde, und Schwiegervater einiger europäischer Prinzen. Die Bevölkerung, die seit mehreren Jahren des unschätzbaren Vorteils der Selbstverwaltung teilhaftig ist, genießt den noch unschätzbareren, keine Steuern zu bezahlen; alle Kosten, die für das Fürstentum auflaufen, wie Reinigung und Instandhaltung, Schulen, Armenpflege usw. wird von dem Kasino des Mr. Blanc getragen, das will sagen, von den Fremden, die dahin strömen. Denn kein Monogasse erhält Zutritt zu dem Kasino.
Der Flächeninhalt des Fürstentums Monaco darf also nicht nach gewöhnlichen geographischen Methoden bemessen werden, sondern nach dem Flächeninhalt der Spieltische, die im Kasino und im Sportingclub zu finden sind, und seine Volksmenge nach der Anzahl der Spieler, die diese Tische besuchen. Auf diese Art wird der Flächeninhalt ein geringerer, die Einwohnerzahl aber riesig und das kleine Fürstentum wird zu dem volkreichsten Land der Welt. Wie mein Freund, der Systemspieler, sagte: es ist ein neues Mekka, Rom, Lourdes.
Und doch wäre der Ort einer Pilgerfahrt wert, selbst wenn das Kasino niemals von Mr. Garnier erbaut worden wäre; nämlich seiner landschaftlichen Lage wegen. Denn es ist zweifellos einer der schönsten Plätze der Erde.
Ich erinnere mich meines ersten Tages in Monte Carlo. Ermüdet nach einer langen Reise hatte ich mich schmählich verschlafen, über alle Anständigkeit hinaus, und es war ungefähr halb vier Uhr eines Novembernachmittags, als ich auf den Kasinoplatz hinaustrat. Ich war nahe daran, den Atem zu verlieren, so schön war es.
Es dämmerte; von den Bergen im Westen fielen schwere purpurblaue Schatten über die weißen und gelblichweißen Häuser; leise rauschten die grünen Palmenkronen über den frischen Rasenmatten; die Fontänen murmelten, und allüberall drängten sich südlich-leuchtende Blütenkronen. Die eben angezündeten elektrischen Lichtkugeln strahlten in dem Laubwerk der Bäume wie große gelbrote Früchte, und in ihrem Lichte standen die Palmenstämme auf dem Kasinoplatz, steif und unbeweglich wie auf einer Theaterdekoration. Ich ging mit weitoffenen Augen und Nasenlöchern einige Schritte weiter, und plötzlich hatte ich die Aussicht frei und starrte hinaus auf das dämmerumflorte Mittelmeer.
Es war ein wunderbarer Effekt für einen, der wie ich direkt von dem Rußnebel Londons und dem wintergrauen Kanal kam. Rings um die öden Klippen von Monaco und längs der oliven- und pinienbekleideten Uferberge gen Osten, wo die Villen spukhaft weiß in der Dämmerung leuchteten, streckte sich das vielbesungene Meer, zitternd von blauen und purpurfarbenen Farbenschattierungen. Droben begannen die Sterne zu erglimmen, und plötzlich ward mir ein Vers in Homerus klar, der, wo er von Telemakos, Odysseus' Sohn, spricht, der fortzieht von Ithaka über das »weinfarbene Meer«, oinops thalatta. Und als poetische Natur wanderte ich die Hafenavenue gegen Monaco hinab, verständnislosen Fremden Verse von Snoilsky und Wilhelm Ekelund vorskandierend.
Droben in den Parkanlagen, die das Museum und die alte Burg in Monaco umgeben, irrte ich wohl eine Stunde umher und sog die südländisch starke Luft ein, während das Mittelmeer da unten in jonischer Zunge ewige Rhapsodien aus der Odyssee murmelte. Ich verließ die Parks und begab mich in meterbreite mittelalterliche Gäßchen, die Viktor Hugo entnommen sein konnten, bis ich endlich, der Eindrücke satt, nach meinem Hotel zurückkehrte. Am nächsten Morgen war ich mit der Sonne auf und sah, wie sie sich hinter den Landspitzen gegen Italien über das morgenstille Meer erhob. Und zu meinem Erstaunen beobachtete ich, daß man in diesem paradiesischen Klima Mitte November ein Salzbad nehmen konnte.
