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V.
Die tausendste Nacht

1.

Im Namen des milden barmherzigen Gottes!

Viele seltsame Dinge sind vorgefallen, seit ich zuletzt die Feder ergriff, aber das Seltsamste, das ich zu erzählen habe, ist, daß ich, Ibrahim, Salahs Sohn, noch am Leben bin und nicht die Bekanntschaft des Großen Freudenstörers gemacht habe.

Laßt mich das Schwert der Zunge ziehen und den Traber der Beredsamkeit besteigen.

Als der ungläubige Hund, in dem ich mit Leichtigkeit einen Engländer erkannte, zur Tür von Aouinas Schlafgemach hereintaumelte, erhob Bachir sich von seinem Diwan, nicht ungleich dem Löwen, wenn er zum Sprung ausholt. Was er dachte, war für mich durchsichtig. Er wollte Aouina des Ehebruchs mit dem ungläubigen Hund bezichtigen, und mich, Ibrahim, Salahs Sohn, zwischen dem Engländer und meiner Nichte gekuppelt zu haben. Wirklich brüllte er mit einer Stimme wie der des Löwen:

»Wer ist das? Ah, ich verstehe, du Mutter aller Laster! Das ist der Mann, den ich hier in einer Nacht vor tausend Nächten überraschte. Gestehe: er ist es, er ist zurückgekehrt!«

Aouina murmelte mit einer Stimme, schwach wie das Säuseln des Nachtwindes in den Palmen: »Nein, du Sonne der Oase – nein!«

Bachir rief:

»Höre mit deinen Lügen auf! Gestehe: er ist es!«

Aouina murmelte mit einer Stimme, leise wie das Murmeln des Bächleins im Schilf:

»Nein, du Sonne der Oase – nein!«

Bachir rief:

»Du hast damals geleugnet, du leugnest jetzt. Zum letztenmal, gestehe: er ist es!«

Aouina flüsterte mit einer Stimme, schwach wie das Gurren einer Taube, wenn sie in Schlummer sinkt:

»Nein, du Sonne der Oase – nein!«

Bachir fuhr herum, wie einer, der vom Skorpion gestochen wurde. Er wendete sich gegen mich:

»Du stinkender Oheim des Lasters, willst du gestehen, was sie sich zu gestehen weigert. Oder willst du sterben? Sage, er ist es!«

Ich murmelte mit erstickter Stimme (denn der Anblick eines bewaffneten Mannes ist für den Unbewaffneten peinlich):

»Herr, er ist es nicht!«

Bachir legte die Hand auf den Schwertgriff:

»Sieh ihn an und lüge nicht! Er ist es!«

Ich murmelte mit zitternden Knien (denn der Anblick eines Säbels ist für den, der nicht fliehen kann, widerwärtig):

»Herr, er ist es nicht!«

Bachir zog den Säbel:

»So wahr du der König der Dichter und Kuppler bist, sage die Wahrheit: er ist es!«

Ich flüsterte, von Entsetzen vernichtet (denn trotz allem, was der Koran sagt, ist es peinvoll, über die Schwertschneide zu wandern):

»Herr, er ist es nicht!«

Bachir fuhr herum, wie einer, der von der Viper gestochen ist, und wendete sich dem ungläubigen Hund zu. Ich atmete erleichtert auf, denn ob dieser lebte oder starb, war mir vollkommen gleichgültig. Was wollte er hier? Wer war er?

»Du gemästetes Schwein! Gestehe: du warst eines Nachts, vor mehr als tausend Nächten, hier!«

Der dicke Engländer antwortete überhaupt nichts. Er stand da und starrte Bachir mit vorgestrecktem Kopf an. Sein Bauch glich einer von Wasser ausgespannten Bockhaut. Ob seine Augen etwas sahen, hätte ich nicht sagen können. Ihr Blick war starr wie der Blick eines schwer Berauschten. Wie hatte er den Weg gefunden, vorbei an der Wache und den Hunden?

Bachir wiederholte:

»Du schweigst, unreines Schwein! Ich kann dich auf der Stelle niederstechen, aber bevor ich es tue, will ich dich gestehen hören, was diese zwei sich weigern zu gestehen. Du warst es, den ich hier sah, eines Nachts vor mehr als tausend Nächten!«

Noch immer kam kein Laut von dem Engländer. War er taub? War er verrückt? Bachir hob das Schwert.

»Erbe der Hölle, ich gebe dir noch einen Augenblick, um Ja zu antworten!«

Die Augen des Engländers waren wie die Augen eines gekochten Fisches. Er schwieg. Ich sah Bachir das Schwert noch höher heben und schloß die Augen, in der Erwartung, das Blut des Fremdlings über mein Gesicht spritzen zu fühlen. Ich hörte das Schwert herabsausen, aber nicht den Laut eines Halses, der gespalten wurde, oder eines Körpers, der fiel.

Die Wißbegierde besiegte meine Furcht. Ich öffnete die Augen.

Der dicke Engländer stand da, wie er gestanden hatte, Bachir unerschütterlich anstarrend. Vor ihm stand Bachir mit verblüfftem Gesicht und herabhängendem Arm.

»Was ist das?« rief er. »Ist mein Säbel verhext? Er ging an seinem dicken Hals vorbei, den man auf dreißig Schritte Entfernung unmöglich mit der Lanze verfehlen könnte!«

Ich nahm meinen Mut zusammen.

»Weh dir!« rief ich. »Er ist unschuldig. Und du willst ihn töten. Allahs Hand war über ihm, und dein Vorhaben mißlang! Er ist unschuldig! Wir sind unschuldig, und du willst uns töten! Ich Ibrahim, Salahs Sohn, bin unschuldig, und du willst mich töten! Ja, ich bin unschuldig, unschuldig!«

Bachir klatschte in die Hände. Das Zimmer füllte sich mit Dienern, die bei dem Anblick des Engländers stutzten.

»Der Tod ist der einzige, der stets Zeit hat zu warten,« sagte Bachir. »Führt diese drei ab! Wenn die Nacht wieder anbricht, will ich sie abermals sehen.«

Draußen färbte sich der Himmel grau, wie die Asche eines Lagerfeuers. Es war Morgen. Die Diener packten Aouina und mich und führten uns in unsere gewohnten Räume. In einen dritten Raum führten sie den dicken Engländer, dessen Seele sichtbarlich bei Gott war, und der – Gott allein mochte wissen warum – gekommen war, um die Gefahren der tausendsten Nacht mit mir und Aouina zu teilen.

