Heinrich Heine
Die parlamentarische Periode des Bürgerkönigtums
Heinrich Heine

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Über die französische Bühne

Vertraute Briefe an August Lewald

(Geschrieben im Mai 1837, auf einem Dorfe bei Paris)

Erster Brief

Endlich, endlich erlaubt es die Witterung, Paris und den warmen Kamin zu verlassen, und die ersten Stunden, die ich auf dem Lande zubringe, sollen wieder dem geliebten Freunde gewidmet sein. Wie hübsch scheint mir die Sonne aufs Papier und vergoldet die Buchstaben, die Ihnen meine heitersten Grüße überbringen! Ja, der Winter flüchtet sich über die Berge, und hinter ihm drein flattern die neckischen Frühlingslüfte, gleich einer Schar leichtfertiger Grisetten, die einen verliebten Greis mit Spottgelächter, oder wohl gar mit Birkenreisern, verfolgen. Wie er keucht und ächzt, der weißhaarige Geck! Wie ihn die jungen Mädchen unerbittlich vor sich hintreiben! Wie die bunten Busenbänder knistern und glänzen! Hie und da fällt eine Schleife ins Gras! Die Veilchen schauen neugierig hervor, und mit ängstlicher Wonne betrachten sie die heitere Hetzjagd. Der Alte ist endlich ganz in die Flucht geschlagen, und die Nachtigallen singen ein Triumphlied. Sie singen so schön und so frisch! Endlich können wir die große Oper mitsamt Meyerbeer und Duprez entbehren. Nourrit entbehren schon längst. Jeder in dieser Welt ist am Ende entbehrlich, ausgenommen etwa die Sonne und ich. Denn ohne diese beiden kann ich mir keinen Frühling denken, und auch keine Frühlingslüfte und keine Grisetten und keine deutsche Literatur! . . . Die ganze Welt wäre ein gähnendes Nichts, der Schatten einer Null, der Traum eines Flohs, ein Gedicht von Karl Streckfuß!

Ja, es ist Frühling, und ich kann endlich die Unterjacke ausziehn. Die kleinen Jungen haben sogar ihre Röckchen ausgezogen und springen in Hemdärmeln um den großen Baum, der neben der kleinen Dorfkirche steht und als Glockenturm dient. Jetzt ist der Baum ganz mit Blüten bedeckt und sieht aus wie ein alter gepuderter Großvater, der ruhig und lächelnd in der Mitte der blonden Enkel steht, die lustig um ihn herumtanzen. Manchmal überschüttet er sie neckend mit seinen weißen Flocken. Aber dann jauchzen die Knaben um so brausender. Streng ist es untersagt, bei Prügelstrafe untersagt, an dem Glockenstrang zu ziehen. Doch der große Junge, der den übrigen ein gutes Beispiel geben solle, kann dem Gelüste nicht widerstehen, er zieht heimlich an dem verbotenen Strang, und dann ertönt die Glocke wie großväterliches Mahnen.

Späterhin, im Sommer, wenn der Baum in ganzer Grüne prangt und das Laubwerk die Glocke dicht umhüllt, hat ihr Ton etwas Geheimnisvolles, es sind wunderbar gedämpfte Laute, und sobald sie erklingen, verstummen plötzlich die geschwätzigen Vögel, die sich auf den Zweigen wiegten, und fliegen erschrocken davon.

Im Herbste ist der Ton der Glocke noch viel ernster, noch viel schauerlicher, und man glaubt eine Geisterstimme zu vernehmen. Besonders wenn jemand begraben wird, hat das Glockengeläute einen unaussprechlich wehmütigen Nachhall; bei jedem Glockenschlag fallen dann einige gelbe kranke Blätter vom Baume herab, und dieser tönende Blätterfall, dieses klingende Sinnbild des Sterbens, erfüllte mich einst mit so übermächtiger Trauer, daß ich wie ein Kind weinte. Das geschah vorig Jahr, als die Margot ihren Mann begrub. Er war in der Seine verunglückt, als diese ungewöhnlich stark ausgetreten. Drei Tage und drei Nächte schwamm die arme Frau in ihrem Fischerboote an den Ufern des Flusses herum, ehe sie ihren Mann wieder auffischen und christlich begraben konnte. Sie wusch ihn und kleidete ihn und legte ihn selbst in den Sarg, und auf dem Kirchhofe öffnete sie den Deckel, um den Toten noch einmal zu betrachten. Sie sprach kein Wort und weinte keine einzige Träne; aber ihre Augen waren blutig, und nimmermehr vergesse ich dieses weiße Steingesicht mit den blutrünstigen Augen . . .

Aber jetzt ist ein schönes Frühlingswetter, die Sonne lacht, die Kinder jauchzen, sogar lauter als eben nötig wäre, und hier in dem kleinen Dorfhäuschen, wo ich schon vorig Jahr die schönsten Monate zubrachte, will ich Ihnen über das französische Theater eine Reihe Briefe schreiben, und dabei, Ihrem Wunsche gemäß, auch die Bezüge auf die heimische Bühne nicht außer Augen lassen. Letzteres hat seine Schwierigkeit, da die Erinnerungen der deutschen Bretterwelt täglich mehr und mehr in meinem Gedächtnisse erbleichen. Von Theaterstücken, die in der letzten Zeit geschrieben worden, ist mir nichts zu Gesicht gekommen als zwei Tragödien von Immermann: »Merlin« und »Peter der Große«, welche gewiß beide, der »Merlin« wegen der Poesie, der »Peter« wegen der Politik, nicht aufgeführt werden konnten . . . Und denken Sie sich meine Miene: in dem Pakete, welches diese Schöpfungen eines lieben großen Dichters enthielt, fand ich einige Bände beigepackt, welche »Dramatische Werke von Ernst Raupach« betitelt waren!

Von Angesicht kannte ich ihn zwar, aber gelesen hatte ich noch nie etwas von diesem Schoßkinde der deutschen Theaterdirektionen. Einige seiner Stücke hatte ich nur durch die Bühne kennengelernt, und da weiß man nicht genau, ob der Autor von dem Schauspieler, oder dieser von jenem hingerichtet wird. Die Gunst des Schicksals wollte es nun, daß ich in fremdem Lande einige Lustspiele des Doktors Ernst Raupach mit Muße lesen konnte. Nicht ohne Anstrengung konnte ich mich bis zu den letzten Akten durcharbeiten. Die schlechten Witze möchte ich ihm alle hingehen lassen, und am Ende will er damit nur dem Publikum schmeicheln; denn der arme Hecht im Parterre wird zu sich selber sagen: »Solche Witze kann ich auch machen!« und für dieses befriedigte Selbstgefühl wird er dem Autor Dank wissen. Unerträglich war mir aber der Stil. Ich bin so sehr verwöhnt, der gute Ton der Unterhaltung, die wahre, leichte Gesellschaftssprache ist mir durch meinen langen Aufenthalt in Frankreich so sehr zum Bedürfnis geworden, daß ich bei der Lektüre der Raupach'schen Lustspiele ein sonderbares Übelbefinden verspürte. Dieser Stil hat auch so etwas Einsames, Abgesondertes, Ungeselliges, das die Brust beklemmt. Die Konversation in diesen Lustspielen ist erlogen, sie ist immer nur bauchrednerisch vielstimmiger Monolog, ein ödes Ablagern von lauter hagestolzen Gedanken, Gedanken, die allein schlafen, sich selbst des Morgens ihren Kaffee kochen, sich selbst rasieren, allein spazieren gehen vors Brandenburger Tor, und für sich selbst Blumen pflücken. Wo er Frauenzimmer sprechen läßt, tragen die Redensarten unter der weißen Musselinrobe eine schmierige Hose von Gesundheitsflanell und riechen nach Tabak und Juchten.

Aber unter den Blinden ist der einäugige König, und unter unsern schlechten Lustspieldichtern ist Raupach der beste. Wenn ich schlechte Lustspieldichter sage, so will ich nur von jenen armen Teufeln reden, die ihre Machwerke unter dem Titel »Lustspiele« aufführen lassen, oder, da sie meistens Komödianten, selber aufführen. Aber diese sogenannten Lustspiele sind eigentlich nur prosaische Pantomimen mit traditionellen Masken: Väter, Bösewichter, Hofräte, Chevaliers, der Liebhaber, die Liebende, die Soubrette, Mütter, oder wie sie sonst bekannt werden in den Kontrakten unserer Schauspieler, die nur zu dergleichen feststehenden Rollen, nach herkömmlichen Typen, abgerichtet sind. Gleich der italienischen Maskenkomödie ist unser deutsches Lustspiel eigentlich nur ein einziges, aber unendlich variiertes Stück. Die Charaktere und Verhältnisse sind gegeben, und wer ein Talent zu Kombinationsspielen besitzt, unternimmt die Zusammensetzung dieser gegebenen Charaktere und Verhältnisse und bildet daraus ein scheinbar neues Glück, ungefähr nach demselben Verfahren, wie man im chinesischen Puzzlespiel mit einer bestimmten Anzahl verschiedenartig ausgeschnittener Holzblättchen allerlei Figuren kombiniert. Mit diesem Talente sind oft die unbedeutendsten Menschen begabt, und vergebens strebt danach der wahre Dichter, der seinen Genius nur frei zu bewegen und nur lebende Gestalten, keine konstruierten Holzfiguren, zu schaffen weiß. Einige wahre Dichter, welche sich die undankbare Mühe gaben, deutsche Lustspiele zu schreiben, schufen einige neue komische Masken; aber da gerieten sie in Kollision mit den Schauspielern, welche, nur zu den schon vorhandenen Masken dressiert, um ihre Ungelehrigkeit oder Lernfaulheit zu beschönigen, gegen die neuen Stücke so wirksam kabalierten, daß sie nicht aufgeführt werden konnten.

Vielleicht liegt dem Urteil, das mir eben über die Werke des Dr. Raupach entfallen ist, ein geheimer Unmut gegen die Person des Verfassers zum Grunde. Der Anblick dieses Mannes hat mich einst zittern gemacht, und, wie Sie wissen, das verzeiht kein Fürst. Sie sehen mich mit Befremden an, Sie finden den Dr. Raupach gar nicht so furchtbar und sind auch nicht gewohnt, mich vor einem lebenden Menschen zittern zu sehen? Aber es ist dennoch der Fall, ich habe vor dem Dr. Raupach einst eine solche Angst empfunden, daß meine Knie zu schlottern und meine Zähne zu klappern begonnen. Ich kann, neben dem Titelblatt der dramatischen Werke von Ernst Raupach, das gestochene Gesicht des Verfassers nicht betrachten, ohne daß mir noch jetzt das Herz in der Brust bebt . . . Sie sehen mich mit großem Erstaunen an, teurer Freund, und ich höre auch neben Ihnen eine weibliche Stimme, welche neugierig fleht: »Ich bitte, erzählen Sie . . .«

Doch das ist eine lange Geschichte, und dergleichen heute zu erzählen, dazu fehlt mir die Zeit. Auch werde ich an zu viele Dinge, die ich gerne vergäße, bei dieser Gelegenheit erinnert, z. B. an die trüben Tage, die ich in Potsdam zubrachte und an den großen Schmerz, der mich damals in die Einsamkeit bannte. Ich spazierte dort mutterseelenallein in dem verschollenen Sanssouci, unter den Orangenbäumen der großen Rampe . . . Mein Gott, wie unerquicklich, poesielos sind diese Orangenbäume! Sie sehen aus wie verkleidete Eichbüsche, und dabei hat jeder Baum seine Nummer, wie ein Mitarbeiter am Brockhausischen Konversationsblatte, und diese numerierte Natur hat etwas so pfiffig Langweiliges, so korporalstöckig Gezwungenes! Es wollte mich immer bedünken, als schnupften sie Tabak, diese Orangenbäume, wie ihr seliger Herr, der alte Fritz, welcher, wie Sie wissen, ein großer Heros gewesen, zur Zeit, als Ramler ein großer Dichter war. Glauben Sie beileibe nicht, daß ich den Ruhm Friedrich's des Großen zu schmälern suche! Ich erkenne sogar seine Verdienste um die deutsche Poesie. Hat er nicht dem Gellert einen Schimmel und der Madame Karschin fünf Taler geschenkt? Hat er nicht, um die deutsche Literatur zu fördern, seine eignen schlechten Gedichte in französischer Sprache geschrieben? Hätte er sie in deutscher Sprache herausgegeben, so konnte sein hohes Beispiel einen unberechenbaren Schaden stiften! Die deutsche Muse wird ihm diesen Dienst nie vergessen.

Ich befand mich, wie gesagt, in Potsdam nicht sonderlich heiter gestimmt, und dazu kam noch, daß der Leib mit der Seele eine Wette einging, wer von beiden mich am meisten quälen könne. Ach! der psychische Schmerz ist leichter zu ertragen als der physische, und gewährt man mir z. B. die Wahl zwischen einem bösen Gewissen und einem bösen Zahn, so wähle ich ersteres. Ach, es ist nichts gräßlicher als Zahnschmerz! Das fühlte ich in Potsdam, ich vergaß alle meine Seelenleiden und beschloß, nach Berlin zu reisen, um mir dort den kranken Zahn ausziehen zu lassen. Welche schauerliche, grauenhafte Operation! Sie hat so etwas vom Geköpftwerden. Man muß sich auch dabei auf einen Stuhl setzen und ganz still halten und ruhig den schrecklichen Ruck erwarten! Mein Haar sträubt sich, wenn ich nur daran denke. Aber die Vorsehung in ihrer Weisheit hat alles zu unserem Besten eingerichtet, und sogar die Schmerzen des Menschen dienen am Ende nur zu seinem Heile. Freilich, Zahnschmerzen sind fürchterlich, unerträglich; doch die wohltätig berechnende Vorsehung hat unseren Zahnschmerzen eben diesen fürchterlich unerträglichen Charakter verliehen, damit wir aus Verzweiflung endlich zum Zahnarzt laufen und uns den Zahn ausreißen lassen. Wahrlich, niemand würde sich zu dieser Operation, oder vielmehr Exekution, entschließen, wenn der Zahnschmerz nur im mindesten erträglich wäre!

Sie können sich nicht vorstellen, wie zagen und bangen Sinnes ich während der dreistündigen Fahrt im Postwagen saß. Als ich zu Berlin anlangte, war ich wie gebrochen, und da man in solchen Momenten gar keinen Sinn für Geld hat, gab ich dem Postillon zwölf gute Groschen Trinkgeld. Der Kerl sah mich mit sonderbar unschlüssigem Gesichte an; denn nach dem neuen Nagler'schen Postreglement war es den Postillonen streng untersagt, Trinkgelder anzunehmen. Er hielt lange das Zwölfgroschenstück, als wenn er es wöge, in der Hand, und ehe er es einsteckte, sprach er mit wehmütiger Stimme: »Seit zwanzig Jahren bin ich Postillon und bin ganz an Trinkgelder gewöhnt, und jetzt auf einmal wird uns von dem Herrn Oberpostdirektor bei harter Strafe verboten, etwas von den Passagieren anzunehmen; aber das ist ein unmenschliches Gesetz, kein Mensch kann ein Trinkgeld abweisen, das ist gegen die Natur!« Ich drückte dem ehrlichen Mann die Hand und seufzte. Seufzend gelangte ich endlich in den Gasthof, und als ich mich dort gleich nach einem guten Zahnarzt erkundigte, sprach der Wirt mit großer Freude: »Das ist ja ganz vortrefflich, soeben ist ein berühmter Zahnarzt von St. Petersburg bei mir eingekehrt, und wenn Sie an der Table-d'hôte speisen, werden Sie ihn sehen.« Ja, dachte ich, ich will erst meine Henkersmahlzeit halten, ehe ich mich aufs Armesünderstühlchen setze. Aber bei Tische fehlte mir doch alle Lust zum Essen. Ich hatte Hunger, aber keinen Appetit. Trotz meines Leichtsinns konnte ich mir doch die Schrecknisse, die in der nächsten Stunde meiner harrten, nicht aus dem Sinne schlagen. Sogar mein Lieblingsgericht, Hammelfleisch mit Teltower Rübchen, widerstand mir. Unwillkürlich suchten meine Augen den schrecklichen Mann, den Zahnhenker aus St. Petersburg, und mit dem Instinkte der Angst hatte ich ihn bald unter den übrigen Gästen herausgefunden. Er saß fern von mir am Ende der Tafel, hatte ein verzwicktes und verkniffenes Gesicht, ein Gesicht wie eine Zange, womit man Zähne auszieht. Es war ein fataler Kauz, in einem aschgrauen Rock mit blitzenden Stahlknöpfen. Ich wagte kaum, ihm ins Gesicht zu sehen, und als er eine Gabel in die Hand nahm, erschrak ich, als nahe er schon meinen Kinnbacken mit dem Brecheisen. Mit bebender Angst wandte ich mich weg von seinem Anblick und hätte mir auch gern die Ohren verstopft, um nur nicht den Ton seiner Stimme zu vernehmen. An diesem Tone merkte ich, daß er einer jener Leute war, die inwendig im Leibe grau angestrichen sind und hölzerne Gedärme haben. Er sprach von Rußland, wo er lange Zeit verweilt, wo aber seine Kunst keinen hinreichenden Spielraum gefunden. Er sprach mit jener stillen impertinenten Zurückhaltung, die noch unerträglicher ist als die vorlauteste Aufschneiderei. Jedesmal wenn er sprach, ward mir flau zumute und zitterte meine Seele. Aus Verzweiflung warf ich mich in ein Gespräch mit meinem Tischnachbar, und indem ich dem Schrecklichen recht ängstlich den Rücken zukehrte, sprach ich auch so selbstbetäubend laut, daß ich die Stimme desselben endlich nicht mehr hörte. Mein Nachbar war ein liebenswürdiger Mann, von dem vornehmsten Anstand, von den feinsten Manieren, und seine wohlwollende Unterhaltung linderte die peinliche Stimmung, worin ich mich befand. Es war die Bescheidenheit selbst. Die Rede floß milde von seinen sanftgewölbten Lippen, seine Augen waren klar und freundlich, und als er hörte, daß ich an einem kranken Zahne litt, errötete er und bot mir seine Dienste an. Um Gotteswillen, rief ich, wer sind Sie denn? »Ich bin der Zahnarzt Meier aus Sankt Petersburg«, antwortete er. Ich rückte fast unartig schnell mit meinem Stuhle von ihm weg, und stotterte in großer Verlegenheit: Wer ist denn dort oben an der Tafel der Mann im aschgrauen Rock mit blitzenden Spielknöpfen? »Ich weiß nicht«, erwiderte mein Nachbar, indem er mich befremdet ansah. Doch der Kellner, welcher meine Frage vernommen, flüsterte mir mit großer Wichtigkeit ins Ohr: »Es ist der Herr Theaterdichter Raupach.«


Zweiter Brief

. . . Oder ist es wahr, daß wir Deutschen wirklich kein gutes Lustspiel produzieren können und auf ewig verdammt sind, dergleichen Dichtungen von den Franzosen zu borgen?

Ich höre, daß ihr euch in Stuttgart mit dieser Frage so lange herumgequält, bis ihr aus Verzweiflung auf den Kopf des besten Lustspieldichters einen Preis gesetzt habt. Wie ich vernehme, gehörten Sie selber, lieber Lewald, zu den Männern der Jury, und die J. G. Cotta'sche Buchhandlung hat euch so lange ohne Bier und Tabak eingesperrt gehalten, bis ihr euer dramaturgisches Verdikt ausgesprochen. Wenigstens habt ihr dadurch den Stoff zu einem guten Lustspiel gewonnen.

Nichts ist haltloser als die Gründe, womit man die Bejahung der oben aufgeworfenen Fragen zu unterstützen pflegt. Man behauptet z. B., die Deutschen besäßen kein gutes Lustspiel, weil sie ein ernstes Volk seien, die Franzosen hingegen wären ein heiteres Volk und deshalb begabter für das Lustspiel. Dieser Satz ist grundfalsch. Die Franzosen sind keineswegs ein heiteres Volk. Im Gegenteil, ich fange an zu glauben, daß Lorenz Sterne recht hatte, wenn er behauptete, sie seien viel zu ernsthaft. Und damals, als Yorick seine sentimentale Reise nach Frankreich schrieb, blühte dort noch die ganze Leichtfüßigkeit und parfümierte Fadaise des alten Regimes, und die Franzosen hatten im Nachdenken noch nicht durch die Guillotine und Napoleon die gehörigen Lektionen bekommen. Und gar jetzt, seit der Juliusrevolution, wie haben sie in der Ernsthaftigkeit, oder wenigstens in der Spaßlosigkeit die langweiligsten Fortschritte gemacht! Ihre Gesichter sind länger geworden, ihre Mundwinkel sind tiefsinniger herabgezogen; sie lernten von uns Philosophie und Tabakrauchen. Eine große Umwandlung hat sich seitdem mit den Franzosen begeben, sie sehen sich selber nicht mehr ähnlich. Nichts ist kläglicher als das Geschwätze unserer Teutomanen, die, wenn sie gegen die Franzosen losziehen, doch noch immer die Franzosen des Empires, die sie in Deutschland gesehen, vor Augen haben. Sie denken nicht daran, daß dieses veränderungslustige Volk, ob dessen Unbeständigkeit sie selber immer eifern, seit zwanzig Jahren nicht in Denkungsart und Gefühlsweise stabil bleiben konnte!

Nein, sie sind nicht heiterer als wir; wir deutsche haben für das Komische vielleicht mehr Sinn und Empfänglichkeit als die Franzosen, wir, das Volk des Humors. Dabei findet man in Deutschland für die Lachlust ergiebigere Stoffe, mehr wahrhaft lächerliche Charaktere, als in Frankreich, wo die Persiflage der Gesellschaft jede außerordentliche Lächerlichkeit im Keime erstickt, wo kein Originalnarr sich ungehindert entwickeln und ausbilden kann. Mit Stolz darf ein Deutscher behaupten, daß nur auf deutschem Boden die Narren zu jener titanenhaften Höhe emporblühen können, wovon ein verflachter, früh unterdrückter französischer Narr keine Ahnung hat. Nur Deutschland erzeugt jene kolossalen Toren, deren Schellenkappe bis in den Himmel reicht und mit ihrem Geklingel die Sterne ergötzt! Laßt uns nicht die Verdienste der Landsleute verkennen und ausländischer Narrheit huldigen; laßt uns nicht ungerecht sein gegen das eigne Vaterland!

Es ist ebenfalls ein Irrtum, wenn man die Unfruchtbarkeit der deutschen Thalia dem Mangel an freier Luft oder, erlauben Sie mir das leichtsinnige Wort, dem Mangel an politischer Freiheit zuschreibt. Das, was man politische Freiheit zu nennen pflegt, ist für das Gedeihen des Lustspiels durchaus nicht nötig. Man denke nur an Venedig, wo, trotz der Bleikammern und geheimen Ersäufungsanstalten, dennoch Goldoni und Gozzi ihre Meisterwerke schufen, an Spanien, wo, trotz dem absoluten Beil und dem orthodoxen Feuer, die köstlichen Mantel- und Degenstücke gedichtet wurden, man denke an Molière, welcher unter Ludwig XIV. schrieb, sogar China besitzt vortreffliche Lustspiele . . . Nein, nicht der politische Zustand bedingt die Entwicklung des Lustspiels bei einem Volke, und ich würde dieses ausführlich beweisen, geriete ich nicht dadurch in ein Gebiet, von welchem ich mich gern entfernt halte. Ja, liebster Freund, ich hege eine wahre Scheu vor der Politik, und jedem politischen Gedanken gehe ich auf zehn Schritte aus dem Wege, wie einem tollen Hunde. Wenn mir in meinem Ideengange unversehens ein politischer Gedanke begegnet, bete ich schnell den Spruch . . .

Kennen Sie, liebster Freund, den Spruch, den man schnell vor sich hinspricht, wenn man einem tollen Hunde begegnet? Ich erinnere mich desselben noch aus meinen Knabenjahren, und ich lernte ihn damals von dem alten Kaplan Asthöver. Wenn wir spazieren gingen und eines Hundes ansichtig wurden, der den Schwanz ein bißchen zweideutig eingekniffen trug, beteten wir geschwind: »O Hund, du Hund – Du bist nicht gesund – Du bist vermaledeit – In Ewigkeit – Vor deinem Biß – Behüte mich mein Herr und Heiland Jesu Christ, Amen!«

Wie vor der Politik, hege ich jetzt auch eine grenzenlose Furcht vor der Theologie, die mir ebenfalls nichts als Verdruß eingetränkt hat. Ich lasse mich vom Satan nicht mehr verführen, ich enthalte mich selbst alles Nachdenkens über das Christentum und bin kein Narr mehr, daß ich Hengstenberg und Konsorten zum Lebensgenuß bekehren wollte; mögen diese Unglücklichen bis an ihr Lebensende nur Disteln statt Ananas fressen und ihr Fleisch kasteien; tant mieux, ich selber möchte ihnen die Ruten dazu liefern. Die Theologie hat mich ins Unglück gebracht; Sie wissen, durch welches Mißverständnis. Sie wissen, wie ich vom Bundestag, ohne daß ich drum nachgesucht hätte, beim jungen Deutschland angestellt wurde, und wie ich bis auf heutigen Tag vergebens um meine Entlassung gebeten habe. Vergebens schreibe ich die demütigsten Bittschriften, vergebens behaupte ich, daß ich an alle meine religiösen Irrtümer gar nicht mehr glaube . . . Nichts will fruchten! Ich verlange wahrhaftig keinen Groschen Pension, aber ich möchte gern in Ruhestand gesetzt werden. Liebster Freund, Sie tun mir wirklich einen Gefallen, wenn Sie mich in Ihrem Journale gelegentlich des Obskurantismus und Servilismus beschuldigen wollten; das kann mir nützen. Von meinen Feinden brauche ich einen solchen Liebesdienst nicht besonders zu erbitten, sie verleumden mich mit der größten Zurvorkommenheit.

