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VII.
Die tausendunderste Nacht

1.

Im Namen des milden barmherzigen Gottes! Ja h'asra! Noch einen Tag floh der Schlummer mein Lager. Alle meine Versuche, mich selbst über den Ernst meiner Lage zu täuschen, mißlangen. Meine Gedanken klammerten sich krampfhaft an Bachir und die Nacht, die bevorstand. Vergebens suchte ich die Gedanken nach Tunis, dem großen, dem weißen, dem gebildeten zu lenken, und in die kleinen gepolsterten Räume, wo schöne Frauen lächelten und roter Wein in den Kelchen der Becher blühte. Bachir und wiederum Bachir war meine Gesellschaft, und anstatt der tausend bewegten Nächte in Tunis dachte ich nur an die tausendunderste Nacht, die mir in Tozeur bevorstand und sicherlich meine letzte sein würde. Endlich breiteten sich ihre Fittiche über die Wüste und die Oase, und ich und Aouina wurden zu ihm geführt, der über unser Schicksal bestimmte.

Jemand war schon im Zimmer, als wir kamen – der dicke Engländer. Er saß, an Händen und Füßen gebunden, auf dem Diwan; vor ihm stand ein Tisch, und auf dem Tisch war eine Sammlung Dinge, die an diesem Orte so seltsam wirkten, daß ich mir unwillkürlich über die Stirne fuhr. Wahrlich, ich glaubte mich an einen der Orte versetzt, in die ich mich heute nacht vergeblich in Gedanken zu versetzen versucht hatte. Ich glaubte in einem der kleinen gepolsterten Räume in Tunis zu sein, anstatt in Bachirs Haus in Tozeur. Denn der Tisch vor dem Engländer trug ein Service, wie es gebildete Personen benützen, wenn sie essen; da war ein Teller, ein Messer, eine Gabel und eine Serviette. Ferner war da ein Gestell mit vier geschliffenen Kristallbehältern. Der eine enthielt Essig, der andere Oel, der dritte Salz und der vierte Pfeffer. Es erinnerte mich ganz an die Soupers, bei denen ich selbst den Salat für meine schönen Freundinnen aus dem Casino Municipal bereitete. War es eine Traumerscheinung? Wie waren diese Dinge in ein barbarisches Haus in der Oase gekommen? Warum standen sie vor dem Engländer? Bachir, der mein Staunen sah, weidete sich daran, aber gab keine Erklärungen. Die Wächter stießen Aouina und mich auf einen Diwan und Schweigen senkte sich über den Raum. Ich schwieg, ich wagte nicht die Fragen zu stellen, die mir auf den Lippen brannten. Bachir schwieg, er wollte meine Neugier nicht befriedigen. Der Engländer schwieg – warum, wußte ich nicht, aber seine Augen waren kalt wie das Eis, mit dem ich in Tunis den Wein zu kühlen pflegte, den ich meinen schönen Freundinnen kredenzte. Eine Stille voll von Geheimnissen und Schrecknissen herrschte in dem Gemach. Endlich erhob Bachir seine Stimme.

»Wie steht es mit deiner Eßlust?« fragte er den Engländer.

Der Engländer antwortete keine Silbe.

»Du kannst sie noch ein Weilchen bezähmen?«

Der Engländer schwieg wie ein Fels.

»Es eilt auch nicht. Der Tod hat immer Zeit zu warten. Aber wenn der Hunger dir zusetzt, dann gib mir ein Zeichen.«

Keine Muskel regte sich in dem Gesicht des Engländers, aber der Blick, mit dem er Bachir ansah, hätte genügt, um einem anderen das Herz gefrieren zu machen.

Bachir wandte sich mir zu:

»Ich sehe, du brennst vor Neugier, o König der Dichter und Kuppler. Du siehst einen Tisch, gedeckt, wie die ungläubigen Hunde ihre Tische decken, wenn sie essen. Du siehst Messer und Gabel, Essig und Oel. Aber du siehst nichts zu essen. Und auf jeden Fall weißt du, daß das gemästete Tier auf dem Diwan hungrig ist, da es zweimal vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hat. Nicht wahr, du brennst vor Neugier? Du möchtest gerne eine Erklärung für all dies haben, bevor du stirbst?«

Er wartete einen Augenblick, um meiner Zunge Zeit zu lassen, den bitteren Nachgeschmack seiner letzten Worte einzusaugen. Dann klatschte er in die Hände. Ich wartete gespannt, was geschehen würde. Meine Spannung fand eine Lösung, aber durchaus nicht die, die ich erwartet hatte.