Denn das Fürstentum Monaco genießt neben anderen Vorzügen den eines wirklich paradiesischen Klimas. Hier gibt es kaum einen Wechsel der Jahreszeiten: Winter, Frühling, Sommer und Herbst sind verschmolzen zu einem ewigen Lenz, der im Winter ein wenig kälter, im Sommer ein wenig wärmer ist; das ist alles. Das Winterklima von Monaco ist ja in der ganzen Welt bekannt; von November bis April herrscht hier die Hochsaison, und die Beschäftigungslosen der ganzen Welt, die von eigenem Geld oder die von anderer Geld leben, sammeln sich hier in tausendfüßigen Horden, füllen die Hotels rings um die Azurküste und Mr. Blancs Kassengewölbe. Von und mit Mai aber ebbt diese Flutwoge ab; nun ist nämlich keine »Saison« mehr, und infolgedessen treffen die Deutschen ein, wie ein ägyptischer Heuschreckenschwarm, vermischt mit Ungarn und Russen, nebst einem schwedischen Theaterdirektor. Aber obgleich das »bessere« Publikum verschwunden und die Saison vorbei ist, herrscht dasselbe herrliche Klima: 26, höchstens 29 Grad Maximum und 19 bis 20 Grad Minimum. Am 1. Juni beginnt endlich die Badesaison für die erfrorenen Südländer, und das Kasinoorchester spielt täglich auf der offenen Terrasse. Ein Abend da draußen ist entzückend und kann nicht in übertriebenen Ausdrücken gepriesen werden. Die Luft ist schwer von Düften aus den Parks und dem Meere; undeutlich hört man das Gemurmel der Wellen gleich einem Hintergrund zu der Musik, und das funkelnde Sternengewölbe spannt sich über Berge und Palmenkronen. Einer ketzerischen Handlung bewußt, wage ich es, den Deutschen recht zu geben, die zur Sommerszeit hierherkommen, denn der Sommer, der die billigste Jahreszeit ist, ist meiner Ansicht nach zugleich auch die lieblichste.
Die Bevölkerung von Monte Carlo und Monaco läßt sich wie die in Australien und Afrika in Ureinwohner und Kolonisten einteilen. Die Ureinwohner sind eine brünette, kräftig gebaute Rasse von gemischt italienischem und französischem Ursprung; sie sprechen meistenteils beide Sprachen, führen eine steuerfreie Existenz, gewöhnlich in Diensten des Kasinos oder der Hotels, und leben von Makkaroni, Kalbsdärmen, Polypen und Wein. Die Makkaroni und der Wein sind auch anderwärts wohlbekannte Nahrungsmittel; was die Polypen betrifft, die im Meer gefangen werden, so verweise ich auf eine folgende Erzählung. – Die weibliche Einwohnerschaft zeichnet sich durch zeitige Reife, üppige Formen und samtschwarze Augen aus. Wogegen die Kinder häufig, vermutlich zufolge germanischer Einflüsse, blaue Augen und blondes Haar haben.
Dies von der Urbevölkerung, mit welcher der gelegentliche Monte Carlo-Besucher ja wenig in Berührung kommt; will man sie sehen, wie sie ist, muß man Beausoleil besuchen, jenen Teil von Monte Carlo, der in Frankreich liegt. Da sitzen sie in den kleinen Cafés und Bars versammelt, die in zahlloser Menge die Gassen umsäumen; die Hauptstraße in Beausoleil zählt im Durchschnitt deren sieben auf 50 Meter. Um Absinth, Biergläser und Würfel geschart, diskutieren sie das Leben und Monte Carlo von einem ganz anderen Standpunkt aus als der Kasinobesucher. Des Abends sind sie in dem kommunalen Kasino wiederzufinden, wo, wie in allen französischen »Badeorten«, das Hasardspiel unter Schutz und Schirm des Staates betrieben wird. Aber nicht das Roulette und Trente-et-quarante, sondern boule, auch genannt les petits chevaux, das dem Leser auch von anderen Badeorten her bekannt sein dürfte.