. . . Ich bemerkte zuletzt, daß die Franzosen, bei denen das Lustspiel mehr als bei uns gedeiht, nicht eben ihrer politischen Freiheit diesen Vorteil beizumessen haben; es ist mir vielleicht erlaubt, etwas ausführlicher zu zeigen, wie es vielmehr der soziale Zustand ist, dem die Lustspieldichter in Frankreich ihre Suprematie verdanken.

Sie wissen, was ich unter »sozialem Zustand« verstehe. Es sind die Sitten und Gebräuche, das Tun und Lassen, das ganze öffentliche wie häusliche Treiben des Volks, insofern sich die herrschende Lebensansicht darin ausspricht. Selten behandelt der französische Lustspieldichter das öffentliche Treiben des Volkes als Hauptstoff, er pflegt nur einzelne Momente desselben zu benutzen; auf diesem Boden pflückt er nur hie und da einige närrische Blumen, womit er den Spiegel umkränzt, aus dessen ironisch geschliffenen Facetten uns das häusliche Treiben der Franzosen entgegenlacht. Zwar sind es Zerrbilder, die uns dieser Spiegel zeigt; aber wie alles bei den Franzosen aufs heftigste übertrieben und Karikatur wird, so geben uns diese Zerrbilder dennoch die unbarmherzige Wahrheit, wenn auch nicht die Wahrheit von heute, doch gewiß die Wahrheit von morgen. Eine größere Ausbeute findet der Lustspieldichter in den Kontrasten, die manche alte Institution mit den heutigen Sitten, und manche heutigen Sitten mit der geheimen Denkweise des Volkes bildet, und endlich gar besonders ergiebig sind für ihn die Gegensätze, die so ergötzlich zum Vorschein kommen, wenn der edle Enthusiasmus, der bei den Franzosen so leicht auflodert und ebenfalls leicht erlischt, mit den positiven, industriellen Tendenzen des Tages in Kollision gerät. Wir stehen hier auf einem Boden, wo die große Despotin, die Revolution, seit fünfzig Jahren ihre Willkürherrschaft ausgeübt, hier niederreißend, dort schonend, aber überall rüttelnd an den Fundamenten des gesellschaftlichen Lebens; – und diese Gleichheitswut, die nicht das Niedrige erheben, sondern nur die Erhabenheiten abflachen konnte; dieser Zwist der Gegenwart mit der Vergangenheit, die sich wechselseitig verhöhnen, der Zank eines Wahnsinnigen mit einem Gespenste; dieser Umsturz aller Autoritäten, der geistigen sowohl als der materiellen; dieses Stolpern über die letzten Trümmer derselben; und dieser Blödsinn in ungeheuren Schicksalstunden, wo die Notwendigkeit einer Autorität fühlbar wird, und wo der Zerstörer vor seinem eignen Werke erschrickt, aus Angst zu singen beginnt und endlich laut auflacht . . . Sehen Sie, das ist schrecklich, gewissermaßen sogar entsetzlich, aber für das Lustspiel ist das ganz vortrefflich!

Nur wird doch einem Deutschen etwas unheimlich hier zumute. Bei den ewigen Göttern! wir sollten unserem Herrn und Heiland täglich dafür danken, daß wir kein Lustspiel haben wie die Franzosen, daß bei uns keine Blumen wachsen, die nur einem Scherbenberg, einem Trümmerhaufen, wie es die französische Gesellschaft ist, entblühen können! Der französische Lustspieldichter kommt mir zuweilen vor wie ein Affe, der auf den Ruinen einer zerstörten Stadt sitzt und Grimassen schneidet und sein grinsendes Gelache erhebt, wenn aus den gebrochenen Ogiven der Kathedrale der Kopf eines wirklichen Fuchses herausschaut, wenn im ehemaligen Boudoir der königlichen Maitresse eine wirkliche Sau ihr Wochenbett hält, oder wenn die Raben auf den Zinnen des Gildehauses gravitätisch Rat halten, oder gar die Hyäne in der Fürstengruft die alten Knochen aufwühlt . . .

Ich habe schon erwähnt, daß die Hauptmotive des französischen Lustspiels nicht dem öffentlichen, sondern dem häuslichen Zustande des Volkes entlehnt sind; und hier ist das Verhältnis zwischen Mann und Frau das ergiebigste Thema. Wie in allen Lebensbezügen, so sind auch in der Familie der Franzosen alle Bande gelockert und alle Autoritäten niedergebrochen. Daß das väterliche Ansehen bei Sohn und Tochter vernichtet ist, ist leicht begreiflich, bedenkt man die korrosive Macht jenes Kritizismus, der aus der materialistischen Philosophie hervorging. Dieser Mangel an Pietät gebärdet sich noch weit greller in dem Verhältnis zwischen Mann und Weib, sowohl in den ehelichen als außerehelichen Bündnissen, die hier einen Charakter gewinnen, der sie ganz besonders zum Lustspiele eignet. Hier ist der Originalschauplatz aller jener Geschlechtskriege, die uns in Deutschland nur aus schlechten Übersetzungen oder Bearbeitungen bekannt sind, und die ein Deutscher kaum als ein Polybius, aber nimmermehr als ein Cäsar beschreiben kann. Krieg freilich führen die beiden Gatten, wie überhaupt Mann und Weib in allen Landen, aber dem schönen Geschlecht fehlt anderswo als in Frankreich die Freiheit der Bewegung, der Krieg muß versteckter geführt werden; er kann nicht äußerlich dramatisch zur Erscheinung kommen. Anderswo bringt es die Frau kaum zu einer kleinen Emeute, höchstens zu einer Insurrektion. Hier aber stehen sich beide Ehemächte mit gleichen Streitkräften gegenüber, und liefern ihre entsetzlichsten Hausschlachten. Bei der Einförmigkeit des deutschen Lebens amüsiert ihr euch sehr im deutschen Schauspielhaus beim Anblick jener Feldzüge der beiden Geschlechter, wo eins das andere durch strategische Künste, geheimen Hinterhalt, nächtlichen Überfall, zweideutigen Waffenstillstand, oder gar durch ewige Friedensschlüsse zu überlisten sucht. Ist man aber hier in Frankreich auf den Wahlplätzen selbst, wo dergleichen nicht bloß zum Scheine, sondern auch in der Wirklichkeit aufgeführt wird, und trägt man ein deutsches Gemüt in der Brust, so schmilzt einem das Vergnügen bei dem besten französischen Lustspiel. Und ach! seit langer Zeit lache ich nicht mehr über Arnal, wenn er mit seiner köstlichsten Niäserie den Hahnrei spielt. Und ich lache auch nicht mehr über Jenny Vertpré, wenn sie als große Dame, alle mögliche Grazie entfaltend, mit den Blumen des Ehebruchs tändelt. Und ich lache auch nicht mehr über Mademoiselle Dejazet, die, wie Sie wissen, die Rolle einer Grisette so vortrefflich, mit einer klassischen Frechheit, mit einer göttlichen Liederlichkeit, zu spielen weiß. Wie viel' Niederlagen in der Tugend gehörten dazu, ehe dieses Weib zu solchen Triumphen in der Kunst gelangen konnte! Sie ist vielleicht die beste Schauspielerin Frankreichs. Wie meisterhaft spielt sie Frétillon oder eine arme Modistin, die durch die Liberalität eines reichen Liebhabers sich plötzlich mit allem Luxus einer großen Dame umgeben sieht, oder eine kleine Wäscherin, die zum ersten Male die Zärtlichkeiten eines Karabins (auf Deutsch: Studiosus Medicinae) anhört und sich von ihm nach dem Bal champêtre der Grande Chaumière geleiten läßt . . . Ach! Das ist alles sehr hübsch und spaßhaft, und die Leute lachen dabei; aber ich, wenn ich heimlich bedenke, wo dergleichen Lustspiel in der Wirklichkeit endet, nämlich in den Gossen der Prostitution, in den Hospitälern von Saint Lazare, auf den Tischen der Anatomie, wo der Karabin nicht selten seine ehemalige Liebesgefährtin belehrsam zerschneiden sieht . . . dann erstickt mir das Lachen in der Kehle, und fürchtete ich nicht, vor dem gebildetsten Publikum der Welt als Narr zu erscheinen, so würde ich meine Tränen nicht zurückhalten.

Sehen Sie, teurer Freund, das ist eben der geheime Fluch des Exils, daß uns nie ganz wohnlich zumute wird in der Atmosphäre der Fremde, daß wir mit unserer mitgebrachten, heimischen Denk- und Gefühlsweise immer isoliert stehen unter einem Volke, das ganz anders fühlt und denkt als wir, daß wir beständig verletzt werden von sittlichen, oder vielmehr unsittlichen Erscheinungen, womit der Einheimische sich längst ausgesöhnt, ja wofür er durch die Gewohnheit allen Sinn verloren hat, wie für die Naturerscheinungen seines Landes . . . Ach! das geistige Klima ist uns in der Fremde eben so unwirtlich wie das physische; ja, mit diesem kann man sich leichter abfinden, und höchstens erkrankt dadurch der Leib, nicht die Seele!

Ein revolutionärer Frosch, welcher sich gern aus dem dicken Heimatgewässer erhübe und die Existenz des Vogels in der Luft für das Ideal der Freiheit ansieht, wird es dennoch im Trocknen, in der sogenannten freien Luft, nicht lange aushalten können, und sehnt sich gewiß bald zurück nach dem schweren, soliden Geburtssumpf. Anfangs bläht er sich sehr stark auf und begrüßt freudig die Sonne, die im Monat Juli so herrlich strahlt, und er spricht zu sich selber: »Ich bin mehr als meine Landsleute, die Fische, die Stockfische, die stummen Wassertiere, mir gab Jupiter die Gabe der Rede, ja ich bin sogar Sänger, schon dadurch fühl' ich mich den Vögeln verwandt, und es fehlen mir nur die Flügel . . .« Der arme Frosch! und bekäme er auch Flügel, so würde er sich doch nicht über alles erheben können, in den Lüften würde ihm der leichte Vogelsinn fehlen, er würde immer unwillkürlich zur Erde hinabschauen, von dieser Höhe würden ihm die schmerzlichen Erscheinungen des irdischen Jammertals erst recht sichtbar werden, und der gefiederte Frosch wird alsdann größere Beengnisse empfinden, als früher in dem deutschesten Sumpf!


Dritter Brief

Das Gehirn ist mir schwer und wüst. Ich habe diese Nacht fast gar nicht schlafen können. Beständig rollte ich mich im Bette umher, und beständig rollte mir selber im Kopfe der Gedanke: Wer war der verlarvte Scharfrichter, welcher zu Whitehalle Karl I. köpfte? Erst gegen Morgen schlummerte ich ein, und da träumte mir, es sei Nacht, und ich stände einsam auf dem Pont-neuf zu Paris und schaute hinab in die dunkle Seine. Unten aber zwischen den Pfeilern der Brücke kamen nackte Menschen zum Vorschein, die bis an die Hüften aus dem Wasser hervortauchten, in den Händen brennende Lampen hielten und etwas zu suchen schienen. Sie schauten mit bedeutsamen Blicken zu mir hinauf, und ich selber nickte ihnen hinab, wie im geheimnisvollen Einverständnis . . . Endlich schlug die schwere Notredame-Glocke, und ich erwachte. Und nun grüble ich schon eine Stunde darüber nach, was eigentlich die nackten Leute unter dem Pont-neuf suchten? Ich glaube, im Traume wußt' ich es und habe es seitdem vergessen.

Die glänzenden Morgennebel versprechen einen schönen Frühlingstag. Der Hahn kräht. Der alte Invalide, welcher neben uns wohnt, sitzt schon vor seiner Haustüre und singt seine napoleonischen Lieder. Sein Enkel, das blondgelockte Kind, ist ebenfalls schon auf seinen nackten Beinchen und steht jetzt vor meinem Fenster, ein Stück Zucker in den Händchen, und will damit die Rosen füttern. Ein Sperling trippelt heran mit den kleinen Füßchen und betrachtet das liebe Kind wie neugierig, wie verwundert. Mit hastigem Schritt kommt aber die Mutter, das schöne Bauerweib, nimmt das Kind auf den Arm und trägt es wieder in das Haus, damit es sich nicht in der Morgenluft erkälte.

Ich aber greife wieder zur Feder, um über das französische Theater meine verworrenen Gedanken in einem noch verworreneren Stile niederzukritzeln. Schwerlich wird in dieser geschriebenen Wildnis etwas zum Vorschein kommen, was für Sie, teurer Freund, belehrsam wäre. Ihnen, dem Dramaturgen, der das Theater in allen seinen Beziehungen kennt und den Komödianten in die Nieren sieht, wie uns Menschen der liebe Gott; Ihnen, der Sie auf den Brettern, die die Welt bedeuten, einst gelebt, geliebt und gelitten haben, wie in der Welt selbst der liebe Gott: Ihnen werde ich wohl weder über deutsches noch französisches Theater viel Neues sagen können! Nur flüchtige Bemerkungen wage ich hier hinzuwerfen, die ein geneigtes Kopfnicken von Ihnen erschmeicheln sollen.

So, hoffe ich, findet Ihre Beistimmung, was ich im vorigen Briefe über das französische Lustspiel angedeutet habe. Das sittliche Verhältnis, oder vielmehr Mißverhältnis zwischen Mann und Weib ist hier in Frankreich der Dünger, welcher den Boden des Lustspiels so kostbar befruchtet. Die Ehe, oder vielmehr der Ehebruch ist der Mittelpunkt aller jener Lustspielraketen, die so brillant in die Höhe schießen, aber eine melancholische Dunkelheit, wo nicht gar einen üblen Duft zurücklassen. Die alte Religion, das katholische Christentum, welche die Ehe sanktionierte und den ungetreuen Gatten mit der Hölle bedrohte, ist hier mitsamt dieser Hölle erloschen. Die Moral, die nichts anders ist als die in die Sitten eingewachsene Religion, hat dadurch alle ihre Lebenswurzeln verloren und rankt jetzt mißmutig welk an den dürren Stäben der Vernunft, die man an die Stelle der Religion aufgepflanzt hat. Aber nicht einmal diese armselig wurzellose, nur auf Vernunft gestützte Moral wird hier gehörig respektiert, und die Gesellschaft huldigt nur die Konvenienz, welche nichts anders ist als der Schein der Moral, die Verpflichtung einer sorgfältigen Vermeidung alles dessen, was einen öffentlichen Skandal hervorbringen kann; ich sage: einen öffentlichen, nicht einen heimlichen Skandal, denn alles Skandalöse, was nicht zur Erscheinung kommt, existiert nicht für die Gesellschaft; sie bestraft die Sünde nur in Fällen, wo die Zungen allzu laut murmeln. Und selbst dann gibt es gnädige Milderungen. Die Sünderin wird nicht früher ganz verdammt, als bis der Ehegatte selbst sein Schuldig ausspricht. Der verrufensten Messaline öffnen sich die Flügeltore des französischen Salons, solange das eheliche Hornvieh geduldig an ihrer Seite hineintrabt. Dagegen das Mädchen, das sich wahnsinnig großmütig, weiblich aufopferungsvoll in die Arme des Geliebten wirft, ist auf immer aus der Gesellschaft verbannt. Aber dieses geschieht selten, erstens weil Mädchen hierzulande nie lieben, und zweitens weil sie im Liebesfalle sich so bald als möglich zu verheiraten suchen, um jener Freiheit teilhaft zu werden, die von der Sitte nur den verheirateten Frauen bewilligt ist.

Das ist es. Bei uns in Deutschland, wie auch in England und anderen germanischen Ländern, gestattet man den Mädchen die größtmögliche Freiheit, verehelichte Frauen hingegen treten in die strengste Abhängigkeit und unter die ängstlichste Obhut ihres Gemahls. Hier in Frankreich ist, wie gesagt, das Gegenteil der Fall, junge Mädchen verharren hier so lange in klösterlicher Eingezogenheit, bis sie entweder heiraten oder unter strengster Aufsicht einer Verwandten in die Welt eingeführt werden. In der Welt, d. h. im französischen Salon, sitzen sie immer schweigend und wenig beachtet; denn es ist hier weder guter Ton, noch klug, einem unverheirateten Mädchen den Hof zu machen.

Das ist es. Wir Deutsche, wie unsere germanischen Nachbarn, wir huldigen mit unserer Liebe immer nur unverheirateten Mädchen, und nur diese besingen unsere Poeten; bei den Franzosen hingegen ist nur die verheiratete Frau der Gegenstand der Liebe, im Leben wie in der Kunst.

Ich habe soeben auf eine Tatsache hingewiesen, welche einer wesentlichen Verschiedenheit der deutschen Tragödie und der französischen zum Grunde liegt. Die Heldinnen der deutschen Tragödien sind fast immer Jungfrauen, in der französischen Tragödie sind es verheiratete Weiber, und die komplizierteren Verhältnisse, die hier eintreten, eröffnen vielleicht einen freieren Spielraum für Handlung und Passion.

Es wird mir nie in den Sinn kommen, die französische Tragödie auf Kosten der deutschen, oder umgekehrt zu preisen. Die Literatur und die Kunst jedes Landes sind bedingt von lokalen Bedürfnissen, die man bei ihrer Würdigung nicht unberücksichtigt lassen darf. Der Wert deutscher Tragödien, wie die von Goethe, Schiller, Kleist, Immermann, Grabbe, Oehlenschläger, Uhland und Grillparzer, Werner und dergleichen Großdichtern besteht mehr in der Poesie als in der Handlung und Passion. Aber wie köstlich auch die Poesie ist, so wirkt sie doch mehr auf den einsamen Leser als auf eine große Versammlung. Was im Theater auf die Masse des Publikums am hinreißendsten wirkt, ist eben Handlung und Passion, und in diesen beiden exzellieren die französischen Trauerspieldichter. Die Franzosen sind schon von Natur aktiver und passionierter als wir, und es ist schwer zu bestimmen, ob es die angeborene Aktivität ist, wodurch die Passion bei ihnen mehr als bei uns zur äußeren Erscheinung kommt, oder ob die angeborene Passion ihren Handlungen einen leidenschaftlicheren Charakter erteilt und ihr ganzes Leben dadurch dramatischer gestaltet als das unsrige, dessen stille Gewässer im Zwangsbette des Herkommens ruhig dahinfließen und mehr Tiefe als Wellenschlag verraten. Genug, das Leben ist hier in Frankreich dramatischer, und der Spiegel des Lebens, das Theater, zeigt hier im höchsten Grade Handlung und Passion.

Die Passion, wie sie sich in der französischen Tragödie gebärdet, jener unaufhörliche Sturm der Gefühle, jener beständige Donner und Blitz, jene ewige Gemütsbewegung ist den Bedürfnissen des französischen Publikums ebensosehr angemessen, wie es den Bedürfnissen eines deutschen Publikums angemessen ist, daß der Autor die tollen Ausbrüche der Leidenschaft erst langsam motiviert, daß er nachher stille Pausen eintreten läßt, damit sich das deutsche Gemüt wieder sanft erhole, daß er unserer Besinnung und der Ahnung kleine Ruhestellen gewährt, daß wir bequem und ohne Übereilung gerührt werden. Im deutschen Parterre sitzen friedliebende Staatsbürger und Regierungsbeamte, die dort ruhig ihr Sauerkraut verdauen möchten, und oben in den Logen sitzen blauäugige Töchter gebildeter Stände, schöne blonde Seelen, die ihren Strickstrumpf oder sonst eine Handarbeit ins Theater mitgebracht haben und gelinde schwärmen wollen, ohne daß ihnen eine Masche fällt. Und alle Zuschauer besitzen jene deutsche Tugend, die uns angeboren oder wenigstens anerzogen wird, Geduld. Auch geht man bei uns ins Schauspiel, um das Spiel der Komödianten, oder, wie wir uns ausdrücken, die Leistungen der Künstler zu beurteilen, und letztere liefern allen Stoff der Unterhaltung in unseren Salons und Journalen. Ein Franzose hingegen geht ins Theater, um das Stück zu sehen, um Emotionen zu empfangen; über das Dargestellte werden die Darsteller ganz vergessen, und wenig ist überhaupt von ihnen die Rede. Die Unruhe treibt den Franzosen ins Theater, und hier sucht er am allerwenigsten Ruhe. Ließe ihm der Autor nur einen Moment Ruhe, er wäre kapabel, Azor zu rufen, was auf Deutsch pfeifen heißt. Die Hauptaufgabe für den französischen Bühnendichter ist also, daß sein Publikum gar nicht zu sich selber, gar nicht zur Besinnung komme, daß Schlag auf Schlag die Emotionen herbeigeführt werden, daß Liebe, Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Stolz, Point d'honneur, kurz alle jene leidenschaftlichen Gefühle, die im wirklichen Leben der Franzosen sich schon tobsüchtig genug gebärden, auf den Brettern in noch wilderen Rasereien ausbrechen.

Aber um zu beurteilen, ob in einem französischen Stück die Übertreibung der Leidenschaft zu groß ist, ob hier nicht alle Grenzen überschritten sind, dazu gehört die innigste Bekanntschaft mit dem französischen Leben selbst, das dem Dichter als Vorbild diente. Um französische Stücke einer gerechten Kritik zu unterwerfen, muß man sie mit französischem, nicht mit deutschem Maßstabe messen. Die Leidenschaften, die uns, wenn wir in einem umfriedeten Winkel des geruhsamen Deutschlands ein französisches Stück sehen oder lesen, ganz übertrieben erscheinen, sind vielleicht dem wirklichen Leben hier treu nachgesprochen, und was uns im theatralischen Gewande so greuelhaft unnatürlich vorkommt, ereignet sich täglich und stündlich zu Paris in der bürgerlichen Wirklichkeit. Nein, in Deutschland ist es unmöglich, sich von dieser französischen Leidenschaft eine Vorstellung zu machen. Wir sehen ihre Handlungen, wir hören ihre Worte; aber diese Handlungen und Worte setzen uns zwar in Verwunderung, erregen in uns vielleicht eine ferne Ahnung, aber nimmermehr geben sie uns eine bestimmte Kenntnis der Gefühle, denen sie entsprossen. Wer wissen will, was Brennen ist, muß die Hand ins Feuer halten; der Anblick eines Gebrannten ist nicht hinreichend, und am ungenügendsten ist es, wenn wir über die Natur der Flamme nur durch Hörensagen oder Bücher unterrichtet werden. Leute, die am Nordpol der Gesellschaft leben, haben keinen Begriff davon, wie leicht in dem heißen Klima der französischen Sozietät die Herzen sich entzünden oder gar während den Juliustagen die Köpfe von den tollsten Sonnenstichen erhitzt sind. Hören wir, wie sie dort schreien, und sehen wir, wie sie Gesichter schneiden, wenn dergleichen Gluten ihnen Hirn und Herz versengen, so sind wir Deutschen schier verwundert und schütteln die Köpfe, und erklären alles für Unnatur oder gar Wahnsinn.

Wie wir Deutsche in den Werken französischer Dichter den unaufhörlichen Sturm und Drang der Passion nicht begreifen können, so unbegreiflich ist den Franzosen die stille Heimlichkeit, das ahnungs- und erinnerungssüchtige Traumleben, das selbst in den leidenschaftlich bewegtesten Dichtungen der Deutschen beständig hervortritt. Menschen, die nur an den Tag denken, nur dem Tage die höchste Geltung zuerkennen und ihn daher auch mit der erstaunlichsten Sicherheit handhaben, diese begreifen nicht die Gefühlsweise eines Volkes, das nur ein Gestern und ein Morgen, aber kein Heute hat, das sich der Vergangenheit beständig erinnert und die Zukunft beständig ahnet, aber die Gegenwart nimmermehr zu fassen weiß, in der Liebe, wie in der Politik. Mit Verwunderung betrachten sie uns Deutsche, die wir oft sieben Jahre lang die blauen Augen der Geliebten anflehen, ehe wir es wagen, mit entschlossenem Arm ihre Hüften zu umschlingen. Sie sehen uns an mit Verwunderung, wenn wir erst die ganze Geschichte der französischen Revolution samt allen Kommentarien gründlich durchstudieren und die letzten Supplementbände abwarten, ehe wir diese Arbeit ins Deutsche übertragen, ehe wir eine Prachtausgabe der Menschenrechte, mit einer Dedikation an den König von Bayern . . .