Die Tür, durch die ich und Aouina hereingeführt worden waren, öffnete sich abermals. Zwei bewaffnete Männer zeigten sich auf der Schwelle. In ihrer Mitte führten sie etwas, was ich zuerst für einen Neger hielt. Erst nach längerer Betrachtung sah ich, was es war: Ein weißer Mann, ein Europäer. Und erst lange nachdem ich dies begriffen hatte, begriff es der Engländer, und seine Zunge, die gebunden war, löste sich und bekam Leben. Er rief, wie der rasende Stier ruft. Was er rief, war dieses:

»Lavertisse! Kommen Sie, um mich zu befreien? Das ist aber höchste Zeit! Nicht eine Minute zu früh! Wissen Sie, was der Götzenanbeter mir hier zum Souper zudenkt? Meinen eigenen Kopf in Essig und Oel.«

2.

Der neuangekommene Europäer, der französisch sprach, war so schmutzig, wie ich noch nie einen gebildeten Menschen gesehen hatte. Lange starrte er das Zimmer, mich, Bachir und Aouina an. Schließlich kehrte sein Blick zu dem dicken Engländer und dem Service zurück, das vor ihm stand. Er schüttelte sich, als fiele es ihm schwer zu glauben, daß er wachte und richtig sah. Endlich sagte er:

»Gedenkt er Sie Ihren eigenen Kopf zum Souper essen zu lassen? Aber ist das nicht eine recht schwierige Leistung?«

Der dicke Engländer sagte:

»Er gedenkt, mich mit der Nase und den Ohren anfangen zu lassen. Das macht die Sache leichter. Auf jeden Fall ist das das einzige Menü, das er mir geben will. Sie sehen so sonderbar aus, Lavertisse. Wo kommen Sie her?«

Der Franzose schüttelte seine schmutzigen Kleider:

»Ich komme aus einem Brunnen.«

»Aus einem Brunnen? Was in aller Welt machten Sie in einem Brunnen?«

»Das müssen Sie jemanden anderen fragen! Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich aus einem Brunnen komme.«

»Aber was in aller Welt taten Sie in einem Brunnen?«

»Ich weiß es nicht, sage ich Ihnen. Ich weiß nur, daß ich heute morgen in einem Brunnen zum Bewußtsein erwachte, bis zum Halse im Wasser. Etwas später wurde ich von diesen zwei bewaffneten Herren hier gefunden. Die zogen mich heraus und führten mich zu diesem Herrn. (Er wies auf Bachir.) Er sah mich an und steckte mich in den Arrest. Aber was machen Sie hier, und wie lange sind Sie schon da? Sie verschwanden vorgestern nach dem Mittagessen. Wo sind Sie hingegangen?«

»Wenn ich das nur wüßte. Ich erwachte in diesem Zimmer hier zum Bewußtsein, so wie Sie in Ihrem Brunnen. Bitte reden Sie nicht vom Mittagessen, Sie machen mir nur Appetit, und wenn ich Appetit bekomme –«

Er sah den Essig, das Oel, die Gabel und das Messer an und schauderte.

»Sie kommen wohl, um mich vor dem Gottesleugner zu retten?« rief er. »Ist der Professor mit?«

Der Franzose schüttelte düster den Kopf und deutete mit einer Geste auf Bachirs Bewaffnete.

»Käme ich, um Sie zu retten, so käme ich nicht in solcher Gesellschaft. Wo der Professor ist, weiß ich nicht, falls er nicht im Hotel ist. Jedenfalls findet er mich wohl ebensowenig hier, als er und ich Sie gefunden haben. Was in aller Welt ist das für ein Haus? Wer ist der Bärtige, den Sie Gottesleugner nennen? Wer ist die schöne Frau mit dem Schleier? Und wer ist der dicke Kerl, der die ganze Zeit in seinen Hosen schlottert?«

Mit dieser letzten Aeußerung verunglimpfte er mich, Ibrahim, Salahs Sohn. Es ist wahr, daß ich einigermaßen zitterte, aber ebensosehr aus Empörung über das Schicksal, das die beiden gebildeten Europäer erwartete, wie aus Furcht vor dem, das meiner selbst harrte.

Aber in diesem Augenblick unterbrach Bachir das Gespräch der beiden Europäer.

3.

Daß Bachir sie so lange hatte reden lassen, hatte seinen Grund darin, daß er erwartete, sie würden sich vor ihm verraten. Sie sprachen nämlich Französisch, und diese Sprache verstand er vollkommen. Aber was sie sagten, gewährte ihm zu wenig Einblick in ihre Geheimnisse und ging zu langsam. Nun hob er den Fächer. Die Europäer sahen ihn abwartend an. Er wendete sich an den Franzosen.

»Wer bist du?«

»Franzose. Mein Name ist Lavertisse, falls es dich interessiert.«

»Du bist der Freund dieses Mannes?«

»Ja.«

»Warum bist du hergekommen?«

Der Franzose deutete auf die zwei bewaffneten Männer.

