Heinrich Heine
Die parlamentarische Periode des Bürgerkönigtums
Heinrich Heine

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Aus den Pyrenäen

I.

Barèges, den 26. Juli 1846

Seit Menschengedenken gab es kein solches Zuströmen nach den Heilquellen von Barèges wie dieses Jahr. Das kleine Dorf, das aus etwa sechzig Häusern und einigen Dutzend Notbaracken besteht, kann die kranke Menge nicht mehr fassen; Spätkömmlinge fanden kaum ein kümmerliches Obdach für eine Nacht und mußten leidend umkehren. Die meisten Gäste sind französische Militärs, die in Afrika sehr viele Lorbeeren, Lanzenstiche und Rheumatismen eingeerntet haben. Einige alte Offiziere aus der Kaiserzeit keuchen hier ebenfalls umher, und suchen in der Badewanne die glorreichen Erinnerungen zu vergessen, die sie bei jedem Witterungswechsel so verdrießlich jucken. Auch ein deutscher Dichter befindet sich hier, der manches auszubaden haben mag, aber bis jetzt keineswegs seines Verstandes verlustig und noch viel weniger in ein Irrenhaus eingesperrt worden ist, wie ein Berliner Korrespondent in der hochlöblichen »Leipziger Allgemeinen Zeitung« berichtet hat. Freilich, wir können uns irren, Heinrich Heine ist vielleicht verrückter, als er selbst weiß; aber mit Gewißheit dürfen wir versichern, daß man ihn hier in dem anarchischen Frankreich noch immer auf freien Füßen herumgehen läßt, was ihm wahrscheinlich zu Berlin, wo die geistige Sanitätspolizei strenger gehandhabt wird, nicht gestattet werden möchte. Wie dem auch sei, fromme Gemüter an der Spree mögen sich trösten, wenn auch nicht der Geist, so ist doch der Leib des Dichters hinlänglich belastet mit lähmenden Gebresten, und auf der Reise von Paris hierher ward sein Siechtum so unleidlich, daß er unfern von Bagnères de Bigorre den Wagen verlassen und sich auf einem Lehnsessel über das Gebirge tragen lassen mußte. Er hatte bei dieser erhabenen Fahrt manche erfreuliche Lichtblicke, nie hat ihn Sonnenglanz und Waldgrün inniger bezaubert, und die großen Felsenkoppen, wie steinerne Riesenhäupter, sahen ihn an mit fabelhaftem Mitleid. Die Hautes Pyrénées sind wunderbar schön. Besonders seelenerquickend ist die Musik der Bergwasser, die, wie ein volles Orchester, in den rauschenden Talfluß, den sogenannten Gâve, hinabstürzen. Gar lieblich ist dabei das Geklingel der Lämmerherden, zumal wenn sie in großer Anzahl wie jauchzend von den Bergeshalden heruntergesprungen kommen, voran die langwolligen Mutterschafe und dorisch gehörnten Widder, welche große Glocken an den Hälsen tragen, und nebenherlaufend der junge Hirt, der sie nach dem Taldorfe zur Schur führt, und bei dieser Gelegenheit auch die Liebste besuchen will. Einige Tage später ist das Geklingel minder heiter, denn es hat unterdessen gewittert, aschgraue Nebelwolken hängen tief herab, und mit seinen geschornen, fröstelnd nackten Lämmern steigt der junge Hirt melancholisch wieder hinauf in seine Alpeneinsamkeit; er ist ganz eingewickelt in seinen braunen, reichgeflickten Baskesenmantel, und das Scheiden von ihr war vielleicht bitter.