»O Hund, du Hund – Du bist nicht gesund – Du bist vermaledeit – In Ewigkeit – Vor deinem Biß – Behüte mich mein Herr und Heiland Jesu Christ, Amen!«


Vierter Brief

. . . Der Herr wird alles zum Besten lenken. Er, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt und der Regierungsrat Karl Streckfuß keinen Vers macht, Er wird das Geschick ganzer Völker nicht der Willkür der kläglichsten Kurzsichtigkeit überlassen. Ich weiß es ganz gewiß. Er, der einst die Kinder Israel mit so großer Wundermacht aus Ägypten führte, aus dem Lande der Kasten und der vergötterten Ochsen, Er wird auch den heutigen Pharaonen seine Kunststücke zeigen. Die übermütigen Philister wird Er von Zeit zu Zeit in ihr Gebiet zurückdrängen, wie einst unter den Richtern. Und gar die neue babylonische Hure, wie wird er sie mit Fußtritten regalieren! Siehst du ihn, den Willen Gottes? Er zieht durch die Luft, wie das stumme Geheimnis eines Telegraphen, der hoch über unsern Häuptern seine Verkündigungen den Wissenden mitteilt, während die Uneingeweihten unten im lauten Marktgetümmel leben und nichts davon merken, daß ihre wichtigsten Interessen, Krieg und Frieden, unsichtbar über sie hin in den Lüften verhandelt werden. Sieht einer von uns in die Höhe, und ist er ein Zeichenkundiger, der die Zeichen auf den Türmen versteht, und warnt er die Leute vor nahendem Unheil, so nennen sie ihn einen Träumer und lachen ihn aus. Manchmal widerfährt ihm noch Schlimmeres, und die Gemahnten grollen ihm ob der bösen Kunde und steinigen ihn. Manchmal auch wird der Prophet auf die Festung gesetzt, bis die Prophezeiung eintreffe, und da kann er lange sitzen. Denn der liebe Gott tut zwar immer, was er als das Beste erfunden und beschlossen, aber er übereilt sich nicht.

O, Herr! ich weiß, du bist die Weisheit und die Gerechtigkeit selbst, und was du tust, wird immer gerecht und weise sein. Aber ich bitte dich, was du tun willst, tu es ein bißchen geschwind. Du bist ewig und hast Zeit genug und kannst warten. Ich aber bin sterblich und ich sterbe.

Ich bin diesen Morgen, liebster Freund, in einer wunderlich weichen Stimmung. Der Frühling wirkt auf mich recht sonderbar. Den Tag über bin ich betäubt, und es schlummert meine Seele. Aber des Nachts bin ich so aufgeregt, daß ich erst gegen Morgen einschlafe, und dann umschlingen mich die qualvoll entzückendsten Träume. O schmerzliches Glück, wie beängstigend drücktest du mich an dein Herz vor einigen Stunden! Mir träumte von ihr, die ich nicht lieben will und nicht lieben darf, deren Leidenschaft mich aber dennoch heimlich beseligt. Es war in ihrem Landhause, in dem kleinen, dämmerigen Gemache, wo die wilden Oleanderbäume das Balkonfenster überragen. Das Fenster war offen, und der helle Mond schien zu uns ins Zimmer herein und warf seine silbernen Streiflichter über ihre weißen Arme, die mich so liebevoll umschlossen hielten. Wir schwiegen und dachten nur an unser süßes Elend. An den Wänden bewegten sich die Schatten der Bäume, deren Blüten immer stärker dufteten. Draußen im Garten, erst ferne, dann wieder nahe, ertönte eine Geige, lange, langsam gezogene Töne, jetzt traurig, dann wieder gutmütig heiter, manchmal wie wehmütiges Schluchzen, mitunter auch grollend, aber immer lieblich, schön und wahr . . . »Wer ist das?« flüsterte ich leise. Und sie antwortete: »Es ist mein Bruder, welcher die Geige spielt.« Aber bald schwieg draußen die Geige, und statt ihrer vernahmen wir einer Flöte schmelzend verhallende Töne, und die klangen so bittend, so flehend, so verblutend, und es waren so geheimnisvolle Klagelaute, daß sie einem die Seele mit wahnsinnigem Grauen erfüllten, daß man an die schauerlichsten Dinge denken mußte, an Leben ohne Liebe, an Tod ohne Auferstehung, an Tränen, die man nicht weinen kann . . . »Wer ist das?« flüsterte ich leise. Und sie antwortete: »Es ist mein Mann, welcher die Flöte bläst.«

Teurer Freund, schlimmer noch als das Träumen ist das Erwachen.

Wie glücklich sind doch die Franzosen! Sie träumen gar nicht. Ich habe mich genau darnach erkundigt, und dieser Umstand erklärt auch, warum sie mit so wacher Sicherheit ihr Tagesgeschäft verrichten und sich nicht auf unklare, dämmernde Gedanken und Gefühle einlassen, in der Kunst wie im Leben. In den Tragödien unsrer großen deutschen Dichter spielt der Traum eine große Rolle, wovon französische Trauerspieldichter nicht die geringste Ahnung haben. Ahnungen haben sie überhaupt nicht. Was der Art in neueren französischen Dichtungen zum Vorschein kommt, ist weder dem Naturell des Dichters noch des Publikums angemessen, ist nur den Deutschen nachempfunden, ja am Ende vielleicht nur armselig abgestohlen. Denn die Franzosen begehen nicht bloß Gedankenplagiate, sie entwenden uns nicht bloß poetische Figuren und Bilder, Stimmungen, Seelenzustände, sie begehen Gefühlsplagiate. Dieses gewahrt man namentlich, wenn einige von ihnen die Gemütsfaseleien der katholisch-romantischen Schule aus der Schlegelzeit jetzt nachheucheln.

Mit wenigen Ausnahmen, können alle Franzosen ihre Erziehung nicht verleugnen; sie sind mehr oder weniger Materialisten, je nachdem sie mehr oder weniger jene französische Erziehung genossen, die ein Produkt der materialistischen Philosophie ist. Daher ist ihren Dichtern die Naivität, das Gemüt, die Erkenntnis durch Anschauungen und das Aufgehen im angeschauten Gegenstande versagt. Sie haben nur Reflexion, Passion und Sentimentalität.

Ja, ich möchte hier zu gleicher Zeit eine Andeutung aussprechen, die zur Beurteilung mancher deutschen Autoren nützlich wäre: Die Sentimentalität ist ein Produkt des Materialismus. Der Materialist trägt nämlich in der Seele das dämmernde Bewußtsein, daß dennoch in der Welt nicht alles Materie ist; wenn ihm sein kurzer Verstand die Materialität aller Dinge noch so bündig demonstriert, so sträubt sich doch dagegen sein Gefühl; es beschleicht ihn zuweilen das geheime Bedürfnis, in den Dingen auch etwas Urgeistiges anzuerkennen; und dieses unklare Sehnen und Bedürfen erzeugt jene unklare Empfindsamkeit, welche wir Sentimentalität nennen. Sentimentalität ist die Verzweiflung der Materie, die sich selber nicht genügt und nach etwas Besserem ins unbestimmte Gefühl hinausschwärmt. – Und in der Tat, ich habe gefunden, daß es eben die sentimentalen Autoren waren, die zu Hause, oder wenn ihnen der Wein die Zunge gelöst hatte, in den derbsten Zoten ihren Materialismus auskramen. Der sentimentale Ton, besonders wenn er mit patriotischen, sittlich religiösen Bettelgedanken verbrämt ist, gilt aber bei dem großen Publikum als das Kennzeichen einer schönen Seele!

Frankreich ist das Land des Materialismus, er bekundet sich in allen Erscheinungen des hiesigen Lebens. Manche begabte Geister versuchen zwar seine Wurzel auszugraben, aber diese Versuche bringen noch größere Mißlichkeiten hervor. In den aufgelockerten Boden fallen die Samenkörner jener spiritualistischen Irrlehren, deren Gift den sozialen Beistand Frankreichs aufs unheilsamste verschlimmert.

Täglich steigert sich meine Angst über die Krisen, die dieser soziale Zustand Frankreichs hervorbringen kann; wenn die Franzosen nur im mindesten an die Zukunft dächten, könnten sie auch keinen Augenblick mit Ruhe ihres Daseins froh werden. Und wirklich freuen sie sich dessen nie mit Ruhe. Sie sitzen nicht gemächlich am Bankette des Lebens, sondern sie verschlucken dort eilig die holden Gerichte, stürzen den süßen Trank hastig in den Schlund, und können sich dem Genusse nie mit Wohlbehagen hingeben. Sie mahnen mich an den alten Holzschnitt in unserer Hausbibel, wo die Kinder Israel vor dem Auszug aus Ägypten das Passahfest begehen, und stehend, reisegerüstet und den Wanderstab in den Händen ihren Lämmerbraten verzehren. Werden uns in Deutschland die Lebenswonnen auch viel spärlicher zugeteilt, so ist es uns doch vergönnt, sie mit behaglichster Ruhe zu genießen. Unsere Tage gleiten sanft dahin, wie ein Haar, welches man durch die Milch zieht.

Liebster Freund, der letztere Vergleich ist nicht von mir, sondern von einem Rabbinen; ich las ihn unlängst in einer Blumenlese rabbinischer Poesie, wo der Dichter das Leben des Gerechten mit einem Haare vergleicht, welches man durch die Milch zieht. Anfangs kotzte ich ein bißchen über dieses Bild, denn nichts wirkt erbrechlicher auf meinen Magen, als wenn ich des Morgens meinen Kaffee trinke und ein Haar in der Milch finde. Nun gar ein langes Haar, welches sich sanft hindurchziehen läßt, wie das Leben des Gerechten! Aber das ist eine Idiosynkrasie von mir; ich will mich durchaus an das Bild gewöhnen, und werde es bei jeder Gelegenheit anwenden. Ein Schriftsteller darf sich nicht seiner Subjektivität ganz überlassen, er muß alles schreiben können, und sollte es ihm noch so übel dabei werden.

Das Leben eines Deutschen gleicht einem Haar, welches durch die Milch gezogen wird. Ja, man könnte der Vergleichung noch größere Vollkommenheit verleihen, wenn man sagte: Das deutsche Volk gleicht einem Zopf von dreißig Millionen zusammengeflochtenen Haaren, welcher in einem großen Milchtopfe seelenruhig herumschwimmt. Die Hälfte des Bildes könnte ich beibehalten und das französische Leben mit einem Milchtopfe vergleichen, worin tausend und abertausend Fliegen hineingestürzt sind, und die einen sich auf den Rücken der andern emporzuschwingen suchen, am Ende aber doch alle zugrund gehen, mit Ausnahme einiger wenigen, die sich durch Zufall oder Klugheit bis an den Rand des Topfes zu rudern gewußt, und dort im Trockenen, aber mit nassen Flügeln, herumkriechen.

Ich habe Ihnen über den sozialen Zustand der Franzosen, aus besondern Gründen, nur wenige Andeutungen geben wollen; wie sich aber die Verwickelung lösen wird, das vermag kein Mensch zu erraten. Vielleicht naht Frankreich einer schrecklichen Katastrophe. Diejenigen, welche eine Revolution anfangen, sind gewöhnlich ihre Opfer, und solches Schicksal trifft vielleicht Völker ebensogut, wie Individuen. Das französische Volk, welches die große Revolution Europa's begonnen, geht vielleicht zugrunde, während nachfolgende Völker die Früchte seines Beginnens ernten.

Aber hoffentlich irre ich mich. Das französische Volk ist die Katze, welche, sie falle auch von der gefährlichsten Höhe herab, dennoch nie den Hals bricht, sondern unten gleich wieder auf den Beinen steht.

Eigentlich, liebster Lewald, weiß ich nicht, ob es naturhistorisch richtig ist, daß die Katzen immer auf die vier Pfoten fallen und sich daher nie beschädigen, wie ich als kleiner Junge einst gehört hatte. Ich wollte damals gleich das Experiment anstellen, stieg mit unserer Katze aufs Dach und warf sie von dieser Höhe in die Straße hinab. Zufällig aber ritt eben ein Kosak an unserem Hause vorbei, die arme Katze fiel just auf die Spitze seiner Lanze und er ritt lustig mit dem gespießten Tiere von dannen. – Wenn es nun wirklich wahr ist, daß Katzen immer unbeschädigt auf die Beine fallen, so müssen sie sich doch in solchem Falle vor den Lanzen der Kosaken in acht nehmen . . .

Ich habe in meinen vorigen Briefen ausgesprochen, daß es nicht der politische Zustand ist, wodurch das Lustspiel in Frankreich mehr als in Deutschland gefördert wird. Dasselbe ist auch der Fall in betreff der Tragödie. Ja, ich wage zu behaupten, daß der politische Zustand Frankreichs dem Gedeihen der französischen Tragödie sogar nachteilig ist. Der Tragödiendichter bedarf eines Glaubens an Heldentum, der ganz unmöglich ist in einem Lande, wo die Preßfreiheit, repräsentative Verfassung und Bourgeosie herrschen. Denn die Preßfreiheit, indem sie täglich mit ihren frechsten Lichtern die Menschlichkeit eines Helden beleuchtet, raubt seinem Haupte jenen wohltätigen Nimbus, der ihm die blinde Verehrung des Volkes und des Poeten sichert. Ich will gar nicht einmal erwähnen, daß der Republikanismus in Frankreich die Preßfreiheit benutzt, um alle hervorragende Größe durch Spöttelei oder Verleumdung niederzudrücken und alle Begeisterung für Persönlichkeiten von Grund aus zu vernichten. Diese Verlästerungslust wird nun aber noch ganz außerordentlich unterstützt durch das sogenannte repräsentative Verfassungswesen, durch jenes System von Fiktionen, welches die Sache der Freiheit mehr vertagt als befördert, und keine große Persönlichkeiten aufkommen läßt, weder im Volke noch auf dem Throne. Denn dieses System diese Verhöhnung wahrer Vertretung der Nationalinteressen, dieses Gemische von kleinen Wahlumtrieben, Mißtrauen, Keifsucht, öffentlicher Insolenz, geheimer Feilheit und offizieller Lüge, demoralisiert die Könige ebensosehr, wie die Völker. Hier müssen die Könige Komödie spielen, ein nichtssagendes Geschwätz mit noch weniger sagenden Gemeinplätzen beantworten, ihren Feinden huldreich lächeln, ihre Freunde aufopfern, immer indirekt handeln, und durch ewige Selbstverleugnung alle freien, großmütigen und tatlustigen Regungen eines königlichen Heldensinns in ihrer Brust ertöten. Eine solche Verkleinlichung aller Größe und radikale Vernichtung des Heroismus verdankt man aber ganz besonders jener Bourgeoisie, jenem Bürgerstand, der durch den Sturz der Geburtsaristokratie hier in Frankreich zur Herrschaft gelangte und seinen engen nüchternen Krämergesinnungen in jeder Sphäre des Lebens den Sieg verschafft. Es wird nicht lange dauern, und alle heroischen Gedanken und Gefühle müssen hierzulande, wo nicht ganz erlöschen, doch wenigstens lächerlich werden. Ich will beileibe nicht das alte Regiment adliger Bevorrechtung zurückwünschen; denn es war nichts als überfirnißte Fäulnis, eine geschmückte und parfümierte Leiche, die man ruhig ins Grab senken oder gewaltsam in die Gruft hineintreten mußte, im Fall sie ihr trostloses Scheinleben fortsetzen und sich allzu sträubsam gegen die Bestattung wehren wollte. Aber das neue Regiment, das an die Stelle des alten getreten, ist noch viel fataler; und noch weit unleidlicher anwidern muß uns diese ungefirnißte Roheit, dieses Leben ohne Wohlduft, diese betriebsame Geldritterschaft, diese Nationalgarde, diese bewaffnete Furcht, die dich mit dem intelligenten Bajonette niederstößt, wenn du etwa behauptest, daß die Leitung der Welt nicht dem kleinen Zahlensinn, nicht dem hochbesteuerten Rechentalente gebührt, sondern dem Genie, der Schönheit, der Liebe und der Kraft.

Die Männer des Gedankens, die im achtzehnten Jahrhundert die Revolution so unermüdlich vorbereitet, sie würden erröten, wenn sie sähen, wie der Eigennutz seine kläglichen Hütten baut an die Stelle der niedergebrochenen Paläste, und wie aus diesen Hütten eine neue Aristokratie hervorwuchert, die, noch unerfreulicher als die ältere, nicht einmal durch eine Idee, durch den idealen Glauben an fortgezeugte Tugend sich zu rechtfertigen sucht, sondern nur in Erwerbnissen, die man gewöhnlich einer kleinlichen Beharrlichkeit, wo nicht gar den schmutzigsten Lastern verdankt, im Geldbesitz, ihre letzten Gründe findet.

Wenn man diese neue Aristokratie genau betrachtet, gewahrt man dennoch Analogien zwischen ihr und der früheren Aristokratie, wie sie nämlich kurz vor ihrem Absterben sich zeigte. Der Geburtsvorzug stützte sich damals auf Papier, womit man die Zahl der Ahnen, nicht ihre Vortrefflichkeit, bewies. Es war eine Art Geburtspapiergeld und gab den Adligen unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. ihren sanktionierten Wert, und klassifizierte sie nach verschiedenen Graden des Ansehens, in derselben Weise, wie das heutige Handelspapiergeld den Industriellen unter Ludwig Philipp ihre Geltung gibt und ihren Rang bestimmt. Die Beurteilung der Würde und die Abmessung des Grades, wozu die papiernen Urkunden berechtigen, übernimmt hier die Handelsbörse, und zeigt dabei dieselbe Gewissenhaftigkeit, womit einst der geschworene Heraldiker im vorigen Jahrhundert die Diplome untersuchte, womit der Adlige seine Vorzüglichkeit dokumentierte. Diese Geldaristokraten, obgleich sie, wie die ehemaligen Geburtsaristokraten, eine Hierarchie bilden, wo immer einer sich besser dünkt als der andere, haben dennoch schon einen gewissen Esprit-de-corps, sie halten in bedrängten Fällen solidarisch zusammen, bringen Opfer, wenn die Korporationsehre auf dem Spiele steht, und, wie ich höre, errichten sie sogar Unterstüzungsstifte für heruntergekommene Standesgenossen.

Ich bin heute bitter, teurer Freund, und verkenne selbst jenen Geist der Wohltätigkeit, den der neue Adel, mehr als der alte, an den Tag gibt. Ich sage: an den Tag gibt, denn diese Wohltätigkeit ist nicht lichtscheu und zeigt sich am liebsten im hellen Sonnenschein. Diese Wohltätigkeit ist bei dem heutigen Geldadel, was bei dem ehemaligen Geburtsadel die Herablassung war, eine löbliche Tugend, deren Ausübung dennoch unsere Gefühle verletzte und uns manchmal wie eine raffinierte Insolenz vorkam. O, ich hasse die Millionäre der Wohltätigkeit noch weit mehr als den reichen Geizhals, der seine Schätze mit ängstlicher Sorge unter Schloß und Riegel verborgen hält. Er beleidigt uns weniger als der Wohltätige, welcher seinen Reichtum, den er durch Ausbeutung unserer Bedürfnisse und Nöte uns abgewonnen hat, öffentlich zur Schau stellt und uns davon einige Heller als Almosen zuwirft.


Fünfter Brief

Mein Nachbar, der alte Grenadier, sitzt heute nachsinnend vor seiner Haustür; manchmal beginnt er eins seiner alten bonapartistischen Lieder, doch die Stimme versagt ihm vor innerer Bewegung; seine Augen sind rot, und allem Anschein nach hat der alte Kauz geweint.

Aber er war gestern abend bei Franconi und hat dort die Schlacht bei Austerlitz gesehen. Um Mitternacht verließ er Paris, und die Erinnerungen beschäftigten seine Seele so übermächtig, daß er wie somnambül die ganze Nacht durchmarschierte und zu seiner eigenen Verwunderung diesen Morgen im Dorfe anlangte. Er hat mir die Fehler des Stücks auseinandergesetzt, denn er war selber bei Austerlitz, wo das Wetter so kalt gewesen, daß ihm die Flinte an den Fingern festfror; bei Franconi hingegen konnte man es vor Hitze nicht aushalten. Mit dem Pulverdampf war er sehr zufrieden, auch mit dem Geruche der Pferde; nur behauptete er, daß die Kavallerie bei Austerlitz keine so gut dressierte Schimmel besessen. Ob das Manöver der Infanterie ganz richtig dargestellt worden, wußte er nicht genau zu beurteilen, denn bei Austerlitz, wie bei jeder Schlacht, sei der Pulverdampf so stark gewesen, daß man kaum sah, was ganz in der Nähe vorging. Der Pulverdampf bei Franconi war aber, wie der Alte sagte, ganz vortrefflich, und schlug ihm so angenehm auf die Brust, daß er dadurch von seinem Husten geheilt ward. »Und der Kaiser?«, fragte ich ihn. »Der Kaiser«, antwortete der Alte, »war ganz unverändert, wie er leibte und lebte, in seiner grauen Kapote mit dem dreieckigen Hütchen, und das Herz pochte mir in der Brust. Ach, der Kaiser«, setzte der Alte hinzu, »Gott weiß, wie ich ihn liebe, ich bin oft genug in diesem Leben für ihn ins Feuer gegangen, und sogar nach dem Tode muß ich für ihn ins Feuer gehen!«

Den letzten Zusatz sprach Ricou, so heißt der Alte, mit einem geheimnisvoll düsteren Tone, und schon mehrmals hatte ich von ihm die Äußerung vernommen, daß er einst für den Kaiser in die Hölle käme. Als ich heute ernsthaft in ihn drang, mir diese rätselhaften Worte zu erklären, erzählte er mir folgende entsetzliche Geschichte:

Als Napoleon den Papst Pius VII. von Rom wegführen und nach dem hohen Bergschlosse von Savana bringen ließ, gehörte Ricou zu einer Kompagnie Grenadiere, die ihn dort bewachten. Anfangs gewährte man dem Papste manche Freiheiten; ungehindert konnte er zu beliebigen Stunden seine Gemächer verlassen und sich nach der Schloßkapelle begeben, wo er täglich selber Messe las. Wenn er dann durch den großen Saal schritt, wo die kaiserlichen Grenadiere Wache hielten, streckte er die Hand nach ihnen aus und gab ihnen den Segen. Aber eines Morgens erhielten die Grenadiere bestimmten Befehl, den Ausgang der päpstlichen Gemächer strenger als vorher zu bewachen und dem Papst den Durchgang im großen Saale zu versagen. Unglücklicherweise traf just Ricou das Los, diesen Befehl auszuführen, ihn, welcher Bretagner von Geburt, also erzkatholisch war und in dem gefangenen Papste den Statthalter Christi verehrte. Der arme Ricou stand Schildwache vor den Gemächern des Papstes, als Diener, wie gewöhnlich, um in der Schloßkapelle Messe zu lesen, durch den großen Saal wandern wollte. Aber Ricou trat vor ihn hin und erklärte, daß er die Konsigne erhalten, den heiligen Vater nicht durchzulassen. Vergebens suchten einige Priester, die sich im Gefolge des Papstes befanden, ihm ins Gemüt zu reden und ihm zu bedeuten, welch einen Frevel, welche Sünde, welche Verdammnis er auf sich lade, wenn er Seine Heiligkeit, das Oberhaupt der Kirche, verhindere, Messe zu lesen . . . Aber Ricou blieb unerschütterlich, er berief sich immer auf die Unmöglichkeit, seine Konsigne zu brechen, und als der Papst dennoch weiter schreiten wollte, rief er entschlossen: »Au nom de l'Empereur!« und trieb ihn mit vorgehaltenem Bajonette zurück. Nach einigen Tagen wurde der strenge Befehl wieder aufgehoben, und der Papst durfte, wie früherhin, um Messe zu lesen, den großen Saal durchwandern. Allen Anwesenden gab er dann wieder den Segen, nur nicht dem armen Ricou, den er seitdem immer mit strengem Strafblicke ansah und dem er den Rücken kehrte, während er gegen die übrigen die segnende Hand ausstreckte. »Und doch konnte ich nicht anders handeln«, – setzte der alte Invalide hinzu, als er mir diese entsetzliche Geschichte erzählte, – »ich konnte nicht anders handeln, ich hatte meine Konsigne, ich mußte dem Kaiser gehorchen; und auf seinen Befehl – Gott verzeih mir's! – hätte ich dem lieben Gott selber das Bajonett durch den Leib gerannt.«

Ich habe dem armen Schelm versichert, daß der Kaiser für alle Sünden der großen Armee verantwortlich ist, was ihm aber wenig schaden könne, da kein Teufel in der Hölle sich unterstehen würde, den Napoleon anzutasten. Der Alte gab mir gern Beifall und erzählte, wie gewöhnlich, mit geschwätziger Begeisterung von der Herrlichkeit des Kaiserreichs, der imperialen Zeit, wo alles so goldströmend und blühend, statt daß heutzutage die ganze Welt welk und abgefärbt aussieht.