»Zwei Herren mit allerdings etwas altmodischen Gewehren ersuchten mich, hier einzutreten.«

Bachir winkte ungeduldig mit dem Fächer.

»Man fand dich in meinem Brunnen. Was tatest du dort?«

Der Franzose sah seine Kleider an.

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich das Wasser nicht verunreinigt.«

»Du weißt es nicht! Was ist das für ein kindisches Geschwätz! Antworte: Was tatest du dort?«

»Ich habe schon geantwortet. Ich weiß es nicht.«

Bachir wechselte das Thema.

»Ist deine Freundschaft mit diesem hier (er deutete auf den Engländer) alt?«

»Ja.«

»Dann hast du lange einen großen Schurken gekannt.«

»Verzeihung, mein Freund, Mr. Graham ist ein sehr achtungswerter englischer Bürger.«

»Ha! Aber vorgestern drang er nächtlicherweile in mein Frauengemach ein.«

»Die Tür muß breit sein, um seinen Bauch passieren zu lassen.«

»Als ich ihn erzählen hieß, was er wollte, und wie er hergekommen war, erzählte er tausend Lügen in tausend Worten. Ich erinnere mich nicht daran, denn sie waren nicht einmal wert, in Wüstensand geschrieben zu werden. Er erzählte von gewissen frechen Streichen in einer Stadt namens Rom; wie er von frechen Männern in einer anderen Stadt namens Neapel bestohlen wurde, und wie der Kadi dieser Stadt ihn wegen seiner frechen Streiche gefangennahm, aber sehr enttäuscht war, kein Gold in seinen Taschen zu finden. Dann sagte er schließlich, daß er dem Kadi vorschlug, die Diebe selbst zu bestehlen und dem Kadi das Gestohlene zu geben, unter der Bedingung, dabei seinen Schutz zu genießen. Was hat dies damit zu tun, daß er sich nächtlicherweile den Weg in mein Frauengemach bahnt? Ich bitte dich, mir zu sagen, was hat dies damit zu tun?«

Der Franzose sah den dicken Engländer an, und von ihm mit einem Blick, listig wie dem des Fuchses, zu Bachir. Eines war mir klar. Er hatte die Lage mit diesem Blick beurteilt und im Nu verstanden, was zu erfassen der dicke Engländer Stunden gebraucht hätte. Er hatte Bachirs Neugier verstanden und seine Grausamkeit. Er hatte verstanden, wie es möglich war, aus der ersteren Nutzen zu ziehen. Wieder sagte ich mir, daß diese zwei gebildeten Europäer Freunde haben mußten, die sie suchten und sie früher oder später finden mußten. Wie war es doch? Hatten sie nicht von einem dritten gesprochen, den sie den Professor nannten? Ja! All diese Gedanken hatten keine halbe Minute in Anspruch genommen. Jetzt sagte der Franzose als Antwort auf Bachirs Worte:

»Du fragst mich, was die Geschichte meines Freundes damit zu tun hat, daß du ihn in deinem Schlafzimmer (er verbeugte sich vor Aouina) fandest. Ich sage: sie hat alles damit zu tun. Du hast meinen Freund mißverstanden. Du hast dich von – hm – gewissen äußeren Umständen – die gegen ihn sprachen, der späten Stunde und so weiter – beirren lassen. Nichts könnte unrichtiger sein.

Bachir unterbrach ihn mit harter Stimme.

»Du versuchst mich hinzuhalten, wie dein Freund. Wenn auch mit geschickteren Worten. Aber sage mir doch: was führte ihn in mein Frauengemach? Und dich in meinen Brunnen? Sage das, aber sage es rasch und sprich die Wahrheit, sonst werden es deine Fußsohlen noch vor dem Rest deiner Person bedauern!«

4.

Der Franzose begann zu sprechen. Seine Rede war ebenso voll von Liebenswürdigkeiten, wie die des Engländers voll von Grobheiten gewesen war. Sie war ebenso mit Schmeicheleien besprengt, wie das gebratene Lamm mit Rosenöl. Er erzählte, wie ihm und seinem Freunde, dem Engländer, und dem dritten Freund, den sie den Professor nannten, ihr Wunsch von dem neapolitanischen Detektivchef erfüllt wurde. Sie bekamen, was er »freies Quartier« nannte, und die Polizei erhielt die Weisung, bei ihren Versuchen, den neapolitanischen Dieben ihr Geld wieder abzunehmen, ein Auge zuzudrücken. In drei Tagen gelang es ihnen, dies zu erreichen, sagte der Franzose, und er wollte lange Beschreibungen ihres Verfahrens geben, aber Bachir unterbrach ihn sofort.