Was die Fremden in Monte Carlo betrifft, so gehören sie allen Rassen, Religionen, Berufen und Ständen an. Von indischen Fürsten (von denen einer fast das ganze liebe Jahr hier weilt) bis zu deutschen Krämern und rumänischen Hotelratten von hebräischer Extraktion gibt es hier Vertreter jedes Menschenschlages. Das Sprachengewirr an einem Abend der Hochsaison ist etwas Unbeschreibliches. Überall widerhallt es von englischen, französischen, russischen, holländischen, skandinavischen Lauten; aber alle anderen beherrschend, hört man Goethes und Schillers Idiom. Illusionen sind ja bloß geschaffen, um zerstört zu werden; und wer an Hand von Fünfundzwanzig-Pfennig-Büchern und Kasino-Reklameanzeigen die Spielsäle von russischen Großfürsten, amerikanischen Millionären und seidenraschelnden Kokotten bevölkert wähnt, wird grausam getäuscht. Weder Mr. Rockefeller noch Fürst Nicolas Nicolajevitsch führt hier das Zepter, sondern Herr Meyer aus Berlin und Frankfurt.
Im übrigen gibt es keine Ungeheuerlichkeit in bezug auf Aussehen und Kleidung, die unter den Spielern nicht denkbar wäre. Es wirkt erquickend, unter diesen mißgestalteten und abstoßenden Horden auch schöne und wohlgekleidete Menschen zu finden, aber sie sind tatsächlich in arger Minorität.
Dies von dem Äußeren der Spieler.
Was ihr Inneres betrifft, so ist es von zwei Dingen erfüllt, die im Katechismus beständig Seite an Seite genannt werden: Unglauben und Aberglauben. Den Unglauben repräsentieren die jüngeren, neuangekommenen Spieler; den Aberglauben die älteren Jahrgänge. Bei der Ankunft in Monte Carlo glaubt man an all das nicht, was die Leute über diesen Ort geschrieben und gesagt haben, sondern ist überzeugt von seinem eigenen Geschick und Glück im Spiel; ist man erst eine Zeitlang dagewesen und hat gespielt, ob nun mit Verlust oder nicht, so wird man von einer in der Luft liegenden Vorsicht und Voreingenommenheit ergriffen. Man hütet sich, an jedem beliebigen Tisch zu spielen; Tisch 3 ist günstig, Tisch 5 dagegen unheilbringend. Man vermeidet es, sich aufs Geratewohl zwischen die Mitspielenden zu setzen, denn es ist erwiesen, daß gewisse Individuen unter ihnen unvermeidlich Pech bringen.
Und man muß mit aller Macht an seinen Glückschancen festhalten. Gott gnade demjenigen, der einen Tisch mit einem Pechvogel von Croupier gewählt hat oder einen Croupier, welcher mit der Harke den Einsatz des Spielers berührt, ehe das Spiel begonnen hat. Dann ist er für den ganzen Tag verloren. Nach Ablauf einer weiteren Frist hat man einsehen gelernt, wie wichtig es ist, nicht irgendeinen beliebigen Weg nach dem Kasino zu nehmen; der Weg an dem Hotel de Paris vorbei ist glückbringend, der andere am Café de Paris vorbei dagegen unheilvoll. Von hier aus ist der Schritt bis zum Standpunkt des Fetischanbeters nicht mehr weit; und erst wenn man diesen erreicht hat, ist man wirklicher Spieler.
