Wilhelmine Heimburg
Trudchens Heirat
Wilhelmine Heimburg

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Mit leisen Schritten wandelte der Sommer über das Land. Gelb bogen sich die Ährenfelder unter dem warmen Winde, und leergepflückt standen die Kirschbäume auf dem Anger und längs der Chausseen. Wolkenlos blaute der Himmel, und in Niendorf wurde das erste Korn eingefahren.

Aus der Stadt war man in die Bäder geflüchtet 222 oder in die kühlen Bergtäler. Das Erkerhaus am Markte zeigte von oben bis unten verhangene Fenster. Frau Baumhagen weilte in der Schweiz, Herr und Frau Fredrich in Baden-Baden, Onkel Heinrich war nach Helgoland ausgewandert, weil doch nirgends das Frühstück so gut schmeckt, wie auf der Badedüne der Felseninsel. Nur jene beiden saßen still in ihren Nestern. Ein kleines Stückchen Wald und Feld trennte sie, aber sie konnten sich nicht ferner sein, hätte zwischen ihnen der Ozean gewogt. Es gab kein Hinüber!

In Niendorf ging es laut her, ungeordnet und unregelmäßig. Woher auch sollte Fräulein Adelheid das Getriebe einer Landwirtschaft verstehen? Sie war den ganzen Tag auf den Füßen, sie machte hundert unnütze Wege und abends klagte sie, daß die zwei zierlichen Dingerchen in den spitzen Hackenschuhen ihr so weh täten, und daß die Mädchen keinen Respekt vor ihr hätten. – Tante Rosa war schlechter Laune, sie sah sich auf ihre alten Tage dazu verurteilt, das Amt einer Ehrendame zu üben. Fräulein Adelheid konnte doch unmöglich mit Linden allein zu Mittag und zu Abend speisen, und sie durfte auch nicht fehlen bei Tische. Also stülpte sich die alte Dame jeden Tag um die zwölfte Stunde ihre Sonntagshaube auf und saß, wie ein Häufchen Unglück, neben Linden auf Trudchens leerem Platz.

Es waren verzweifelt traurige Mahlzeiten. Nach und nach verstummte auch Heidchen, eine Antwort 223 bekam sie ja nur in den seltensten Fällen auf ihr Geplauder. So aß man schweigend und trennte sich so rasch wie möglich, nachdem »Gesegnete Mahlzeit!« gesprochen war.

Aber Franz hatte doch wenigstens noch Arbeit, er konnte nicht immer denken und grübeln, das kam abends erst im stillen Zimmer, wenn er auf die festgeschlossene Tür blickte, die in Trudchens Stübchen führte, das kam, wenn unten die Stimme der kleinen, schwarzen Adelheid allerlei schwermütige Lieder sang, von Liebe und Sehnsucht. Und wenn es um Mitternacht ganz still wurde, wenn alles schlief in Haus und Hof und nur noch ein verlorener Hundeblaff vom Dorf herüberschallte, da wanderte er im Zimmer auf und ab, bis die Lampe trübe wurde und erlosch, und selbst dann noch.

Er wartete nicht mehr auf ihr Kommen. Tage-, wochenlang hatte er es getan. Anfangs war er in verzehrender Sehnsucht bis an die Mauern ihres Gartens geschritten. Er wollte da sein, wenn sie hinaustrat aus der Pforte, beim ersten Schritt schon wollte er ihr entgegentreten. Es war umsonst, sie kam nicht.

Einmal hatte ihn das Gesinde mit seltsam geröteten Augen gesehen. »Der Herr weint nach der Frau«, war scheu die Rede gegangen in der Küche. »Warum holt er sie sich nicht?« meinte der Kutscher, »ich würde keine Träne vergießen, wüßte schon, wie ich solch hübschen Trotzkopf kriegen tät!« und er 224 machte eine nicht mißzuverstehende Gebärde. »Grobian!« erklärte das Hausmädchen wegwerfend, und das ganze weibliche Personal wandte ihm den Rücken.