Ein solcher Anblick mahnt mich aufs lebhafteste an das Meisterwerk von Decamps, welches der diesjährige Salon besaß, und das von so vielen, ja von dem kunstverständigsten Franzosen, Theophile Gautier, mit hartem Unrecht getadelt ward. Der Hirt auf jenem Gemälde, der in seiner zerlumpten Majestät wie ein wahrer Bettelkönig aussieht und an seiner Brust, unter den Fetzen des Mantels, ein armes Schäfchen vor dem Regenguß zu schützen sucht, in stumpfsinnig trüben Wetterwolken mit ihren feuchten Grimassen, der zottighäßliche Schäferhund – alles ist auf jenem Bilde so naturwahr, so pyrenäentreu gemalt, so ganz ohne sentimentalen Anstrich und ohne süßliche Veridealisierung, daß einem hier das Talent des Decamp's fast erschreckend, in seiner naivsten Nacktheit, offenbar wird.

Die Pyrenäen werden jetzt von vielen französischen Malern mit großem Glück ausgebeutet, besonders wegen der hiesigen pittoresken Volkstrachten, und die Leistungen von Leleux, die unser feintreffender Pfeilkollege immer so schön gewürdigt, verdienen das gespendete Lob; auch bei diesem Maler ist Wahrheit der Natur, aber ohne ihre Bescheidenheit, sie tritt schier allzu keck hervor und sie artet aus in Virtuosität. Die Kleidung der Bergbewohner, der Bearnaisen, der Basken und der Grenzspanier, ist in der Tat so eigentümlich und staffeleifähig, wie es ein junger Enthusiast von der Pinselgilde, der den banalen Frack verabscheut, nur irgend verlangen kann; besonders pittoresk ist die Kopfbedeckung der Weiber, die scharlachrote, bis an die Hüften über den schwarzen Leibrock herabhängende Kapuze. Einen überaus köstlichen Anblick gewähren derartig kostümierte Ziegenhirtinnen, wenn sie, auf hochgesattelten Maultieren sitzend, den altertümlichen Spinnstock unterm Arm, mit ihren gehörnten schwarzen Zöglingen über die äußersten Spitzen der Berge einherreiten und der abenteuerliche Zug sich in den reinsten Konturen abzeichnet an dem sonnig blauen Himmelsgrund.

Das Gebäude, worin sich die Badeanstalt von Barèges befindet, bildet einen schauderhaften Kontrast mit den umgebenden Naturschönheiten, und sein mürrisches Äußere entspricht vollkommen den innern Räumen: unheimlich finstere Zellen, gleich Grabgewölben mit gar zu schmalen steinernen Badewannen, einer Art provisorischer Särge, worin man alle Tage eine Stunde lang sich üben kann im Stilleliegen mit ausgestreckten Beinen und gekreuzten Armen eine nützliche Vorübung für Lebensabiturienten. Das beklagenswerteste Gebrechen zu Barèges ist der Wassermangel; die Heilquellen strömen nämlich nicht in hinlänglicher Fülle. Eine traurige Abhilfe in dieser Beziehung gewähren die sogenannten Piscinen, ziemlich enge Wasserbehälter, worin sich ein Dutzend, auch wohl anderthalb Dutzend Menschen gleichzeitig baden in aufrechter Stellung. Hier gibt es Berührungen, die selten angenehm sind, und bei dieser Gelegenheit begreift man in ihrem ganzen Tiefsinn die Worte des toleranten Ungars, der sich den Schnurrbart strich und zu seinem Kameraden sagte: »Mir ist ganz gleich, was der Mensch ist, ob er Christ oder Jude, republikanisch oder kaiserlich, Türke oder Preuße, wenn nur der Mensch gesund ist.«

II.

