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Am späten Nachmittage kam Thornow. Er begrüßte die Freunde und wußte ihrem Lob und Dank aufs beste zu begegnen und ein natürliches Ende zu machen, indem er ihnen nicht erst wehrte. Er verkehrte fast brüderlich mit dem Pastor, brüderlich auch in einem gewissen nachlässigen gegenseitigen Vorbeihören; dabei aber hatte gegen die Pfarrerin sein Betragen nichts von der Vertraulichkeit, die leicht mit der Frau eines so nahen Freundes hätte eintreten können.
Die Magd brachte Kaffee und kräftig duftenden Kuchen, und die drei setzten sich zu einer rechten Sonntagnachmittagsfriedseligkeit zusammen. Thornow, im Gegensatz zum Pastor, mischte seinen Kaffee stark mit Milch, und gleichfalls im Gegensatz zu ihm aß er große Stücke von dem frischen Gebäck. Hierbei sahen ihm der Pfarrer und seine Frau, wie gewöhnlich, wenn er aß, verstohlen und mit gemeinsamer Freude zu; denn er hatte eine fast zierliche Art, den Kuchen in kleinen Stückchen abzubröckeln, schnell in den Mund zu schieben und behende zu kauen, alles mit solcher Sauberkeit, daß kaum ein Krümchen über seinen wie das Vlies eines Lammes in festen, kleinen Löckchen krausen Bart zur Erde fiel. Sein Mund war klein und ernst, seine Augen lächelten, die ganze Gestalt war gedrungen und trug den starken, blonden Kopf auf kurzem Hals.
Es war natürlich, daß ihm aufs neue Lobsprüche über seine Arbeit auf den Kopf fielen; er duckte sich und ließ sie vorübergehen, mit so großem Gleichmut, daß der Pfarrer veranlaßt wurde, zu bemerken, er habe den Freund doch schon oft über seine Kunst reden hören, noch nie aber mit so ruhigem Gewissen wie heute: »Man merkt dir an, was du dir innerlich sagst: ich habe meine Schuldigkeit getan, indem ich das Ding machte, und brauche kein übriges zu tun, indem ich es beurteile, – das ist seine Sache. Ist er zufrieden, so ist es gut für ihn; ist er es nicht, so mag er versuchen, sich zu helfen; ich bin fertig, – ich habe einen Auftrag gehabt und habe ihn ausgeführt.«
Als er das Wort »Auftrag« mit einiger Betonung aussprach, fingen beide Freunde zu lachen an; die Pfarrerin sah verwundert auf sie und fragte nach dem Grunde der Heiterkeit. Anfänglich versuchte man sie hinzuhalten, als sie aber auf ihrem Willen bestand und erklärte, derartige Hieroglyphen in ihrem Verkehr nur ungern zu dulden, sagte der Pfarrer behaglich:
»Nun gut, so sollst du eingeweiht werden. Was das für ein wunderliches Kind Gottes ist, dieser Töpfermeister Thornow, habe ich dir ja genugsam erklärt, und du weißt es auch aus eigener Erfahrung. Wenn ich an die Schulzeit denke, Thornow, – ich sehe dich noch in deinem schönen geräumigen Zimmer, das damals schon mehr ein Atelier als eine Gymnasiastenbude war! Er knetete und griffelte in allen freien Stunden; er hatte eine Sucht, sich in allen möglichen Übungen zu versuchen; er schnitzte Holz, backte Ton, er machte in seinem biederen eisernen Kanonenofen den ersten Gießversuch, indem er aus Flaschenkapseln über verlorener Form einen Aschenbehälter goß. So habe ich ihn auch auf dem Gute seines Vaters hantieren sehen: in der Schirrkammer, in der Schmiede, beim Pflügen, überall war er bereit, wo es anzufassen galt, und sein Vater scherzte, er würde einen guten Knecht, aber einen schlechten