Ach, und es war ein Erntejahr, wie seit langer Zeit nicht, die Scheuern faßten kaum den Gottessegen. Von den Wiesen kam der Duft des Heues herüber und vermischte sich mit den tausend Zentifolien im Garten. Auf dem Hofe blühte die große Linde, und eine Legion kleiner, goldgelber Kücken ließ sich von der Frau Mutter spazierenführen. Droben im Storchnest auf der Scheune wuchsen die Jungen heran. Wie eingesponnen lag das alte, traute Haus im üppigen Grün. Die Waldreben krochen hinauf zu den Fenstern und sahen ins leere Zimmer, und die Schwalben, die unter dem Dache bauten, erzählten in Stadt und Land umher: »Sie ist fort von ihm! Sie ist fort von ihm!«

Ja, man wußte sie überall, die traurige Mär: Trudchen Baumhagen hat sich von ihrem Mann getrennt. In den Kaffeegesellschaften erzählte es flüsternd eine der andern, auf der Kegelbahn und am Stammtisch sprach man davon, und an der Table d'hote im »Deutschen Hause« war es die stehende Unterhaltung. Genau wußte man ja nicht, weshalb? Tausend Vermutungen der wunderbarsten Art wurden laut:

»Er habe etwas gar zu willkürlich über die Mitgift der Frau verfügt.«

225 »Sie sei davongegangen, weil er in bodenloser Heftigkeit die Hand gegen sie erhoben habe.«

»Die Schwiegermutter habe etwas dazwischen gebracht.«

»Gott behüte! Sie ist eifersüchtig – da soll eine kleine, schwarze Cousine im Hause sein.«

»Nicht doch! Die junge Frau ist dahinter gekommen, daß er beim Freien um sie eine ›Vermittlung‹ zu Hilfe nahm; auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege.«

»Ah bah! Darum läuft ein Weib nicht davon!«

»Alle Wetter, da kennen Sie Trudchen Baumhagen schlecht. Tatsache ist's, sie ist fort von ihm.«

Ja, Tatsache war es! Und Trudchen saß in ihrem einsamen Hause, in ihrem wunderlich stillen düsteren Zimmer wie eine Lebendigbegrabene. Sie las auch nicht mehr. Es war, als ob sie mit wachendem Auge schliefe. Zuweilen brachte Johanne ihr Kind, und die Augen der jungen Frau folgten mechanisch dem kleinen Würmchen, wenn es ungeschickt durch die Stube rutschte oder sich am Stuhlbein aufzurichten versuchte. Aber anrühren tat sie es nicht, selbst wenn es hinfiel und schrie. – Gegen Abend aber kam immer dieselbe unerklärliche Unruhe über sie. Dann ging sie im Garten umher in stürmischem Schritt, lange Zeit, bis sie endlich auf dem Luginsland ankam. Und dort blieb sie stundenlang und sah den Turmberg an, bis der Tau ihr Haar und Gewand feuchtete.

226 »Paß auf, ich werde krank«, sagte sie zu Johanne, »hier oben.« Und sie wies nach dem Kopfe.

»Ich glaub's«, nickte diese; »man kann sich wissentlich so weit bringen.«

Es war ein Tag zu Ende Juli, furchtbare Schwüle brütete über der Welt, und die junge Frau litt entsetzlich darunter, selbst in ihrem kühlen Zimmer. Regungslos lag sie nach Tische im Sessel am Fenster. Ein heftiger einseitiger Kopfschmerz quälte sie, wie so oft jetzt.

Johanne setzte ihr die Tasse mit starkem schwarzen Kaffee auf das Tischchen und legte das Buch hin, in dem schon seit drei Tagen die nämliche Seite aufgeschlagen war. »Hier ist auch ein Brief«, fügte sie hinzu.

Trudchen hatte förmlich Scheu bekommen vor Briefen. Sie überwand sich aber doch, es waren Jennys kritzlige Schriftzüge, und Jenny schrieb nur leichtes, oberflächliches Zeug. Ein Blick in den Brief genügte da schon. Zwei Blätter fielen ihr entgegen.

»Wir haben schon lange nichts von Dir gehört«, las sie, »daß es uns angst ist um Dich. Bist Du noch immer in ›Waldruhe‹? Gestern lernte ich den Rechtsanwalt K. auf der Reunion kennen, denselben, der in dem bekannten Ehescheidungsprozeß des Herzogs von P. mit der Gräfin V. Vertreter der letzteren war. Ich redete ihn scherzhaft darauf an, ob man sich von seinem Gebieter trennen könne, wenn man erführe, daß dieser bei der Werbung 227 mehr unser irdisches Gut als unsere Person im Auge hatte. Ich deutete ziemlich genau die Situation an und sprach von einer Freundin, die in dieser Lage sei. Er erwiderte: ›Sagen Sie Ihrer Freundin, sie solle ganz still wieder zu ihrem Gatten schleichen, denn sie ziehe jedenfalls den kürzeren!‹ Er drückte sich noch unartiger aus, er ist ja bekannt als Grobian!