Barèges, den 7. August 1846

Über die therapeutische Bedeutung der hiesigen Bäder wage ich mich nicht mit Bestimmtheit auszusprechen. Es läßt sich vielleicht überhaupt nichts Bestimmtes darüber sagen. Man kann das Wasser einer Quelle chemisch ersetzen und genau angeben, wieviel Schwefel, Salz oder Butter darin enthalten ist, aber niemand wird es wagen, selbst in bestimmten Fällen die Wirkung dieses Wassers für ein ganz probates, untrügliches Heilmittel zu erklären; denn diese Wirkung ist ganz abhängig von der individuellen Leibesbeschaffenheit des Kranken, und das Bad, das bei gleichen Krankheitssymptomen dem einen fruchtet, übt auf den andern nicht den mindesten, wo nicht gar den schädlichsten Einfluß. In der Weise wie z. B. der Magnetismus enthalten auch die Heilquellen eine Kraft, die hinlänglich konstatiert, aber keineswegs determiniert ist, deren Grenzen und auch geheimste Natur den Forschern bis jetzt unbekannt geblieben, so daß der Arzt dieselben nur versuchsweise, wo alle andern Mittel fehlschlagen, als Medikament anzuwenden pflegt. Wenn der Sohn Äskulap's gar nicht mehr weiß, was er mit dem Patienten anfangen soll, dann schickt er uns ins Bad mit einem langen Konsultationszettel, der nichts anderes ist als ein offener Empfehlungsbrief an den Zufall!

Die Lebensmittel hier sind sehr schlecht, aber desto teurer. Frühstück und Mittagessen werden den Gästen in hohen Körben und von ziemlich klebrichten Mägden aufs Zimmer getragen, ganz wie in Göttingen. Hätten wir nur hier ebenfalls den jugendlich-akademischen Appetit, womit wir einst die gelehrt-trockensten Kalbsbraten Georgia Augusta's zermalmten! Das Leben selbst ist hier so langweilig wie an den blumigen Ufern der Leine. Doch kann ich nicht umhin zu erwähnen, daß wir zwei sehr hübsche Bälle genossen, wo die Tänzer alle ohne Krücken erschienen. Es fehlte dabei nicht an einigen Töchtern Albion's, die sich durch Schönheit und linkisches Wesen auszeichneten; sie tanzten, als ritten sie auf Eseln. Unter den Französinnen glänzte die Tochter des berühmten Cellarius, die – welche Ehre für das kleine Barèges – hier eigenfüßig die Polka tanzte. Auch mehre junge Tanznixen der Pariser großen Oper, welche man Ratten nennt, unter andern die silberfüßige Mademoiselle Lelhomme, wirbelten hier ihre Entrechats, und ich dachte bei diesem Anblick wieder lebhaft an mein liebes Paris, wo ich es vor lauter Tanz und Musik am Ende nicht mehr aushalten konnte, und wohin das Herz sich jetzt dennoch wieder zurücksehnt. Wunderbar närrischer Zauber! Vor lauter Plaisir und Belustigung wird Paris zuletzt so ermüdend, so erdrückend, so überlästig, alle Freuden sind dort mit so erschöpfender Anstrengung verbunden, daß man jauchzend froh ist, wenn man dieser Galeere des Vergnügens einmal entspringen kann – und kaum ist man einige Monate von dort entfernt, so kann eine einzige Walzermelodie oder der bloße Schatten eines Tänzerinnenbeins in unserm Gemüt das sehnsüchtigste Heimweh nach Paris erwecken! Das geschieht aber nur den bemoosten Häuptern dieses süßen Bagnos, nicht den jungen Burschen unsrer Landsmannschaft, die nach einem kurzen Semesteraufenthalt in Paris gar kläglich bejammern, daß es dort nicht so gemütlich still sei, wie jenseits des Rheins, wo das Zellensystem des einsamen Nachdenkens eingeführt ist, daß man sich dort nicht ruhig sammeln könne wie etwa zu Magdeburg oder Spandau, daß das sittliche Bewußtsein sich dort verliere im Geräusch der Genußwellen, die sich überstürzen, daß die Zerstreuung dort zu groß sei – ja, sie ist wirklich zu groß in Paris, denn während wir uns dort zerstreuen, zerstreut sich auch unser Geld!