2.

Ja h'asra! Viele Nächte hatte ich wachend in Aouinas Gemach und viele Tage schlummernd in meiner Kerkerzelle verbracht, aber an dem Tage nach der neunhundertneunundneunzigsten Nacht war es mir unmöglich, ein Auge zu schließen. Noch unmöglicher war es mir, die Erinnerungen an Tunis, das große, das weiße, das gebildete heraufzubeschwören, mit denen ich mir sonst die Zeit in meinem Gefängnis vertrieb. Vergebens suchte ich mich in Gedanken in die Cafés zu versetzen, wo ich den jungen Journalisten beim Absinth Gedichte rezitierte, vergebens suchte ich in meinen Träumen die kleinen gepolsterten Zimmer zu besuchen, wo ich mit den schönen Frauen aus dem Casino Municipal andere Gerichte als Kußkuß verspeist hatte. Ja h'asra! Es war, als wären sie nie mein gewesen! Die Nacht, die nun bald anbrach, sollte mich von den knochigen Armen des Todes umschlungen sehen, anstatt von den ihren. Aouinas Erzählergabe hatte versagt, – ein Wunder, daß sie nicht schon früher versagt hatte – und der Tod erwartete sie und mich. Bachir hatte es uns zugeschworen. Der Tag starb, die tausendste Nacht breitete ihre Fittiche über die Oase aus, und in Gesellschaft Aouinas und des Engländers wurde ich vor ihn geführt, der sich zum Herrn über unser Leben und unseren Tod aufgeworfen hatte. Bachir saß auf seinem Diwan, den Chichaschlauch zwischen den Lippen. Er sah Aouina und mich nicht an, als wir hereingeführt wurden. Er hatte nur Augen für den Engländer, der mit rollenden Augen um sich sah. Einer der Bewaffneten stieß ihn unsanft auf einen Diwan. Im Zimmer herrschte eine Stille, die beängstigender war als alle Drohungen. Endlich sprach Bachir, an den Roumin gewendet. Seine Stimme war ebenso höflich wie damals, als er mich und Aouina an einem Tage vor tausend Tagen zum Tode verurteilte.

»O du ungläubiges Schwein! Ich weiß nicht, wer du bist. Ich glaube zu wissen, in welcher Absicht du zum zweitenmal in mein Haus gekommen bist! Aber erzähle es! Wenn du mit dieser Erzählung fertig bist, sollst du sterben.«

Wenn er sich von dem dicken Engländer eine Antwort erwartet hatte, so täuschte er sich. Der Engländer schwieg und schien im Begriff, auf dem Diwan einzuschlafen. Bachir sah ihn lange an und änderte dann plötzlich den Ton. »Es sieht aus, als sollte ich auf die Erzählung, die ich verlangt habe, etwas warten müssen,« sagte er. »Damit die Zeit mir nicht zu lang wird, wünsche ich eine andere zu hören. Mag Aouina weitererzählen!«

Als Aouina ihren Namen aus Bachirs Mund hörte, erzitterte sie plötzlich wie eine Weinranke, die von einem Windhauch berührt wird.

»Du bist Herr über mein Leben und meinen Tod,« sagte sie. »Du weißt, daß du meine Erzählung gestern wertlos fandest.«

»Das ist wahr,« sagte Bachir mit freundlicher Stimme. »Aber das hindert mich nicht, daß ich sie weiter zu hören wünsche. Nicht immer hört man gerade eine gute Erzählung mit dem größten Interesse an. Je schlechter du deine Geschichte, die ich gestern schon im vorhinein durchschaute, erzählst, desto härter wird der Tod sein, den ich dir schon lange gelobt habe. Fahre fort, wo ich dich gestern unterbrach!«

Es kam mir plötzlich zum Bewußtsein, wie grausam Bachir war. Ich erinnerte mich, was die jungen Journalisten von der Grausamkeit der Männer erzählt hatten, deren Aufgabe es ist, Gedichtsammlungen und andere Bücher in den Zeitungen zu kritisieren. Konnte einer von ihnen grausamer sein als Bachir? Ich bezweifelte es und beglückwünschte mich trotz alledem, daß Aouina und nicht ich erzählte.

Aouina neigte den Kopf und begann. Dies ist ihre Geschichte, die sie wieder aufnahm, wo sie sie abgebrochen hatte – da, wo der Bettler Hassan dem Kalifen Harun al Raschid erzählte.

 

Fortsetzung der Geschichte des beinlosen Bettlers.

Ich riß also dem Derwisch den Teppich aus der Hand, sagte der beinlose Bettler Hassan, und indem ich damit forteilte, o du Sonne der Rechtgläubigen, erwog ich in meinem Sinn, welche Wünsche ich an seinen mächtigen Geist richten sollte. Gar bald hatte ich mir diese Wünsche ausgedacht. Der Sultan in dem Lande Kandahar hatte eine Tochter namens Zobeida, um die meine Gedanken schon lange gekreist hatten wie die Motte um das Licht. Prinzessin Zobeida war schön wie der Mond am vierzehnten Tage; ihre Wangen hatten die Farbe der Tulpe, ihre Augen hatten den Glanz des Diamanten, ihr Gesäß war schwer wie ein Sandsack und ihr Nabel konnte eine Unze Oel fassen. All dies sangen die Dichter, berauscht von ihrer Schönheit, und es fiel mir nicht schwer, ihnen zu glauben, denn ich hatte die Prinzessin einmal auf dem Wege zum Bade gesehen. Aber ich wollte nicht die Prinzessin selbst von dem Geiste verlangen. Ich wollte sie zur Gemahlin erringen, und dazu, schien es mir, gab es kein besseres Mittel, als ein berühmter Krieger zu werden.

Mein Sinn hatte immer nach kriegerischen Taten gestanden. Wenn ich mit Hilfe des Geistes der berühmteste aller Krieger wurde, konnte mir der Sultan unmöglich die Hand der Prinzessin Zobeida verweigern. Er mußte mich zu seinem Schwiegersohn und Thronfolger machen, und ich würde dann der Glücklichste aller Sterblichen sein.