Der wirkliche Spieler wählt genau seine Kleidungsstücke, denn er hat wohl bemerkt, wie gewisse unter ihnen, zum Beispiel die Lackschuhe und die blaue Krawatte, ein frenetisches Pech bringen, während andere, so die perlgraue Weste und die lachsfarbenen Unterkleider, märchenhaftes Glück spenden. Dies alles allerdings nur an bestimmten Tagen und unter bestimmten Voraussetzungen, beispielsweise der, daß man nicht glückverscheuchenden Personen die Hand geschüttelt oder sonst etwas getan hat, was die Spielgottheiten reizen könnte. Der letzte Grad von Fetischanbetung eines Spielers besteht darin, daß er sich ein glückbringendes Tier anschafft – ein Amulett ist zu gewöhnlich. Mäuse oder Meerschweinchen, die im Taschenformat bequem erhältlich sind, sind beliebte Fetische; Schildkröten sollen, wie es heißt, die letzte Mode sein.
Trotz ihres Un- und Aberglaubens oder vielleicht eben diesen zufolge, betragen sich jedoch die Spieler bei den Spieltischen ruhig und gesittet. Szenen sind selten und Selbstmorde legendarisch. Allerhöchstens dürften sich deren zehn innerhalb der Kasinomauern ereignet haben und während der letzten Zeit keiner. Außerhalb des Hauses sind sie wohl nicht so selten, aber hiervon weiß niemand, und niemand kann es wissen außer der Obrigkeit des Kasinos; denn die Zeitung bringt keine Notizen und das Geklatsch zumeist unrichtige. Auch wäre es merkwürdig, wenn Selbstmorde in Monte Carlo so gewöhnlich und ringsum in Frankreich, wo doch das Spiel in den Kasinos der Badeorte vielleicht ebensosehr im Schwange ist, so selten wären.
Es sind zwei Häuser in Monte Carlo, in denen das Spiel betrieben wird, das gewöhnliche Kasino und der Sporting Klub, das exklusivere, in das nur Mitglieder wohlbekannter Klubs Zutritt finden. Auch in dem gewöhnlichen Kasino gibt es eine reservierte Abteilung, Cercle privé, in welchem Eintrittsgeld gefordert wird; im übrigen sind die Eintrittskarten unentgeltlich. Sie erhalten eine solche durch Vorweisung von Papieren oder Empfehlungen, aus denen hervorgeht, daß Sie über 18 Jahre und in ökonomisch unabhängiger Stellung sind; ein Paß genügt oder auch das Zeugnis eines Hotelwirts. Kraft der Karte, die Sie empfangen – zu Anfang Tages-, dann Monatskarten –, gewinnen Sie Zutritt zu den Spielsälen, zu dem Zeitungszimmer des Kasinos und zu dessen Musiksaal, in welchem täglich zweimal Konzerte stattfinden; haben Sie Ihr Geld verloren und wünschen nach dem Vaterland zurückzukehren, so erhalten Sie gegen Abgabe dieser Karte eine Viatique; das heißt nur in dem Falle, als Sie genügend lange hier geweilt haben, um eine nennenswerte Summe verlieren zu können. Auf der Rückseite der Karte steht ein Auszug des Reglements der Leitung, demzufolge Ihre Karte Ihnen ohne weitere Erklärungen abgenommen werden kann. Was hier an Stelle dieser Mitteilungen stehen sollte, wäre folgender
Rat an die Kasinobesucher:
I. Spiele niemals!
II. Wenn du spielst, gewinne!
III. Wenn du gewinnst, höre
sofort auf, sonst verlierst du!
Womit wir zu dem Spiel selbst übergehen.