Na, da hast Du das Urteil einer Autorität. Mache der Sache ein Ende, denn längeres Zögern könnte Dich so bitter gereuen, wie Du es in Deinem gegenwärtigen hoheitsvollen Zorn Dir gar nicht auszumalen vermagst. Wenn mich nicht alles täuscht, liebtest Du ihn ja wirklich? Nun, es gibt Dinge – aber es ist schwer darüber zu schreiben. Lies den beigefügten Brief, den Mama mir vor ein paar Tagen sandte. Vielleicht ahnst Du, was ich sagen will.

Ich wünschte, Du wärest mit in Paris gewesen oder jetzt hier in Baden-Baden, Du würdest einsehen, daß wir deutschen Frauen mit unserer dickfelligen Tugendhaftigkeit, unserem spinnewebzarten, himmelblauen Idealismus uns das Leben recht unnütz schwer machen. Ich bin überzeugt, eine Französin hielte sich die Seiten vor Lachen, erführe sie die Ursache Deines ehelichen Konfliktes.

Artur ist sehr liebenswürdig und pariert aufs Wort. Zur gestrigen Reunion erfreute er mich mit einer Pariser Toilette. Sobald er herauskommt aus 228 unserem Nest, ist er wie verwandelt. Adieu, nimm die Sache nicht so tragisch.

Deine Schwester.«

Langsam nahm die junge Frau den zweiten Brief. Es waren die spitzigen Schriftzüge der Tante Stadträtin an Frau Baumhagen gerichtet.

»Liebste Ottilie!          

Hier ist alles beim alten. Ich war gestern in Deinem Hause; Sophie ist auf dem Platze, hat erst wieder große Mottenjagd gehalten. Dein Papagei hatte ein schlimmes Auge, es geht aber wieder ganz gut. Von Trudchen hörte ich nichts, man wird ja nicht vorgelassen bei ihr; Du wirst wohl Nachricht haben. Über Niendorf schwirren allerlei Gerüchte in der Luft. Gestern abend kam mein Alter aus dem Kegelklub – es soll ja eine Cousine da draußen sein, die die Wirtschaft führt. Stadtrat Hanke will sie gesehen haben in der Lindenschen Equipage – sehr brünett, sehr apart und unendlich aufgeputzt. Na, Du weißt, die Leute sagen immer gleich viel, aber ich will damit nicht Öl ins Feuer gießen. Einmal sah ich auch Linden, ich erkannte ihn erst, nachdem er beinahe vorüber war. Er kam von der Bank. Der Mann hat ja schon graues Haar an den Schläfen. Er erschien mir überhaupt als ein ganz anderer, so – wie soll ich sagen – vergrämt.«

Trudchen ließ den Brief sinken, dann sprang sie empor. Es rückte und schüttelte sie in allen Gliedern. 229 Mit furchtbarer Gewalt zwang sie sich, ruhig zu sein und vernünftig zu denken. Was wollte sie denn auch? Sie hatte sich getrennt von ihm in alle Ewigkeit. Aber das Herz! Das Herz krampfte sich zusammen, es tat so weh auf einmal, und es klopfte so laut in der totenhaften Stille, die sie umgab, daß sie glaubte, es zu hören. »Johanne!« schrie sie auf, aber niemand antwortete. Sie war wohl im Garten draußen oder bei einer häuslichen Arbeit in der Küche.

Was konnte die auch helfen?»Nein, das nicht – nur das nicht!«

Sie saß wieder im Stuhl am Fenster und schaute in das Düster der Bäume. Was gäbe sie darum, wenn der Wald, die Berge verschwänden, wenn sie dort hinüberblicken könnte in das Haus – in die Zimmer. »Ein munteres Ding, das schwarze, kleine Fräulein«, hatte Johanne neulich gesagt. Und Trudchen sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie im Hause umhertrippelte, jetzt im Saal, nun die Treppe hinauf, die lieben, alten ausgetretenen Stufen. Tapp! tapp! Nun auf dem Korridor; da schlagen die Hackenschuhchen so zierlich und fest auf den Gips; und nun an einer braunen Tür – seiner Tür.