Dies überdachte ich, während ich von dem Derwisch forteilte, der mir nachrief und sagte: »O du törichter Hassan, ich sage dir, daß mein Teppich nicht mit Gewalt erworben wird, sondern mit List!« Ich schenkte seinen Worten keine Aufmerksamkeit. Sie schienen mir nur ein Ausdruck seiner Erbitterung. Vor dem Stadttor begegnete ich meinen Brüdern Ali und Akbar, die auch auf dem Wege waren, den Derwisch aufzusuchen. Als sie sahen, daß ich den Teppich schon hatte, waren sie sehr aufgebracht. Zuerst verlangten sie den Teppich von mir für sich selbst; dann forderten sie, daß wir alle drei teil daran haben und uns unsere Wünsche der Reihe nach erfüllen lassen sollten. Ich hatte nur ein Hohnlachen für ihre Vorschläge. Vergeblich riefen sie mir zu, daß der Teppich ebensogut ihnen gehörte wie mir; vergeblich erinnerten sie mich daran, was unsere Mutter zu sagen pflegte: wenn ihr nicht zusammenhaltet, o Hassan, Ali und Akbar, wird euch nichts gelingen. Ich war vom Uebermut verblendet. Als sie mich packten, riß ich mich mit Gewalt von ihnen los und floh mit dem Teppich zu einer einsamen Stelle, weit vor den Stadtmauern. Da breitete ich ihn auf dem Boden aus, fiel darauf auf die Knie und beschwor den Geist in Allahs Namen, sich zu zeigen. Sogleich hörte ich ein Sausen in der Luft, und ein Djinn von furchtbarem Aussehen begann mich zu umkreisen, wie der Aasgeier den sterbenden Wüstenwanderer umkreist. Aber indem ich mich genau auf dem Teppich hielt, verbot ich dem Geist in Gottes heiligem Namen, mir etwas zuleide zu tun. In meinem Inneren zitterte ich vor Angst, denn das Antlitz des Geistes war greulicher und bösartiger, als irgend jemand sich vorstellen kann. Der Djinn schlug auf den Boden vor mir nieder und sagte mit furchtbarer Stimme:

»Du, der du diesen Teppich innehast, dessen Sklave ich bin, sage, was du wünschest!« Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Ich wünsche, der berühmteste Krieger der Welt zu werden.« Der Djinn erwiderte: »Sterblicher, dazu kann ich dich nicht machen. Aber ich kann dir all die magischen Waffen geben, die du dir wünschest.« »Gut,« sagte ich, »gib mir dann ein Schwert, das, wenn ich es hebe, sich mit Zauberkraft bewegt und kein lebendes Wesen in meiner Nähe verschont, sondern jedes niedermetzelt. Auf solche Art und Weise muß ich unvermeidlich der größte Krieger der Welt werden und die Prinzessin Zobeida gewinnen.« Der Geist verschwand und erschien wieder mit einem entsetzlicheren Antlitz denn je. In der Hand hielt er ein Schwert, das er vor mich hinlegte, indem er sagte: »Hier, o Sterblicher, hast du ein Schwert, wie du es dir wünschest. Alles, was man sich wünscht, bewillige ich nach Allahs Gebot (dessen Name gelobt sei).«

Damit verschwand der Geist. Ich hob das Schwert, und sogleich, o du Sonne der Rechtgläubigen, sagte Hassan, der beinlose Bettler, sogleich ging mein Wunsch in Erfüllung, doch nicht so, wie ich es mir gedacht. Das Schwert, das der Djinn mir gegeben, bewegte sich mit Zauberkraft, wie ich es gewünscht hatte; aber da kein anderes lebendes Wesen in der Nähe war, hackte es mir meine beiden Beine ab. Beinlos und blutend sah ich meinen Wunsch von dem heimtückischen Djinn erfüllt und fluchte meiner Torheit. Während ich noch so mit abgehauenen Gliedern auf dem Sande lag, zeigte sich der Djinn abermals mit hohnlachendem Antlitz, nahm den Teppich und sagte: »O Hassan, der du der größte Krieger der Welt werden wolltest, mit Gewalt hast du diesen Teppich erobert, aber er wird nicht mit Gewalt erobert, sondern mit List. Nun dein Wunsch dir erfüllt worden ist, trage ich den Teppich zu seinem rechten Besitzer zurück! Leb wohl, Sterblicher! Alles, was man von mir verlangt, erfülle ich!«

Damit verschwand der Djinn, und was mich betrifft, o du Sonne der Rechtgläubigen, so wäre ich verblutet, wenn nicht Wegfahrende mich in meiner Mutter Haus gebracht hätten. Weit davon entfernt, sich durch mein Schicksal warnen zu lassen oder mich zu beklagen, sagten meine Brüder Ali und Akbar, es sei mir nur recht geschehen. Als mein Bruder Ali begriff, daß der Geist den Teppich dem Derwisch zurückgebracht hatte, beschloß er, meinem Bruder Akbar zuvorzukommen und eilte fort, um den Teppich zu erwerben. Aber mag er dir, o du Sonne der Rechtgläubigen, selbst seine Abenteuer erzählen! So schloß der beinlose Bettler seine Geschichte.

Der Kalif ließ ihm eine Zechine geben und forderte den armlosen Bettler Ali auf, da fortzufahren, wo sein Bruder geendet hatte. Er tat es, indem er das Folgende erzählte.

 

Die Geschichte des armlosen Bettlers.

Was ich von meinen Schicksalen zu erzählen habe, o du Beherrscher der Rechtgläubigen, so begann der armlose Bettler Ali, ist ganz kurz. Ich wollte den wundertätigen Teppich nicht mit Gewalt erringen, wie mein Bruder Hassan, auch nicht in der Absicht, ein großer Krieger zu werden, ich wollte ihn ehrlich und redlich durch Kauf an mich bringen, und wenn ich ihn auf diese Weise erworben hätte, wollte ich mir nichts anderes wünschen, als ein erfolgreicher Kaufmann zu werden und viel Gold zu sammeln. Auch ich hatte von der Schönheit der Prinzessin Zobeida gehört, von ihrer Haut, die wie die der Tulpe war, von ihren Augen, die wie Diamanten schimmerten, von ihrem Nabel, der so tief war, daß er eine Unze Oel fassen konnte, und von ihrem Gesäß, das schwer wie ein Sandsack war. Wenn ich dies mit vielen Säcken Gold aufwiegen konnte, würde mir der Sultan von Kandahar sicherlich nicht seine Tochter verweigern. Und mit viel Gold und Prinzessin Zobeida mußte ich der Glücklichste der Sterblichen werden.