Ach, das Geld! Es weiß sich sogar hier in Barèges zu zerstreuen, so langweilig auch dieses Heilnest. Es übersteigt alle Begriffe, wie teuer der hiesige Aufenthalt; er kostet mehr als das Doppelte, was man in andern Badeörtern der Pyrenäen ausgibt. Und welche Habsucht bei diesen Gebirgsbewohnern, die man als eine Art Naturkinder, als die Reste einer Unschuldsrace zu preisen pflegt! Sie huldigen dem Geld mit einer Inbrunst, die an Fanatismus grenzt, und das ist ihr eigentlicher Nationalkultus. Aber ist das Geld jetzt nicht der Gott der ganzen Welt, ein allmächtiger Gott, den selbst der verstockteste Atheist keine drei Tage lang verleugnen könnte, denn ohne seine göttliche Hilfe würde ihm der Bäcker auch nicht die kleinste Semmel verabfolgen lassen.

Dieser Tage bei der großen Hitze kamen ganze Schwärme von Engländern nach Barèges; rotgesunde beefsteakgemästete Gesichter, die mit der bleichen Gemeinde der Badegäste schier beleidigend kontrastierten. Der bedeutendste dieser Ankömmlinge ist ein enorm reiches und leidlich bekanntes Parlamentsglied von der toristischen Klicke. Dieser Gentleman scheint die Franzosen nicht zu lieben, aber hingegen uns Deutsche mit der größten Zuneigung zu beehren. Er rühmte besonders unsre Redlichkeit und Treue. Auch wolle er zu Paris, wo er den Winter zu verbringen gedenke, sich keine französischen Bedienten, sondern nur deutsche anschaffen. Ich dankte ihm für das Zutrauen, das er uns schenke, und empfahl ihm einige Landsleute von der historischen Schule.