Sie darf eintreten? Ach, sein Zimmer, das traute alte Zimmer! Und Trudchen ringt die Hände ineinander wie in bitterem Neid. »Fort!« sagte sie halblaut, »fort! Die Schwelle ist geweiht – ich 230ich bin darüber geschritten am seligsten Tage meines Lebens – an seiner Hand!«

Und sie sah ihn sitzen am Schreibtisch, in der grauen Joppe und den hohen Stiefeln, wie er vom Hofe hereingekommen war. Seine weiße Stirn hob sich scharf ab gegen das gebräunte Antlitz. Das hatte sie immer so gern gesehen.

Und graues Haar an seinen Schläfen? Ach, er hatte es noch nicht vor ein paar Wochen!

Und wieder gaukelt eine kleine, zierliche Gestalt vor ihren Augen, hin zu ihm. Ach, nur das eine möchte sie wissen, ob er sie je vergessen kann über einer andern – über dieser vielleicht? Aber wozu das alles!

Sie erhob sich und ging aus der Stube über den Korridor in ihres Vaters Zimmer. Was Papa getan hatte, das hatten schon Tausende vor ihm getan, und Tausende werden es noch tun – man muß ja nicht leben!

Auf dem Nachttischchen am Bette stand noch das Glas mit dem geschliffenen Namenszug, daraus hatte er das Schreckliche getrunken. Man hatte das Gefäß gereinigt und wieder dorthin gestellt. – Sie tat ein paar Schritte nach dem Fenster und zuckte zusammen, ach so – ihr Spiegelbild. Sie trat rasch vor das blinkende Glas und sah hinein, es war ein wunderlicher, bläulicher Schimmer darinnen, und totenblaß schaute ihr schmales Antlitz sie an. Die tiefen Schatten unter den Augen zogen sich bis 231 auf die Wangen herab. Schaudernd wandte sie sich, es leuchtete ihr etwas Unheimliches aus den eigenen Zügen entgegen.

Und wieder stand sie und grübelte. Was bot ihr das Leben noch? Mit ihm war alles hin, alles!

»Frau Linden«, schallte es hinter ihr, »der Herr Rechtsanwalt!«

Sie nickte: »Nach meinem Zimmer!« Ach ja, sie hatte vergessen, daß sie ihn um seinen Besuch gebeten hatte. Heute schon kam er. Erst gestern hatte sie an ihn geschrieben. Aber es war gut so, es mußte ein Anfang gemacht werden.

Sie wendete sich wieder um. Mochte er warten, sie konnte nicht hinübergehen jetzt. Sie trat ans Fenster und sah, wie bleifarbig schweres Gewölk am Himmel aufstieg; es braute sich ein Wetter zusammen im Westen. Mut, nur Mut! Wenn es vorüber ist, lächelt die Sonne wieder. Zuweilen richtet sich ein gebrochener Stamm auch nicht wieder auf – desto besser! Nur nicht mehr diese Stille, diese Schwüle. Handeln, handeln – sollte auch –

»Gnädige Frau!« rief es noch einmal mahnend. Da faßte sie sich und ging.

Sie kannte ihn gut, den alten Herrn, der ihr freundlich ernst entgegenschritt; aber sie konnte kein Wort zu ihm sprechen; nur eine stumme Handbewegung nach dem nächsten Sessel. Er wußte ja, worum es sich handelte; mochte er das schreckliche Gespräch eröffnen.

232 »Sie wünschen meinen Beistand, gnädige Frau, in dieser recht schweren Angelegenheit?«

»Ja, ich wünsche, daß Sie mich vertreten«, sagte sie und schaute an ihm vorüber in die Zimmerecke, »und ich möchte vor allen Dingen, daß – Herr Linden die Bestimmung erfährt, die ich für diesen Fall getroffen habe. Ich lasse ihn im Besitz meines ganzen Vermögens bis auf dieses Haus und das Kapital, welches in meines Schwagers Fabrik eingetragen ist.« Sie sprach das so hastig, als hätte sie es auswendig gelernt.

»Ist es Ihnen denn gar so ernst darum?« fragte der alte Mann.