Dies sagte ich zu mir selbst. Als ich zum Stadttor hinauskam, fand ich den Derwisch auf demselben Platze sitzend, wo mein Bruder ihn gefunden hatte, und auf dem Boden vor ihm lag der wundertätige Teppich. Als ich ihn sah, packte mich der Eifer, ihn zu besitzen, und ich sagte zu dem Derwisch: »O Derwisch, in bin Ali, Hassans Bruder, der frommen Teppichweberin Sohn, und ich wünsche den Teppich zu erwerben, den unsere Mutter dir gab und von dem ich höre, daß er wundertätig ist. Aber ich will ihn nicht mit Gewalt erwerben, wie mein unglückseliger Bruder, denn es ist mein Glaube, daß man Glück und Ruhm nicht mit Gewalt erwirbt. Ich will ihn redlich und ehrlich durch Kauf erwerben. Du weißt, ich bin nicht reich, aber sieh hier, was ich zusammengespart habe: drei Zechinen. Ich biete sie dir für den Teppich, der sicherlich nicht soviel wert ist. Sage mir, o Derwisch, daß du sie annehmen willst, dann gebe ich sie dir, und der Teppich ist mein!«

Der Derwisch erhob seine Stimme und sagte: »O törichter Ali, ich will dein Ersuchen mit einer Geschichte beantworten. Horche auf und verstehe.«

 

Die zweite Geschichte des Derwischs.

In dem reichen und mächtigen Ispahan lebte ein bejahrter Kaufmann von unermeßlichem Reichtum, der Gott fürchtete und den Zehnten seiner Einkünfte den Derwischen gab (wofür der Höchste ihn am Jüngsten Tage belohnen wird). Dieser Kaufmann nun begehrte heiß, ein junges Weib in der Stadt zur Frau zu nehmen. Sie war die Tochter eines Mannes von großer Weisheit, aber kleinen Einkünften. Als nun der Kaufmann seine Absicht, sie gegen eine große Morgengabe zu ehelichen kundtat, sagte der weise Jussuf: Oh, Jahia – dies war der Name des Kaufmanns –, gehorche meinem Rat und heirate eine Frau von ebenso großem Reichtum wie deinem eigenen. Jahia erwiderte: Was soll ich mit noch mehr Reichtum? Ich erstrebe die Liebe deiner Tochter. Der weise Vater sagte: Mit Reichtum kannst du Reichtum erwerben, nicht aber Liebe. Mit Diebstahl, nicht mit Kauf, läßt sich das Herz eines Weibes erwerben. Gehorche meinem Rat, trotze dem Gesetz der Dinge nicht und lasse ab von meiner Tochter. Aber der Kaufmann wollte auf solche Worte nicht hören. Er setzte seinen Willen durch und führte das junge Weib gegen eine sehr große Morgengabe heim, die sie selbst in Verwahrung bekam, da ihr Vater sich weigerte sie anzunehmen. Zur Wohnung ließ er ihr einen von drei Marmormauern umgebenen Pavillon aufführen. An jeder Mauer war ein schweres Schloß das äußerste Schloß war aus Kupfer, das nächste aus Silber und das innerste aus Gold. Zu jedem Schloß gab es einen Schlüssel aus dem gleichen Metall. Als der Pavillon fertig war, sagte der Kaufmann Jahia zu sich selbst: Für hunderttausend Zechinen habe ich das Herz meiner Frau gekauft, und drei Mauern bürgen mir dafür, daß sie mir nicht untreu ist! Ich bin der Glücklichste der Sterblichen. Aber in derselbigen Nacht warf seine Frau die drei Schlüssel durch das Fenster einem Dieb zu, den sie liebte. Er öffnete die drei Türen und führte sie fort, mit ihrer ganzen Morgengabe. Als sie in Sicherheit waren, schrieb er an den Kaufmann: O Jahia, du größter unter den Toren, lerne Weisheit von einem Dieb und erkenne, mit Diebstahl, nicht mit Kauf wirst du das Herz eines Weibes gewinnen und verlieren!

»Nun, mein Sohn,« sagte der Derwisch, indem er seine Erzählung beendete, »habe ich dir dies erzählt, um dich wissen zu lassen, wie es mit dem Herzen der Weiber ist, so ist es auch mit diesem wundertätigen Teppich. Mit Diebstahl, nicht mit Kauf, mit List, nicht mit Gewalt, so wird er genommen und verloren werden. So ist es, so wird es bleiben. Zieh hin in Frieden, mein Sohn!«

Aber ich, o du Beherrscher der Rechtgläubigen, sagte der armlose Bettler, ich hörte nicht auf seine Reden, sondern bat und beschwor ihn, mir den Teppich zu verkaufen. Schließlich nahm der Derwisch meine drei Zechinen und ich eilte mit meinem Erwerb von dannen. Als ich zur Stadtmauer kam – – –«

3.

So erzählte Aouina Bachir. Ob Bachir zuhörte oder nicht, weiß ich nicht. Er sah unverwandt den dicken Engländer an. Während Aouina sprach, sachte wie der Wind in regenbetauten Rosenbüschen säuselt, sah ich eine Veränderung im Aussehen des Engländers vor sich gehen. Seine Augen klärten sich, wie der Himmel sich ums Morgengrauen klärt. Er begann seine Umgebung mit Interesse anzusehen. Zuerst sah er das Zimmer an, dann Bachir, dann betrachtete er lange Aouina, die mit regentropfenklingender Stimme sprach, um nicht den Zorn ihres Herrn zu erregen. Der Engländer musterte den Schleier vor ihrem Antlitz, ihre rote Gandoura, ihre Pantoffel, und die goldenen Ringe an ihren Fußgelenken. Er bemerkte, daß sie allein sprach, und das erregte sein Staunen. Plötzlich murmelte er:

»Was ist denn das eigentlich? Wo bin ich? Warum spricht das Weib? Was sagt sie denn?«

Er sprach Englisch. In den Cafés in Tunis hatte ich diese Sprache oft genug gehört, um sie zu verstehen, wenn sie langsam gesprochen wurde, und sie auch so halbwegs selbst zu sprechen. Ich verstand also, was der Engländer sagte. Bachir verstand kein Englisch. Aber er hörte den Engländer reden, und das war für ihn genug. Er machte eine Handbewegung gegen Aouina, und ihre Stimme hörte plötzlich auf, so wie wenn man den Finger auf eine klingende Silberschale legt.