Inspektor abgeben. Nie werde ich es verstehen, daß ein solcher, geborener Künstler nicht den Schulsack hinwirft, sobald er kann; und wie früh warst du doch ein freier Mensch, Thornow. Obwohl ich glaube, daß dein Vater dir nichts in den Weg gelegt hätte, – nach seinem Tode und bei deinem bequemen Vormund hielt dich überhaupt nichts mehr. Und doch bleibst du bis zum Punktum Streusand auf dem Gymnasium und gehst dann gar auf die Universität! Warum? Zu welchem Ziel? Und was hast du davon gehabt?«
Thornow antwortete trocken: »Erkläre deiner Frau nun aber endlich, was es mit dem ›Auftrag‹ für eine Bewandtnis hat.« Der Pfarrer fuhr lebhaft und mit einiger freundschaftlicher Bosheit fort:
»Denn schließlich ging er doch auf die Akademie, und verließ sie wieder, und jetzt sitzt er in Neuenrode und macht Töpfe und lehrt ein halbes Dutzend märkische Büdnerjungen gleichfalls Töpfe machen. Dabei steht heute noch wie je sein Sinn nach großen Bildern, die möglichst festlich die Erscheinung des Geistes im Leben darstellen. Und wenn man ihn fragt, warum er solche Bilder nicht male, so sagt er nicht etwa, daß er zu spät auf die Akademie gekommen sei, und den Geist der Kunst wohl in seinem Geist, ihr Handwerk aber nicht in seinem Gelenk habe, sondern macht sich, in der Art von Dilettanten, die ihr Unvermögen mit Hilfe von allerlei Psychologie zu einem besonderen Verdienst stempeln, eine schöne private Erklärung zurecht. Er sagt nämlich, er würde auf der Stelle die schönsten Bilder malen, wenn man ihm den Auftrag dazu gebe; ohne Auftrag könne er nicht malen.«
Es war nun doch in diesen Worten, ohne daß der Pastor es wußte, eine Schärfe, zu der, da die besprochenen Verhältnisse ja nicht neu waren, kein Grund vorlag. Seine Frau fühlte sich peinlich beunruhigt, so bekannt ihres Mannes Weise ihr war; Thornow aber sagte, ganz zur Pfarrerin gewendet: »Das wahrhaft Lustige hierbei ist, daß Severin jedesmal, wenn ich mich so ausspreche, glaubt, ich beabsichtige, einen Witz zu machen. Während ich es doch ernst und simpel meine. Ich meine es so: man gebe mir einen Auftrag zu einem großen Bild, und ich werde ein großes Bild malen.«
Die Pfarrerin wägte und prüfte diese Worte, ob sie nicht doch einen Schalk verbärgen. Als aber ihr Mann darüber lachte, durchs Zimmer ging und allerlei Rufe über die Verdrehtheit des Freundes ausstieß, fühlte sie sich angeregt, einen wahren Sinn bei Thornow zu vermuten. Und sie fragte: »Warum aber malen Sie nicht ein Bild, wie Sie glauben es zu können, und überlassen der Zeit, ob jemand kommt und es kauft und Ihnen durch die Wahl Ihres Bildes etwas wie einen nachträglichen Ersatz für den Auftrag gibt.«
»Das wäre kein Ersatz«, sagte Thornow, »das wäre Indemnität.«
»Was ist das?«
»Das ist, wenn ein Minister eigenmächtig hunderttausend Taler ausgibt, und nachher kommt der Reichstag und verzeiht es, und tut so, als ob er den Minister beauftragt habe, hunderttausend Taler auszugeben.«
»Ganz verdreht«, meinte der Pastor.
»Es stimmt nicht«, sagte die Frau, »und Sie sollen mich nicht verwirren. Wenn man die Gabe hat, ein Stück Zeit, Leben festzuhalten, es aus der Vergänglichkeit zu reißen, ohne es dem Tode zu überliefern, – das muß, denke ich mir, eine schöne Sache sein.«
»Das ist es sicherlich«, sagte Thornow.