»Das ist gestriges kußkuß!« sagte er hart. »Auch dein Freund wollte mir die Niederlage der Diebe schildern. Aber das hat keinen Zusammenhang damit, daß ich ihn nächtlicherweile in meinem Frauengemache fand.«

Der Franzose begriff, daß er die Taktik ändern mußte. Aber zu welcher anderen konnte er greifen?

»Im Gegenteil!« rief er. »Es hat einen tiefen Zusammenhang damit!«

»In welcher Weise?« sagte Bachir mißtrauisch.

»Das wollte ich dir ja eben erzählen,« sagte der Franzose. Aber ich sah förmlich, wie er nach Ideen und Worten suchte, um Zeit zu gewinnen. »Als wir den Dieben in Neapel unser Geld wieder abgenommen und dem Detektivchef den vereinbarten Teil des Geldes gegeben hatten, verschaffte er uns Billette und Pässe nach Tunis. Kennst du Tunis? Das ist eine schöne Stadt.«

»Ich kenne Tunis nicht,« unterbrach Bachir kalt, »und ich wünsche es nicht zu kennen. Zur Sache!«

»Ich wollte von Tunis nur sagen, daß wir von dort nach Kairouan fuhren. Kennst du Kairouan? Das ist eine sehr heilige Stadt. Sie hat dreihundertachtzig Moscheen.«

»Ich kenne Kairouan nicht,« sagte Bachir, »aber ich weiß, wenn ich es zuließe, würdest du alle die dreihundertachtzig Moscheen eine nach der anderen beschreiben. Wenn du mir nicht in deinen zwei nächsten Antworten klaren Bescheid gibst, verspreche ich dir, daß – –«

»Ich schenke dir die Moscheen!« rief der Franzose. »Ich wollte von Kairouan nur sagen, daß wir von dort nach – wie heißt doch der Ort? – nach Ain Ghrasesia fuhren. Es ist ein Ort von geringem Interesse –«

»Von geringem Interesse!« rief Bachir. »Das glaub' ich dir! Aber das hindert nicht, daß du meine Zeit damit nutzlos bis zum Morgengrauen in Anspruch nehmen würdest! Denn was könnte in Ain Ghrasesia geschehen sein, das irgendeinen Zusammenhang damit hätte, daß dieses Mastschwein nächtlicherweile in mein Haus und in mein Frauengemach eindringt? Antworte! Aber bedenke, daß du nur mehr eine Antwort zu geben hast, bevor ich dich deiner Strafe zuführen lasse.«

Ich sah, wie es in dem Kopf des Franzosen arbeitete, ja ich, der ich die Europäer kenne, konnte es in seinen Augen lesen. Plötzlich schien ein schwaches Licht in seinem Innern aufzuflammen. Mit eifriger Stimme rief er:

»Du fragst, wie das, was in Ain Ghrasesia geschah, damit, daß mein Freund sich hier befindet, irgendeinen Zusammenhang haben kann. Ich brauche keine zwei Worte, um es dir zu sagen. Nein, keine zwei Worte. In Ain Ghrasesia trafen wir einen Wahrsager – einen vortrefflichen Wahrsager – ich habe seinen Namen vergessen – aber er war wirklich épatant. Nun wohl, dieser Wahrsager prophezeite uns.«

Bachir hob den Fächer.

»Warte! Das ist nicht alles! Er prophezeite uns auf einem Teppich – einem rotweißgelben Teppich –, er war nebenbei sehr abgeschabt und alt, sicher hundert Jahre alt, wenn nicht noch älter und (was wollte ich sagen?) ja, nachdem er uns im Sande auf dem Teppich prophezeit hatte, wollte mein Freund ihn kaufen. Weißt du, was der Wahrsager zur Antwort gab?«

Abermals hob Bachir den Fächer. Der Franzose begriff, daß dies die letzte Sekunde war. Er rief:

»Warte! Du mußt hören, was er sagte: ›Dieser Teppich läßt sich nicht kaufen, selbst wenn er verkauft wird.‹ Hast du je eine ähnliche Antwort gehört? ›Mit Diebstahl, nicht mit Kauf; mit List, nicht mit Gewalt; mit Lüge, nicht mit Wahrheit,‹ sagte der Wahrsager, ›so wird dieser Teppich erworben und verloren werden. So ist es gewesen, so wird es verbleiben.‹ Hast du je eine ähnliche Antwort gehört? Mein Freund kaufte den Teppich –«

Der Franzose verstummte. Er sah, daß er nicht weiterzusprechen brauchte. Er sah, daß es vielleicht besser für ihn war, wenn er nicht weitersprach. Er konnte sich sonst die Wirkung dessen, was er erreicht hatte, vielleicht verderben.