Mit derselben höflichen Stimme wie zuvor sagte Bachir zu dem Engländer:

»Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nicht, wie du hergekommen bist. Ich weiß nicht, warum du gestern nacht in das Frauengemach des Hauses einbrachst. All dies will ich wissen. Erzähle es!«

Die Augen des dicken Engländers zeigten so deutlich, daß er Bachirs Arabisch nicht verstand, daß sogar Bachir selbst dies sofort sah. Er wendete sich zu mir und sagte mit derselben beunruhigenden Freundlichkeit:

»Du König der Kuppler, dein Beruf macht dich sprachenkundig. Sage dem ungläubigen Hund, was ich von ihm wünsche! Aber hüte dich, ihm Ratschläge zu erteilen! Wenn ich auch die Sprache der Ungläubigen nicht spreche, verstehe ich sie doch leidlich.«

Ich wendete mich an den Engländer und übersetzte bebend Bachirs Fragen.

»Wer ich bin? Ich bin ein ehrlicher englischer Bürger. Warum ich gestern in das Frauengemach des Hauses einbrach? Ich wußte nicht, daß ich das getan hatte, aber ich will meinen Kopf essen, wenn ich es noch einmal tue! Was ist das hier für ein Haus? Wer ist die Dame? Wer ist der Herr? Warum stehen Männer mit Gewehr – – –«

Bachir unterbrach ihn.

»Das alles kann nicht die Antwort auf meine Fragen sein! Erzähle sofort, was er darauf geantwortet hat!«

»Er sagt, er ist ein Engländer,« stammelte ich. »Das ist alles.«

»Du lügst! Er hat hundert Worte gesprochen.«

»Ja, aber die übrigen waren Fragen, wer du bist, wer Aouina ist, und wer ich bin.«

»Es kommt einem Menschen in seiner Stellung nicht zu, Fragen zu stellen! Richte meine Fragen an ihn, eine nach der anderen, aber hüte dich, ihm Ratschläge zu geben, was er antworten soll, oder seine Antworten in veränderter Form zu übersetzen. Nach unserer Uebereinkunft ist dein Leben schon zu Ende. Aber es gibt hundert Weisen, wie es unter Todesqualen verlängert werden kann. Frage also vorerst: Wer bist du und wie ist dein Name?«

Ich bebte vom Scheitel bis zur Sohle. Ich kannte Bachir. Ich wußte, welches Vergnügen es ihm bereiten würde, einen gebildeten Menschen zu foltern. Er verbot mir, den Engländer zu warnen oder ihm Ratschläge zu geben. Aber der Engländer war meine einzige Hoffnung. Zweifelsohne war er nicht allein in die Oase gekommen. Zweifelsohne hatte er Freunde, die sich sein Verschwinden nicht erklären konnten, zweifelsohne suchten sie ihn. Konnte er seine Geschichte nur genügend ausdehnen, war es immerhin möglich, daß sie seine Fährte fanden. Wenn sie ihn nur fanden, dann waren wir gerettet – nicht nur der Engländer, sondern auch ich (und sogar Aouina). Es hing also alles davon ab, ob ich dem Engländer eine Warnung zukommen lassen konnte, ohne Bachirs Verdacht zu erregen. Aber konnte ich das? Der Angstschweiß brach mir aus allen Poren, als ich meinen Mut zusammenzunehmen suchte, um dies zu vollbringen.

»Wann wirst du endlich einmal reden?« rief Bachir.

»Gleich, gleich,« murmelte ich und wendete mich an den Engländer.

»Wer bist du und wie ist dein Name?«

Im selben Atem fügte ich hinzu, hastig wie das Wasser, wenn es einen Damm durchbricht:

»Der Tod droht dir! Achte genau auf alles, was ich dir sage!«

Aus dem äußersten Augenwinkel sah ich Bachir an. Er schien nichts gemerkt zu haben. Der Engländer rollte die Augen wie ein Ochse. »Mein Name ist Henry Graham. Ich bin englischer Bürger. Wer ist er? Wer bist du? Was ist das für ein Haus?«

Bachir erhob den Fächer.

»Was war all dies, was du sagtest? Was ist all dies, was er sagt? Ich bin überzeugt, daß du mein Verbot übertreten hast!«

»Nein, nein!« sagte ich. »Sein Name ist Henry Graham. Er ist ein sehr geachteter und mächtiger englischer Bürger. Er warnt dich, ein Haar auf seinem Kopfe zu krümmen!«

Bachir fächelte sich mit dem Fächer.

»Es kommt einem Menschen in seiner Stellung nicht zu, Ratschläge zu geben. Ich bin Herr über alle, die in diesem Hause sind oder ungebeten hineinkommen. Frage ihn jetzt: was macht er in diesem Lande?«

Ich wandte mich an den Engländer. »Er fragt, was du in diesem Lande machst?«

Im selben Atem fügte ich hinzu:

»Ihm gehört dies Haus, und er trachtet uns allen nach dem Leben. Auch dir!«

Der Engländer blies die Backen auf.

»Ich bin in diesem Lande als Tourist. Gehört ihm das Haus? Es ist doch offenbar ein Tollhaus.«

Ich übersetzte die ersteren Worte Bachir, der sich mit dem Fächer fächelte.

»Mir scheint, ihr braucht viele Worte, um wenig auszudrücken. Frage ihn jetzt: Bist du derjenige, den ich eines Abends vor tausend Abenden im Frauengemach sah?«

Ich wand mich bei dieser Frage. Ich wußte ja, daß der Engländer noch nie im Hause gewesen war. Ich wußte, daß es zwecklos war, ihn darnach zu fragen. Aber was sollte ich tun? Ich wandte mich ihm zu und sagte:

»Er fragt: Bist du der, den er eines Abends vor tausend Abenden im Frauengemach sah?«

Im selben Atem fügte ich hinzu: »Er glaubt es! Er glaubt, daß ich zwischen dir und seiner Frau gekuppelt habe. Tausend Nächte hat sie unser Leben durch Geschichtenerzählen gerettet. Sei vorsichtig mit deiner Antwort.«

Das Gesicht des Engländers war ein Schauplatz der widerstreitendsten Gedanken. Er sah von mir zu Bachir, von Bachir zu Aouina und von ihr zu den bewaffneten Männern. Nur der Anblick der letzteren schien ihn abzuhalten, in ein schallendes Gelächter auszubrechen. Aber als er antwortete, war es mit einer verachtungsvollen Stimme, wie man zu Wahnsinnigen und Bettlern spricht.