»Warum also malen Sie nicht?«
»Was soll ich malen?« Draußen irgendwo mußte sich ein Fenster gedreht haben, denn ein Streifen hellstes Sonnenlicht fiel jäh ins Zimmer.
»Alles«, sagte die Pfarrerin.
»Ja, alles«, erwiderte Thornow, und seine Augen waren strahlender dabei als die der schönen, ihm gegenübersitzenden Frau. »Daß man indessen nicht alles abmalen könne hintereinander, sieht ein jeder ein. Stückwerk aber anzufangen, davor hat die Menschenseele Angst. Und noch etwas: Ein Mann, der um diese Dinge besser Bescheid wußte als irgendein anderer, hat gesagt, daß am Ende der Künstler nichts zu geben habe und nichts gebe als seine Individualität. Jetzt denken Sie sich, daß ich mich in meinem Zimmer einschließe und mich damit beschäftige und mich dafür bezahlen lasse, daß ich meine Individualität darstelle. Individualität als Beruf, – ein netter Beruf. Nein«, sagte er, und sein vorhin doch wohl zweideutiger Ton wurde entschieden. »Ich will es weder auf die Individualität noch auf die Natur absehen, wenn ich Kunst mache. Und darum: bitte um einen Auftrag.«
»Was würde es helfen«, warf neckend der Pfarrer in die Nachdenklichkeit ein, »gibt man dir schon einen, so kommt die Künstlereifersucht dazwischen, und du drückst dich um ihn herum. Oder wagst du zu behaupten, daß das hier mein Tobias sei oder überhaupt irgendein vernünftiger, schriftgelehrter Tobias?«
Und so standen sie wieder vor der Vase, und der Pfarrer fragte, zum Ernst einlenkend: »Es ist wohl nicht bloß Eifersucht? Erzähl' uns!«
Thornow willfuhr ihm gern, und hatte bisher den Pfarrer und seine Frau das Werk, fertig und siegreich wie eine Improvisation, hingerissen, so sahen sie jetzt sein Werden, die Einzelheiten, Zufälligkeiten, Nachträglichkeiten, die sich fester ineinanderflochten, als dem ersten genießenden Blick offenbar sein konnte.
Noch mehrmals erneute sich die Betrachtung und mit ihr das Werk den Freunden; und als auch Gaston dazu kam und der Hund sich einfand, gab es manchen Spaß, zum Verdruß des Jungen, dem es nicht schmeichelte, wenn Thornow ihn mit dem Tobias verbrüderte. Der Tag verlief heiter und reich, und nach dem Abendessen blieben sie noch beim Wein zusammen, bis Thornow, nicht lange vor Mitternacht, aufbrach.
Der Sommer, der lange zurückgehalten hatte, erschien schnell und flüchtig und war schon dahin, als die Klagen, daß er nicht kommen wollte, kaum noch vergessen waren. Mit stürmischem Regenwetter näherte sich die Erntezeit, und die überheißen Tage, die wie von einer wildlaunigen Hand in die bewölkten, stumpfen Wochen geworfen wurden, schienen dem Korn mehr zu schaden als zu nützen. Der Pfarrer – der aus dem Warthebruch stammte – sah auf seinen sonntäglichen Fahrten durch die Parochie der drohenden Mißernte mit Bedauern entgegen; als aber schließlich das Ergebnis der Ernte mit Zahlen annähernd geschätzt werden konnte, war er erstaunt, festzustellen, daß seine Pfarrkinder, die den ganzen Sommer über mit Kopfschütteln und mit Stirnkräuselung zum Himmel aufgesehen hatten, eher noch eine günstigere Ernte vermelden mußten als im vergangenen Jahr. Sie wirtschafteten fleißig mineralischen Dünger in ihren dürren Boden, und hatten gerade in nassen Jahren reichliches und gesundes Korn.