Zu den hiesigen Badegästen rechnen wir auch, wie männiglich bekannt ist, den Prinzen von Remours, der einige Stunden von hier, zu Luz, mit seiner Familie wohnt, aber täglich hierher fährt, um sein Bad zu nehmen. Als er das erste Mal in dieser Absicht nach Barèges kam, saß er in einer offenen Kalesche, obgleich das miserabelste Nebelwetter an jenem Tage herrschte, ich schloß daraus, daß er sehr gesund sein müsse, und jedenfalls keinen Schnupfen scheue. Sein erster Besuch galt dem hiesigen Militärhospital, wo er leutselig mit den kranken Soldaten sprach, sich nach ihren Blessuren erkundigte, auch nach ihrer Dienstzeit usw. Eine solche Demonstration, obgleich sie nur ein altes Trompeterstückchen ist, womit schon so viele erlauchte Personen ihre Virtuosität beurkundet haben, verfehlt doch nie ihre Wirkung, und als der Fürst bei der Badeanstalt anlangte, wo das neugierige Publikum ihn erwartete, war er bereits ziemlich populär.In der Augsburger Allgemeinen Zeitung findet sich hier folgende Einschaltung: »Da diesem designierten Regenten eine so große Zukunft bevorsteht und seine Persönlichkeit auf das Schicksal von ganz Europa Einfluß haben kann, betrachtete ich ihn mit etwas geschärfter Aufmerksamkeit, und ich suchte in seiner äußern Erscheinung die Signatur der inneren Gemütsart zu erspähen. Bei diesem etwas mißtrauischen Geschäfte entwaffnete mich zunächst die stille Grazie, welche jene schlankzierliche Jünglingsgestalt gleichsam umfloß, und dann der schöne mitleidige Blick, womit das Auge auf den Leidensgestalten ruhte, die hier in betrübsamer Menge versammelt waren. Dieser Blick hatte durchaus nichts Offizielles, nichts Einstudiertes, es war ein reiner, wahrhafter Strahl aus einer edlen, menschenfreundlichen Seele. Das Mitleid, das sich hier im Auge des Nemours verriet, hatte dabei etwas rührend Bescheidenes, wie denn überhaupt die Bescheidenheit der auffallend schönste Zug in seinem Charakter sein soll. Diese Bescheidenheit fanden wir auch bei seinem Bruder, dem Herzog von Orleans, der auf dem Schlachtfelde des Lebens so bedauerlich früh gefallen. Der Herzog von Nemours ist nicht so beliebt etc.« – Der Herausgeber. Nichtsdestoweniger ist der Herzog von Nemours nicht so beliebt wie sein verstorbener Bruder, dessen Eigenschaften sich mit mehr Offenheit kundgaben. Dieser herrliche Mensch, oder besser gesagt dieses herrliche Menschengedicht, welches Ferdinand Orleans hieß, war gleichsam in einem populären, allgemein faßlichen Stil gedichtet, während der Nemours in einer für die große Menge minder leicht zugänglichen Kunstform sich zurückzieht. Beide Prinzen bildeten immer einen merkwürdigen Gegensatz in ihrer äußern Erscheinung. Die des Orleans war nonchalant ritterlich; der andere hat vielmehr etwas von seiner Patrizierart. Ersterer war ganz ein junger französischer Offizier, übersprudelnd von leichtsinnigster Bravour, ganz die Sorte, die gegen Festungsmauern und Frauenherzen mit gleicher Lust Sturm läuft. Es heißt, der Nemours sei ein guter Soldat, vom kaltblütigsten Mute, aber nicht sehr kriegerisch.Statt des obigen Satzes findet sich in der Augsburger Allgemeinen Zeitung folgende Stelle: »Der Nemours sieht vielmehr aus wie ein Staatsmann, aber wie einer, der ein Gewissen hat und mit der Besonnenheit auch den edelsten Willen verbindet. Soll ich mich durch Beispiele verständlichen, so wähle ich dieselben am liebsten im Gebiete der Dichtung, und es will mich bedünken, als habe Goethe die beiden Fürsten schon so halbwegs geschildert unter dem Namen Egmont und Oranien. Personen, die ihm nahestehen, sagen mir, der Prinz von Nemours besitze sehr viel Kenntnisse und eine klare Übersicht aller heimischen und ausländischen Zustände; eifrig sei er bemüht, sich bei jedem Sachverständigen zu unterrichten, er selbst aber zeige sich wenig mitteilend, und man wisse nicht, ob aus Schüchternheit oder Verschlossenheit. Als hervorstechende Eigenschaft loben sie an ihm seine hohe Zuverlässigkeit; er verspreche selten, mit der größten Zurückhaltung, aber man könne sich auf sein Wort verlassen wie auf einen Felsen. Er sei ein guter Soldat, von dem kaltblütigsten Mute, aber nicht sehr kriegslustig. Er liebe seine Familie leidenschaftlich, und der kluge Vater habe wohl gewußt, in wessen Hände er das Heil des Hauses Orleans gelegt. Welche Bürgschaft aber bietet der Mann für die Interessen Frankreichs und der Menschheit überhaupt? Ich glaube: die beste; jedenfalls, wir wollen es ansprechen, eine weit bessere als sein seliger Bruder uns geboten hätte. Er ist weniger populär als dieser es war und er darf also weniger wagen, wenn einmal die Errungenschaften der Revolution mit den Bedürfnissen der Regierung in Konflikt gerieten. Geliebte Regenten, die ein blindes Zutrauen genießen, sind der Freiheit mitunter sehr gefährlich. Der Nemours weiß, daß man ihn argwöhnisch beaufsichtigt, und er wird sich in acht nehmen vor jedem verfänglichen Akt. Auch wird er sich nicht so leicht von der Trompete Bellona's verlocken lassen etc.« – Der Herausgeber. Er wird daher, wenn er zur Regentschaft gelangt, sich nicht so leicht von der Trompete Bellona's verlocken lassen, wie sein Bruder dessen fähig war; was uns sehr lieb ist, da wir wohl ahnen, welches teure Land der Kriegsschauplatz sein würde, und welches naive Volk am Ende die Kriegskosten bezahlen müßte. Nur eins möchte ich gern wissen, ob nämlich der Herzog von Nemours auch so viel Geduld besitzt wie sein glorreicher Vater, der durch diese Eigenschaft, die allen seinen französischen Gegnern fehlt, unermüdlich gesiegt und dem schönen Frankreich und der Welt den Frieden erhalten hat.