War wirklich die Zeit des Kaiserreichs in Frankreich so schön und beglückend, wie diese Bonapartisten, klein und groß, vom Invaliden Ricou bis zur Herzogin von Abrantes, uns vorzuprahlen pflegen? Ich glaube nicht. Die Äcker lagen brach, und die Menschen wurden zur Schulbank geführt. Überall Muttertränen und häusliche Verödung. Aber es geht diesen Bonapartisten wie dem versoffenen Bettler, der die scharfsinnige Bemerkung gemacht hatte, daß, solange er nüchtern blieb, seine Wohnung nur eine erbärmliche Hütte, sein Weib in Lumpen gehüllt und sein Kind krank und hungrig war, daß aber, sobald er einige Gläser Branntwein getrunken, dieses ganze Elend sich plötzlich änderte, seine Hütte sich in einen Palast verwandelte, sein Weib wie eine geputzte Prinzessin aussah, und sein Kind wie die wohlgenährteste Gesundheit ihn anlachte. Wenn man ihn nun ob seiner schlechten Wirtschaft manchmal ausschalt, so versicherte er immer, man möge ihm nur genug Branntwein zu trinken geben, und sein ganzer Haushalt würde bald ein glänzenderes Ansehen gewinnen. Statt Branntwein war es Ruhm, Ehrgier und Eroberungslust, was jene Bonapartisten so sehr berauschte, daß sie die wirkliche Gestalt der Dinge während der Kaiserzeit nicht sahen, und jetzt, bei jeder Gelegenheit, wo eine Klage über schlechte Zeiten laut wird, rufen sie immer: »Das würde sich gleich ändern, Frankreich würde blühen und glänzen, wenn man uns wieder wie sonst zu trinken gäbe: Ehrenkreuze, Epaulette, Contributions volontaire, spanische Gemälde, Herzogtümer in vollen Zügen.«

Wie dem aber auch sei, nicht bloß die alten Bonapartisten, sondern auch die große Masse des Volks wiegt sich gern in diesen Illusionen, und die Tage des Kaiserreichs sind die Poesie dieser Leute, eine Poesie, die noch dazu Opposition bildet gegen die Geistesnüchternheit des siegenden Bürgerstandes. Der Heroismus der imperialen Herrschaft ist der einzige, wofür die Franzosen noch empfänglich sind, und Napoleon ist der einzige Heros, an den sie noch glauben.

Wenn Sie dieses erwägen, teurer Freund, so begreifen Sie auch seine Geltung für das französische Theater und den Erfolg, womit die hiesigen Bühnendichter diese einzige, in der Sandwüste des Indifferentismus einzige Quelle der Begeisterung so oft ausbeuten. Wenn in den kleinen Vaudevillen der Boulevards-Theater eine Szene aus der Kaiserzeit dargestellt wird, oder gar der Kaiser in Person auftritt, dann mag das Stück auch noch so schlecht sein, es fehlt doch nicht an Beifallsbezeigungen; denn die Seele der Zuschauer spielt mit, und sie applaudieren ihren eigenen Gefühlen und Erinnerungen. Da gibt es Kouplets, worin Stichworte sind, die wie betäubende Kolbenschläge auf das Gehirn eines Franzosen, andere, die wie Zwiebeln auf seine Tränendrüsen wirken. Das jauchzt, das weint, das flammt bei den Worten: Aigle français, soleil d'Austerlitz, Jena, les pyramides, la grande armée, l'honneur, la vieille garde, Napoléon . . . oder wenn gar der Mann selber, l'homme zum Vorschein kommt am Ende des Stücks, als Deus ex machina! Er hat immer das Wünschelhütchen auf dem Kopfe und die Hände hinterm Rücken, und spricht so lakonisch als möglich. Er singt nie. Ich habe nie Vaudeville gesehen, worin Napoleon gesungen. Alle andere singen. Ich habe sogar den alten Fritz, Frédéric le Grand, in Vaudevillen singen hören, und zwar sang er so schlechte Verse, daß man schier glauben konnte, er habe sie selbst gedichtet.

In der Tat, die Verse dieser Vaudeville sind spottschlecht, aber nicht die Musik, namentlich in den Stücken, wo alte Stelzfüße die Feldherrngröße und das kummervolle Ende des Kaisers besingen. Die graziöse Leichtfertigkeit des Vaudeville geht dann über in einen elegisch-sentimentalen Ton, der selbst einen Deutschen rühren könnte. Den schlechten Texten solcher Complaintes sind nämlich alsdann jene bekannten Melodien untergelegt, womit das Volk seine Napoleonslieder absingt. Diese letzteren ertönen hier an allen Worten, man sollte glauben, sie schwebten in der Luft oder die Vögel sängen sie in den Baumzweigen. Mir liegen beständig diese elegisch-sentimentalen Melodien im Sinn, wie ich sie von jungen Mädchen, kleinen Kindern, verkrüppelten Soldaten, mit allerlei Begleitungen und allerlei Variationen singen hörte. Am rührendsten sang sie der blinde Invalide auf der Zitadelle von Dieppe. Meine Wohnung lag dicht am Fuße jener Zitadelle, wo sie ins Meer hinausragt, und dort auf dem dunklen Gemäuer saß er ganze Nächte, der Alte, und sang die Taten des Kaisers Napoleon. Das Meer schien seinen Gesängen zu lauschen, das Wort Gloire zog immer so feierlich über die Wellen, die manchmal wie vor Bewunderung aufrauschten und dann wieder still weiter zogen ihren nächtlichen Weg . . . Wenn sie nach Sankt Helena kamen, grüßten sie vielleicht ehrfurchtsvoll den tragischen Felsen oder brandeten dort mit schmerzlichem Unmut. Wie manche Nacht stand ich am Fenster und horchte ihm zu, dem alten Invaliden von Dieppe. Ich kann seiner nicht vergessen. Ich sehe ihn noch immer sitzen auf dem alten Gemäuer, während aus den dunklen Wolken der Mond hervortrat und ihn wehmütig beleuchtete, den Ossian des Kaiserreichs.

Von welcher Bedeutung Napoleon einst für die französische Bühne sein wird, läßt sich gar nicht ermessen. Bis jetzt sah man den Kaiser nur in Vaudevillen oder großen Spektakel- und Dekorationsstücken. Aber es ist die Göttin der Tragödie, welche diese hohe Gestalt als rechtmäßiges Eigentum in Anspruch nimmt. Ist es doch, als habe jene Fortuna, die sein Leben so sonderbar lenkte, ihn zu einem ganz besonderen Geschenk für ihre Kousine Melpomene bestimmt. Die Tragödiendichter aller Zeiten werden die Schicksale dieses Mannes in Versen und Prosa verherrlichen. Die französischen Dichter sind jedoch ganz besonders an diesen Helden gewiesen, da das französische Volk mit seiner ganzen Vergangenheit gebrochen hat, für die Helden der feudalistischen und kourtisanesken Zeit der Valois und Bourbonen keine wohlwollende Sympathie, wo nicht gar eine häßliche Antipathie empfindet, und Napoleon, der Sohn der Revolution, die einzige große Herrschergestalt, der einzige königliche Held ist, woran das neue Frankreich sein volles Herz weiden kann.

Hier habe ich beiläufig von einer anderen Seite angedeutet, daß der politische Zustand der Franzosen dem Gedeihen ihrer Tragödie nicht günstig sein kann. Wenn sie geschichtliche Stoffe aus dem Mittelalter oder aus der Zeit der letzten Bourbonen behandeln, so können sie sich des Einflusses eines gewissen Parteigeistes nimmermehr erwehren, und der Dichter bildet dann schon von vorn herein, ohne es zu wissen, eine modern-liberale Opposition gegen den alten König oder Ritter, den er feiern wollte. Dadurch entstehen Mißlaute, die einem Deutschen, der mit der Vergangenheit noch nicht tatsächlich gebrochen hat, und gar einem deutschen Dichter, der in der Unparteilichkeit Goethe'scher Künstlerweise auferzogen worden, aufs unangenehmste ins Gemüt stechen. Die letzten Töne der Marseillaise müssen verhallen, ehe Autor und Publikum in Frankreich sich an den Helden ihrer früheren Geschichte wieder gehörig erbauen können. Und wäre auch die Seele des Autors schon gereinigt von allen Schlacken des Hasses, so fände doch sein Wort kein unparteiisches Ohr im Parterre, wo die Männer sitzen, die nicht vergessen können, in welche blutigen Konflikte sie mit der Sippschaft jener Helden geraten, die auf der Bühne tragieren. Man kann den Anblick der Väter nicht sehr goutieren, wenn man den Söhnen auf der Place de grève das Haupt abgeschlagen hat. So etwas trübt den reinen Theatergenuß. Nicht selten verkennt man die Unparteilichkeit des Dichters so weit, daß man ihn antirevolutionärer Gesinnungen beschuldigt. – »Was soll dieses Rittertum, dieser phantastische Plunder?«, ruft dann der entrüstete Republikaner und er schreit Anathema über den Dichter, der die Helden alter Zeit zur Verführung des Volkes, zur Erweckung aristokratischer Sympathien mit seinen Versen verherrlicht.

Hier, wie in vielen anderen Dingen, zeigt sich eine wahlverwandtschaftliche Ähnlichkeit zwischen den französischen Republikanern und den englischen Puritanern. Es knurrt fast derselbe Ton in ihrer Theaterpolemik, nur daß diesen der religiöse, jenen der politische Fanatismus die absurdesten Argumente leiht. Unter den Aktenstücken aus der Cromwell'schen Periode gibt es eine Streitschrift des berühmten Puritaners Prynne, betitelt: »Historiomastix«, (gedruckt 1633), woraus ich Ihnen folgende Diatribe gegen das Theater zur Ergötzung mitteile:

»There is scarce one devil in hell, hardly a notorious sin or sinner upon earth, either of modern or ancient times, but hath some part or other in our stage-plays.

O, that our players, our play-hunter would now seriously consider, that the persons, whose parts, whose sins they act and see, are even then yelling in the eternal flames of hell for these particular sins of theyrs even then, whilest they are playing of these sins, these parts of theyrs on the stage! Oh, that they would ow remember the sights, the groans, the tears, the anguish, weeping and gnashing of teeth, the crys and shrieks that these wickednesses cause in hell, whilest they are acting, applauding, committing and laughing at them in the playhouse!«


Sechster Brief

Mein teurer, innig geliebter Freund! Mir ist, als trüge ich diesen Morgen einen Kranz von Mohnblumen auf dem Haupte, der all mein Sinnen und Denken einschläfert. Unwirsch rüttle ich manchmal den Kopf, und dann erwachen wohl darin hie und da einige Gedanken, aber gleich nicken sie wieder ein und schnarchen um die Wette. Die Witze, die Flöhe des Gehirns, die zwischen den schlummernden Gedanken umherspringen, zeigen sich ebenfalls nicht besonders munter und sind vielmehr sentimental und träge. Ist es die Frühlingsluft, die dergleichen Kopfbetäubungen verursacht, oder die veränderte Lebensart? Hier geh' ich abends schon um neun Uhr zu Bette, ohne müde zu sein, genieße dann keinen gesunden Schlaf, der alle Glieder bindet, sondern wälze mich die ganze Nacht in einem traumsüchtigen Halbschlummer. In Paris hingegen, wo ich mich erst einige Stunden nach Mitternacht zur Ruhe begeben konnte, war mein Schlaf wie von Eisen. Kam ich doch erst um acht Uhr von Tische, und dann rollten wir ins Theater. Der Dr. Detmold aus Hannover, der den verflossenen Winter in Paris zubrachte und uns immer ins Theater begleitete, hielt uns munter, wenn die Stücke auch noch so einschläfernd. Wir haben viel zusammen gelacht und kritisiert und medisiert. Seien Sie ruhig, Liebster, Ihrer wurde nur mit der schönsten Anerkenntnis gedacht. Wir zollten Ihnen das freundlichste Lob.

Sie wundern sich, daß ich so oft ins Theater gegangen; Sie wissen, der Besuch des Schauspielhauses gehört nicht eben zu meinen Gewohnheiten. Aus Kaprice enthielt ich mich diesen Winter des Salonlebens, und damit die Freunde, bei denen ich selten erschien, mich nicht im Theater sähen, wählte ich gewöhnlich eine Avantszene, in deren Ecke man sich am besten den Augen des Publikums verbergen kann. Diese Avantszenen sind auch außerdem meine Lieblingsplätze. Man sieht hier nicht bloß, was auf dem Theater gespielt wird, sondern auch was hinter den Kulissen vorgeht, hinter jenen Kulissen, wo die Kunst aufhört und die liebe Natur wieder anfängt. Wenn auf der Bühne irgendeine pathetische Tragödie zu schauen ist, und zu gleicher Zeit von dem liederlichen Komödiantentreiben hinter den Kulissen hie und da ein Stück zum Vorschein kömmt, so mahnt dergleichen an antike Wandbilder oder an die Fresken der Münchener Glyptothek und mancher italienischer Palazzos, wo in den Ausschnitt-Ecken der großen historischen Gemälde lauter possierliche Arabesken, lachende Götterspäße, Bacchanalien und Satyridyllen angebracht sind.

Das Théâtre Français besuchte ich sehr wenig; dieses Haus hat für mich etwas Ödes, Unerfreuliches. Hier spuken noch die Gespenster der alten Tragödie, mit Dolch und Giftbecher in den bleichen Händen, hier stäubt noch der Puder der klassischen Perücken. Daß man auf diesem klassischen Boden manchmal der modernen Romantik ihre tollen Spiele erlaubt, oder daß man den Anforderungen des älteren und des jüngeren Publikums durch eine Mischung des Klassischen und Romantischen entgegen kommt, daß man gleichsam ein tragisches Justemilieu gebildet hat, das ist am unerträglichsten. Diese französischen Tragödiendichter sind emanzipierte Sklaven, die immer noch ein Stück der alten klassischen Kette mit sich herumschleppen; ein feines Ohr hört bei jedem ihrer Tritte noch immer ein Geklirre, wie zur Zeit der Herrschaft Agamemnon's und Talma's.

Ich bin weit davon entfernt, die ältere französische Tragödie unbedingt zu verwerfen. Ich ehre Corneille und liebe Racine. Sie haben Meisterwerke geliefert, die auf ewigen Postamenten stehen bleiben im Tempel der Kunst. Aber für das Theater ist ihre Zeit vorüber, sie haben ihre Sendung erfüllt vor einem Publikum von Edelleuten, die sich gern für Erben des älteren Heroismus hielten, oder wenigstens diesen Heroismus nicht kleinbürgerlich verwarfen. Auch noch unter dem Empire konnten die Helden von Corneille und Racine auf die größte Sympathie rechnen, damals, wo sie vor der Loge des großen Kaisers und vor einem Parterre von Königen spielten. Diese Zeiten sind vorbei, die alte Aristokratie ist tot, und Napoleon ist tot, und der Thron ist nichts als ein gewöhnlicher Holzstuhl, überzogen mit rotem Sammet, und heute herrscht die Bourgeoisie, die Helden des Paul de Kock und des Eugène Scribe.

Ein Zwitterstil und eine Geschmacksanarchie, wie sie jetzt im Théâtre Français vorwalten, ist greulich. Die meisten Novatoren neigen sich gar zu einem Naturalismus, der für die höhere Tragödie ebenso verwerflich ist wie die hohle Nachahmung des klassischen Pathos. Sie kennen zur Genüge, lieber Lewald, das Natürlichkeitssystem, den Ifflandianismus, der einst in Deutschland grassierte, und von Weimar aus, besonders durch den Einfluß von Schiller und Goethe, besiegt wurde. Ein solches Natürlichkeitssystem will sich auch hier ausbreiten, und seine Anhänger eifern gegen metrische Form und gemessenen Vortrag. Wenn erstere nur in dem Alexandriner und letzterer nur in dem Zittergegröhle der älteren Periode bestehen soll, so hätten diese Leute Recht, und die schlichte Prosa und der nüchternste Gesellschaftston wären ersprießlicher für die Bühne. Aber die wahre Tragödie muß alsdann untergehen. Diese fordert Rhythmus der Sprache und eine von dem Gesellschaftston verschiedene Deklamation. Ich möchte dergleichen fast für alle dramatische Erzeugnisse in Anspruch nehmen. Wenigstens sei die Bühne niemals eine banale Wiederholung des Lebens, und sie zeige dasselbe in einer gewissen vornehmen Veredlung, die sich, wenn auch nicht in Wortmaß und Vortrag, doch in dem Grundton, in der inneren Feierlichkeit eines Stückes, ausspricht. Denn das Theater ist eine andere Welt, die von der unsrigen geschieden ist, wie die Szene vom Parterre. Zwischen dem Theater und der Wirklichkeit liegt das Orchester, die Musik, und zieht sich der Feuerstreif der Rampe. Die Wirklichkeit, nachdem sie das Tonreich durchwandert und auch die bedeutungsvollen Rampenlichter überschritten, steht auf dem Theater als Poesie verklärt uns gegenüber. Wie ein verhallendes Echo klingt noch in ihr der holde Wohllaut der Musik, und sie ist märchenhaft angestrahlt von den geheimnisvollen Lampen. Das ist ein Zauberklang und Zauberglanz, der einem prosaischen Publikum sehr leicht als unnatürlich vorkommt, und der noch weit natürlicher ist, als die gewöhnliche Natur; es ist nämlich durch die Kunst erhöhete, bis zur blühendsten Göttlichkeit gesteigerte Natur.

Die besten Tragödiendichter der Franzosen sind noch immer Alexandre Dumas und Victor Hugo. Diesen nenne ich zuletzt, weil seine Wirksamkeit für das Theater nicht so groß und erfolgreich ist, obgleich er alle seine Zeitgenossen diesseits des Rheins an poetischer Bedeutung überragt. Ich will ihm keineswegs das Talent für das Dramatische absprechen, wie von vielen geschieht, die aus perfider Absicht beständig seine lyrische Größe preisen. Er ist ein Dichter und kommandiert die Poesie in jeder Form. Seine Dramen sind ebenso lobenswert wie seine Oden. Aber auf dem Theater wirkt mehr das Rhetorische als das Poetische, und die Vorwürfe, die bei dem Fiasko eines Stückes dem Dichter gemacht werden, träfen mit größerem Rechte die Masse des Publikums, welches für naive Naturlaute, tiefsinnige Gestaltungen und psychologische Feinheiten minder empfänglich ist, als für pompöse Phrase, plumpes Gewieher der Leidenschaft und Kulissenreißerei. Letzteres heißt im französischen Schauspielerargot: brûler les planches.

Victor Hugo ist überhaupt hier in Frankreich noch nicht nach seinem vollen Werte gefeiert. Deutsche Kritik und deutsche Unparteilichkeit weiß seine Verdienste mit besserem Maße zu messen und mit freierem Lobe zu würdigen. Hier steht seiner Anerkenntnis nicht bloß eine klägliche Kritikasterei, sondern auch die politische Parteisucht im Wege. Die Karlisten betrachten ihn als einen Abtrünnigen, der seine Leier, als sie noch von den letzten Akkorden des Salbungslieds Karl's X. vibrierte, zu einem Hymnus auf die Juliusrevolution umzustimmen gewußt. Die Republikaner mißtrauen seinem Eifer für die Volkssache, und wittern in jeder Phrase die versteckte Vorliebe für Adeltum und Katholizismus. Sogar die unsichtbare Kirche vor Constantin, auch diese verwirft ihn; denn diese betrachtet die Kunst als ein Priestertum und verlangt, daß jedes Wort des Dichters, des Malers, des Bildhauers, des Musikers, Zeugnis gebe von seiner höheren Weihe, daß es seine heilige Sendung beurkunde, daß es die Beglückung und Verschönerung des Menschengeschlechts bezwecke. Die Meisterwerke Victor Hugo's vertragen keinen solchen moralischen Maßstab, ja sie sündigen gegen alle jene großmütigen, aber irrigen Anforderungen der neuen Kirche. Ich nenne sie irrig, denn, wie Sie wissen, ich bin für die Autonomie der Kunst; weder der Religion, noch der Politik soll sie als Magd dienen, sie ist sich selber letzter Zweck, wie die Welt selbst. Hier begegnen wir denselben einseitigen Vorwürfen, die schon Goethe von unseren Frommen zu ertragen hatte, und, wie dieser, muß auch Victor Hugo die unpassende Anklage hören, daß er keine Begeisterung empfände für das Ideale, daß er ohne moralischen Halt, daß er ein kaltherziger Egoist sei usw. Dazu kommt eine falsche Kritik, welche das Beste, was wir an ihm loben müssen, sein Talent der sinnlichen Gestaltung, für einen Fehler erklärt, und sie sagen, es mangle seinen Schöpfungen die innerliche Poesie, la poésie intime, Umriß und Farbe seien ihm die Hauptsache, es gebe äußerlich faßbare Poesie, er sei materiell, kurz sie tadeln an ihm eben die löblichste Eigenschaft, seinen Sinn für das Plastische.

Und dergleichen Unrecht geschieht ihm nicht von den alten Klassikern, die ihn nur mit aristotelischen Waffen befehdeten und längst besiegt sind, sondern von seinen ehemaligen Kampfgenossen, einer Fraktion der romantischen Schule, die sich mit ihrem literarischen Gonfaloniere ganz überworfen hat. Fast alle seine früheren Freunde sind von ihm abgefallen, und, um die Wahrheit zu gestehen, abgefallen durch seine eigne Schuld, verletzt durch jenen Egoismus, der bei der Schöpfung von Meisterwerken sehr vorteilhaft, im gesellschaftlichen Umgange aber sehr nachteilig wirkt. Sogar Saint-Beuve hat es nicht mehr mit ihm aushalten können; sogar Saint-Beuve tadelt ihn jetzt, er, welcher einst der getreueste Schildknappe seines Ruhmes war. Wie in Afrika, wenn der König von Darfur öffentlich ausreitet, ein Panegyrist vor ihm herläuft, welcher mit lautester Stimme beständig schreit: »Seht da den Büffel, den Abkömmling eines Büffels, den Stier der Stiere, alle andre sind Ochsen, und nur dieser ist der rechte Büffel!« so lief einst Saint-Beuve jedesmal vor Victor Hugo einher, wenn dieser mit einem neuen Werke vors Publikum trat, und stieß in die Posaune und lobhudelte den Büffel der Poesie. Diese Zeit ist vorbei, Saint-Beuve feiert jetzt die gewöhnlichen Kälber und ausgezeichneten Kühe der französischen Literatur, die befreundeten Stimmen schweigen oder tadeln, und der größte Dichter Frankreichs kann in seiner Heimat nimmermehr die gebührende Anerkennung finden.

Ja, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs, und, was viel sagen will, er könnte sogar in Deutschland unter den Dichtern erster Klasse eine Stellung einnehmen. Er hat Phantasie und Gemüt, und dazu einen Mangel an Takt, wie nie bei Franzosen, sondern nur bei uns Deutschen gefunden wird. Es fehlt seinem Geiste an Harmonie und er ist voller geschmackloser Auswüchse, wie Grabbe und Jean Paul. Es fehlt ihm das schöne Maßhalten, welches wir bei den klassischen Schriftstellern bewundern. Seine Muse, trotz ihrer Herrlichkeit, ist mit einer gewissen deutschen Unbeholfenheit behaftet. Ich möchte dasselbe von seiner Muse behaupten, was man von den schönen Engländerinnen sagt: sie hat zwei linke Hände.