»Ich bin nicht derjenige, den der Vorsteher dieser Anstalt vor tausend Abenden in seinem Frauengemach fand. Sage ihm das, und sage ihm, ich will meinen Kopf essen, wenn ich jemals irgendwo in der Welt eine ähnliche Anstalt gesehen habe. Hat sie tausend Nächte erzählt? Hat sie es zustande gebracht –«

»Was sagt er?« unterbrach Bachir brüllend.

»Er ist nicht derjenige, den du im Frauengemach gesehen hast,« sagte ich bebend, »ich habe es dir ja schon gesagt, aber mir glaubst du nie. Er ist nicht derjenige, den du gesehen hast, und er will seinen Kopf essen, wenn er je solche Anklagen gegen sich richten gehört hat.«

Bachir rief dem Engländer zu:

»Du warst der, den ich gesehen habe! Gestehe es.«

Ich übersetzte:

»Ich will, daß du gestehst, daß du es warst! Ja, sie hat tausend Nächte erzählt. Jetzt hat er ihre Geschichten satt. Du allein kannst uns retten.«

Der Engländer sagte:

»Ich gestehe nie, was ich getan habe, geschweige denn, was ich nicht getan habe. Sag' ihm das! Soll ich am Ende auch tausend Nächt erzählen! Das hier ein Tollhaus zu nennen, ist noch zu milde!«

Bachir wollte unterbrechen, doch ich beeilte mich zu übersetzen. Bachir hohnlachte.

»Er will nicht gestehen, daß er schon einmal im Frauengemach war. Dann ersuche ihn zu erklären, wie er im Dunkel der Nacht den Weg hinfand.«

Darüber hatte ich mir auch selbst den Kopf zerbrochen, und voll Spannung übersetzte ich Bachirs Frage.

»Er sagt: Wenn du nie vorher im Frauengemach warst, wie hast du dann in der nächtlichen Dunkelheit den Weg gefunden? Dies ist kein Tollhaus, dies ist für dich ein Totenhaus, wenn du nicht erzählst, und zwar deine Erzählung so ausdehnst wie Aouina.«

Der Engländer schlug mit der Hand auf die Diwanteppiche.

»Wie ich den Weg hierher fand? Das wüßte ich selber gerne! Ich will meinen Kopf essen, wenn ich das weiß! Sag' ihm das!«

»Was sagt er?« rief Bachir.

»Er sagt, er will seinen Kopf essen, wenn er dir nicht die Wahrheit erzählt,« sagte ich und fügte zu dem Engländer hinzu:

»Ob du es weißt oder nicht, erzähle! Im Namen des milden barmherzigen Gottes erzähle, sonst sind wir verloren!«

4.

Der Engländer schwieg, sah Bachir an, sah mich an, sah Aouina an, deren Kopf gesenkt war wie der der Blumen am Abend, sah die bewaffneten Männer an. Er rieb sich die Augen, und kniff sich in seinen dicken Arm, wie um sich selbst zu überzeugen, daß er wachte. Endlich begann er zu sprechen. Dies ist seine Geschichte. Ich übersetzte sie Bachir Satz für Satz, wie Bachir es verlangte, aber nicht Wort für Wort, denn die Rede des Engländers war so vollgespickt mit Unhöflichkeiten, wie das gebratene Lamm mit Gewürznelken. Seine Zunge war beredt, aber er trieb den Traber der Beredtsamkeit unaufhörlich in die Rennbahn der Frechheit.

So wisse denn, begann er, du Sohn eines blutdürstigen Schlächterhundes – ist das nicht die richtige Anredeform hierzulande? – Wisse denn, wir waren drei Freunde und hatten uns nach vielen Jahren in Rom getroffen, wo wir seltsame Abenteuer hatten (weiß er, was Rom ist? Vermutlich nicht). Auf jeden Fall waren unsere Abenteuer in Rom seltsam. Ein italienischer Marquis, ein französischer Schriftsteller, ein französischer Kritiker und ein englischer Detektiv waren hineinverwickelt (daß er nicht weiß, was Marquis, Schriftsteller, Kritiker oder Detektiv bedeutet, ist ausgemacht. Uebersetze wie du willst, du alter, bärtiger Kuppler). Alle vier Herren waren saubere Pflanzen, namentlich der Marquis und der Detektiv, und es war nur ein Akt der Gerechtigkeit, als meine Freunde und ich uns gezwungen sahen, sie alle miteinander ins Gefängnis zu stecken. Frage mich nicht, wie man es anstellt, einen Detektiv einzukasteln. Hat man italienische Karabinieri zu seiner Hilfe, dann geht es ohne weiteres. Mit denen kann man in den Vatikan hinaufgehen und den Papst arretieren. Unsere Arretierung der vier Herren war notwendig, aber sie war nicht gerade rechtsgültig. Und wir zögerten danach nicht lange, Rom den Rücken zu kehren. Man soll immer den Rücken kehren, wenn das Signalement von vorne bekannt ist. (Weißt du, was Signalement ist, Büttel?) Wenn deines in nächster Zeit angegeben werden sollte, braucht man nur das Bild des Schakals aus der Zoologie zu nehmen und es einzusetzen. Ja, unsere Signalements waren recht gut bekannt, namentlich das Signalement eines von uns, der es vor kurzer Zeit samt seiner Adresse für zweitausendfünfhundert Lire an die Polizei verkauft hatte (das kriegst du nie für deine häßliche Fratze), so daß wir dankbar waren, als weder auf dem Bahnhof in Rom Leute standen, um uns Adieu zu sagen, noch auf dem Bahnhof in Neapel, um uns zu begrüßen. Verstehst du das, Götzenanbeter?

So weit war der Engländer in seiner Geschichte gekommen, als Bachir zum erstenmal den Fächer hob. »Uebersetzest du wirklich, was er sagt, und nichts anderes?« fragte er mich.