III.

Barèges, den 20. August 1846

Der Herzog von Nemours hat auch Geduld. Daß er diese Kardinaltugend besitzt, bemerkte ich an der Gelassenheit, womit er jede Verzögerung erträgt, wenn sein Bad bereitet wird. Er erinnert keineswegs an seinen Großoheim und dessen »J'ai failli attendre!« Der Herzog von Nemours versteht zu warten, und als eine ebenfalls gute Eigenschaft bemerkte ich an ihm, daß er andere nicht lange warten läßt. Ich bin sein Nachfolger (nämlich in der Badewanne) und muß ihm das Lob erteilen, daß er dieselbe so pünktlich verläßt wie ein gewöhnlicher Sterblicher, dem hier seine Stunde bis auf die Minute zugemessen ist. Er kommt alle Tage hieher, gewöhnlich in einem offenen Wagen, selber die Pferde lenkend, während neben ihm ein verdrießlich müßiges Kutschergesicht und hinter ihm sein korpulenter deutscher Kammerdiener sitzt. Sehr oft, wenn das Wetter schön, läuft der Fürst neben dem Wagen her, die ganze Strecke von Luz bis Barèges, wie er denn überhaupt Leibesübungen sehr zu lieben scheint. Den Bergbewohnern imponiert er durch die gelenkige Keckheit, womit er die steilsten Höhen erklimmt; bei der Rolandsbresche im Gavarnital zeigt man die halsbrechenden Felswände, wo der Prinz hinaufgeklettert. Er ist ein vorzüglicher Jäger und soll jüngst einen Bären in sehr große Gefahr gebracht haben. Er macht auch mit seiner Gemahlin, die eine der schönsten Frauen ist, sehr häufige Ausflüge nach merkwürdigen Gebirgsörtern. So kam er mit ihr jüngst hierher, um den Pic du Midi zu besteigen, und während die Fürstin mit ihrer Gesellschaftsdame in Palankinen den Berg hinaufgetragen wird, eilte der junge Fürst ihnen voraus, um auf der Koppe eine Weile einsam und ungestört jene kolossalen Naturschönheiten zu betrachten, die unsere Seele so idealisch emporheben aus der niedern Werkeltagswelt. Als jedoch der Prinz auf die Spitze des Berges gelangte, erblickte er dort steif aufgepflanzt – drei Gendarmen! Nun gibt es aber wahrlich nichts auf der Welt, was ernüchternder und abkühlender wirken mag, als das positive Gesetztafelgesicht eines Gendarmen und das schauderhafte Zitronengelb seines Baudeliers. Alle schwärmerischen Gefühle werden uns da gleichsam in der Brust arretiert, au nom de la loi, und ich begreife sehr gut die Äußerung einer kleinen Französin, welche vorigen Winter so sehr darüber empört war, daß man Gendarmen sogar in Kirchen erblickte, in frommen Gotteshäusern, wo man sich den Empfindungen der Andacht hingeben wolle; »dieser Anblick«, sagte sie »zerstört mir alle Illusion.«

Ich mußte wehmütig lachen, als man mir erzählte, wie dämisch verdrießlich der Nemours ausgesehen, als er bemerkte, welche Surprise der servile Diensteifer des Präfekten ihm auf dem Gipfel des Pic du Midi bereitet hatte. Armer Prinz, dachte ich, du irrst dich sehr, wenn du glaubst, daß du jetzt noch einsam und unbelauscht schwärmen kannst; du bist der Gendarmerie verfallen, und du wirst einst selbst der Obergendarm sein müssen, der für den Landfrieden zu sorgen hat. Armer Prinz!