Wie Sie wohl wissen, können Sie in Monte Carlo Ihr Geld auf zweierlei Art verspielen, im Roulette oder im Trente-et-quarante. Das Prinzip des Roulettespiels ist eine Kugel, die umherschnurrt, bis sie in eines der auf dem Boden einer Scheibe befindlichen siebenunddreißig Nummernlöcher fällt. Die Gewinste werden auf diese Nummer und die Chancen, die sie repräsentiert, schwarz oder rot, pair oder impair, passe oder manque usw. ausbezahlt. Die Ziffern bis zu 18 sind manque, die über 18 passe. Eine besondere Bedeutung hat Nr. 0, Zéro, » l'ami de la maison«, wie sie genannt wird; kommt Null heraus, so streicht die Bank alles ein, mit Ausnahme dessen, was eben auf Null gesetzt wurde oder auf die einzelnen Chancen (schwarz, rot, gerade, ungerade, passe und manque); die Sätze, die auf diesen Chancen stehen, werden »ins Gefängnis gesteckt«. Was bedeutet, daß, wenn der nächste Coup schwarz, pair und manque ist (was z. B. der Fall ist, wenn Nr. 6 herauskommt), die Sätze, die auf Schwarz, pair und manque stehen, wieder frei werden, während die Bank alles einzieht, was im Gefängnis auf Rot, impair und passe stand.
Ebenso einfach sind die Prinzipien des Trente-et-quarante-Spiels. Eine Anzahl Kartenspiele – gewöhnlich sechs – werden von dem Croupier auf dem Tische vermischt, ein Spieler kupiert, und der Croupier beginnt aufzulegen, nachdem die Spieler ihre Einsätze gemacht haben. Er legt in zwei Reihen auf, von welchen die erste schwarz, die zweite rot gilt; diejenige der beiden Reihen, die beim Zusammenzählen der Pointenzahl der aufgelegten Karten an Points der Zahl 31 am nächsten kommt, gewinnt. Der Croupier legt z. B. vier oder fünf Karten in die obere Reihe und erhält die Pointziffer 35; es ist nun seine Pflicht, zur unteren Reihe überzugehen und wenn diese unter 35, auf jeden Fall wenigstens 31 hat, gewinnt sie, anderenfalls die obere. Haben beide 31, so werden die Sätze ins Gefängnis gesteckt, ebenso wie wenn im Roulette die Null herauskommt. Hiergegen kann man sich jedoch versichern, indem man im vorhinein eine bestimmte Summe an die Bank ausbezahlt. Außer den Chancen rot und schwarz gibt es noch die Chancen couleur und inverse; da aber dieses Buch nicht als Leitfaden für Hasardspieler gedacht ist, so übergehe ich sie.
Worin liegt nun der faszinierende Zauber der beiden Spiele, speziell des Roulettes? Natürlich darin, daß man in einigen Augenblicken für einen unbedeutenden Einsatz einen riesenhaften Gewinst einstreichen kann. Dies gilt allerdings in minderem Maße für Trente-et-quarante, das bloß einfache Chancen hat; seine Wahrscheinlichkeitsaussichten auf Gewinn verhalten sich wie eins zu zwei. In weit höherem Grade Hasardspiel ist das Roulette, das von wirklichen Trente-et-quarante-Spielern verachtet wird.