Denn Bachirs Fächer war gesunken. Er saß vorgebeugt mit weit offenen Augen da. Seine Augen hingen an dem Franzosen, regungslos, wie die einer Eidechse. Lange schwieg er, ohne den Fächer zu bewegen. Endlich sagte er sehr langsam:

»Wiederhole mir, was der Wahrsager sagte, als dein Freund den Teppich kaufen wollte!«

Der Franzose wiederholte es mit großer Bereitwilligkeit. Was offenkundig war, war, daß er die Ursache von Bachirs plötzlichem Interesse absolut nicht begriff. Bachir ließ ihn die Worte des Wahrsagers zweimal wiederholen.

»War der Teppich rot, weiß und gelb?« fragte er.

»Ja.«

Plötzlich wendete sich Bachir zu Aouina, die lauschend an meiner Seite saß.

»Gestern«, sagte er, »fuhrst du fort, jene Geschichte ohne Wert zu erzählen, die du vor zwei Nächten begonnen hattest. Führe sie zu Ende!«

»Warum soll ich sie zu Ende führen, wenn sie ohne Wert ist?« fragte Aouina mit sanfter Stimme.

»Vielleicht ist sie doch nicht ganz ohne Wert,« sagte Bachir ungeduldig. »Was hat dies übrigens zu bedeuten! Ich spreche, du hörst und gehorchst! Führe sie zu Ende!«

5.

Aouina sagte mit sanfter Stimme:

»Du wirst dich erinnern, o du wahrhafte Sonne der Oase, daß der Kalif Harun al Raschid dem armlosen Bettler befohlen hatte, seine Geschichte zu erzählen, und daß er berichtete, wie er dem Derwisch den wundertätigen Teppich um drei Zechinen abkaufte. Dies ist die Fortsetzung seiner Geschichte.«

 

Fortsetzung der Erzählung des armlosen Bettlers.

Als ich den Derwisch verließ – sagte der armlose Bettler Ali –, den wundertätigen Teppich unter dem Arm, hörte ich den Derwisch rufen: »Dein Bruder nahm ihn mit Gewalt, du hast ihn gekauft; keiner von euch hat ihn erworben.« Aber ich schenkte seinen Rufen keine Beachtung. Ich traf meine Brüder Akbar und Hassan. Akbar sagte: »Laß uns den Teppich gemeinsam besitzen!« Hassan sagte: »Ich habe den Teppich besessen und ich habe töricht gewünscht. Das geringste, was du tun kannst, ist, mir meine Beine zurückzuwünschen.« Beide sagten: »Denke an die Worte unserer Mutter: ›Wenn ihr nicht zusammenhaltet Ali, Akbar und Hassan, wird euch nichts gelingen.‹« Ich hatte nur ein Hohnlachen für sie, denn ich dachte an die Goldsäcke, die ich mit Hilfe des Geistes erwerben wollte, und an die Prinzessin Zobeida, die ich später erwerben wollte, deren Nabel eine Unze Oel fassen konnte und deren Gesäß schwer war wie ein Sandsack. Ich suchte eine einsame Stelle auf, ich breitete den Teppich vor mir aus und sagte zu seinem Geist: »O Djinn, zeige dich. Ich bin der rechtmäßige Besitzer des Teppichs, und ich habe einen Wunsch vorzubringen!« Sofort vernahm man ein Sausen in der Luft, und ein Djinn von fürchterlichem und unerhört boshaftem Aussehen zeigte sich. Sein Anblick ließ mich an allen Gliedern erzittern. »Sterblicher!« rief er mir zu. »Sage deinen Wunsch, auf daß ich ihn erfülle! Alles, was man von mir wünscht, erfülle ich.« »Mache mich zum größten Kaufmann der Welt,« sagte ich mit bebender Stimme. »Auf diese Weise kann ich es erreichen, die Prinzessin Zobeida zu gewinnen und der Glücklichste der Sterblichen zu werden.« »Ich kann dich nicht zum größten Kaufmann der Welt machen,« sagte der Geist. »Aber ich kann dir mehr Gold geben, als jemand in hundert Jahren zählen kann.« »Gib es mir!« rief ich. »Hebe deine Hände, um es zu empfangen!« sagte der Geist. Ich hob sie, und sofort begann das Gold in meine Hände zu fallen, so wie der Platzregen im Frühling fällt, aber es fiel mit einer Heftigkeit, von der sich niemand eine Vorstellung machen kann. Ich fiel zu Boden und suchte mich mit Händen und Armen gegen das Gold zu schützen. Erst als ich an beiden Händen lahm war, hörte das Gold zu fallen auf. Mit einem furchtbaren Lächeln nahm der Djinn den Teppich und sagte: »Für drei Zechinen kauftest du den Teppich und wolltest der größte Kaufmann der Welt werden. Aber mit Diebstahl, nicht mit Kauf erwirbt man den Teppich und wird man ein großer Kaufmann. Doch alles, was man von mir wünscht, bewillige ich!« Er verschwand mit dem Teppich, und dies – sagte der armlose Bettler Ali – ist das Ende meiner Geschichte, o du Sonne der Rechtgläubigen!