In ihren Augen blitzte es auf. »Denken Sie, ich treibe Scherz mit so traurigen Dingen?«

»Und glauben Sie, daß Ihr Herr Gemahl einverstanden sein wird?«

»Es ist Ihre Sache, Herr Rechtsanwalt, dies zu vermitteln.«

Er verbeugte sich stumm. Auch sie schwieg. Eine unheimliche Stille herrschte im Zimmer, im ganzen Hause, Trudchen war es, als sei eben ein Todesurteil unterzeichnet worden.

»Es gibt böses Wetter heute«, sagte der Rechtsanwalt nach einer Weile; »ich werde mich bald beurlauben müssen, gnädige Frau. Und da ich auf halbem Wege bin, werde ich nach Niendorf fahren, um persönlich mit Ihrem Herrn Gemahl zu verhandeln.«

233 »Heute schon?« Sie hatte es erschreckt ausgerufen.

Er zögerte und sah sie an. »Sie haben recht, es paßt mir auch morgen besser, sagen wir übermorgen.«

»Nein!« widerrief sie hastig, »sprechen Sie heute noch, gleich, darüber – es ist ja besser, viel besser!«

Sie erhob sich verwirrt. Ihr Kopfschmerz, das Bewußtsein, nun komme der Stein ins Rollen, stürmten auf sie ein. Mechanisch begleitete sie den Herrn bis an die Treppe. Dann stand sie auf dem Korridor, die Hand an die schmerzende Schläfe gelegt, schier betäubt. In der Küche hörte sie Johanne, und als ertrüge sie die Einsamkeit nicht mehr, trat sie hinein und setzte sich auf den sauberen Bretterstuhl neben dem weißgescheuerten Tisch. Johanne stand davor und wühlte zwischen Efeublättern und Zypressenzweigen. Sie hatte rotgeweinte Augen, und es fielen noch immer ein paar Tropfen auf ihre Hände, die einen Kranz banden. Die ganze Küche roch wie Tod und Begräbnis.

»Was machst du da?« fragte Trudchen.

Johanne sah zur Seite und unterdrückte ein Aufschluchzen. »Morgen wird's ein Jahr«, sagte sie halberstickt, »da brachten sie ihn mir tot ins Haus.«

»Ja richtig!« Die beiden Frauen sahen sich tief in die traurigen Augen, jede mit dem Gedanken, sie wäre die Unglücklichste. Ach, aber da stand der Wagen mit dem schlafenden Kinde, und das gehörte 234 Johanne. Und Johanne konnte an ihn denken ohne anderes Weh und Herzeleid, als die Trauer um seinen Verlust. Durch den Tod verloren – es ist nicht halb so schwer, als durch das Leben. Trudchen fand kein Wort der Teilnahme.

»Wie man's nur überleben kann«, schluchzte die junge Witwe. »So frisch und gesund ging er über die Schwelle, ich meine immer noch, ich sehe ihn die Gasse hinaufschreiten. Und gerade am Abend vorher hatten wir uns zum ersten Male ein wenig ernsthaft gezankt, und ich hatte gedacht: ›Wart, du sollst schon betteln um ein freundlich Wörtchen.‹ Und da hab' ich mich ohne ›Gute Nacht!‹ zu Bette gelegt und hab' ihm am andern Tage früh keinen Kaffee gekocht. Ich hörte ihn so herumhantieren in der Stube und freute mich in mich hinein, daß er so nüchtern fort mußte. Er kam nochmal an mein Bett und sah mir ins Gesicht, und ich tat, als ob ich schliefe. Wie er aber kaum die Haustür zu hat, bin ich schon auf den Füßen und sehe ihm nach. Er war ja mein ganzer Stolz. Das letztemal ist's gewesen, keine zwei Stunden später haben sie ihn mir gebracht. Und Tag und Nacht habe ich geschrien auf den Knien vor ihm und gefragt, ob er noch böse ist. Und habe Gott gebeten, daß er ihn nur noch einmal die Augen auftun läßt, daß ich sagen könnte: ›Adieu, Fritze, komm gesund heim, Fritze!‹ Aber alles umsonst, er hat nichts mehr gehört.«

235 Trudchen sprang plötzlich empor und verließ die Küche. Herr Gott im Himmel! Sie fühlte sich zum Sterben elend. In tollem Wirbel drehte es sich hinter ihrer Stirn, nicht anders, als ob Verstand und klares Denken in wilder regelloser Flucht begriffen seien. Sie wollte hier das fortsausende Ende eines Gedankens festhalten und konnte ihn nicht mehr haschen, und dort eine Vorstellung, die noch vor fünf Minuten in schreckensvoller Deutlichkeit sie gepackt hatte, und der sie sich nun nicht mehr zu erinnern wußte, trotz allem Sinnen. Nur die dumpfe Angst vor etwas Entsetzlichem blieb.