»Ich schwöre es.«

»Aber seine Rede handelt von fremden Dingen! Ich habe ihn gefragt, wie er hergekommen ist. Er spricht von Orten, deren Namen ich nicht kenne. Frage ihn, wann er einmal zur Sache kommt!«

Das tat ich, indem ich den Engländer gleichzeitig bat, sich nicht an Bachirs Worte zu kehren. Er versprach es und fuhr folgendermaßen fort:

Aber wenn auf dem Bahnhof in Neapel keine Detektive zu unserem Empfang standen, so hatte das nicht viel zu bedeuten. Das sollten wir bald sehen. Etwas später am Tage machte ich eine Rundtour durch die Stadt, während meine Freunde in Geschäften Einkäufe besorgten. Ich blieb stehen und sah ein schönes Bild an, das man eben an eine Mauer geklebt hatte. Es war wirklich ein schönes Bild, das sah ich im nächsten Augenblick, und du kannst dir denken, daß das wahr ist, du alter Gottesleugner, wenn ich dir sage, daß es ein Porträt von mir selbst war. Daneben klebten zwei andere Porträts, die meine zwei Freunde vorstellten. Ich blieb stehen und sah mir selbst ins Gesicht. Ja, das war ich, kein Zweifel. Das waren unsere drei Signalements, die eingetroffen waren, und nun konnten wir also sicher sein, daß die Polizei auf der Suche nach uns war. Unter unseren Bildern stand, daß eine Prämie für unsere Ergreifung ausgesetzt war. Ich bog den Nacken zurück und bewunderte mein Porträt, wie man Raffaels Engel im Vatikan bewundert – Herrgott, zu dir altem Analphabeten von Raffael zu sprechen! Rings um mich tat eine Schar Neapolitaner dasselbe. Plötzlich fühlte ich, wie sich etwas in meiner Brust regte, etwas, was ich nie zuvor gespürt, aber was ich sofort nach der Beschreibung erkannte. Es war die Hand eines Neapolitaners. Meine Brieftasche war voll von Tausendlirescheinen. Während wir die Karabinieri den italienischen Marquis arretieren ließen, hatten wir gleichzeitig ziemlich viele Lire von ihm übernommen, und den größten Teil derselben hatte ich bei mir. Meine Freunde waren der Ansicht, daß ich sie verteidigen konnte, wenn es darauf ankam. Ich stand still, so, als ob ich nichts merkte, und als der Taschendieb das Portefeuille gut gefaßt hatte, packte ich sein Handgelenk mit einem soliden Griff – einem Polizistengriff. Ich wollte einen richtigen Polizisten rufen, aber ich rief ihn nicht. Ich wurde verhindert. Der Taschendieb verhinderte es. Er lächelte mir zu, milde wie einer von Raffaels Engeln, von denen ich eben sprach. Er legte einen Finger an den Mund und deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf die Wand. Ich folgte der Richtung seines Zeigefingers und sah mir selbst ins Gesicht. Zum zweiten Male bewunderte ich mich selbst und las meine Biographie und die Aufforderung an alle guten Mitbürger, bei meiner Ergreifung mitzuwirken. Ich rief nicht nach der Polizei. Ich ließ die Hand des Taschendiebs los und schwieg. Der neapolitanische Taschendieb steckte mein Portefeuille in die Tasche und lächelte mir artig zu, und alle seine Freunde, die ringsherum standen, um zu sehen, ob alles so ging, wie es gehen sollte, – alle seine Freunde lächelten ebenfalls. Es war eine Szene von geradezu auserlesener altvornehmer, italienischer Höflichkeit.

Zum zweiten Mal hob Bachir den Fächer.

»Uebersetzest du wirklich, was er sagt, und nichts anderes?«

»Ich schwöre es.«

»So frage ihn doch, was ich mit allen diesen Dingen zu tun habe, oder was sie damit zu tun haben, daß er hergekommen ist!«

Ich wechselte einige Worte mit dem Engländer.

»Er sagt, daß deine Geschichte nichts damit zu tun hat, warum du hier bist. Kannst du nicht eine Geschichte darum spinnen, so lang wie die Aouinas?«

»Ich will meinen Kopf essen, wenn ich das kann. Ich habe keine Ahnung, wie ich hergekommen bin!«

Ich erzitterte.

»Er sagt,« sagte ich zu Bachir, »daß das, was er erzählt, notwendig ist, damit du begreifst, wie und in welcher Absicht er herkam. In anderer Weise kann er es nicht klarlegen.« Bachir winkte ungeduldig mit dem Fächer.

»Gut! Mag er weitersprechen.«

Mit einem Blick auf die bewaffneten Männer fuhr der Engländer fort:

Aber das, was mir geschehen war, war nicht alles. Meinen Freunden war genau dasselbe passiert! Sie hatten Hände in ihren Taschen gespürt, und als sie Protest erhoben, waren sie von Neapolitanern umringt, die sanft, aber bestimmt ihre Aufmerksamkeit auf die drei Porträts an der Mauer lenkten. Wir waren den Detektiven in Neapel nur entgangen, um einer viel gefährlicheren Fachvereinigung in die Hände zu fallen, nämlich der der Diebe, und die umfaßt den größten Teil der Bevölkerung dieser sympathischen Stadt. Wohin wir gingen, verfolgten uns unsere langfingrigen Freunde. Sie hatten uns alles abgeknöpft, was wir unser eigen nannten, und nun verfolgten sie uns noch, um zu sehen, was wir anfangen würden. So sind die Italiener, neugierig und boshaft wie die Kinder. Was wir tun sollten, wußte keiner von uns. Vielleicht wären wir verhungert, wenn die Vorsehung nicht die Frage für uns gelöst hätte. Wir wurden arretiert. Der Chef der Detektivpolizei sah uns herumstreifen und erkannte uns nach unseren schönen Porträts. Er klopfte uns auf die Schulter, zeigte seine Karte, und sagte, daß wir arretiert seien. Wenn wir ohne Widerstand mit ihm kämen, wollte er keine Hilfskräfte herbeipfeifen. Wir kamen ohne Widerstand mit. Was hätte es uns geholfen, Widerstand zu leisten?