Der Kalif ließ ihm eine Zechine geben und forderte den dritten der Brüder auf, seine Geschichte zu erzählen.

Er tat es mit folgenden Worten:

 

Die Geschichte des blinden Bettlers.

Du Beherrscher der Rechtgläubigen, ich werde nicht viele Worte machen. Als ich von dem Mißgeschick meines Bruders Ali hörte, und erfuhr, daß der Djinn den Teppich dem Derwisch zurückgebracht hatte, ließ ich mich keineswegs durch das warnen, was meinen Brüdern Ali und Hassan widerfahren war. Ich hielt mich selbst für viel klüger als sie, denn ich konnte in den Sternen lesen, während sie nach kriegerischem Ruhm und Gold trachteten. Um zu ergründen, ob es aller Schicksal war, unglücklich zu werden, die in den Besitz des Teppichs kamen, befragte ich in derselben Nacht die Sterne. Sie sagten: Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert untergehen, wer Gold aufhäuft, wird von seinem Golde erstickt werden; aber wer seinen Blick zu den Sternen richtet, richtet ihn auf die wahre Größe. Der Teppich und die Macht des Teppichs ist dein. Am nächsten Tage suchte ich den Derwisch auf und sagte: »O Derwisch, ich bin Akbar, der Teppichweberin Sohn, Alis und Hassans Bruder. Ich habe in den Sternen gelesen, und dies ist die Wahrheit über den Teppich: er ist mein! Gib' ihn mir!« Der Derwisch sagte: »O Akbar, ich will dir eine Geschichte erzählen.«

 

Die dritte Geschichte des Derwischs.

Eines Abends fanden die Hunde sich verunrechtet und sagten: Wir sind wahrheitsliebend und aufrichtig gegen die Menschen. Aber zur Belohnung treten sie uns mit Füßen von Ispahan bis Kairo. Hingegen zeigen sie unseren Feinden, den Katzen, Achtung. Lasset uns Sendboten zu König Salomo schicken und uns beklagen. Das taten sie. Die Sendboten traten vor König Salomo und sagten: Oh, Gottes Prophet, warum treten denn die Menschen uns Hunde von Kairo bis Ispahan, während sie unseren Feinden, den Katzen, Achtung bezeigen? Gottes Prophet sagte: Sagt mir: seid ihr aufrichtig gegen eure Herren, Adams Kinder? Sie sagten: Ja, jederzeit! Gottes Prophet sagte: Aber sind es die Katzen? Sie sagten: Nein, sie sind lügnerisch wie die Weiber. Gottes Prophet sagte: Nun wohl, das ist die Ursache, daß man euch mit Füßen tritt. Die Katzen sind lügnerisch, darum schätzen die Menschen sie hoch. Ihr seid es nicht, darum treten sie euch. Mit Lüge, nicht mit Wahrheit wird die Achtung des Menschen erworben und verloren.

»Nun, o Akbar,« sagte der Derwisch, »habe ich dir dies erzählt, um dich wissen zu lassen, wie es mit der Achtung der Menschen ist, so ist es mit diesem Teppich und seiner Macht. Mit List, nicht mit Gewalt, mit Diebstahl, nicht mit Kauf, mit Lüge, nicht mit Wahrheit, so wird er erworben und verloren werden. So ist es gewesen. So wird es verbleiben. Zieh' in Frieden, mein Sohn!«