Es war wohl die schwüle Gewitterluft, die beängstigende Stille der Natur vor dem Unwetter, das ihr die Nerven empörte.

Sie klingelte und ließ Eiswasser bringen. Als Johanne das tauig beschlagene Glas vor ihr niedersetzte, wandte sie den Kopf zur Seite. »Johanne, weißt du zufällig, wie lange die – junge Dame noch auf Niendorf bleibt?«

»Ich glaube den Sommer über, Frau Linden«, war die Antwort. »Es ist ja auch gut, was sollte werden da drüben?«

Trudchen biß sich auf die Lippen. Sie schämte sich. Was hatte sie danach zu fragen?

»Wünschen Sie noch etwas, gnädige Frau?«

»Ich danke!« Und sie blieb einsam in ihrem Zimmer, wie alle Tage bisher. Sie hörte das Ticken des Wurmes in dem alten Holzwerke und dann und 236 wann den Tritt der Dienerin auf dem Korridor. Mit brennenden Augen starrte sie in den sich mehr und mehr verdüsternden Himmel. Ihre Hände hatten das schmale Polster der Stuhllehne umklammert, als müsse sie wenigstens äußerlich einen Halt haben. Allmählich begann es finster zu werden. Der hereinbrechende Abend, die schwarzen Wetterwolken im Verein schufen eine völlige Dämmerung, nur zuweilen leuchtete es grell auf hinter dem Geäst der Bäume. Nebenan schloß Johanne die Fenster der Schlafstube.

»Soll ich Licht bringen?« fragte sie und schaute durch die halbgeöffnete Tür.

»Ich danke.«

»Aber gnädige Frau sollten sich doch vom Fenster fort setzen, es sieht sich so schauerlich an.«

Trudchen rührte sich nicht, und das verweinte Frauengesicht verschwand.

Da fuhr ein Windstoß durch die Bäume, wild schlugen die Zweige ineinander, als erwehrten sie sich der rohen Gewalt. Bis zur Erde bogen sich die schwanken Äste und schnellten wieder empor, und in rasendem Wirbel schleuderte der Sturm Sand, abgerissene Blätter und kleine Steine an die zitternden Fensterscheiben. Und nun ein greller, zuckender Blitz, ein Donner, der das Haus erbeben machte, und zu gleicher Zeit strömender, wolkenbruchartiger Regen, untermischt mit dem eigenartigen Prasseln großer Hagelkörner.

237 Johanne kam angstvoll, ihren Kleinen auf dem Arm, in das Zimmer der jungen Frau. »Heiliger Gott!« schrie sie und sank vor dem nächsten Stuhl in die Knie. Ein neuer Blitz erfüllte den Raum einen Augenblick mit leuchtend rötlichem Licht, und wie tausend Geschütze krachte der Donner nach.

»Das hat eingeschlagen, gnädige Frau, das hat eingeschlagen!« rief sie jammernd.

Trudchen war vom Fenster zurückgetreten. Sie stand mitten im Gemach. Beim Schein der Blitze konnte die Dienerin ihr blasses, unbewegliches Gesicht deutlich erkennen. Sie stützte die Hände auf die Tischplatte und schaute nach dem Fenster, als ging das alles sie nichts an. Und immer furchtbarer tobte das Wetter, die Welt schien in einem Flammenmeer zu stehen. Stunden schien es zu währen. Aber allmählich wurden die Blitze seltener, schwächer die Donnerschläge, zuletzt tröpfelte nur noch ein leiser Regen auf die Bäume und im fernen dumpfen Murren erstarb das Wetter.

Trudchen öffnete das Fenster und bog sich hinaus. Wunderbar duftende Luft zog ihr entgegen, weich und herb, erquickend und belebend. Und siehe, da droben hatten sich die Wolken geteilt und ein funkelndes Sternchen blickte hernieder. Dann schrak sie zurück. Von der Landstraße scholl eiliges Fahren, Peitschenknall, Menschenruf – was bedeutete das? Es war sonst todeseinsam hier um diese Zeit.