Wir waren also arretiert, aber wir wurden nicht schlecht behandelt, nein, das kann ich nicht behaupten. Im Gegenteil, man behandelte uns mit der allergrößten Diskretion. Der Chef der Detektivpolizei führte uns in sein Privatbureau hinauf und schickte die Wache, die dasaß, hinaus. Er las den Rapport über uns durch. In dem Rapport stand, daß wir von dem Marquis in Rom dreimalhunderttausend Lire übernommen hatten. Das war auch richtig. Siehe »Herr Collin ist ruiniert«.

Der Chef des neapolitanischen Detektivkorps sah uns an und sagte:

»Wie wäre es, wenn wir una combinazione machen wollten?« Wir antworteten nicht, denn wir begriffen nicht, was er meinte.

»Ihr habt dem Marquis di Bracciano dreimalhunderttausend Lire genommen. Wenn ich euch nach Rom schicke, bekommt er sie zurück und ihr werdet gestraft. Habe ich irgendein Interesse daran? Was bekomme ich in diesem Falle? (Er sah in den Rapport.) Ein paar schäbige tausend Lire für eure Arretierung, das ist alles! Ich habe also kein Interesse daran, denn welche Freude würde es mir bereiten, euch im Gefängnis zu sehen? Keine!«

Er breitete liebenswürdig beide Hände aus.

»Sollen wir also una combinazione machen? Ihr gebt mir – sagen wir einmal vier Fünftel eures – hm – Barbestandes. Ich lasse euch rückwärts heraus, ihr verlaßt Neapel heute abend, alles ist in Ordnung. Sind wir einig? Spreche ich gut?«

Endlich verstanden wir ihn. (Er war humaner als du, alter Gottesleugner, der friedliche Touristen ermorden will, weil sie sich in der Dunkelheit verirren, und in das Schlafzimmer der Damen geraten.) Aber ach, seine combinazione war für uns nicht erreichbar, so gerne wir auch darauf eingegangen wären.

»Signor,« sagte einer meiner Freunde, »wir hätten gerne ein Geschäft mit Ihnen gemacht, ja gerne, aber wir sind leider schon an Geschäftsleute von weniger humanen Methoden gekommen als den Ihren. Die neapolitanischen Taschendiebe haben uns auf der Straße erkannt und uns alles genommen – ja, bis auf den letzten Soldo! Unsere Porträts klebten an allen Mauern und wir konnten nicht protestieren!«

Du hättest den neapolitanischen Detektivchef hören sollen, alter Gottesleugner, das war wirklich ein Erlebnis! Die besten Tenöre der Welt kommen aus Neapel, und er übertraf sie alle miteinander, ja, mit Leichtigkeit. Eine solche Stimme, eine solche Stimme! Man hätte sie in Rom hören können. Und erst als er uns vom Kopf bis zu Fuß untersucht hatte, – was für eine Hand er hatte, zehnmal weicher und leichter als die der Taschendiebe! – erst dann glaubte er uns. Er sank auf einen Sessel und sah uns mit Augen an, dunkel wie die Nacht.

»Aha,« sagte er. »Dann muß ich euch also arretieren! Ja, das muß ich.«

»Das ist sehr bedauerlich, Signor,« sagte ich.

»Ich muß euch arretieren und euch nach Rom schicken!« sagte er.

»Das ist aber wirklich schade,« sagte ich.

»Und diese miserablen Taschendiebe, die haben das ganze Geld, die ganzen dreimalhunderttausend,« sagte er.

»Es ist traurig, aber wahr,« sagte ich. »Doch was ist da zu tun?«

In diesem Augenblick kam einem meiner Freunde eine Idee. Ihm pflegen im entscheidenden Moment Ideen zu kommen, das ist seine Spezialität.

»Signor,« sagte er zu dem neapolitanischen Detektivchef. »Sind Sie noch immer gewillt, una combinazione zu machen?«

Der Detektivchef sah ihn empört an.

»Mit einem Mann ohne Geld?« sagte er. »Nein, Signor, bei meiner Ehre, das fällt mir nicht ein!«

»Ich wollte Ihnen nicht etwas so Naturwidriges vorschlagen,« sagte mein Freund. »Wir sind ohne Geld. Die Diebe in Neapel haben unser Geld. Aber warum? Weil wir nicht zu protestieren wagten. Und warum wagten wir nicht zu protestieren? Weil wir die Polizei in Neapel fürchteten. Fangen Sie an, zu verstehen, Signor?«

Der Blick des neapolitanischen Detektivchefs war noch immer verständnislos.

»Wir fürchteten die Polizei in Neapel, darum ließen wir uns ausplündern,« sagte mein Freund. »Aber wir fürchten die Polizei nicht mehr. Wir sehen ein, daß sie unser bester, ja unser einziger Freund in dieser Stadt ist. Nun wohl, mit der Freundschaft der Polizei will ich mich verpflichten, in drei Tagen alles wiederzubekommen, was die Diebe uns genommen haben. Wenn ich das getan habe, dann können wir una combinazione machen, wenn Sie noch Lust dazu haben. Freies Quartier hier und wohlwollende Neutralität von seiten der Polizei, das ist alles, was ich verlange.«

Der neapolitanische Detektivchef erhob sich mit leuchtenden Augen von seinem Sitze und –

5.

So weit war der Engländer in seiner Erzählung gekommen, als Bachir heftig von dem Diwan aufsprang.

»Es ist genug!« rief er. »Bin ich ein Kind, daß ich mich mit solchen Geschichten hinhalten lasse? Was haben sie mit der Sache zu tun, über die ich Aufschluß verlangt habe?«

Ich wollte ihn beruhigen, aber er erhob drohend den Fächer.

»Genug!« sagte er. »Ihr seid alle zum Tode verurteilt, und jeder von euch wird einen geeigneten Tod sterben. Was ihn betrifft – er wies auf den Engländer –, so hat er mehrmals den Wunsch geäußert, seinen eigenen Kopf zu essen, wenn er die Dinge nicht erklären kann, über die ich Aufschluß wünschte. Dieser sein Wunsch wird in Erfüllung gehen, aber nicht sofort. Der Tod hat immer Zeit zu warten. Möge ihm die Wartezeit den erwünschten Appetit für die Mahlzeit bringen, die ihn erwartet!«

Er lachte. Niemand anders lachte mit. Die bewaffneten Männer ergriffen mich, Aouina und den Engländer und führten uns ab – den Engländer nach vielem Kampf.

Draußen graute der Morgen nach der tausendsten Nacht.


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