Aber ich, sagte der blinde Bettler Akbar, war hartnäckig und bedrängte ihn mit Worten, bis er mir den Teppich gab. Ich nahm ihn und ging. Als ich meine Brüder Ali und Hassan traf, bestürmten sie mich mit Bitten, doch an sie zu denken, und wenigstens dem einen seine Arme und dem anderen seine Beine zurückzuwünschen. Sie riefen: Laß uns den Teppich gemeinsam besitzen! Gedenke der Worte unserer Mutter: Wenn ihr nicht zusammenhaltet, o Akbar, Ali und Hassan, wird euch nichts gelingen. Ich antwortete ihnen ungeduldig, denn ich verachtete sie wegen des schlechten Gebrauchs, den sie von dem Teppich gemacht hatten, als er noch in ihrem Besitz war, und auch wegen ihrer niedrigen Wünsche. Ich wartete bis die Nacht anbrach, dann breitete ich den Teppich aus, und sagte zu seinem Geist: O Djinn, erscheine! Ich bin der rechte Besitzer des Teppichs, und ich habe einen Wunsch vorzubringen! Sogleich vernahm man ein Sausen in der Luft, und der Djinn zeigte sich. Sein Aussehen war derartig, daß ich an allen Gliedern zitterte, als er mit dröhnender Stimme rief. Sterblicher! Sage deinen Wunsch, auf daß ich ihn erfülle! Alles, was man von mir wünscht, erfülle ich! Ich sagte: Lehre mich alles, was in den Sternen geschrieben steht! Er sagte: Das kann ich nicht, aber ich kann dir alle Sterne auf einmal zeigen, dann kannst du sie selbst erforschen! – Tue es! sagte ich. Im selben Augenblick wurden meine Augen von einem unerträglichen Licht geblendet, ich sah alle Sterne und alle Wahrheiten, die in den Sternen geschrieben stehen, aber ich konnte dieses Licht ebensowenig ertragen, als der Ungläubige den Blick aus Gottes Auge ertragen kann. Dann sah ich nur Nacht. Ich war blind. Ich hörte das Hohnlachen des Geistes, als er mit dem Teppich verschwand, indem er sagte: Du glaubtest, daß es in den Sternen geschrieben stand, daß du diesen Teppich und damit die Wahrheit über die ganze Welt besitzen würdest. Aber der Weg zu diesem Teppich geht nicht durch Wahrheit, er geht durch Lüge. So ist es gewesen, so wird es verbleiben. Alles, was man von mir wünscht, bewillige ich!

Der Kalif Harun al Raschid, der so die Erzählung der drei Bettler zu Ende gehört hatte, ließ auch dem blinden Bettler Akbar eine Zechine geben, bevor er ihn und seine Brüder entließ. Und damit, o du wahrhafte Sonne der Oase – sagte Aouina zu Bachir – schließt die Geschichte von den drei Bettlern und dem Teppich aus Kandahar.

6.

Bachir sah den Franzosen an und sagte:

»Wiederhole mir noch einmal die Worte, die der Wahrsager in Ain Ghrasesia zu deinem Freund sagte, als er den Teppich kaufen wollte!«

»Mit Diebstahl, nicht mit Kauf, mit List, nicht mit Gewalt, mit Lüge, nicht mit Wahrheit, so wird er erworben und verloren werden,« sagte der Franzose.

»Und der Teppich war weiß, rot und gelb und von Alter abgenützt?«

»Ja.«

»Hat dein Freund ihn gekauft?«

»Ja.«

»Hast du sonst noch etwas über den Teppich zu erzählen?«

»Ja – ja, gewiß, – mein Freund kaufte ihn und – wie war es doch? – ja, der Teppich verschwand.«

»Verschwand?« sagte Bachir.

»Er verschwand in irgendeiner sonderbaren Weise nachts aus dem Fenster. Mein Freund hatte Palmenwein getrunken. Er behauptete, daß der Teppich sich von der Bank erhob und zum Fenster hinausschwamm.

»Kam er nicht wieder zum Vorschein?«

»Nein – das heißt ja! Gestern sah ich den Wahrsager in einer Straße von Tozeur mit dem Teppich vor sich sitzen. Ich fragte ihn, wo er ihn herhatte. Er wollte es nicht sagen. Infolgedessen nahm ich ihm den Teppich ganz einfach weg.«

Bachir fächelte sich mit dem Fächer.

»Du nahmst ihm den Teppich ganz einfach weg? Und wo ist er jetzt?«

»In meinem Zimmer im Hotel!«

»In deinem Zimmer im Hotel!«

Bachir fächelte sich langsamer.

»Und was verlangst du für ihn?«

Der Franzose sah ihn mißtrauisch an. Dann faßte er blitzschnell einen Entschluß.

»Was ich für ihn verlange? Die Freiheit für mich und meinen Freund, nichts anderes.«

Bachir fächelte sich heftig. Ein Mal ums andere schien er nahe daran zu sein, in ein Hohngelächter auszubrechen; ein Mal ums andere tat er sich Einhalt und bewegte den Fächer noch heftiger. Würde er zu dem unsinnigen Vorschlag des Franzosen ja sagen? Ich zitterte bei diesem Gedanken, denn wenn die zwei Europäer frei wurden, war mein und Aouinas Schicksal besiegelt. Aber ich machte mir unnötige Sorgen. Wie ließ es sich denken, daß er zu so einem unsinnigen Vorschlag ja sagte. Was für ein Interesse konnte er an dem Teppich haben, von dem der Franzose sprach? Wie sollte er seinen Rachedurst gegen den dicken Engländer aufwiegen können? Das war unmöglich. Ich hatte mich schon bei diesem Gedanken beruhigt, als Bachir sagte:

»Dein Vorschlag ist unsinnig! Dein Freund ist in mein Frauengemach eingedrungen. Er ist dem Tode verfallen. Sein Verbrechen läßt sich nicht mit Gold aufwiegen. Wie erst durch ein vom Alter abgeschabtes Teppichstück?«

»Aber ein Teppichstück,« sagte der Franzose, »von dem der Marabou in Ain Ghrasesia und Madame (er verbeugte sich vor Aouina) beide seltsame und interessante Dinge erzählt haben.«

Bachir fächelte sich.