Hier in Barèges wird es täglich langweiliger. Das Unleidliche ist eigentlich nicht der Mangel an gesellschaftlichen Zerstreuungen, sondern vielmehr, daß man auch die Vorteile der Einsamkeit entbehrt, indem hier beständig ein Schreien und Lärmen, das kein stilles Hinträumen erlaubt und uns jeden Augenblick aus unsern Gedanken aufschreckt. Ein grelles nervenzerreißendes Knallen mit der Peitsche, die hiesige Nationalmusik, hört man vom frühesten Morgen bis spät in die Nacht. Wenn nun gar das schlechte Wetter eintritt und die Berge schlaftrunken ihre Nebelkappen über die Ohren ziehen, dann dehnen sich hier die Stunden zu ennuyanten Ewigkeiten. Die leibhaftige Göttin der Langeweile, das Haupt gehüllt in eine bleierne Kapuze und Klopstock's Messiade in der Hand, wandelt dann durch die Straße von Barèges, und wen sie angähnt, dem versickert im Herzen der letzte Tropfen Lebensmut! Es geht so weit, daß ich aus Verzweiflung die Gesellschaft unsers Gönners, des englischen Parlamentsgliedes, nicht mehr zu vermeiden suche. Er zollt noch immer die gerechteste Anerkennung unsern Haustugenden und sittlichen Vorzügen. Doch will es mich bedünken, als liebe er uns weniger enthusiastisch, seitdem ich in unsern Gesprächen die Äußerung fallen ließ, daß die Deutschen jetzt ein großes Gelüste empfänden nach dem Besitz einer Marine, daß wir zu allen Schiffen unsrer künftigen Flotte schon die Namen ersonnen, daß die Patrioten in den Zwangsprytaneen, statt der bisherigen Wolle, jetzt nur Linnen zu Segeltüchern spinnen wollen, und daß die Eichen im Teutoburger Walde, die seit der Niederlage des Varus geschlafen, endlich erwacht seien und sich zu freiwilligen Mastbäumen erboten haben. Dem edlen Briten mißfiel sehr diese Mitteilung, und er meinte, wir Deutschen täten besser, wenn wir den Ausbau des Kölner Doms, des großen Glaubenswerks unsrer Väter, mit unzersplitterten Kräften betrieben.

Jedesmal wenn ich mit Engländern über meine Heimat rede, bemerke ich mit tiefster Beschämung, daß der Haß, den sie gegen die Franzosen hegen, für dieses Volk weit ehrenvoller ist als die impertinente Liebe, die sie uns Deutschen angedeihen lassen, und die wir immer irgendeiner Lakune unsrer weltlichen Macht oder unsrer Intelligenz verdanken; sie lieben uns wegen unsrer maritimen Unmacht, wobei keine Handelskonkurrenz zu besorgen steht; sie lieben uns wegen unsrer politischen Naivität, die sie im Fall eines Krieges mit Frankreich in alter Weise auszubeuten hoffen. –

Eine Diversion in der hiesigen Langeweile gewährten die Klatschgeschichten, die Chronika der Wahlen, welche auch in unsern Bergen ihr skandalöses Echo gefunden. Die Opposition hat in dem Departement des hautes Pyrénées wieder eine Niederlage erlitten, und das war vorauszusehen bei der politischen Indifferenz und der grenzenlosen Geldgier, die hier herrschen. Der Kandidat der Bewegungspartei, der zu Tarbes durchfiel, soll ein rechtschaffener, braver Mann sein, der wegen seiner Überzeugung und treuen Ausdauer gerühmt wird, obgleich auch bei ihm, wie bei so vielen andern Gesinnungshelden, die Überzeugung eigentlich nur ein Stillstand im Denken ist, und die Ausdauer dabei nur eine psychische Schwäche. Diese Leute beharren bei den Grundsätzen, denen sie bereits so viele Opfer gebracht haben, aus demselben Grunde, warum manche Menschen sich nicht von einer Maitresse losmachen können; sie behalten sie, weil ihnen die Person ja doch schon so viel gekostet hat.