Alexandre Dumas ist kein so großer Dichter wie Victor Hugo, aber er besitzt Eigenschaften, womit er auf dem Theater weit mehr als dieser ausrichten kann. Ihm fehlt zu Gebote jener unmittelbare Ausdruck der Leidenschaft, welchen die Franzosen Verve nennen, und dann ist er mehr Franzose als Hugo: er sympathisiert mit allen Tugenden und Gebrechen, Tagesnöten und Unruhigkeiten seiner Landsleute, er ist enthusiastisch, aufbrausend, komödiantenhaft, edelmütig, leichtsinnig, großsprecherisch, ein echter Sohn Frankreichs, der Gascogne von Europa. Er redet zu dem Herzen mit dem Herzen, und wird verstanden und applaudiert. Sein Kopf ist ein Gasthof, wo manchmal gute Gedanken einkehren, die sich aber dort nicht länger als über Nacht aufhalten; sehr oft steht er leer. Keiner hat wie Dumas ein Talent für das Dramatische. Das Theater ist sein wahrer Beruf. Er ist ein geborener Bühnendichter, und von Rechts wegen gehören ihm alle dramatischen Stoffe, er finde sie in der Natur oder in Schiller, Shakespeare und Calderon. Er entlockt ihnen neue Effekte, er schmilzt die alten Münzen um, damit sie wieder eine freudige Tagesgeltung gewinnen, und wir sollten ihm sogar danken für seine Diebstähle an der Vergangenheit, denn er bereichert damit die Gegenwart. Eine ungerechte Kritik, ein unter betrübsamen Umständen ans Licht getretener Aufsatz im Journal des Débats, hat unserem armen Dichter bei der großen unwissenden Menge sehr stark geschadet, indem vielen Szenen seiner Stücke die frappantesten Parallelstellen in ausländischen Tragödien nachgewiesen wurden. Aber nichts ist törichter als dieser Vorwurf des Plagiats, es gibt in der Kunst kein sechstes Gebot, der Dichter darf überall zugreifen, wo er Material zu seinen Werken findet, und selbst ganze Säulen mit ausgemeißelten Kapitälern darf er sich zueignen, wenn nur der Tempel herrlich ist, den er damit stützt. Dieses hat Goethe sehr gut verstanden, und vor ihm sogar Shakespeare. Nichts ist törichter als das Begehrnis, ein Dichter solle alle seine Stoffe aus sich selber heraus schaffen, das sei Originalität. Ich erinnere mich einer Fabel, wo die Spinne mit der Biene spricht und ihr vorwirft, daß sie aus tausend Blumen das Material sammle, wovon sie ihren Wachsbau und den Honig darin bereite; »Ich aber«, setzt sie triumphierend hinzu, »ich ziehe mein ganzes Kunstgewebe in Originalfäden aus mir selber hervor.«

Wie ich eben erwähnte, der Aufsatz gegen Dumas im Journal des Débats trat unter betrübsamen Umständen ans Licht; er war nämlich abgefaßt von einem jener jungen Séiden, die blindlings den Befehlen Victor Hugo's gehorchen, und er ward gedruckt in einem Blatte, dessen Direktoren mit demselben auf's innigste befreundet sind. Hugo war großartig genug, die Mitwissenschaft an dem Erscheinen dieses Artikels nicht abzuleugnen, und er glaubte, seinem alten Freunde Dumas, wie es in literarischen Freundschaften üblich ist, zu rechter Zeit den zweckmäßigen Todesstoß versetzt zu haben. In der Tat, über Dumas' Renommée hing seitdem ein schwarzer Trauerflor, und viele behaupten, wenn man diesen Flor wegzöge, werde man gar nichts mehr dahinter erblicken. Aber seit der Aufführung eines Dramas wie »Edmund Kean« ist Dumas' Renommée aus ihrer dunklen Verhüllung wieder leuchtend hervorgetreten, und er beurkundete damit aufs Neue sein großes dramatisches Talent.

Dieses Stück, welches sich gewiß auch die deutsche Bühne zugeeignet hat, ist mit einer Lebendigkeit aufgefaßt und ausgeführt, wie ich noch nie gesehen, da ist ein Guß, eine Neuheit in den Mitteln, die sich wie von selbst darbieten, eine Fabel, deren Verwicklungen ganz natürlich auseinander entspringen, ein Gefühl, das aus dem Herzen kommt und zu dem Herzen spricht, kurz eine Schöpfung. Mag Dumas auch in Äußerlichkeiten des Kostümes und des Lokales sich kleine Fehler zuschulden kommen lassen: in dem ganzen Gemälde herrscht nichtsdestoweniger eine erschütternde Wahrheit; er versetzte mich im Geiste wieder ganz zurück nach Alt-England, und den seligen Kean selber, den ich dort so oft sah, glaubte ich wieder leibhaftig vor mir zu sehen. Zu solcher Täuschung hat freilich auch der Schauspieler beigetragen, der die Rolle des Kean spielte, obgleich sein Äußeres, die imposante Gestalt von Frédéric Lemaître, so sehr verschieden war von der kleinen untersetzten Figur des seligen Kean. Dieser hatte aber dennoch etwas in seiner Persönlichkeit sowie auch in seinem Spiel, was ich bei Frédéric Lemaître wiederfinde. Es herrscht zwischen ihnen eine wunderbare Verwandtschaft. Kean war eine jener exzeptionellen Naturen, die weniger die allgemeinen schlichten Gefühle, als vielmehr das Ungewöhnliche, Bizarre, Außerordentliche, das sich in einer Menschenbrust begeben kann, durch überraschende Bewegung des Körpers, unbegreiflichen Ton der Stimme und noch unbegreiflicheren Blick des Auges, zur äußeren Anschauung bringen. Dasselbe ist bei Frédéric Lemaître der Fall, und dieser ist ebenfalls einer jener fürchterlichen Farceure, bei deren Anblick Thalia vor Entsetzen erbleicht und Melpomene vor Wonne lächelt. Kean war einer jener Menschen, deren Charakter allen Reibungen der Zivilisation trotzt, die, ich will nicht sagen aus besserem, sondern aus ganz anderem Stoffe als wir andern bestehen, eckige Sonderlinge mit einseitiger Begabung, aber in dieser Einseitigkeit außerordentlich alles Vorhandene überragend, erfüllt von jener unbegrenzten, unergründlichen, unbewußten teuflisch göttlichen Macht, welche wir das Dämonische nennen. Mehr oder minder findet sich dieses Dämonische bei allen großen Männern der Tat oder des Wortes. Kean war gar kein vielseitiger Schauspieler; er konnte zwar in vielerlei Rollen spielen, doch in diesen Rollen spielte er immer sich selber. Aber dadurch gab er uns immer eine erschütternde Wahrheit, und obgleich zehn Jahre seitdem verflossen sind, sehe ich ihn doch noch immer vor mir stehen als Shylock, als Othello, Richard, Macbeth, und bei manchen dunklen Stellen dieser Shakespeare'schen Stücke erschloß mir sein Spiel das volle Verständnis. Da gab's Modulationen in seiner Stimme, die ein ganzes Schreckenleben offenbarten, da gab es Lichter in seinem Auge, die einwärts alle Finsternisse einer Titanenseele beleuchteten, da gab es Plötzlichkeiten in der Bewegung der Hand, des Fußes, des Kopfes, die mehr sagten als ein vierbändiger Kommentar von Franz Horn.


Siebenter Brief

Wie Sie wissen, lieber Lewald, ist es nicht meine Gewohnheit, das Spiel der Komödianten, oder wie man vornehm sagt: die Leistungen der Künstler, mit behaglicher Wortfülle zu besprechen. Aber Edmund Kean, dessen ich im vorigen Briefe erwähnte und auf den ich noch einmal zurückkomme, war kein gewöhnlicher Bretterheld, und ich gestehe Ihnen, in meinem englischen Tagebuch verschmähte ich es nicht, neben einer Kritik der weltwichtigsten Parlamentsredner des Tages, auch über das jedesmalige Spiel von Kean meine flüchtigen Wahrnehmungen aufzuzeichnen. Leider ist, mit so vielen meiner besten Papiere, auch dieses Buch verloren gegangen. Doch will es mich bedünken, als hätte ich Ihnen einmal in Wandsbeck etwas über die Darstellung des Shylock von Kean daraus vorgelesen. Der Jude von Venedig war die erste Heldenrolle, die ich ihn spielen sah. Ich sage Heldenrolle, denn er spielte ihn nicht als einen gebrochenen alten Mann, als eine Art Schema des Hasses, wie unser Devrient tat, sondern als einen Helden. So steht er noch immer in meinem Gedächtnisse, angetan mit seinem schwarzseidenen Rockelor, der ohne Ärmel ist und nur bis ans Knie reicht, so daß das blutrote Untergewand, welches bis zu den Füßen hinabfällt, desto greller hervortritt. Ein schwarzer breitrandiger, aber zu beiden Seiten aufgekrämpter Filzhut, der hohe Kegel mit einem blutroten Bande umwunden, bedeckt das Haupt, dessen Haare sowie auch die des Bartes, lang und pechschwarz herabhängen und gleichsam einen wüsten Rahmen bilden zu dem gesund roten Gesichte, worin zwei weiße, lechzende Augäpfel schauerlich beängstigend hervorlauern. In der rechten Hand hält er einen Stock, weniger als Stütze, denn als Waffe. Nur den Ellbogen seines linken Arms stützte er darauf, und in der linken Hand ruht verräterisch nachdenklich das schwarze Haupt mit den noch schwärzeren Gedanken, während er dem Bassanio erklärt, was unter dem bis auf heutigen Tag gültigen Ausdruck: »ein guter Mann« zu verstehen ist. Wenn er die Parabel vom Erzvater Jakob und Laban's Schafen erzählt, fühlt er sich wie versponnen in seinen eigenen Worten, und bricht plötzlich ab: »Ay, he was the third«; während einer langen Pause scheint er dann nachzudenken über das, was er sagen will, man sieht, wie sich die Geschichte in seinem Kopfe allmählich rundet, und wenn er dann plötzlich, als habe er den Leitfaden seiner Erzählung wieder aufgefunden, fortfährt: »No, not take interest . . .«, so glaubt man nicht eine auswendig gelernte Rolle, sondern eine mühsam selbsterdachte Rede zu hören. Am Ende der Erzählung lächelt er auch wie ein Autor, der mit seiner Erfindung selbst zufrieden ist. Langsam beginnt er: »Signor Antonio, many a time and oft«, bis er zu dem Wort »dog« kommt, welches schon heftiger hervorgestoßen wird. Der Ärger schwillt bei »and spit upon my Jewish gabardine . . .« bis »own«. Dann tritt er näher heran, aufrecht und stolz, und mit hähnischer Bitterkeit spricht er: »Well then . . .« bis »ducats –« Aber plötzlich beugt sich sein Nacken, er zieht den Hut ab, und mit unterwürfigen Gebärden spricht er: »Or shall I bend low . . .« bis »monies«? Ja, auch seine Stimme ist alsdann unterwürfig, nur leise hört man darin den verbissenen Groll, um die freundlichen Lippen ringeln kleine muntere Schlangen, nur die Augen können sich nicht verstellen, sie schießen unaufhörlich ihre Giftpfeile, und dieser Zwiespalt von äußerer Demut und innerem Grimm endigt beim letzten Wort (monies) mit einem schaurig gezogenen Lachen, welches plötzlich schroff abbricht, während das zur Unterwürfigkeit krampfhaft verzerrte Gesicht einige Zeit larvenartig unbeweglich bleibt, und nur das Auge, das böse Auge, drohend und tödlich daraus hervorglotzt.

Aber das ist alles vergebens. Die beste Beschreibung kann Ihnen Edmund Kean's Wesen nicht deutlich machen. Eine Deklamation, die Abgebrochenheit seines Vortrags, haben ihm viele mit Glück abgelauscht; denn der Papagei kann die Stimme des Adlers, des Königs der Lüfte, ganz täuschend nachahmen. Aber den Adlerblick, das kühne Feuer, das in die verwandte Sonne hineinschauen kann, Kean's Auge, diesen magischen Blitz, diese Zauberflamme, das hat kein gewöhnlicher Theatervogel sich aneignen können. Nur im Auge Frédéric Lemaître's, und zwar während er den Kean spielte, entdeckte ich etwas, was mit dem Blick des wirklichen Kean die größte Ähnlichkeit hatte.

Es wäre ungerecht, wenn ich, nach so rühmlicher Erwähnung Frédéric Lemaître's, den andern großen Schauspieler, dessen sich Paris zu erfreuen hat, mit Stillschweigen überginge. Bocage genießt hier eines ebenso glänzenden Ruhmes, und seine Persönlichkeit ist, wo nicht ebenso merkwürdig, doch gewiß ebenso interessant wie die seines Kollegen. Bocage ist ein schöner, vornehmer Mensch, der sich in den edelsten Formen bewegt. Er besitzt eine metallreiche, zu allen Tonarten biegsame Stimme, die ebensogut des furchtbarsten Donners von Zorn und Grimm, als der hinschmelzendsten Zärtlichkeit des Liebeflüsterns fähig ist. In den wildesten Ausbrüchen der Leidenschaft bewahrt er eine Grazie, bewahrt er die Würde der Kunst und verschmäht es in rohe Natur überzuschnappen, wie Frédéric Lemaître, der zu diesem Preise größere Effekte erreicht, aber Effekte, die uns nicht durch poetische Schönheit entzücken. Dieser ist eine exzeptionelle Natur, der von seiner dämonischen Gewalt mehr besessen wird, als er sie selber besitzt, und den ich mit Kean vergleichen konnte; jener, Bocage, ist nicht von andern Menschen organisch verschieden, sondern unterscheidet sich von ihnen durch eine ausgebildete Organisation, er ist nicht ein Zwittergeschöpf von Ariel und Kaliban, sondern er ist ein harmonischer Mensch, eine schöne, schlanke Gestalt, die Phöbus Apollo. Sein Auge ist nicht so bedeutend, aber mit der Kopfbewegung kann er ungeheure Effekte hervorbringen, besonders wenn er manchmal weltverhöhnend vornehm das Haupt zurückwirft. Er hat kalte ironische Seufzer, die einem wie eine stählerne Säge durch die Seele ziehen. Er hat Tränen in der Stimme und tiefe Schmerzenslaute, daß man glauben sollte, er verblute nach innen. Wenn er sich plötzlich mit beiden Händen die Augen bedeckt, so wird einem zumute, als spräche der Tod: »Es werde Finsternis!« Wenn er aber dann wieder lächelt, mit all seinem süßen Zauber lächelt, dann ist es, als ob in seinen Mundwinkeln die Sonne aufgehe.

Da ich doch einmal in die Beurteilung des Spiels gerate, so erlaube ich mir, Ihnen über die Verschiedenheit der Deklamation in den drei Königreichen der zivilisierten Welt, in England, Frankreich und Deutschland, einige unmaßgebliche Bemerkungen mitzuteilen.

Als ich in England der Vorstellung englischer Tragödien zuerst beiwohnte, ist mir besonders eine Gestikulation aufgefallen, die mit der Gestikulation der Pantomimenspiele die größte Ähnlichkeit zeigte. Dieses erschien mir aber nicht als Unnatur, sondern vielmehr als Übertreibung der Natur, und es dauerte lange, ehe ich mich daran gewöhnen und trotz des karikierten Vortrags die Schönheit einer Shakespeare'schen Tragödie auf englischem Boden genießen konnte. Auch das Schreien, das zerreißende Schreien, womit dort sowohl Männer wie Weiber ihre Rollen tragieren, konnte ich im Anfang nicht vertragen. Ist in England, wo die Schauspielhäuser so groß sind, dieses Schreien notwendig, damit die Worte nicht im weiten Raume verhallen? Ist die oberwähnte karikierte Gestikulation ebenfalls eine lokale Notwendigkeit, indem der größte Teil der Zuschauer in so großer Entfernung von der Bühne sich befindet? Ich weiß nicht. Es herrscht vielleicht auf dem englischen Theater ein Gewohnheitsrecht der Darstellung, und diesem ist die Übertreibung beizumessen, die mir besonders auffiel bei Schauspielerinnen, bei zarten Organen, die, auf Stelzen schreitend, nicht selten in die widerwärtigsten Mißlaute herabstürzen, bei jungfräulichen Leidenschaften, die sich wie Trampeltiere gebärden. Der Umstand, daß früherhin die Frauenzimmerrollen auf der englischen Bühne von Männern gespielt wurden, wirkt vielleicht noch auf die Deklamation der heutigen Schauspielerinnen, die ihre Rollen vielleicht nach alten Überlieferungen, nach Theatertraditionen, herschreien.

Indessen, wie groß auch die Gebrechen sind, womit die englische Deklamation behaftet ist, so leistet sie doch einen bedeutenden Ersatz durch die Innigkeit und Naivität, die sie zuweilen hervortreten läßt. Diese Eigenschaften verdankt sie der Landessprache, die eigentlich ein Dialekt ist, und alle Tugenden einer aus dem Volke unmittelbar hervorgegangenen Mundart besitzt. Die französische Sprache ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft und sie entbehrt jene Innigkeit und Naivität, die nur eine lautere, dem Herzen des Volkes entsprungene und mit dem Herzblut desselben geschwängerte Wortquelle gewähren kann. Dafür aber besitzt die französische Deklamation eine Grazie und Flüssigkeit, die der englischen ganz fremd, ja unmöglich ist. Die Rede ist hier in Frankreich durch das schwatzende Gesellschaftsleben während drei Jahrhunderten so rein filtriert worden, daß sie alle unedle Ausdrücke und unklare Wendungen, alles Trübe und Gemeine, aber auch allen Duft, alle jene wilden Heilkräfte, alle jenen geheimen Zauber, die im rohen Worte rinnen und rieseln, unwiederbringlich verloren hat. Die französische Sprache, und also auch die französische Deklamation, ist, wie das Volk selber, nur dem Tage, der Gegenwart, angewiesen, das dämmernde Reich der Erinnerung und der Ahnung ist ihr verschlossen; sie gedeiht im Lichte der Sonne, und von dieser stammt ihre schöne Klarheit und Wärme; fremd und unwirtlich ist ihr die Nacht mit dem blassen Mondschein, den mystischen Sternen, den süßen Träumen und schauerlichen Gespenstern.

Was aber das eigentliche Spiel der französischen Schauspieler betrifft, so überragen sie ihre Kollegen in allen Landen, und zwar aus dem natürlichen Grunde, weil alle Franzosen geborene Komödianten sind. Das weiß sich in alle Lebensrollen so leicht hineinzustudieren und immer so vorteilhaft zu drapieren, daß es eine Freude ist anzusehen. Die Franzosen sind die Hofschauspieler des lieben Gottes, les comédiens ordinaires du bon Dieu, eine auserlesene Truppe, und die ganze französische Geschichte kommt mir manchmal vor wie eine große Komödie, die aber zum Besten der Menschheit aufgeführt wird. Im Leben wie in der Literatur und den bildenden Künsten der Franzosen herrscht der Charakter des Theatralischen.

Was uns Deutsche betrifft, so sind wir ehrliche Leute und gute Bürger. Was uns die Natur versagt, das erzielen wir durch Studium. Nur wenn wir zu stark brüllen, fürchten wir zuweilen, daß man in den Logen erschrecken und uns bestrafen möchte, und wir insinuieren dann mit einer gewissen Schlauheit, daß wir keine wirklichen Löwen sind, sondern nur in tragische Löwenhäute eingenähte Zettel, und diese Insinuation nennen wir Ironie. Wir sind ehrliche Leute und spielen am besten ehrliche Leute. Jubilierende Staatsdiener, alte Dalner, rechtschaffene Oberforstmeister und treue Bediente sind unsere Wonne. Helden werden uns sehr sauer, doch können wir schon damit fertig werden, besonders in Garnisonstädten, wo wir gute Muster vor Augen haben. Mit Königen sind wir nicht glücklich. In fürstlichen Residenzen hindert uns der Respekt, die Königsrollen mit absoluter Keckheit zu spielen; man könnte es übel nehmen, und wir lassen dann unter dem Hermelin den schäbigen Kittel der Untertansdemut hervorlauschen. In den deutschen Freistaaten, in Hamburg, Lübeck, Bremen und Frankfurt, in diesen glorreichen Republiken, dürften die Schauspieler ihre Könige ganz unbefangen spielen, aber der Patriotismus verleitet sie, die Bühne zu politischen Zwecken zu mißbrauchen, und sie spielen mit Vorsatz ihre Könige so schlecht, daß sie das Königtum, wo nicht verhaßt, doch wenigstens lächerlich machen. Sie befördern indirekt den Sinn für Republikanismus, und das ist besonders in Hamburg der Fall, wo die Könige am miserabelsten gespielt werden. Wäre der dortige hochweise Senat nicht undankbar, wie die Regierungen aller Republiken, Athen, Rom, Florenz, es immer gewesen sind, so müßte die Republik Hamburg für ihre Schauspieler ein großes Pantheon errichten, mit der Aufschrift: »Den schlechten Komödianten das dankbare Vaterland!«

Erinnern Sie sich noch, lieber Lewald, des seligen Schwarz, der in Hamburg den König Philipp im »Don Carlos« spielte, und immer seine Worte ganz langsam bis in den Mittelpunkt der Erde hinabzog und dann wieder plötzlich gen Himmel schnellte, dergestalt, daß sie uns nur eine Sekunde lang zu Gesicht kamen?

Aber, um nicht ungerecht zu sein, müssen wir eingestehen, daß es vornehmlich an der deutschen Sprache liegt, wenn auf unserem Theater der Vortrag schlechter ist als bei den Engländern und Franzosen. Die Sprache der ersteren ist ein Dialekt, die Sprache der letzteren ist ein Erzeugnis der Gesellschaft; die unsrige ist weder das eine noch das andere, sie entbehrt dadurch sowohl der naiven Innigkeit als der flüssigen Grazie, sie ist nur eine Büchersprache, ein bodenloses Fabrikat der Schriftsteller, das wir durch Buchhändlervertrieb von der Leipziger Messe beziehen. Die Deklamation der Engländer ist Übertreibung der Natur, Übernatur: die unsrige ist Unnatur. Die Deklamation der Franzosen ist affektierter Tiradenton; die unsrige ist Lüge. Da ist ein herkömmliches Gegreine auf unserem Theater, wodurch mir oft die besten Stücke von Schiller verleidet wurden, besonders bei sentimentalen Stellen, wo unsere Schauspielerinnen in ein wäßriges Gesinge zerschmelzen, wovon Gubitz sagt: »Sie p-ff-n mit dem Herzen.« Doch wir wollen von deutschen Schauspielerinnen nichts Böses sagen, sie sind ja meine Landsmänninnen, und dann haben ja die Gänse das Kapitol gerettet, und dann gibt es auch so viele ordentliche Frauenzimmer darunter, und endlich . . . ich werde hier unterbrochen von dem Teufelslärm, der vor meinem Fenster, auf dem Kirchhofe, los ist.

. . . Bei den Knaben, die eben noch so friedlich um den großen Baum herumtanzten, regte sich der alte Adam, oder vielmehr der alte Kain, und sie begannen sich untereinander zu balgen. Ich mußte, um die Ruhe wieder herzustellen, zu ihnen hinaustreten, und kaum gelang es mir, sie mit Worten zu beschwichtigen. Da war ein kleiner Junge, der mit ganz besonderer Wut auf den Rücken eins andern kleinen Jungen losschlug. Als ich ihn frug: Was hat dir das arme Kind getan? sah er mich großäugig an und stotterte: »Es ist ja mein Bruder.«

Auch in meinem Hause blüht heute nichts weniger als der ewige Frieden. Auf dem Korridor höre ich eben einen Spektakel, als fiele eine Klopstock'sche Ode die Treppe herunter. Wirt und Wirtin zanken sich, und letztere macht ihrem armen Mann den Vorwurf, er sei ein Verschwender, er verzehre ihr Heiratsgut, und sie stürbe vor Kummer. Krank ist sie freilich, aber vor Geiz. Jeder Bissen, den ihr Mann in den Mund steckt, bekömmt ihr schlecht. Und dann auch, wenn ihr Mann seine Medizin einnimmt und etwas in den Flaschen übrig läßt, pflegt sie selber diese Reste zu verschlucken, damit kein Tropfen von der teuren Medizin verloren gehe, und davon wird sie krank. Der arme Mann, ein Schneider von Nation und seines Handwerks ein Deutscher, hat sich aufs Land zurückgezogen, um seine übrigen Tage in ländlicher Ruhe zu genießen. Diese Ruhe findet er aber gewiß nur auf dem Grabe seiner Gattin. Deshalb vielleicht hat er sich ein Haus neben dem Kirchhof gekauft, und schaut er so sehnsuchtsvoll nach den Ruhestätten der Abgeschiedenen. Sein einziges Vergnügen besteht in Tabak und Rosen, und von letzteren weiß er die schönsten Gattungen zu ziehen. Er hat diesen Morgen einige Töpfe mit Rosenstöcken in das Parterre vor meinem Fenster eingepflanzt. Sie blühen wunderschön. Aber, liebster Lewald, fragen Sie doch Ihre Frau, warum diese Rosen nicht duften? Entweder haben diese Rosen den Schnupfen, oder ich.


Achter Brief

Ich habe im vorletzten Briefe die beiden Chorführer des französischen Dramas besprochen. Es waren jedoch nicht eben die Namen Victor Hugo und Alexandre Dumas, welche diesen Winter auf den Theatern des Boulevards am meisten florierten. Hier gab's drei Namen, die beständig im Mund des Volkes widerklangen, obgleich sie bis jetzt in der Literatur unbekannt sind. Es waren: Mallefile, Rougemont und Bouchardy. Von ersterem hoffe ich das Beste, er besitzt, soviel ich merke, große poetische Anlagen. Sie erinnern sich vielleicht seiner »Sieben Infanten von Lara«, jenes Greuelstücks, das wir einst an der Porte Saint-Martin miteinander sahen. Aus diesem wüsten Mischmasch von Blut und Wut traten manchmal wunderschöne, wahrhaft erhabene Szenen hervor, die von romantischer Phantasie und dramatischem Talente zeugten. Eine andere Tragödie von Mallefile, »Glenarvon«, ist von noch größerer Bedeutung, da sie weniger verworren und unklar, und eine Exposition enthält, die erschütternd schön und grandios. In beiden Stücken sind die Rollen der ehebrecherischen Mutter vortrefflich besetzt durch Mademoiselle Georges, die ungeheure strahlende Fleischsonne am Theaterhimmel des Boulevards. Vor einigen Monaten gab Mallefile ein neues Stück, betitelt: »Der Alpenhirt,« le Paysan des Alpes. Hier hat er sich einer größeren Einfachheit beflissen, aber auf Kosten des poetischen Gehalts. Das Stück ist schwächer als seine früheren Tragödien. Wie in diesen, werden auch hier die ehelichen Schranken pathetisch niedergerissen.