»Feuer!« Hatte sie recht gehört? Sie konnte 238 die Straße nicht sehen, aber sie bog sich weit hinaus und horchte auf den verhallenden Lärm. Ein rasches stürmisches Herzklopfen meldete sich. Die Gärtnerfrau kam eben eilig auf klappernden Holzpantoffeln über den spiegelnden Kiesplatz zurück, ihre schrille Stimme drang bis herauf zu Trudchen: »David, mach, daß du hinüberkommst, in Niendorf brennt's seit einer halben Stunde – die Spritze ist schon hin, mach fort!«

Kling, kling, kling läutete jetzt die Glocke des Kirchleins. In Trudchens Ohr klang es markerschütternd nach. – Kling, kling, kling! Was stand sie noch und hatte die Hände fest an das Fensterkreuz geklammert, als seien sie mit ihm verwachsen? Sie hörte Türen klappen, und Stimmen und Rufen, sie hörte, wie der Gärtner eilig aus seinem Häuschen polterte – und sie stand noch immer wie im Bann.

Wieder die hastig mahnenden Töne der stürmenden Glocke! Wie aus schwerem Traume riß sie sich auf, und nun war sie ganz lebendig. Wie gejagt floh sie aus dem Zimmer, riß im Korridor ein Tuch von der Wand und eilte an Johanne vorüber, die mit der Gärtnerfrau und den Kindern vor der Gitterpforte stand, hinaus auf die halbüberschwemmte Landstraße.

»Gnädige Frau! Um des Himmels willen!« schrie Johanne hinter ihr drein. Aber sie achtete auf keinen Ruf. Wie flüsterndes Gebet lag es auf ihren Lippen, 239 nur weiter – weiter! Dunkel breitete sich der Weg vor ihr aus und einsam. Die Männer, die zu Hilfe geeilt, waren längst an Ort und Stelle.

Sie flog förmlich. Sie kannte keine Angst in dem finsteren Walde, sie sah nichts weiter als ein liebes, altes, brennendes Haus, als ein Paar einst so heiß geliebte Männeraugen. Da kam es hinter ihr in tappenden Sprüngen. Ach so – der Hund. »Komm«, flüsterte sie und eilte weiter, ihr auf den Fersen das kluge Tier.

Ach, der Weg war weit, sie hätte Flügel haben mögen. »Mein Gott!« stöhnte sie auf, als sie die Anhöhe erklommen hatte und den roten Schein am Himmel gewahrte. Immer rascher eilte sie am Bergeshang weiter, an der nächsten Biegung schon mußte sie Niendorf sehen, und nun stand sie dort, hochatmend. Fast sinnlos irrten ihre Blicke über das Tal. Gott sei gelobt! Ja, dort wand sich noch roter Dampf zum Himmel empor, hier und da zuckte noch die Flamme auf, aber die Wut des Elements schien gebrochen. Zwar hallten noch Rufe und Stimmen herüber, doch schon kamen Zurückkehrende des Weges daher.

Sie trat in den tiefsten Schatten und starrte in die Talsenkung. Heil und unversehrt stand das Herrenhaus, der rote Schein der ersterbenden Flamme spielte auf seinem grünumsponnenen Giebel und streifte die Wipfel des Gartens. Die Scheuern lagen freilich in Trümmern, aber was 240 tat das? Und wie sie so dastand und mit nimmersatten Blicken das Haus umfaßte, da flammte Licht auf hinter zwei Fenstern, und sie schauten zu ihr herauf wie zwei grüßende, treue Augen. Es waren seine Fenster. Aber die junge Frau sah keinen Gruß darin. Die schreckliche Angst, die beim Anblick des unversehrten Hauses von ihr gewichen war, stieg jäh aufs neue empor in ihrer Seele. Wie kam es denn, daß in seinem Zimmer Licht war, dort unten lohte doch noch immer die Glut? Er wäre im Hause, wo seine Hilfe noch so nötig war?

Nein, nimmer – oder er – –

Hinunter! Hinunter – nur sehen – nur von weitem sehen, ob er lebt, ob er gesund ist. »Das Leben hängt an einem Faden«, klangen Johannes Worte von vorhin in ihren Ohren. »Herr Gott im Himmel, sei barmherzig, strafe mich nicht so!«

An der Gartenpforte blieb sie stehen.