Daß Herr Achilles Fould zu Tarbes gewählt worden und in der nächsten Deputiertenkammer wieder die hohen Pyrenäen repräsentieren wird, haben die Zeitungen zur Genüge berichtet. Der Himmel bewahre mich davor, daß ich Partikularitäten der Wahl oder der Personen hier mitteile. Der Mann ist nicht besser und nicht schlechter als hundert andere, die mit ihm auf den grünen Bänken des Palais-Bourbon übereinstimmend die Majorität bilden werden. Der Auserwählte ist übrigens konservativ, nicht ministeriell, und er hat von jeher nicht Guizot, sondern Herrn Molé protegiert. Seine Erhebung zur Deputation macht mir ein wahrhaftes Vergnügen, aus dem ganz einfachen Grunde, weil dadurch das Prinzip der bürgerlichen Gleichstellung der Israeliten in seiner letzten Konsequenz sanktioniert wird. Es ist freilich, sowohl durch das Gesetz wie durch die öffentliche Meinung, hier in Frankreich längst der Grundsatz anerkannt worden, daß den Juden, die sich durch Talent oder Hochsinn auszeichnen, alle Staatsmänner ohne Ausnahme zugänglich sein müssen. Wie tolerant dieses auch klingt, so finde ich hier doch noch den säuerlichen Beigeschmack des verjährten Vorurteils. Ja, solange die Juden nicht auch ohne Talent und ohne Hochsinn zu jenen Ämtern zugelassen werden, so gut wie Tausende von Christen, die weder denken noch fühlen, sondern nur rechnen können: solange ist noch immer das Vorurteil nicht radikal entwurzelt, und es herrscht noch immer der alte Druck! Die mittelalterliche Intoleranz schwindet aber bis auf die letzte Schattenspur, sobald die Juden auch ohne sonstiges Verdienst bloß durch ihr Geld zur Deputation, dem höchsten Ehrenamte Frankreichs, gelangen können, ebenso gut wie ihre christlichen Brüder, und in dieser Beziehung ist die Ernennung des Herrn Achilles Fould ein definitiver Sieg des Prinzips der bürgerlichen Gleichheit.

Noch zwei andere Bekenner des mosaischen Glaubens, deren Namen einen ebenso guten Geldklang hat, sind diesen Sommer zu Deputierten gewählt worden. Inwieweit fördern auch diese das demokratische Gleichheitsprinzip? Es sind ebenfalls zwei millionenbesitzende Bankiers, und in meinen historischen Untersuchungen über den Nationalreichtum der Juden von Abraham bis auf heute werde ich auch Gelegenheit finden, von Herrn Benoit Fould und Herrn von Eichtal zu reden. Honni soit qui mal y pense! Ich bemerke im voraus, um Mißdeutungen zu entgehen, daß das Ergebnis meiner Forschungen über den Nationalreichtum der Juden für diese sehr rühmlich ist und ihnen zur größten Ehre gereicht. Israel verdankt nämlich seinen Reichtum einzig und allein jenem erhabenen Gottesglauben, dem es seit Jahrtausenden ergeben blieb. Die Juden verehrten ein höchstes Wesen, das unsichtbar im Himmel waltet, während die Heiden, unfähig einer Erhebung zum Reingeistigen, sich allerlei goldene und silberne Götter machten, die sie auf Erden anbeteten. Hätten diese blinden Heiden all das Gold und Silber, das sie zu solchem schnöden Götzendienst vergeudeten, in bares Geld umgewandelt und auf Interessen gelegt, so wären sie ebenfalls so reich geworden wie die Juden, die ihr Gold und Silber vorteilhafter zu plazieren wußten, vielleicht in assyrisch-babylonischen Staatsanleihen, in Nebukadnezar'schen Obligationen, in ägyptischen Kanalaktien, in fünfprozentigen Sidoniern und andern klassischen Papieren, die der Herr gesegnet hat, wie er auch die modernen zu segnen pflegt.



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