»Du hast diese Erzählungen mißverstanden.«

»Wirklich?« sagte der Franzose. »Dann reden wir nicht weiter darüber.«

Ich atmete leichter. Der Franzose kreuzte die Arme über der Brust. Bachirs Fächer bewegte sich hastig wie ein Vogelflügel.

»Ich biete dir hundert Franken für den Teppich,« sagte er.

Der Franzose lachte wohlwollend.

»Gibst du mir auch einen Rat, wie ich sie in deinem Hause verwenden soll?«

»Außerdem«, sagte Bachir langsam, »könnte ich möglicherweise – dir – die Freiheit bewilligen.«

»Mein Freund und ich, wir sind eins,« sagte der Franzose. »Man sollte, wenn man meinen Freund sieht, nicht glauben, daß er noch ein Supplement benötigt, aber wir sind siamesische Zwillinge.«

Bachirs Fächer war rascher als ein Schwalbenflügel.

»Dein Verlangen ist unsinnig, lächerlich,« rief er. »Selbst wenn ich darauf einginge, selbst wenn ich den Teppich bekäme – wäre der Teppich darum mein? Du hast gehört, was Aouina erzählt hat! Du weißt, was dein Marabou in Ain Ghrasesia sagte! Mit Diebstahl, nicht mit Kauf!«

Die Achseln des Franzosen hoben sich himmelwärts.

»Ah – wenn wir jetzt über den Aberglauben alter Zeiten debattieren sollen!« sagte er.

»Aber hat der Teppich einen anderen Wert als den, der auf solchem Aberglauben beruht?«

»Wenn du dieser Meinung bist,« sagte der Franzose, »dann rate ich dir, kein Geschäft zu machen! Das ist meine offenbare Pflicht.«

»Ich mache es auch nicht!« rief Bachir. Und sein Fächer bewegte sich so hastig, daß er nicht einmal sein Gesicht verdeckte.

Plötzlich fiel er mit einem Rascheln zusammen, wie ein angeschossener Vogel, und lag still in seiner Hand.

»Gut!« sagte er. »Es soll so sein, wie du verlangst. Schreibe an dein Hotel, sie möchten den Teppich schicken. Wenn er das ist, was ich glaube – merke wohl: ich sage: wenn er das ist, dann bist du und dein Freund noch in dieser Nacht frei! Darauf hast du mein Wort. Ich, Bachir, Abdullahs Sohn, habe gesprochen.«

Ich zitterte vom Scheitel bis zur Sohle wie einer, der die Zitterkrankheit hat. Alle Hoffnung war also aus. Ja, alle, alle Hoffnung! Die beiden Europäer entgingen durch ein Wunder dem Großen Freudenstörer. Ich und Aouina blieben allein zurück, um von seinen knochigen Armen umschlungen zu werden. Ich sah, wie der Franzose Schreibrequisiten bekam und schrieb. Wie in einem Traum sah ich auch einen von Bachirs Leuten in die Nacht hinaus verschwinden. Aber die Stunde, die darauf folgte, war für mich schwarz und leer. Doch plötzlich erwachte ich zum Leben.

Bachirs Bote war zurückgekommen und hatte seinem Herrn Rechenschaft abgelegt. Ich hörte nicht, was er sagte, ich hörte nur ein Brüllen.

»Haha! Lügnerisches Gerede, wie zu erwarten war! In deinem Zimmer war kein Teppich. Ich gab dir mein Wort, daß du und er frei sein würdet. Jetzt gebe ich dir mein Wort darauf: Ehe noch eine Sonne aufgegangen ist, wird er die Mahlzeit gegessen haben, die seit gestern auf ihn wartet, und du wirst in meinen Brunnen zurückgekehrt sein! Du Aouina, und du, Ibrahim, Salahs Sohn, werdet es mitansehen, aber wenn ihr auch viele Nächte überlebt habt, die tausendundzweite Nacht werdet ihr nicht überleben!«

Draußen brach das Tageslicht zwischen den Palmenblättern hervor, wie das klare Wasser durch einen Laubdamm dringt. Ja h'asra! Meine Furcht, den letzten Weg, nur von Aouina begleitet, zu wandern, schien unbegründet. Dem Engländer und dem Franzosen war dieselbe Reise sicher. Aber es bereitete mir keine Freude mehr.


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