Nehmen wir an, Sie seien für – wir wollen sagen – zehn Minuten Ihres Lebens Prophet, und Sie wären imstande, beim Roulettespiel beispielsweise fünf Nummern, die nacheinander herauskommen werden, bestimmt vorauszusagen; es brauchte übrigens nicht einmal der Reihenfolge nach zu sein. Sie könnten in dieser zehnminütigen Arbeit genug für Ihr restliches Leben verdienen; was ganz einfach zu berechnen ist: Sie treten mit einem Fünffranken-Stück, dem niedrigsten Satz, ein, stellen sich zu dem Roulettetisch und legen achtlos Ihr Silberstück auf Nr. 8. Sie wissen nämlich dank Ihrer prophetischen Gabe, daß der nächste Coup 8 sein wird. Nun denn, der Croupier setzt die Kugel in Umlauf, sie fällt, wie Sie wußten, in Nr. 8, und innerhalb einer Minute sind Sie Besitzer von 180 Franken (man erhält auf die Nummer den fünfunddreißigfachen Einsatz). Sie sagen zu dem Croupier: »Setzen Sie meine 180 Franken auf Nr. 17«; denn Sie wissen, daß dies die nächste Nummer sein wird. Er tut es, die Kugel rollt, Nr. 17 kommt heraus, und da stehen Sie nun mit einem Gewinst von sechstausend Franken; die 180 Franken, der höchste Satz auf Nummern, hat fünfunddreißigfachen Gewinn abgeworfen. Nun sagen Sie zu dem Croupier: »Bitte, placieren Sie meine sechstausend Franken auf Nr. 32, eine Ahnung sagt mir, daß diese Nummer kommt.« Er setzt also nach Ihrer Weisung das Maximum auf Nummer 32; das sind 180 Franken auf die Nummer selbst, nebst den Maxima auf die anderen gewinstbringenden Chancen: à cheval, carré, transversale pleine und transversale simple. Die Kugel rollt, die 32 kommt, und Sie erhalten ungefähr sechzigtausend Franken ausgezahlt. Dies ist Ihr dritter Coup, und Sie haben nun Betriebskapital, um weiterzugehen und auf Nr. 15 zu gewinnen, die jetzt kommen wird, wie Sie wissen. Nach Ihrem fünften Coup sind Sie Halbmillionär.
›Well,‹ fragen Sie, ›trifft dergleichen wirklich ein?‹ Ich antworte wahrheitsgemäß: Äußerst selten. Die meisten Spieler sind Feiglinge, die auf einzelne Chancen wie Schwarz, Rot usw. setzen oder höchstens ein Dutzend oder eine Kolonne riskieren. Folglich gewinnen sie auch nichts Überwältigendes; und gewinnen sie, so sputen sie sich, den Gewinst einzuziehen, statt ihn stehenzulassen und zu sehen, ob etwa eine Serie kommt.
Serie ist das magische Wort für alle kleineren Monte Carlo-Spieler, wie auch für die größeren; der einzige Unterschied zwischen ihnen ist, daß erstere davon reden, während die letzteren darin spekulieren.
So können Sie Herrn Meyer aus Berlin erzählen hören, daß Rot gestern an einem Tische siebzehnmal nacheinander kam, worauf Herr Meyer unausweichlich hinzufügt: »Wer da gesetzt und es stehengelassen hätte!« Das eben ist's, was Herr Meyer niemals im Leben wagen würde, und das eben ist's, was ihn von den wirklichen Spielern unterscheidet und ihn zu Herrn Meyer aus Berlin macht, der, nachdem er zweitausend Franken verloren hat, die Viatique nimmt und abreist.
Nehmen Sie jedoch an, Herr Meyer würde von einer Inspiration ergriffen und sein Inneres sagte ihm: nun kommt Rot siebzehnmal, wir lassen den Satz stehen! Herr Meyer würde sich dann beeilen, fünf Franken auf Rot zu setzen; nach dem erstenmal hätte er zehn Franken auf dem Tisch, nach dem zweiten zwanzig, nach dem dritten vierzig, nach dem siebenten sechshundertvierzig, nach dem zehnten über fünftausend Franken, nach dem elften fast das doppelte Maximum, zwölftausend Franken. Nach dem elftenmal also dürfte Herr Meyer heimnehmen, was sechstausend Franken (das Maximum) überschritte, und könnte sich begnügen, während der restlichen sechs Male sechstausend Franken auf einmal einzustreichen, alles als Zinsen des so glücklich untergebrachten Fünffranken-Stückes. Mit dem siebzehnten Male wäre Herr Meyer Besitzer von ungefähr fünfzigtausend Franken! – Aber, meinen Sie, vielleicht käme Rot nur elfmal, ja vielleicht bloß fünfmal? Ja, das eben sagt sich Herr Meyer auch, und darum begnügt er sich, nach dem zweitenmal heimzugehen und daheim in seiner Pension im Condamine-Viertel von der Serie zu erzählen.