So klar der Pfarrer sonst dachte, empfand er doch etwas wie Unbehagen, als er das Schicksal des Landmanns, das ihm, wie kein anderes, unmittelbar mit dem Leben der Erde, der Luft, des Lichtes verknüpft schien, sich so listig unter der Herrschaft der über ihn gesetzten Mächte fortstehlen sah. Doch war das keine bloße dumme Grille; er fühlte, daß, wie sie den Regen überlisteten, sie sich auch dem Gotte entzogen, der ihn schickte. Gerade daß er versucht war, ihnen übel auszulegen, was auf der ganzen Welt kein Mensch ihnen übel gedeutet hätte, bewies ihm wieder, wie fremd er gegen sie und sie gegen ihn waren, und daß er mit seinen Gemeinden wenig anders als durch das Amt verbunden war; mehr noch als früher zog er sich auf das Spiel persönlicher Geisteswünsche zurück.
Hierbei spielte das Geschenk des Freundes eine über sein Erwarten große Rolle. Sie war ihm im Laufe der Monate nicht zum Symbol verflüchtigt, sie hatte ihre Realität und Gegenwart erhalten. Zwar hatte er sich mit dem Inhalt der farbigen Darstellung so vertraut gemacht, daß er, gefragt, um Deutungen nicht verlegen gewesen wäre. Er hätte Beziehungsreiches über den Menschen zu sagen gewußt, der, in seinen Traum verloren, auf die Wahl eines Augenblicks der Wahrheit gegenübergestellt wird, und hätte wohl den Hund, die Schwalbe und die Ziege auch an seinen Wagen binden können. Aber sobald er immer anfing, solcherlei Exegese zu treiben, unterbrach er sich bald. Unter den Photographien nach Gemälden, deren er viele besaß, gab es doch nicht wenige, zu denen er die Originale kannte; aber beim häufigen Durchblättern seiner Mappen hatten die Nachbildungen ihren selbständigen Wert bekommen und waren die Urbilder verblaßt. So hatte er sich gewöhnt zu glauben, daß die Kunstwerke in der Reproduktion ihr Wesentliches gar nicht verlören. Und da er sich jahrelang von der Stadt fernhielt, war diese Anschauung ihm so natürlich geworden, daß man annehmen kann, er würde auch ein Gemälde, das etwa in seinen Besitz gekommen wäre, für ersetzbar durch eine Photographie gehalten haben; – weniger schon eine Statue, gar nicht die Vase. Dieses Ding, einen Nutzen heuchelnd und doch mit gutem Gewissen unnützlich, das so fremd und zuversichtlich, so gegensätzig und passend in dem dunklen Zimmer stand, schien ihm von Tag zu Tag ein unersetzlicheres Gut.
Er empfand zum erstenmal, eifersüchtig und beglückt, den Zauber eines einzigen Besitzes. Er, dem das herrschsüchtige Wort der Deutung zu leicht auf die Lippen kam, lernte das lebenvolle Stummwerden vor dem Kunstwerk. Und wenn er aus dieser neuen Ruhe den Gedanken, mühsam wie aus einem Starrkrampf, aufwachen sah, daß alle die ungezählten Werke des menschlichen Geistes, die, welche er kannte, und die, um welche er von ferne wußte, in gleicher Weise souverän seien, niemanden zu Dienste, in dem zerstörenden Werden der Natur den reinen Triumph der Existenz wahrend, so wurde ihm schwindlig vor den Augen. Dann konnte es geschehen, daß ihm fast um seine Seele angst wurde und er fürchtete, in einen schlimmeren Bilderdienst zu verfallen als je ein Ketzer. Aber er wurde nicht lahm an seiner Angst, sondern lächelte über sie, als wäre sie ein Geist, welcher noch eine Blume fremden Duftes in den Strauß verbärge, der, wechselnd im Wechsel der Monate, über den Rand des kostbaren Gefäßes üppig schwoll und niedersank.