Der zweite Laureat des Boulevards, Rougemont, begründete seine Renommée durch drei Schauspiele, die in der kurzen Frist von etwas sechs Monaten hintereinander zum Vorschein kamen und des größten Beifalls genossen. Das erst hieß: »Die Herzogin von Lavaubalière«, ein schwaches Machwerk, worin viel Handlung ist, die aber nicht überraschend kühn oder natürlich sich entfaltet, sondern immer mühsam durch kleinliche Berechnung herbeigeführt wird, so wie auch die Leidenschaft darin ihre Glut nur erheuchelt und innerlich träge und wurmkalt ist. Das zweite Stück, betitelt: »Leon« ist schon besser, und obgleich es ebenfalls an der erwähnten Vorsätzlichkeit leidet, so enthält es doch einige großartig erschütternde Szenen. Vorige Woche sah ich das dritte Stück, »Eulalie Granger«, ein rein bürgerliches Drama, ganz vortrefflich, indem der Verfasser darin der Natur seines Talentes gehorcht und die traurigen Wirrnisse heutiger Gesellschaft mit Verstandesklarheit in einem schön eingerahmten Gemälde darstellt.

Von Bouchardy, dem dritten Laureaten, ist bis jetzt nur ein einziges Stück aufgeführt worden, das aber mit beispiellosem Erfolg gekrönt ward. Es heißt »Gaspardo«, ist binnen fünf Monaten alle Tage gespielt worden, und geht es in diesem Zuge fort, so erlebt es einige hundert Vorstellungen. Ehrlich gesagt, der Verstand steht mir still, wenn ich den letzten Gründen dieses kolossalen Beifalls nachsinne. Das Stück ist mittelmäßig, wo nicht gar ganz schlecht. Voll Handlung, wovon aber die eine über den Kopf der andern stolpert, so daß ein Effekt dem andern den Hals bricht. Der Gedanke, worin sich der ganze Spektakel bewegt, ist eng, und weder ein Charakter noch eine Situation kann sich natürlich entwickeln und entfalten. Dieses Aufeinandertürmen von Stoff ist zwar schon bei den vorhergenannten Bühnendichtern in unerträglichem Grade zu finden; aber der Verfasser des »Gaspardo« hat sie beide noch überboten. Indessen, das ist Vorsatz, das ist Prinzip, wie mir einige junge Dramaturgen versichern, durch dieses Zusammenhäufen von heterogenen Stoffen, Zeitperioden und Lokalen unterscheidet sich der jetzige Romantiker von den ehemaligen Klassikern, die in den geschlossenen Schranken des Dramas auf die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung so strenge hielten.

Haben diese Neuerer wirklich die Grenzen des französischen Theaters erweitert? Ich weiß nicht. Aber diese französischen Bühnendichter mahnen mich immer an den Kerkermeister, welcher über die Enge des Gefängnisses sich beklagte, und, um den Raum desselben zu erweitern, kein besseres Mittel wußte, als daß er immer mehr und mehr Gefangene hineinsperrte, die aber, statt die Kerkerwände auszudehnen, sich nur einander erdrückten.

Nachträglich erwähne ich, daß auch in »Gaspardo« und »Eulalie Granger«, wie in allen dionysischen Spielen des Boulevards, die Ehe als Sündenbock geschlachtet wird.

Ich möchte Ihnen gern noch, lieber Freund, von einigen anderen Bühnendichtern des Boulevards berichten, aber wenn sie auch dann und wann ein verdauliches Stück liefern, so zeigt sich darin nur eine Leichtigkeit der Behandlung, die wir bei allen Franzosen finden, keineswegs aber eine Eigentümlichkeit der Auffassung. Auch habe ich nur die Stücke gesehen und gleich vergessen, und mich nie danach erkundigt, wie ihre Autoren hießen. Zum Ersatze aber will ich Ihnen die Namen der Eunuchen mitteilen, die dem König Ahasveros in Susa als Kämmerer dienten; sie hießen: Mehuman, Bistha, Harbona, Bigtha, Abagtha, Sethar und Charkas.

Die Theater des Boulevards, von denen ich eben sprach, und die ich in diesen Briefen beständig im Sinne hatte, sind die eigentlichen Volkstheater, welche an der Porte Saint-Martin anfangen, und dem Boulevard du Temple entlang in immer absteigendem Werte sich aufgestellt haben. Ja, diese lokale Rangordnung ist ganz richtig. Erst kommt das Schauspielhaus, welches den Namen der Porte Saint-Martin führt und für das Drama gewiß das beste Theater von Paris ist, die Werke von Hugo und Dumas am vortrefflichsten gibt und eine vortreffliche Truppe, worunter Mademoiselle Georges und Bocage, besitzt. Hierauf folgt das Ambigu-Comique, wo es schon mit Darstellung und Darstellern schlechter bestellt ist, aber noch immer das romantische Drama tragiert wird. Von da gelangen wir zu Franconi, welche Bühne jedoch in dieser Reihe nicht mitzurechnen ist, da man dort mehr Pferde- als Menschenstücke aufführt. Dann kommt la Gaîté, ein Theater, das unlängst abgebrannt, aber jetzt wieder aufgebaut ist, und von außen wie von innen seinem heiteren Namen entspricht. Das romantische Drama hat hier ebenfalls das Bürgerrecht, und auch in diesem freundlichen Hause fließen zuweilen die Tränen und pochen die Herzen von den furchtbarsten Emotionen; aber hier wird doch schon mehr gesungen und gelacht, und das Vaudeville kommt schon mit seinem leichten Geträller zum Vorschein. Dasselbe ist der Fall in dem daneben stehenden Theater les Folies dramatiques, welches ebenfalls Dramen und noch mehr Vaudevilles gibt; aber schlecht ist dieses Theater nicht zu nennen, und ich habe manches gute Stück aufführen, und zwar gut aufführen sehen. Nach den Folies dramatiques, dem Werte wie dem Lokale nach, folgt das Theater von Madame Saqui, wo man ebenfalls noch Dramen, aber äußerst mittelmäßige und die miserabelsten Singspäße gibt, die endlich bei den benachbarten Fünambülen in die derbsten Possenreißereien ausarten. Hinter den Fünambülen, wo einer der vortrefflichsten Pierrots, der berühmte Debureau, seine weißen Gesichter schneidet, entdeckte ich noch ein ganz kleines Theater, welches Lazary heißt, wo man ganz schlecht spielt, wo das Schlechte endlich seine Grenzen gefunden, wo die Kunst mit Brettern zugenagelt ist.

Während Ihrer Abwesenheit ist zu Paris noch ein neues Theater errichtet worden, ganz am Ende des Boulevards, bei der Bastille, und heißt: Théâtre de la Porte Saint-Antoine. Es ist in jeder Hinsicht hors de ligne, und man kann es weder seiner artistischen noch lokalen Stellung nach unter die erwähnten Boulevardstheater rangieren. Auch ist es zu neu, als daß man über seinen Wert schon etwas Bestimmtes aussprechen dürfte. Die Stücke, die dort aufgeführt werden, sind übrigens nicht schlecht. Unlängst habe ich dort, in der Nachbarschaft der Bastille, ein Drama aufführen sehen, welches den Namen dieses Gefängnisses trägt, und sehr ergreifende Stellen enthielt. Die Heldin, wie sich von selbst versteht, ist die Gemahlin des Gouverneurs der Bastille und entflieht mit einem Staatsgefangenen. Auch ein gutes Lustspiel sah ich dort aufführen, welches den Titel führt: »Mariez-vous donc!« und die Schicksale eines Ehemannes veranschaulichte, der keine vornehme Konvenienz-Ehe schließen wollte, sondern ein schönes Mädchen aus dem Volke heiratet. Der Vetter wird ihr Liebhaber, die Schwiegermutter bildet mit diesem und der getreuen Gemahlin die Hausopposition gegen den Ehemann, den ihr Luxus und die schlechte Wirtschaft in Armut stürzen. Um den Lebensunterhalt für seine Familie zu gewinnen, muß der Unglückliche endlich an der Barrière eine Tanzbude für Lumpengesindel eröffnen. Wenn die Quadrille nicht vollzählig ist, läßt er sein siebenjähriges Söhnchen mittanzen, und das Kind weiß schon seine Pas mit den liederlichsten Pantomimen des Chahüts zu variieren. So findet ihn ein Freund, und während der arme Mann, mit der Violine in der Hand, fiedelnd und springend die Touren angibt, findet er manchmal eine Zwischenpause, wo er dem Ankömmling seine Ehestandsnöte erzählen kann. Es gibt nichts Schmerzlicheres, als den Kontrast der Erzählung und der gleichzeitigen Beschäftigung des Erzählers, der seine Leidensgeschichte oft unterbrechen muß, um mit einem chassez! oder en avant deux! in die Tanzreihen einzuspringen und mitzutanzen. Die Tanzmusik, die melodramatisch jenen Ehestandsgeschichten als Accompagnement dient, diese sonst so heiteren Töne schneiden einem hier ironisch gräßlich ins Herz. Ich habe nicht in das Gelächter der Zuschauer einstimmen können. Gelacht habe ich nur über den Schwiegervater, einen alten Trunkenbold, der all sein Hab und Gut verschluckt und endlich betteln gehen muß. Aber er bettelt höchst humoristisch. Er ist ein dicker Faulwanst mit einem rotblinden Hund, welchen er seinen Belisar nennt. Der Mensch, behauptet er, sei undankbar gegen die Hunde, die den blinden Menschen so oft als getreue Führer dienten; er aber wolle diesen Bestien ihre Menschenliebe vergelten, und er diene jetzt als Führer seinem armen Belisar, seinem blinden Hund.

Ich habe so herzlich gelacht, daß die Umstehenden mich gewiß für den Chatouilleur des Theaters hielten.

Wissen Sie, was ein chatouilleur ist? Ich selber kenne die Bedeutung dieses Wortes erst seit kurzem, und verdanke diese Belehrung meinem Barbier, dessen Bruder als Chatouilleur bei einem Boulevardstheater angestellt ist. Er wird nämlich dafür bezahlt, daß er bei der Vorstellung von Lustspielen jedesmal, wenn ein guter Witz gerissen wird, laut lacht und die Lachlust des Publikums aufreizt. Dieses ist ein sehr wichtiges Amt, und der Succeß von vielen Lustspielen hängt davon ab. Denn manchmal sind die guten Witze sehr schlecht, und das Publikum würde durchaus nicht lachen, wenn nicht der Chatouilleur die Kunst verstände, durch allerlei Modulationen seines Lachens, vom leisesten Kichern bis zum herzlichsten Wonnegrunzen, das Mitgelächter der Menge zu erzwingen. Das Lachen hat einen epidemischen Charakter wie das Gähnen, und ich empfehle Ihnen für die deutsche Bühne die Einführung eines Chatouilleurs, eines Vorlachers. Vorgähner besitzen Sie dort gewiß genug. Aber es ist nicht leicht, jenes Amt zu verrichten, und, wie mir mein Barbier versichert, es gehört viel Talent dazu. Sein Bruder übt es jetzt schon seit fünfzehn Jahren und brachte es darin zu einer solchen Virtuosität, daß er nur einen einzigen seiner feineren, halbgedämpften, halbentschlüpften Fistellaute anzuschlagen braucht, um die Menge in ein volles Jauchzen ausbrechen zu lassen. »Er ist ein Mann von Talent«, setzte mein Barbier hinzu, »und er verdient mehr Geld, als ich; denn außerdem ist er noch als Leidtragender bei den Pompes funèbres angestellt, und er hat des Morgens oft fünf bis sechs Leichenzüge, wo er, in seiner rabenschwarzen Trauerkleidung mit weißem Taschentuch und betrübtem Gesichte, so weinerlich aussehen kann, daß man schwören sollte, er folge dem Sarge seines eigenen Vaters.«

Wahrlich, lieber Lewald, ich habe Respekt vor dieser Vielseitigkeit, doch wäre ich auch derselben fähig, für alles Geld in der Welt möchte ich nicht die Ämter dieses Mannes übernehmen. Denken Sie sich, wie schrecklich es ist, an einem Frühlingsmorgen, wenn man eben seinen vergnügten Kaffee getrunken und die Sonne einem froh ins Herz lacht, schon gleich eine Leichenbittermiene vorzunehmen und Tränen zu vergießen für irgendeinen abgeschiedenen Gewürzkrämer, den man vielleicht gar nicht kennt, und dessen Tod einem nur erfreulich sein kann, weil er dem Leidtragenden sieben Francs und zehn Sous einträgt. Und dann, wenn man sechsmal vom Kirchhofe zurückgekehrt und todmüde und sterbensverdrießlich und ernsthaft ist, soll man noch den ganzen Abend lachen über alle schlechten Witze, die man schon so oft belacht hat, lachen mit dem ganzen Gesichte, mit jeder Muskel, mit allen Krämpfen des Leibes und der Seele, um ein blasiertes Parterre zum Mitgelächter zu stimulieren . . . Das ist entsetzlich! Ich möchte lieber König von Frankreich sein.


Neunter Brief

Aber was ist die Musik? Diese Frage hat mich gestern abend vor dem Einschlafen stundenlang beschäftigt. Es hat mit der Musik eine wunderliche Bewandtnis; ich möchte sagen: sie ist ein Wunder. Sie steht zwischen Gedanken und Erscheinung; als dämmernde Vermittlerin steht sie zwischen Geist und Materie; sie ist beiden verwandt und doch von beiden verschieden; sie ist Geist, aber Geist, welcher eines Zeitmaßes bedarf; sie ist Materie, aber Materie, die des Raumes entbehren kann.

Wir wissen nicht, was Musik ist. Aber was gute Musik ist, das wissen wir, und noch besser wissen wir, was schlechte Musik ist; denn von letzterer ist uns eine größere Menge zu Ohren gekommen. Die musikalische Kritik kann sich nur auf Erfahrung, nicht auf eine Synthese stützen; sie sollte die musikalischen Werke nur nach ihren Ähnlichkeiten klassifizieren und den Eindruck, den sie auf die Gesamtheit hervorgebracht, als Maßstab einnehmen.

Nichts ist unzulänglicher als das Theoretisieren in der Musik; hier gibt es freilich Gesetze, mathematisch bestimmte Gesetze, aber diese Gesetze sind nicht die Musik, sondern ihre Bedingnisse, wie die Kunst des Zeichnens und die Farbenlehre, oder gar Palette und Pinsel, nicht die Malerei sind, sondern nur notwendige Mittel. Das Wesen der Musik ist Offenbarung, er läßt sich keine Rechenschaft davon geben, und die wahre musikalische Kritik ist eine Erfahrungswissenschaft.

Ich kenne nichts Unerquicklicheres als eine Kritik von Monsieur Fetis, oder von seinem Sohne, Monsieur Fötus, wo a priori, aus letzten Gründen, einem musikalischen Werke sein Wert ab- oder zuräsonniert wird. Dergleichen Kritiken, abgefaßt in einem gewissen Argot und gespickt mit technischen Ausdrücken, die nicht der allgemein gebildeten Welt, sondern nur den exekutierenden Künstlern bekannt sind, geben jenem leeren Gewächse ein gewisses Ansehen bei der großen Menge. Wie mein Freund Detmold in Beziehung auf die Malerei ein Handbuch geschrieben hat, wodurch man in zwei Stunden zur Kunstkennerschaft gelangt, so sollte jemand ein ähnliches Büchlein in Beziehung auf die Musik schreiben und, durch ein ironisches Vokabular der musikalischen Kritikphrasen und der Orchesterjargons, dem hohlen Handwerke eines Fetis und eines Fötus ein Ende machen. Die beste Musikkritik, die einzige, die vielleicht etwas beweist, hörte ich voriges Jahr in Marseille an der Table-d'hôte, wo zwei Commis-Voyageurs über das Tagesthema, ob Rossini oder Meyerbeer der größere Meister sei, disputierten. Sobald der eine dem Italiener die höchste Vortrefflichkeit zusprach, opponiert der andere, aber nicht mit trockenen Worten, sondern er trillerte einige besonders schöne Melodien aus Robert-le-Diable. Hierauf wußte der erstere nicht schlagender zu repartieren, als indem er eifrig einige Fetzen aus dem Barbiere-de-Seviglia entgegensang, und so trieben sie es beide während der ganzen Tischzeit; statt eines lärmenden Austausches von nichtssagenden Redensarten gaben sie uns die köstlichste Tafelmusik, und am Ende mußte ich gestehen, daß man über Musik entweder gar nicht oder nur auf diese realistische Weise disputieren sollte.

Sie merken, teurer Freund, daß ich Sie mit keinen herkömmlichen Phrasen in betreff der Oper belästigen werde. Doch bei Besprechung der französischen Bühne kann ich letztere nicht ganz unerwähnt lassen. Auch keine vergleichende Diskussion über Rossini und Meyerbeer, in gewöhnlicher Weise, haben Sie von mir zu befürchten. Ich beschränke mich darauf, beide zu lieben, und keinen von beiden liebe ich auf Unkosten des anderen. Wenn ich mit ersterem vielleicht mehr noch als mit letzterem sympathisiere, so ist das nur ein Privatgefühl, keineswegs ein Anerkenntnis größeren Wertes. Vielleicht sind es eben Untugenden, welche manchen entsprechenden Untugenden in mir selber so wahlverwandt anklingen. Von Natur neige ich mich zu einem gewissen Dolce far niente, und ich lagere mich gern auf blumigen Rasen, und betrachte dann die ruhigen Züge der Wolken und ergötze mich an ihrer Beleuchtung; doch der Zufall wollte, daß ich aus dieser gemächlichen Träumerei sehr oft durch harte Rippenstöße des Schicksals geweckt wurde, ich mußte gezwungenerweise teilnehmen an den Schmerzen und Kämpfen der Zeit, und ehrlich war dann meine Teilnahme, und ich schlug mich trotz den Tapfersten . . . Aber, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine Empfindungen behielten doch immer eine gewisse Abgeschiedenheit von den Empfindungen der anderen; ich wußte, wie ihnen zumute war, aber mir war ganz anders zumute, wie ihnen; und wenn ich mein Schlachtroß auch noch so rüstig tummelte und mit dem Schwert auch noch so gnadenlos auf die Feinde einhieb, so erfaßte mich doch nie das Fieber oder die Lust oder die Angst der Schlacht; ob meiner inneren Ruhe ward mir oft unheimlich zu Sinne, ich merkte, daß die Gedanken anderörtig verweilten, während ich im dichtesten Gedränge des Parteikriegs mich herumschlug, und ich kam mir manchmal vor wie Ogier, der Däne, welcher traumwandelnd gegen die Sarazenen focht. Einem solchen Menschen muß Rossini besser zusagen als Meyerbeer, und doch zu gewissen Zeiten wird er der Musik des letzteren, wo nicht sich ganz hingeben, doch gewiß enthusiastisch huldigen. Denn auf den Wogen Rossini'scher Musik schaukeln sich am behaglichsten die individuellen Freuden und Leiden des Menschen; Liebe und Haß, Zärtlichkeit und Sehnsucht, Eifersucht und Schmollen, alles ist hier das isolierte Gefühl eines einzelnen. Charakteristisch ist daher in der Musik Rossini's das Vorwalten der Melodie, welche immer der unmittelbare Ausdruck eines isolierten Empfindens ist. Bei Meyerbeer hingegen finden wir die Oberherrschaft der Harmonie; in dem Strome der harmonischen Massen verklingen, ja ersäufen die Melodien, wie die besonderen Empfindungen des einzelnen Menschen untergehen in dem Gesamtgefühl eines ganzen Volkes, und in diese harmonischen Ströme stürzt sich gern unsre Seele, wenn sie von den Leiden und Freuden des ganzen Menschengeschlechts erfaßt wird und Partei ergreift für die großen Fragen der Gesellschaft. Meyerbeer's Musik ist mehr sozial als individuell; die dankbare Gegenwart, die ihre inneren und äußeren Fehden, ihren Gemütszwiespalt und ihren Willenskampf, ihre Not und ihre Hoffnung in seiner Musik wiederfindet, feiert ihre eigene Leidenschaft und Begeisterung, während sie dem großen Maestro applaudiert. Rossini's Musik war angemessener für die Zeit der Restauration, wo, nach großen Kämpfen und Enttäuschungen, bei den blasierten Menschen der Sinn für ihre großen Gesamtinteressen in den Hintergrund zurückweichen mußte und die Gefühle der Ichheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten konnten. Nimmermehr würde Rossini während der Revolution und dem Empire seine große Popularität erlangt haben. Robespierre hätte ihn vielleicht antipatriotischer, moderantistischer Melodien angeklagt, und Napoleon hätte ihn gewiß nicht als Kapellmeister angestellt bei der großen Armee, wo er einer Gesamtbegeisterung bedurfte . . . Armer Schwan von Pesaro! Der gallische Hahn und der kaiserliche Adler hätten dich vielleicht zerrissen, und geeigneter als die Schlachtfelder der Bürgertugend und des Ruhmes war für dich ein stiller See, an dessen Ufer die zahmen Lilien dir friedlich nickten, und wo du ruhig auf und ab rudern konntest, Schönheit und Lieblichkeit in jeder Bewegung! Die Restauration war Rossini's Triumphzeit, und sogar die Sterne des Himmels, die damals Feierabend hatten und sich nicht mehr um das Schicksal der Völker bekümmerten, lauschten ihm mit Entzücken. Die Juliusrevolution hat indessen im Himmel und auf Erden eine große Bewegung hervorgebracht, Sterne und Menschen, Engel und Könige, ja der liebe Gott selbst, wurden ihrem Friedenszustand entrissen, haben wieder viel' Geschäfte, haben weder Muße noch hinlängliche Seelenruhe, um sich an den Melodien des Privatgefühls zu ergötzen, und nur wenn die großen Chöre von Robert-le-Diable oder gar der Hugenotten harmonisch grollen, harmonisch jauchzen, harmonisch schluchzen, horchen ihre Herzen und schluchzen, jauchzen und grollen im begeisterten Einklang.

Dieses ist vielleicht der letzte Grund jenes unerhörten, kolossalen Beifalls, dessen sich die zwei großen Opern von Meyerbeer in der ganzen Welt erfreuen. Er ist der Mann seiner Zeit, und die Zeit, die immer ihre Leute zu wählen weiß, hat ihn tumultuarisch aufs Schild gehoben, und proklamiert seine Herrschaft und hält mit ihm ihren fröhlichen Einzug. Es ist eben keine behagliche Position, solcherweise im Triumph getragen zu werden: durch Ungeschick oder Ungeschicklichkeit eines einzigen Schildhalters kann man in ein bedenkliches Wackeln geraten, wo nicht gar stark beschädigt werden; die Blumenkränze, die einem an den Kopf fliegen, können zuweilen mehr verletzen als erquicken, wo nicht gar besudeln, wenn sie aus schmutzigen Händen kommen, und die Überlast der Lorbeeren kann einem gewiß viel Angstschweiß auspressen . . . Rossini, wenn er solchem Zuge begegnet, lächelt überaus ironisch mit seinen feinen italienischen Lippen, und er klagt dann über seinen schlechten Magen, der sich täglich verschlimmere, so daß er gar nichts mehr essen könne.

Das ist hart, denn Rossini war immer einer der größten Gourmands. Meyerbeer ist just das Gegenteil; wie in seiner äußeren Erscheinung, so ist er auch in seinen Genüssen die Bescheidenheit selbst. Nur wenn er Freunde geladen hat, findet man bei ihm einen guten Tisch. Als ich einst à la fortune du pot bei ihm speisen wollte, fand ich ihn bei einem ärmlichen Gerichte Stockfische, welches sein ganzes Diner ausmachte; wie natürlich, ich behauptete, schon gespeist zu haben.

Manche haben behauptet, er sei geizig. Dieses ist nicht der Fall. Er ist nur geizig in Ausgaben, die seine Person betreffen. Für andere ist er die Freigebigkeit selbst, und besonders unglückliche Landsleute haben sich derselben bis zum Mißbrauch erfreut. Wohltätigkeit ist eine Haustugend der Meyerbeer'schen Familie, besonders der Mutter, welcher ich alle Hilfsbedürftigen, und nie ohne Erfolg, auf den Hals jage. Diese Frau ist aber auch die glücklichste Mutter, die es auf dieser Welt gibt. Überall umklingt sie die Herrlichkeit ihres Sohnes, wo sie geht und steht, flattern ihr einige Fetzen seiner Musik um die Ohren, wo ein ganzes Publikum seine Begeisterung für Giacomo in dem brausendsten Beifall ausspricht, da bebt ihr Mutterherz vor Entzückungen, die wir kaum ahnen mögen. Ich kenne in der ganzen Weltgeschichte nur eine Mutter, die ihr zu vergleichen wäre, das ist die Mutter des heiligen Boromäus, die noch bei ihren Lebzeiten ihren Sohn kanonisiert sah, und in der Kirche, nebst Tausenden von Gläubigen, vor ihm knien und zu ihm beten konnte.