Allein es gibt wunderliche Vorfälle im menschlichen Leben. Dem folgenden habe ich selbst beigewohnt und er passierte einer österreichischen Baronin (alle Österreicherinnen sind Baroninnen). Sie hatte eines Vormittags ungefähr fünftausend Franken an einem Trente-et-quarante-Tisch verloren; schließlich hatte sie akkurat zwanzig Franken übrigbehalten, was das Minimum in Trente-et-quarante ist; das Maximum ist nebenbei gesagt zwölftausend. Sie stand auf, erbittert durch ihr beharrliches Pech, warf ihren Louis auf Schwarz und sagte scherzhaft: »Ich gehe ins Hotel de Paris und esse meinen Lunch; lassen Sie meinen Louis bis zum doppelten Maximum stehen.« Darauf ging sie. Schwarz kam, der Louis wuchs bis auf vierzig Franken, achtzig Franken, hundertsechzig Franken; nach dem sechsten Coup waren es 1280 Franken, die statt der ursprünglichen zwanzig hier lagen; nach dem achten 5120, nach dem neunten 10 240. Nach dem zehnten Coup zogen die Croupiers, ihren Instruktionen getreulich folgend, ein, was das Maximum überschritt, und als Schwarz zum elftenmal kam, sandten sie die so geschickt erspielten 32 480 Franken ehrerbietigst der Baronin hinüber, die ruhig ihren Lunch beendete, ehe sie zurückkehrte und sie wieder verspielte.
Denn auf die Dauer verlieren alle in Monte Carlo. Sie haben von irgendeinem Lucky Chance Wells oder einem ähnlichen Herrn sprechen hören, der märchenhaft gewinnt; zumeist ist das Lüge. Und ist es wahr, so seien Sie überzeugt, daß der Teufel dazu lacht Nebenbei: die Bank sprengen, was früher möglich war (die Tageskasse betrug damals 200 000, und waren diese verloren, war das Spiel zu Ende), ist jetzt unmöglich. Die Tageskasse ist allerdings kleiner geworden (80 000), aber ist sie verloren, wird sie sogleich ersetzt. (Diese Ziffern gelten für den Roulettetisch.). Hat der Betreffende gewonnen, so spielt er weiter; Resultat Verlust. Spielt er nicht weiter, sondern reist ab – was die einzige Art ist, nicht weiterzuspielen – so kommt er einmal wieder, um mehr zu gewinnen: Resultat Verlust. Auf die Dauer gleicht sich das Verhältnis zugunsten der Bank aus; mit ihrem Zéro und ihren Maxima hat sie im vorhinein dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Und außer diesen Bundesverwandten hat sie zwei andere, die noch bedeutungsvoller sind: die Spielleidenschaft an und für sich und die menschliche Ungenügsamkeit. Die Spielleidenschaft um des Spieles selbst willen bindet Scheuklappen vor die Augen des Spielers, so daß er weder zurück-, noch nach den Seiten blickt, nur hinab in die rotierende Scheibe mit ihrer sausenden weißen Kugel; und die ewige Ungenügsamkeit macht, daß kein Gewinst, ob groß oder klein, ihm ausreichend deucht. Treten Sie in das Kasino und riskieren Sie fünf Franken; verlieren Sie sie, ist es, als sei einer Ihrer Nervenfäden an die schwere Silbermünze gebunden worden, als rollte er sich nun auf der schwirrenden Kugel auf und zöge Ihr ganzes Nervensystem mit sich. Dies klingt übertrieben, aber es ist wahr. Das Geld verliert seine gewöhnliche Bedeutung, während Sie spielen; Sie denken nicht mehr, was Sie sich dafür kaufen können; Sie sehen in ihm nur Spieleinheiten, Mittel zu spielen und zu gewinnen, – zwei Worte von magischer Bedeutung.
Und so vergehen die Tage, bis Sie abreisen, mit oder ohne Ihre Viatique, und aus der Hauptstadt des Hasards heimkehren zu geordneten Verhältnissen – wenn Sie es können.