Was wollte sie denn hier? Dort unten war heute ihr Abgesandter eingekehrt und hatte ihm klingendes Geld geboten für die Freiheit. Ach, Freiheit! Was hilft sie dem Menschen, wenn das Herz in Ketten und Banden geblieben ist? Und sie lief unter den dunklen Bäumen des Gartens dahin, um den kleinen Teich, auf dessen Fläche ein schwacher rosiger Schimmer des verlöschenden Brandes sich spiegelte. Nun war sie unter den Kastanien und sank erschöpft auf einen Gartenstuhl nieder. Dicht vor ihr, nur über den Kiesplatz hinweg war das 241 Haus, und aus dem Gartensaal schimmerte mattes Licht.

Da droben hinter seinen Fenstern war der helle Schein erloschen. Vom Hofe scholl noch lautes Rufen und Lärm herüber, Wagen wurden geschoben, Pferde ausgespannt, der scharfe zischende Ton eines Wasserstrahles dazwischen. Trudchen zitterte, eine furchtbare Mattigkeit war über sie gekommen, in ihren Schläfen pochte das von Angst und raschem Lauf empörte Blut. Der Brandgeruch benahm ihr fast den Atem.

Und dort saß sie unbeweglich und schaute auf die Treppe, die zum Gartensaal führte. Stufe um Stufe verfolgten ihre Augen und blieben an der Tür hängen. Dort hinauf! Dort hinein! pochte das Herz, aber wie mit eisernen Klammern hielten Stolz und Scham sie fest.

Allmählich war es stiller geworden auf dem Hofe. Dann näherten sich Schritte, feste, elastische Schritte. Mit raschem Griff packte Trudchen den Hund am Halsband. »Kusch, Diana!« rief sie, heiser vor Schrecken. Und nun trat eine Gestalt in den hellen Schein der Fenster und ging, nahe an ihr vorüber, ins Haus hinein.

Franz! Er lebt – Gott sei Dank! Aber er war verletzt, er preßte den Arm so sonderbar an sich. Ja, er lebte! Und nun, nun konnte sie wieder gehen, still und unbemerkt, wie sie gekommen war. Dort innen waren ja Hände, die ihn verbinden würden, die –

Wie ein Schüttelfrost jagte es wieder durch ihren Körper. »Komm!« sagte sie zu dem leise winselnden Hunde. Sie stand auf und wollte in den dunklen Gartenweg biegen, aber das Tier zog ungestüm dem Hause zu, und als wisse sie nicht, was sie tun solle, ging sie vorwärts neben ihm.

Jetzt stand sie vor den Stufen, nun trat ihr Fuß schon darauf. Nur einen Blick dort hinein; nur sehen, ob er sehr leidet, daß er wirklich lebt. Und das ungeduldige Tier noch fester packend, kam sie mit unhörbarem Schritt über die Steinfliesen. Nun lehnte sie an der Türpfoste und spähte durch die Scheiben in zitternder Aufregung, scheu wie ein Dieb, sehnsüchtig wie ein Kind am Weihnachtsabend.

Das Zimmer wie sonst, die Tapeten, die Bilder, alles, wie sie es verlassen hatte. Darinnen Menschen, die geschäftig hin und her eilten, und am Tische dort vor der Lampe, da saß er, das Gesicht voll der Tür zugewandt, schmerzverzogen und blaß. Und neben ihm, sich über ihn beugend, mit der ganzen bezaubernden Anmut einer sorgenden besorgten Frau, das kleine flinke Geschöpf im schwarzen Kleidchen und weißer Schürze, das Schlüsselbund im Gürtel, seinen Arm verbindend. Wie geschickt sie den Leinwandstreifen legte, mit wie spitzen, behenden Fingerchen sie die Binde befestigte, wie ihr dunkles Haar fast sein Antlitz streifte.

Und das mußten andere Hände tun wie die, die hier draußen sich ineinander rangen?

243 Da winselt es freudig neben ihr und reißt sich los mit gewaltigem Ruck von ihren zitternden Fingern, und der Hund springt gegen die Tür, daß sie klirrend erbebt. In schreckensvoller Hast wollte sie fliehen, aber sie fand nicht Kraft. Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken. Mit vergehenden Sinnen hörte sie noch, wie die Tür hastig aufgerissen wurde. Dann schwand ihr das Bewußtsein.



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