Meyerbeer schreibt jetzt eine neue Oper, welcher ich mit großer Neugier entgegensehe. Die Entfaltung dieses Genius ist für mich ein höchst merkwürdiges Schauspiel. Mit Interesse folge ich den Phasen seines musikalischen wie seines persönlichen Lebens und beobachte die Wechselwirkungen, die zwischen ihm und seinem europäischen Publikum stattfinden. Es sind jetzt zehn Jahre, daß ich ihm zuerst in Berlin begegnete, zwischen dem Universitätsgebäude und der Wachtstube, zwischen der Wissenschaft und der Trommel, und er schien sich in dieser Stellung sehr beklemmt zu fühlen. Ich erinnere mich, ich traf ihn in der Gesellschaft des Dr. Marx, welcher damals zu einer gewissen musikalischen Régence gehörte, die während der Minderjährigkeit eines gewissen jungen Genies, das man als legitimen Thronfolger Mozart's betrachtete, beständig dem Sebastian Bach huldigte. Der Enthusiasmus für Sebastian Bach sollte aber nicht bloß jenes Interregnum ausfüllen, sondern auch die Reputation von Rossini vernichten, den die Regence am meisten fürchtete und also auch am meisten haßte. Meyerbeer galt damals für einen Nachahmer Rossini's, und der Dr. Marx behandelte ihn mit einer gewissen Herablassung, mit einer leutseligen Oberhoheitsmiene, worüber ich jetzt herzlich lachen muß. Der Rossinismus war damals das große Verbrechen Meyerbeer's; er war noch weit entfernt von der Ehre, um seiner selbst willen angefeindet zu werden. Er enthielt sich auch wohlweislich aller Ansprüche, und als ich ihm erzählte, mit welchem Enthusiasmus ich jüngst in Italien seinen »Crotiato« aufführen sehen, lächelte er mit launiger Wehmut und sagte: »Sie kompromittieren sich, wenn Sie mich armen Italiener hier in Berlin loben, in der Hauptstadt von Sebastian Bach!«

Meyerbeer war in der Tat damals ganz ein Nachahmer der Italiener geworden. Der Mißmut gegen den feuchtkalten, verstandswitzigen, farblosen Berlinianismus hatte frühzeitig eine natürliche Reaktion in ihm hervorgebracht; er entsprang nach Italien, genoß fröhlich seines Lebens, ergab sich dort ganz seinen Privatgefühlen und komponierte dort jene köstlichen Opern, worin der Rossinismus mit der süßesten Übertreibung gesteigert ist; hier ist das Geld noch übergüldet und die Blume mit noch stärkeren Wohldüften parfümiert. Das war die glücklichste Zeit Meyerbeer's, er schrieb im vergnügten Rausche der italienischen Sinnenlust, und im Leben wie in der Kunst pflückte er die leichtesten Blumen.

Aber dergleichen konnte einer deutschen Natur nicht lange genügen. Ein gewisses Heimweh nach dem Ernste des Vaterlands ward in ihm wach; während er unter welschen Myrten lagerte, beschlich ihn die Erinnerung an die geheimnisvollen Schauer deutscher Eichenwälder; während südliche Zephyre ihn umkosten, dachte er an die dunkeln Choräle des Nordwinds; – es ging ihm vielleicht gar wie der Frau von Sevigné, die, als sie neben einer Orangerie wohnte und beständig von lauter Orangenblüten umduftet war, sich am Ende nach dem schlechten Geruche einer gesunden Mistkarre zu sehnen begann . . . Kurz, eine neue Reaktion fand statt, Signor Giacomo ward plötzlich wieder ein Deutscher und schloß sich wieder an Deutschland, nicht an das alte, morsche, abgelebte Deutschland des engbrüstigen Spießbürgertums, sondern an das junge, großmütige, weltfreie Deutschland einer neuen Generation, die alle Fragen der Menschheit zu ihren eigenen gemacht hat, und die, wenn auch nicht immer auf ihrem Banner, doch desto unauslöschlicher in ihrem Herzen, die großen Menschheitsfragen eingeschrieben trägt.

Bald nach der Julirevolution trat Meyerbeer vor das Publikum mit einem neuen Werke, das während den Wehen jener Revolution seinem Geiste entsprossen, mit Robert-le-Diable, dem Helden, der nicht genau weiß, was er will, der beständig mit sich selber im Kampfe liegt, ein treues Bild des moralischen Schwankens damaliger Zeit, einer Zeit, die sich zwischen Tugend und Laster so qualvoll unruhig bewegte, in Bestrebungen und Hindernissen sich aufrieb, und nicht immer genug Kraft besaß, den Anfechtungen Satan's zu widerstehen! Ich liebe keineswegs diese Oper, dieses Meisterwerk der Zagheit, ich sage der Zagheit nicht bloß in betreff des Stoffes, sondern auch der Exekution, indem der Komponist seinem Genius noch nicht traut, noch nicht wagt, sich dem ganzen Willen desselben hinzugeben, und der Menge zitternd dient, statt ihr unerschrocken zu gebieten. Man hat damals Meyerbeer mit Recht ein ängstliches Genie genannt; es mangelte ihm der siegreiche Glaube an sich selbst, er zeigte Furcht vor der öffentlichen Meinung, der kleinste Tadel erschreckte ihn, er schmeichelte allen Launen des Publikums und gab links und rechts die eifrigsten Poignées de main, als habe er auch in der Musik die Volkssouveränität anerkannt und begründe sein Regiment auf Stimmenmehrheit, im Gegensatze zu Rossini, der als König von Gottes Gnade im Reiche der Tonkunst absolut herrschte. Diese Ängstlichkeit hat ihn im Leben noch nicht verlassen; er ist noch immer besorgt um die Meinung des Publikums, aber der Erfolg von Robert-le-Diable bewirkte glücklicherweise, daß er von jener Sorge nicht belästigt wird, während er arbeitet, daß er mit weit mehr Sicherheit komponiert, daß er den großen Willen seiner Seele in ihren Schöpfungen hervortreten läßt. Und mit dieser erweiterten Geistesfreiheit schrieb er die Hugenotten, worin aller Zweifel verschwunden, der innere Selbstkampf aufgehört und der äußere Zweikampf angefangen hat, dessen kolossale Gestaltung uns in Erstaunen setzt. Erst durch dieses Werk gewann Meyerbeer sein unsterbliches Bürgerrecht in der ewigen Geisterstadt, im himmlischen Jerusalem der Kunst. In den Hugenotten offenbart sich endlich Meyerbeer ohne Scheu; mit unerschrockenen Linien zeichnete er hier seinen ganzen Gedanken; und alles, was seine Brust bewegte, wagte er auszusprechen in ungezügelten Tönen.

Was dieses Werk ganz besonders auszeichnet, ist das Gleichmaß, das zwischen dem Enthusiasmus und der artistischen Vollendung stattfindet, oder, um mich besser auszudrücken; die gleiche Höhe, welche darin die Passion und die Kunst erreichen; der Mensch und der Künstler haben hier gewetteifert, und wenn jener die Sturmglocke der wildesten Leidenschaft anzieht, weiß dieser die rohen Naturtöne zum schauerlich süßesten Wohllaut zu verklären. Während die große Menge ergriffen wird von der inneren Gewalt, von der Passion der Hugenotten, bewundert der Kunstverständige die Meisterschaft, die sich in den Formen bekundet. Dieses Werk ist ein gotischer Dom, dessen himmelstrebender Pfeilerbau und kolossale Kuppel von der kühnen Hand eines Riesen aufgepflanzt zu sein scheinen, während die unzähligen, zierlich feinen Festons, Rosetten und Arabesken, die wie ein steinerner Spitzenschleier darüber ausgebreitet sind, von einer unermüdlichen Zwergsgeduld Zeugnis geben. Riese in der Konzeption und Gestaltung des Ganzen, Zwerg in der mühseligen Ausführung der Einzelheiten, ist uns der Baumeister der Hugenotten eben so unbegreiflich wie die Kompositoren der alten Dome. Als ich jüngst mit einem Freunde vor der Kathedrale zu Amiens stand, und mein Freund dieses Monument von felsentürmender Riesenkraft und unermüdlich schnitzelnder Zwergsgeduld mit Schrecken und Mitleiden betrachtete und mich endlich frug, wie es komme, daß wir heutzutage keine solchen Bauwerke mehr zustande bringen, antwortete ich ihm: »Teurer Alphonse, die Menschen in jener alten Zeit hatten Überzeugungen, wir Neueren haben nur Meinungen, und es gehört etwas mehr als eine bloße Meinung dazu, um so einen gotischen Dom aufzurichten.«

Das ist es. Meyerbeer ist ein Mann der Überzeugung. Dieses bezieht sich aber nicht eigentlich auf die Tagesfragen der Gesellschaft, obgleich auch in diesem Betracht bei Meyerbeer die Gesinnungen fester begründet stehen als bei anderen Künstlern. Meyerbeer, den die Fürsten dieser Erde mit allen möglichen Ehrenbezeigungen überschütten, und der auch für diese Auszeichnungen so viel Sinn hat, trägt doch ein Herz in der Brust, welches für die heiligsten Interessen der Menschheit glüht, und unumwunden gesteht er seinen Kultus für die Helden der Revolution. Es ist ein Glück für ihn, daß manche nordischen Behörden keine Musik verstehen, sie würden sonst in den Hugenotten nicht bloß einen Parteikampf zwischen Protestanten und Katholiken erblicken. Aber dennoch sind seine Überzeugungen nicht eigentlich politischer und noch weniger religiöser Art; nein, auch nicht religiöser Art, seine Religion ist nur negativ, sie besteht nur darin, daß er, ungleich anderer Künstler, vielleicht aus Stolz, seine Lippen mit keiner Lüge beflecken will, daß er gewisse zudringliche Segnungen ablehnt, deren Annahme immer als eine zweideutige, nie als eine großmütige Handlung betrachtet werden kann. Die eigentliche Religion Meyerbeer's ist die Religion Mozart's, Gluck's, Beethoven's, es ist die Musik; nur an diese glaubt er, nur in diesem Glauben findet er seine Seligkeit und lebt er mit einer Überzeugung, die den Überzeugungen früherer Jahrhunderte ähnlich ist an Tiefe, Leidenschaft und Ausdauer. Ja, ich möchte sagen, er ist Apostel dieser Religion. Wie mit apostolischem Eifer und Drang behandelte er alles, was seine Musik betrifft. Während andere Künstler zufrieden sind, wenn sie etwas Schönes geschaffen haben, ja nicht selten alles Interesse für ihr Werk verlieren, sobald es fertig ist, so beginnt im Gegenteil bei Meyerbeer die größere Kindesnot erst nach der Entbindung, er gibt sich alsdann nicht zufrieden, bis die Schöpfung seines Geistes sich auch glänzend dem übrigen Volke offenbart, bis das ganze Publikum von seiner Musik erbaut wird, bis seine Oper in alle Herzen die Gefühle gegossen, sie er der ganzen Welt predigen will, bis er mit der ganzen Menschheit kommuniziert hat. Wie der Apostel, um eine einzige verlorene Seele zu retten, weder Mühe noch Schmerzen achtet, so wird auch Meyerbeer, erfährt er, daß irgend jemand seine Musik verleugnet, ihm unermüdlich nachstellen, bis er ihn zu sich bekehrt hat; und das einzige gerettete Lamm, und sei es auch die unbedeutendste Feuilletonistenseele, ist ihm dann lieber als die ganze Herde von Gläubigen, die ihn immer mit orthodoxer Treue verehrten.

Die Musik ist die Überzeugung von Meyerbeer, und das ist vielleicht der Grund aller jener Ängstlichkeiten und Bekümmernisse, die der große Meister so oft an den Tag legt, und die uns nicht selten ein Lächeln entlocken. Man muß ihn sehen, wenn er eine neue Oper einstudiert; er ist dann der Plagegeist aller Musiker und Sänger, die er mit unaufhörlichen Proben quält. Nie kann er sich ganz zufrieden geben, ein einziger falscher Ton im Orchester ist ihm ein Dolchstich, woran er zu sterben glaubt. Diese Unruhe verfolgt ihn noch lange, wenn die Oper bereits aufgeführt und mit Beifallsrausch empfangen worden. Er ängstigt sich dann noch immer, und ich glaube, er gibt sich nicht eher zufrieden, als bis einige tausend Menschen, die seine Oper gehört und bewundert haben, gestorben und begraben sind; bei diesen wenigstens hat er keinen Abfall zu befürchten, diese Seelen sind ihm sicher. An den Tagen, wo seine Oper gegeben wird, kann es ihm der liebe Gott nie recht machen; regnet es und ist es kalt, so fürchtet er, daß Mademoiselle Falcon den Schnupfen bekomme; ist hingegen der Abend hell und warm, so fürchtet er, daß das schöne Wetter die Leute ins Freie locken und das Theater leer stehen möchte. Nichts ist der Peinlichkeit zu vergleichen, womit Meyerbeer, wenn seine Musik endlich gedruckt wird, die Korrektur besorgt; diese unermüdliche Verbesserungssucht während der Korrektur ist bei den Pariser Künstlern zum Sprichwort geworden. Aber man bedenke, daß ihm die Musik über alles teuer ist, teurer gewiß als sein Leben. Als die Cholera in Paris zu wüten begann, beschwor ich Meyerbeer, so schleunig als möglich abzureisen; aber er hatte noch für einige Tage Geschäfte, die er nicht hintenan setzen konnte, er hatte mit einem Italiener das italienische Libretto für Robert-le-Diable zu arrangieren.

Weit mehr als Robert-le-Diable sind die Hugenotten ein Werk der Überzeugung, sowohl in Hinsicht des Inhalts als der Form. Wie ich schon bemerkt habe, während die große Menge vom Inhalt hingerissen wird, bewundert der stillere Betrachter die ungeheuren Fortschritte der Kunst, die neuen Formen, die hier hervortreten. Nach dem Ausspruch der kompetentesten Richter müssen jetzt alle Musiker, die für die Oper schreiben wollen, vorher die Hugenotten studieren. In der Instrumentation hat es Meyerbeer am weitesten gebracht. Unerhört ist die Behandlung der Chöre, die sich hier wie Individuen aussprechen und aller opernhaften Herkömmlichkeit entäußert haben. Seit dem Don Juan gibt es gewiß keine größere Erscheinung im Reiche der Tonkunst als jener vierte Akt der Hugenotten, wo auf die grauenhaft erschütternde Szene der Schwerterweihe, der eingesegneten Mordlust, noch ein Duo gesetzt ist, das jenen ersten Effekt noch überbietet; ein kolossales Wagnis, das man dem ängstlichen Genie kaum zutrauen sollte, dessen Gelingen aber ebensosehr unser Entzücken wie unsere Verwunderung erregt. Was mich betrifft, so glaube ich, daß Meyerbeer diese Aufgabe nicht durch Kunstmittel gelöst hat, sondern durch Naturmittel, indem jenes famose Duo eine Reihe von Gefühlen ausspricht, die vielleicht nie, oder wenigstens nie mit solcher Wahrheit, in einer Oper hervorgetreten, und für welche dennoch in den Gemütern der Gegenwart die wildesten Sympathien auflodern. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß nie bei einer Musik mein Herz so stürmisch pochte wie bei dem vierten Akte der Hugenotten, daß ich aber diesem Akte und seinen Aufregungen gern aus dem Wege gehe und mit weit größerem Vergnügen dem zweiten Akte beiwohne. Dieser ist ein gehaltvolleres Idyll, das an Lieblichkeit und Grazie den romantischen Lustspielen von Shakespeare, vielleicht aber noch mehr dem »Aminta« von Tasso ähnlich ist. In der Tat, unter den Rosen der Freude lauscht darin eine sanfte Schwermut, die an den unglücklichen Hofdichter von Ferrera erinnert. Es ist mehr die Sehnsucht nach Heiterkeit als die Heiterkeit selbst, es ist kein herzliches Lachen, sondern ein Lächeln des Herzens, eines Herzens, welches heimlich krank ist und von Gesundheit nur träumen kann. Wie kommt es, daß ein Künstler, dem von der Wiege an alle blutsaugenden Lebenssorgen abgewedelt worden, der, geboren im Schoße des Reichtums, gehätschelt von der ganzen Familie, die allen seinen Neigungen bereitwillig, ja enthusiastisch frönte, weit mehr als irgendein sterblicher Künstler zum Glück berechtigt war, – wie kommt es, daß dieser dennoch jene ungeheuren Schmerzen erfahren hat, die uns aus seiner Musik entgegenseufzen und schluchzen? Denn was er nicht selber empfindet, kann der Musiker nicht so gewaltig, nicht so erschütternd aussprechen. Es ist sonderbar, daß der Künstler, dessen materielle Bedürfnisse befriedigt sind, desto unleidlicher von moralischen Drangsalen heimgesucht wird! Aber das ist ein Glück für das Publikum, das den Schmerzen des Künstlers seine idealsten Freuden verdankt. Der Künstler ist jenes Kind, wovon das Volksmärchen erzählt, daß seine Tränen lauter Perlen sind. Ach! die böse Stiefmutter, die Welt, schlägt das arme Kind um so unbarmherziger, damit es nur recht viele Perlen weine!

Man hat die Hugenotten, mehr noch als Robert-le-Diable, eines Mangels an Melodien zeihen wollen. Dieser Vorwurf beruht auf einem Irrtum. »Vor lauter Wald sieht man die Bäume nicht.« Die Melodie ist hier der Harmonie untergeordnet, und bereits bei einer Vergleichung mit der rein menschlichen, individuellen Musik Rossini's, worin das umgekehrte Verhältnis stattfindet, habe ich angedeutet, daß es diese Vorherrschaft der Harmonie ist, welche die Musik von Meyerbeer als eine menschheitlich bewegte, gesellschaftlich moderne Musik charakterisiert. An Melodien fehlt es ihr wahrlich nicht, nur dürfen diese Melodien nicht störsam schroff, ich möchte sagen egoistisch, hervortreten, sie dürfen nur dem Ganzen dienen, sie sind diszipliniert, statt daß bei den Italienern die Melodien isoliert, ich möchte fast sagen außergesetzlich, sich geltend machen, ungefähr wie ihre berühmten Banditen. Man merkt es nur nicht; mancher gemeine Soldat schlägt sich in einer großen Schlacht ebensogut wie der Kalabrese, der einsame Raubheld, dessen persönliche Tapferkeit uns weniger überraschen würde, wenn er unter regulären Truppen, in Reih' und Glied, sich schlüge. Ich will einer Vorherrschaft der Melodie beileibe ihr Verdienst nicht absprechen, aber bemerken muß ich, als eine Folge derselben sehen wir in Italien jene Gleichgültigkeit gegen das Ensemble der Oper, gegen die Oper als geschlossenes Kunstwerk, die sich so naiv äußerte, daß man in den Logen, während keine Bravourpartien gesungen werden, Gesellschaft empfängt, ungeniert plaudert, wo nicht gar Karten spielt.

Die Vorherrschaft der Harmonie in den Meyerbeer'schen Schöpfungen ist vielleicht eine notwendige Folge seiner weiten, das Reich des Gedankens und der Erscheinungen umfassenden Bildung. Zu seiner Erziehung wurden Schätze verwendet und sein Geist war empfänglich; er ward früh eingeweiht in alle Wissenschaften und unterscheidet sich auch hierdurch von den meisten Musikern, deren glänzende Ignoranz einigermaßen verzeihlich, da es ihnen gewöhnlich an Mitteln und Zeit fehlte, sich außerhalb ihres Faches große Kenntnisse zu erwerben. Das Gelernte ward bei ihm Natur, und die Schule der Welt gab ihm die höchste Entwicklung; er gehört zu jener geringen Zahl Deutscher, die selbst Frankreich als Muster der Urbanität anerkennen mußte. Solche Bildungshöhe war vielleicht nötig, wenn man das Material, das zur Schöpfung der Hugenotten gehörte, zusammenfinden und sicheren Sinnes gestalten wollte. Aber ob nicht, was an Weite der Auffassung und Klarheit des Überblicks gewonnen ward, an anderen Eigenschaften verloren ging, das ist eine Frage. Die Bildung vernichtet bei dem Künstler jene scharfe Akzentuation, jene schroffe Färbung, jene Ursprünglichkeit der Gedanken, jene Unmittelbarkeit der Gefühle, die wir bei rohbegrenzten, ungebildeten Naturen so sehr bewundern.

Die Bildung wird überhaupt immer teuer erkauft, und die kleine Blanka hat recht. Dieses etwa achtjährige Töchterchen von Meyerbeer beneidet den Müßiggang der kleinen Buben und Mädchen, die sie auf der Straße spielen sieht, und äußerte sich jüngst folgendermaßen: »Welch ein Unglück, daß ich gebildete Eltern habe! Ich muß von Morgen bis Abend alles Mögliche auswendig lernen und still sitzen und artig sein, während die ungebildeten Kinder da unten den ganzen Tag glücklich herumlaufen und sich amüsieren können!«


Zehnter Brief

Außer Meyerbeer besitzt die Académie royale de musique wenige Tondichter, von welchen es der Mühe lohnte ausführlich zu reden. Und dennoch befindet sich die französische Oper in der reichsten Blüte, oder, um mich richtiger auszudrücken, sie erfreut sich täglich einer guten Recette. Dieser Zustand des Gedeihens begann vor sechs Jahren durch die Leitung des berühmten Herrn Veron, dessen Prinzipien seitdem von dem neuen Direktor, Herrn Duponchel, mit demselben Erfolg angewendet werden. Ich sage Prinzipien, denn in der Tat, Herr Veron hatte Prinzipien, Resultate seines Nachdenkens in der Kunst und Wissenschaft, und wie er als Apotheker eine vortreffliche Mixtur für den Husten erfunden hat, so erfand er als Operndirektor ein Heilmittel gegen die Musik. Er hatte nämlich an sich selber bemerkt, daß ein Schauspiel von Franconi ihm mehr Vergnügen machte als die beste Oper; er überzeugte sich, daß der größte Teil des Publikums von denselben Empfindungen beseelt sei, daß sie meisten Leute aus Konvenienz in die große Oper gehen und nur dann sich dort ergötzen, wenn schöne Dekorationen, Kostüme und Tänze so sehr ihre Aufmerksamkeit fesseln, daß sie die fatale Musik ganz überhören. Der große Veron kam daher auf den genialen Gedanken, die Schaulust der Leute in so hohem Grade zu befriedigen, daß die Musik sie gar nicht mehr genieren kann, daß sie in der großen Oper dasselbe Vergnügen finden wie bei Franconi. Der große Veron und das große Publikum verstanden sich; jener wußte die Musik unschädlich zu machen, und gab unter dem Titel »Oper« nichts als Pracht- und Spektakelstücke; dieses, das Publikum konnte mit seinen Töchtern und Gattinnen in die große Oper gehen, wie es gebildeten Ständen ziemt, ohne vor Langeweile zu sterben. Amerika war entdeckt, das Ei stand auf der Spitze, das Opernhaus füllte sich täglich, Franconi ward überboten und machte bankrott, und Herr Veron ist seitdem ein reicher Mann. Der Name Veron wird ewig leben in den Annalen der Musik; er hat den Tempel der Göttin verschönert, aber sie selbst zur Tür hinausgeschmissen. Nichts übertrifft den Luxus, der in der großen Oper überhand genommen, und diese ist jetzt das Paradies der Harthörigen.

Der jetzige Direktor folgt den Grundsätzen seines Vorgängers, obgleich er zu der Persönlichkeit desselben den ergötzlich schroffsten Kontrast bildet. Haben Sie Herrn Veron jemals gesehen? Im Café de Paris oder auf dem Boulevard Coblence ist sie Ihnen gewiß manchmal aufgefallen, diese feiste karikierte Figur, mit dem schief eingedrückten Hute auf dem Kopfe, welcher in einer ungeheuren weißen Krawatte, deren Vatermörder bis über die Ohren reichen, um ein überreiches Flechtengeschwür zu bedecken, ganz vergraben ist, so daß das rote, lebenslustige Gesicht mit den kleinen blinzelnden Augen nur wenig zum Vorschein kommt. In dem Bewußtsein seiner Menschenkenntnis und seines Gelingens wälzt er sich so behaglich, so insolent behaglich einher, umgeben von einem Hofstaate junger, mitunter auch ältlicher Dandies der Literatur, die er gewöhnlich mit Champagner oder schönen Figurantinnen realisiert. Er ist der Gott des Materialismus, und sein geistverhöhnender Blick schnitt mir oft peinigend ins Herz, wenn ich ihm begegnete; manchmal dünkte mir, als kröchen aus seinen Augen eine Menge kleiner Würmer, klebricht und glänzend.

Herr Duponchel ist ein hagerer, gelbblasser Mann, welcher, wo nicht edel, doch vornehm aussieht, immer trist, eine Leichenbittermiene, und jemand nannte ihn ganz richtig: un deuil perpétuel. Nach seiner äußeren Erscheinung würde man ihn eher für den Aufseher des Père la chaise, als für den Direktor der großen Oper halten. Er erinnert mich immer an den melancholischen Hofnarren Ludwig's XIII. Dieser Ritter von der traurigen Gestalt ist jetzt Maître de plaisir der Pariser, und ich möchte ihn manchmal belauschen, wenn er einsam in seiner Behausung auf neue Späße sinnt, womit er seinen Souverän, das französische Publikum, ergötzen soll, wenn er wehmütig-närrisch das trübe Haupt schüttelt, daß die Schellen an seiner schwarzen Kappe wie seufzend klingeln, wenn er für die Falcon die Zeichnung eines neuen Kostüms koloriert, und wenn er das rote Buch ergreift, um nachzusehen, ob die Taglioni . . .

Sie sehen mich verwundert an? Ja, das ist ein kurioses Buch, dessen Bedeutung sehr schwer mit anständigen Worten zu erklären sein möchte. Nur durch Analogien kann ich mich hier verständlich machen. Wissen Sie, was der Schnupfen der Sängerinnen ist? Ich höre sie seufzen, und sie denken wieder an ihre Märtyrerzeit: die letzte Probe ist überstanden, die Oper ist schon für den Abend angekündigt, da kommt plötzlich die Prima-Donna und erklärt, daß sie nicht singen könne, denn sie habe den Schnupfen. Da ist nichts anzufangen, ein Blick gen Himmel, ein ungeheurer theatralischer Schmerzensblick! und ein neuer Zettel wird gedruckt, worin man einem verehrungswürdigen Publikum anzeigt, daß die Vorstellung der »Vestalin«, wegen Unpäßlichkeit der Mademoiselle Schnaps, nicht stattfinden könne und statt dessen »Rochus Pumpernickel« aufgeführt wird. Den Tänzerinnen half es nichts, wenn sie den Schnupfen ansagten, er hinderte sie ja nicht am Tanzen, und sie beneideten lange Zeit die Sängerinnen ob jene rheumatischen Erfindung, womit diese sich zu jeder Zeit einen Feierabend und ihrem Feinde, dem Theaterdirektor, einen Leidenstag verschaffen konnten. Sie erflehten daher vom lieben Gott dasselbe Qualrecht, und dieser, ein Freund des Balletts, wie alle Monarchen, begabte sie mit einer Unpäßlichkeit, die, an sich selber harmlos, sie dennoch verhindert, öffentlich zu pirouettieren, und die wir, nach der Analogie von thé dansant, den tanzenden Schnupfen nennen möchten. Wenn nun eine Tänzerin nicht auftreten will, hat sie ebensogut ihren unabweisbaren Vorwand wie die beste Sängerin. Der ehemalige Direktor der großen Oper verwünschte sich oft zu allen Teufeln, wenn »Die Sylphide« gegeben werden sollte, und die Taglioni ihm meldete, sie könne heute keine Flügel und keine Trikothosen anziehen und nicht auftreten, denn sie habe den tanzenden Schnupfen . . . Der große Veron, in seiner tiefsinnigen Weise, entdeckte, daß der tanzende Schnupfen sich von dem singenden Schnupfen der Sängerinnen nicht bloß durch die Farbe, sondern auch durch eine gewisse Regelmäßigkeit unterscheide, und seine jedesmalige Erscheinung lange voraus berechnet werden könne; denn der liebe Gott, ordnungsliebend wie er ist, gab den Tänzerinnen eine Unpäßlichkeit, die im Zusammenhang mit den Gesetzen der Astronomie, der Physik, der Hydraulik, kurz des ganzen Universums steht und folglich kalkulabel ist; der Schnupfen der Sängerinnen hingegen ist eine Privaterfindung, eine Erfindung der Weiberlaune, und folglich inkalkulabel. In diesem Umstand der Berechenbarkeit der periodischen Wiederkehr des tanzenden Schnupfens suchte der große Veron eine Abhilfe gegen die Vexationen der Tänzerinnen, und jedesmal, wenn eine derselben den ihrigen, nämlich den tanzenden Schnupfen, bekam, war das Datum dieses Ereignisses in ein besonderes Buch genau aufgezeichnet, und das ist das rote Buch, welches eben Herr Duponchel in Händen hielt und in welchem er nachrechnen konnte, an welchem Tage die Taglioni . . . Dieses Buch, welches den Inventionsgeist, und überhaupt den Geist des ehemaligen Operndirektors, des Veron, charakterisiert, ist gewiß von praktischer Nützlichkeit.

Aus den vorhergehenden Bemerkungen werden Sie die gegenwärtige Bedeutung der französischen großen Oper begriffen haben. Sie hat sich mit den Feinden der Musik ausgesöhnt, und, wie in die Tuilerien ist der wohlhabende Bürgerstand auch in die Akademie de Musique eingedrungen, während die vornehme Gesellschaft das Feld geräumt hat. Die schöne Aristokratie, diese Elite, die sich durch Rang, Bildung, Geburt, Fashion und Müßiggang auszeichnet, flüchtete sich in die italienische Oper, in diese musikalische Oase, wo die großen Nachtigallen der Kunst noch immer trillern, die Quellen der Melodie noch immer zaubervoll rieseln, und die Palmen der Schönheit mit ihren stolzen Fächern Beifall winken . . . während rings umher eine blasse Sandwüste, eine Sahara der Musik. Nur noch einzelne gute Konzerte tauchen manchmal hervor in dieser Wüste, und gewähren dem Freunde der Tonkunst eine außerordentliche Labung. Dahin gehörten diesen Winter die Sonntage des Conservatoires, einige Privatsoiréen auf der Rue de Bondy, und besonders die Konzerte von Berlioz und Liszt. Die beiden letzteren sind wohl die merkwürdigsten Erscheinungen in der hiesigen musikalischen Welt; ich sage die merkwürdigsten, nicht die schönsten, nicht die erfreulichsten. Von Berlioz werden wir bald eine Oper erhalten. Das Sujet ist eine Episode aus dem Leben Benvenuto Cellini's, der Guß des Perseus. Man erwartet Außerordentliches, da dieser Komponist schon Außerordentliches geleistet. Seine Geistesrichtung ist das Phantastische, nicht Verbunden mit Gemüt, sondern mit Sentimentalität; er hat große Ähnlichkeit mit Callot, Gozzi und Hoffmann. Schon seinen äußere Erscheinung deutet darauf hin. Es ist schade, daß er seine ungeheure, antediluvianische Frisur, diese aufsträubenden Haare, die über seine Stirne, wie ein Wald über eine schroffe Felswand, sich erhoben, abschneiden lassen; so sah ich ihn zum ersten Male vor sechs Jahren, und so wird er immer in meinem Gedächtnis stehen. Es war im Conservatoire de Musique, und man gab eine große Symphonie von ihm, ein bizarres Nachtstück, das nur zuweilen erhellt wird von einer sentimentalweißen Weiberrobe, die darin hin und her flattert, oder von einem schwefelgelben Blitz der Ironie. Das beste darin ist ein Hexensabbat, wo der Teufel Messe liest und die katholische Kirchenmusik mit der schauerlichsten, blutigsten Possenhaftigkeit parodiert wird. Es ist eine Farce, wobei alle geheimen Schlangen, die wir im Herzen tragen, freudig emporzischen. Mein Logennachbar, ein redseliger junger Mann, zeigte mir den Komponisten, welcher sich am äußersten Ende des Saales in einem Winkel des Orchesters befand und die Pauke schlug. Denn die Pauke ist sein Instrument. »Sehen Sie in der Avantszene«, sagte mein Nachbar, »jene dicke Engländerin? Das ist Miß Smithson; in diese Dame ist Herr Berlioz seit drei Jahren sterbensverliebt, und dieser Leidenschaft verdanken wir die wilde Symphonie, die Sie heute hören.« In der Tat, in der Avantszene-Loge saß die berühmte Schauspielerin von Coventgarden; Berlioz sah immer unverwandt nach ihr hin, und jedesmal, wenn sein Blick dem ihrigen begegnete, schlug er los auf seine Pauke, wie wütend. Miß Smithson ist seitdem Madame Berlioz geworden, und ihr Gatte hat sich seitdem auch die Haare abschneiden lassen. Als ich diesen Winter im Conservatoire wieder seine Symphonie hörte, saß er wieder als Paukenschläger im Hintergrunde des Orchesters, die dicke Engländerin saß wieder in der Avantszene, ihre Blicke begegneten sich wieder . . . aber er schlug nicht mehr so wütend auf die Pauke.

Liszt ist der nächste Wahlverwandte von Berlioz und weiß dessen Musik am besten zu exekutieren. Ich brauche Ihnen von seinem Talente nicht zu reden; sein Ruhm ist europäisch. Er ist unstreitig derjenige Künstler, welcher in Paris die unbedingtesten Enthusiasten findet, aber auch die eifrigsten Widersacher. Das ist ein bedeutendes Zeichen, daß niemand mit Indifferenz von ihm redet. Ohne positiven Gehalt kann man in dieser Welt weder günstige, noch feindliche Passionen erwecken. Es gehört Feuer dazu, um die Menschen zu entzünden, sowohl zum Haß als zur Liebe. Was am besten für Liszt zeugt, ist die volle Achtung, womit selbst die Gegner seinen persönlichen Wert anerkennen. Er ist ein Mensch von verschrobenem, aber edlem Charakter, uneigennützig und ohne Falsch. Höchst merkwürdig sind seine Geistesrichtungen, er hat große Anlagen zur Spekulation, und mehr noch, als die Interessen seiner Kunst, interessieren ihn die Untersuchungen der verschiedenen Schulen, die sich mit der Lösung der großen, Himmel und Erde umfassenden Frage beschäftigen. Er glühte lange Zeit für die schöne Saint-Simonistische Weltansicht, später umnebelten ihn die spiritualistischen oder vielmehr vaporischen Gedanken von Ballanche, jetzt schwärmt er für die republikanisch-katholischen Lehren eines Lamennais, welcher die Jakobinermütze aufs Kreuz gepflanzt hat . . . Der Himmel weiß! in welchem Geistesstall er sein nächstes Steckenpferd finden wird. Aber lobenswert bleibt immer dieses unermüdliche Lechzen nach Licht und Gottheit, es zeugt von seinem Sinn für das Heilige, für das Religiöse. Daß ein so unruhiger Kopf, der von allen Nöten und Doktrinen der Zeit in die Wirre getrieben wird, der das Bedürfnis fühlt, sich um alle Bedürfnisse der Menschheit zu bekümmern, und gern die Nase in alle Töpfe steckt, worin der liebe Gott die Zukunft kocht: daß Franz Liszt kein stiller Klavierspieler für ruhige Staatsbürger und gemütliche Schlafmützen sein kann, das versteht sich von selbst. Wenn er am Fortepiano sitzt und sich mehrmals das Haar über die Stirne zurückgestrichen hat und zu improvisieren beginnt, dann stürmt er nicht selten allzu toll über die elfenbeinernen Tasten, und es erklingt eine Wildnis von himmelhohen Gedanken, wo zwischen hie und da die süßesten Blumen ihren Duft verbreiten, daß man zugleich beängstigt und beseligt wird, aber doch noch mehr beängstigt.

Ich gestehe es Ihnen, wie sehr ich auch Liszt liebe, so wirkt doch seine Musik nicht angenehm auf mein Gemüt, um so mehr, da ich ein Sonntagskind bin und die Gespenster auch sehe, welche andere Leute nur hören, da, wie Sie wissen, bei jedem Ton, den die Hand auf dem Klavier anschlägt, auch die entsprechende Klangfigur in meinem Geiste aufsteigt, kurz, da die Musik meinem inneren Auge sichtbar wird. Noch zittert mir der Verstand im Kopfe bei der Erinnerung des Konzerts, worin ich Liszt zuletzt spielen hörte. Es war im Konzerte für die unglücklichen Italiener, im Hôtel jener schönen, edlen und leidenden Fürstin, welche ihr leibliches und ihr geistiges Vaterland, Italien und den Himmel, so schön repräsentiert . . . (Sie haben sie gewiß in Paris gesehen, die ideale Gestalt, welche dennoch nur das Gefängnis ist, worin die heiligste Engelseele eingekerkert worden . . . Aber dieser Kerker ist so schön, daß jeder wie verzaubert davor stehen bleibt und ihn anstaunt) … Es war im Konzerte zum Besten der unglücklichen Italiener, wo ich Liszt verflossenen Winter zuletzt spielen hörte, ich weiß nicht mehr was, aber ich möchte darauf schwören, er variierte einige Themata aus der Apokalypse. Anfangs konnte ich sie nicht ganz deutlich sehen, die vier mystischen Tiere, ich hörte nur ihre Stimme, besonders das Gebrüll des Löwen und das Krächzern des Adlers. Den Ochsen mit dem Buch in der Hand sah ich ganz genau. Am besten spielte er das Tal Josaphat. Es waren Schranken wie bei einem Turnier, und als Zuschauer um den ungeheuren Raum drängten sich die auferstandenen Völker, grabesbleich und zitternd. Zuerst galoppierte Satan in die Schranken, schwarz geharnischt auf einem milchweißen Schimmel. Langsam ritt hinter ihm her der Tod, auf seinem fahlen Pferde. Endlich erschien Christus, in goldener Rüstung, auf einem schwarzen Roß, und mit seiner heiligen Lanze stach er erst Satan zu Boden, hernach den Tod, und die Zuschauer jauchzten . . . Stürmischen Beifall zollte man dem Spiel des wackeren Liszt, welcher ermüdet das Klavier verließ, sich vor den Damen verbeugte . . . Um die Lippen der Schönsten zog jenes melancholisch-süße Lächeln, welches an Italien erinnert und den Himmel ahnen läßt . . .

Das eben erwähnte Konzert hatte für das Publikum noch ein besonderes Interesse. Aus Journalen wissen Sie zur Genüge, welches trübselige Mißverhältnis zwischen Liszt und dem Wiener Pianisten Thalberg herrscht, welchen Rumor ein Artikel von Liszt gegen Thalberg in der musikalischen Welt erregt hat, und welche Rollen die lauernde Feindschaft und Klatschsucht sowohl zum Nachteil des Kritikers als des Kritisierten dabei spielten. In der Blütenzeit dieser skandalösen Reibungen entschlossen sich nun beide Helden des Tages, in demselben Konzerte, einer nach dem andern, zu spielen. Sie setzten beide die verletzten Privatgefühle beiseite, um einen wohltätigen Zweck zu fördern, und das Publikum, welchem sie Gelegenheit boten, ihre eigentümlichen Verschiedenheiten durch augenblickliche Vergleichung zu erkennen und zu würdigen, zollte ihnen reichlich den verdienten Beifall.

Ja, man braucht den musikalischen Charakter beider nur einmal zu vergleichen, um sich zu überzeugen, daß es von ebensogroßer Heimtücke wie Beschränktheit zeugt, wenn man den einen auf Kosten des anderen lobte. Ihre technische Ausbildung wird sich wohl die Wage halten, und was ihren geistigen Charakter betrifft, so läßt sich wohl kein schrofferer Kontrast erdenken, als der edle, seelenvolle, verständige, gemütliche, stille, deutsche, ja österreichische Thalberg, gegenüber dem wilden, wetterleuchtenden, vulkanischen, himmelstürmenden Liszt!

Die Vergleichung zwischen Virtuosen beruht gewöhnlich auf einem Irrtum, der einst auch in der Poetik florierte, nämlich in dem sogenannten Prinzip von der überwundenen Schwierigkeit. Wie man aber seitdem eingesehen hat, daß die metrische Form eine ganz andere Bedeutung hat, als von der Sprachkünstlichkeit des Dichters Zeugnis zu geben, und daß wir einen schönen Vers nicht deshalb bewundern, weil seine Anfertigung viele Mühe gekostet hat, so wird man bald einsehen, daß es hinlänglich ist, wenn ein Musiker alles, was er fühlt und denkt, oder was andere gefühlt und gedacht, durch sein Instrument mitteilen kann, und daß alle virtuosischen Tours de force, die nur von der überwundenen Schwierigkeit zeugen, als unnützer Schall zu verwerfen und ins Gebiet der Taschenspielerei, des Volteschlagens, der verschluckten Schwerter, der Balancierkünste und der Eiertänze zu verweisen sind. Es ist hinreichend, daß der Musiker sein Instrument ganz in der Gewalt habe, daß man des materiellen Vermittlers ganz vergesse und nur der Geist vernehmbar werde. Überhaupt seit Kalkbrenner die Kunst des Spiels zur höchsten Vollendung gebracht, sollten sich die Pianisten nicht viel auf ihre technische Fertigkeit einbilden. Nur Aberwitz und Böswilligkeit durften in pedantischen Ausdrücken von einer Revolution sprechen, welche Thalberg auf seinem Instrumente hervorgebracht habe. Man hat diesem großen, vortrefflichen Künstler einen schlechten Dienst erwiesen, als man, statt die jugendliche Schönheit, Zärte und Lieblichkeit seines Spiels zu rühmen, ihn als einen Columbus darstellte, der auf dem Pianoforte Amerika entdeckt habe, während die anderen sich bisher nur mühsam um das Vorgebirge der guten Hoffnung herumspielen mußten, wenn sie das Publikum mit musikalischen Spezereien erquicken wollten. Wie mußte Kalkbrenner lächeln, als er von der neuen Entdeckung hörte!

Es wäre ungerecht, wenn ich bei dieser Gelegenheit nicht eines Pianisten erwähnen wollte, der neben Liszt am meisten gefeiert wird. Es ist Chopin,Im ältesten Abdruck lautet diese Stelle »Es ist Chopin, und dieser kann zugleich als Beispiel dienen, wie es einem außerordentlichen Menschen nicht genügt, in der technischen Vollendung mit den Besten seines Faches rivalisieren zu können. Chopin ist nicht damit zufrieden, daß seine Hände ob ihrer Fertigkeit von anderen Händen beifällig beklatscht werden; er strebt nach einem besseren Lorbeer, seine Finger sind nur die Diener seiner Seele, und diese wird applaudiert von Leuten, die nicht bloß mit den Ohren hören, sondern auch mit der Seele. Er ist daher der Liebling jener Elite etc.« – Der Herausgeber. der nicht bloß als Virtuose durch technische Vollendung glänzt, sondern auch als Komponist das Höchste leistet. Das ist ein Mensch vom ersten Range; Chopin ist der Liebling jener Elite, die in der Musik die höchsten Geistesgenüsse sucht. Sein Ruhm ist aristokratischer Art, er ist parfümiert von den Lobsprüchen der guten Gesellschaft, er ist vornehm wie seine Person.

Chopin ist von französischen Eltern in Polen geboren und hat einen Teil seiner Erziehung in Deutschland genossen. Diese Einflüsse dreier Nationalitäten machen seine Persönlichkeit zu einer höchst merkwürdigen Erscheinung; er hat sich nämlich das beste angeeignet, wodurch sich die drei Völker auszeichnen: Polen gab ihm seinen chevaleresken Sinn und seinen geschichtlichen Schmerz, Frankreich gab ihm seine leichte Anmut, seine Grazie, Deutschland gab ihm den romantischen Tiefsinn . . . Die Natur aber gab ihm eine zierliche, schlanke, etwas schmächtige Gestalt, das edelste Herz und das Genie. Ja, dem Chopin muß man Genie zusprechen in der vollen Bedeutung des Wortes; er ist nicht bloß Virtuose, er ist auch Poet, er kann uns die Poesie, die in seiner Seele lebt, zur Anschauung bringen, er ist Tondichter, und nichts gleicht dem Genuß, den er uns verschafft, wenn er am Klavier sitzt und improvisiert. Er ist alsdann weder Pole, noch Franzose, noch Deutscher, er verrät dann einen weit höheren Ursprung, man merkt alsdann, er stammt aus dem Lande Mozart's, Raphael's, Goethe's, sein wahres Vaterland ist das Traumreich der Poesie. Wenn er am Klavier sitzt und improvisiert, ist es mir, als besuche mich ein Landsmann aus der geliebten Heimat und erzähle mir die kuriosesten Dinge, die während meiner Abwesenheit dort passiert sind . . . Manchmal möcht' ich ihn mit Fragen unterbrechen: Und wie geht's der schönen Nixe, die ihren silbernen Schleier so kokett um die grünen Locken zu binden wußte? Verfolgt sie noch immer der weißbärtige Meergott mit seiner närrisch abgestandenen Liebe? Sind bei uns die Rosen noch immer so flammenstolz? Singen die Bäume noch immer so schön im Mondschein? . . .

Ach! es ist schon lange her, daß ich in der Fremde lebe, und mit meinem fabelhaften Heimweh komme ich mir manchmal vor wie der fliegende Holländer und seine Schiffsgenossen, die auf den kalten Wellen ewig geschaukelt werden und vergebens zurückverlangen nach den stillen Kaien, Tulpen, Myfrowen, Tonpfeifen und Porzellantassen von Holland . . . »Amsterdam! Amsterdam! wann kommen wir wieder nach Amsterdam!« seufzen sie im Sturm, während die Heulwinde sie beständig hin- und herschleudern auf den verdammten Wogen ihrer Wasserhölle. Wohl begreife ich den Schmerz, womit der Kapitän des verwünschten Schiffes einst sagte: »Komme ich jemals zurück nach Amsterdam, so will ich dort lieber ein Stein werden an irgendeiner Straßenecke, als daß ich jemals die Stadt wieder verlasse!« Armer Vanderdecken!

Ich hoffe, liebster Freund, daß diese Briefe Sie froh und heiter antreffen, im rosigen Lebenslichte, und daß es mir nicht wie dem fliegenden Holländer ergehe, dessen Briefe gewöhnlich an Personen gerichtet sind, die während seiner Abwesenheit in der Heimat längst verstorben sind!

Ach, wie viele meiner Lieben sind dahingeschieden, während mein Lebensschiff in der Fremde von den fatalsten Stürmen hin und her getrieben wird! Ich fange an schwindlicht zu werden, und ich glaube, auch die Sterne am Himmel stehen nicht mehr fest und bewegen sich in leidenschaftlichen Kreisen. Ich schließe die Augen, und dann greifen nach mir die tollen Träume mit ihren langen Armen, und ziehen mich in unerhörte Gegenden und schauerliche Beängstigungen . . . Sie haben keinen Begriff davon, teurer Freund, wie seltsam, wie abenteuerlich wunderbar die Landschaften sind, die ich im Traume sehe, und welche grauenhaften Schmerzen mich sogar im Schlafe quälen . . .

Verflossene Nacht befand ich mich in einem ungeheuren Dome. Es herrschte darin dämmerndes Zwielicht . . . Nur in den obersten Räumen, durch die Galerien, die über dem ersten Pfeilerbau sich erhoben, zogen die flackernden Lichter einer Prozession: rotröckige Chorknaben, ungeheure Wachskerzen und Kreuzfahnen vorantragend, braune Mönche und Priester, in buntfarbigen Meßgewanden hintendrein folgend . . . Und der Zug bewegte sich märchenhaft schauerlich in den Höhen, der Kuppel entlang, aber allmählich herabsteigend, während ich unten, das unglückselige Weib am Arm, im Schiffe der Kirche immer hin und her floh. Ich weiß nicht mehr, ob welcher Befürchtung: wir flohen mit herzpochender Angst, suchten uns manchmal hinter einem von den Riesenpfeilern zu verstecken, jedoch vergebens, und wir flohen; immer ängstlicher, da die Prozession, auf Wendeltreppen herabsteigend, uns endlich nahete . . . Es war ein unbegreiflich wehmütiger Gesang, und was noch unbegreiflicher, voran schritt eine lange, blasse schon ältliche Frau, die noch Spuren großer Schönheit im Gesichte trug und sich mit gemessenen Pas, fast wie eine Operntänzerin, zu uns hin bewegte. In den Händen trug sie einen Strauß von schwarzen Blumen, den sie uns mit theatralischer Gebärde darreichte, während ein wahrer, ungeheurer Schmerz in ihren großen, glänzenden Augen zu weinen schien . . . Nun aber änderte sich plötzlich die Szene, und, statt in einem dunklen Dome, befanden wir uns in einer Landschaft, wo die Berge sich bewegten und allerlei Stellungen annahmen, wie Menschen, und wo die Bäume mit roten Flammenblättern zu brennen schienen, und wirklich brannten . . . Denn als die Berge, nach den tollsten Bewegungen, sich gänzlich verflachten, verloderten auch die Bäume in sich selber, fielen wie Asche zusammen . . . Und endlich befand ich mich ganz allein auf einer weiten, wüsten Ebene, unter meinen Füßen nichts als gelber Sand, über mir nichts als trostlos fahler Himmel. Ich war allein. Die Gefährtin war von meiner Seite verschwunden, und indem ich sie angstvoll suchte, fand ich im Sande eine weibliche Bildsäule, wunderschön, aber die Arme abgebrochen, wie bei der Venus von Milo, und der Marmor an manchen Stellen kummervoll verwittert. Ich stand eine Weile davor in wehmütiger Betrachtung, bis endlich ein Reiter angeritten kam. Das war ein großer Vogel, ein Strauß, und er ritt auf einem Kamele, drollig anzusehen. Er machte ebenfalls Halt vor der gebrochenen Statue, und wir unterhielten uns lange über die Kunst. Was ist die Kunst? frug ich ihn. Und er antwortete: »Fragen Sie das große steinerne Sphinx, welche im Vorhof des Museums zu Paris kauert.«

Teurer Freund, lachen Sie nicht über meine Nachtgeschichte! Oder haben auch Sie ein werkeltägiges Vorurteil gegen Träume? –

Morgen reise ich nach Paris. Leben Sie wohl!



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