Moritz Heimann
Die Tobias-Vase
Moritz Heimann

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Am nächsten Morgen ließ der Pfarrer sein Interesse an der Vase und alles, was damit zusammenhing, hinter dem zurückstehen, was seines Amtes war. Das Haus war hell vom klaren Morgenlicht, darin bewegte sich Tier und Mensch zwecklos, mußevoll, der Pfarrer sah es nicht. Schon lange, ehe der Wagen vorgefahren war, der den Pfarrer in das zweite Dorf seiner Parochie bringen sollte, wußte Gaston, daß er heut' zu Hause bleiben müsse.

Es war ein kühler Tag, eines kühlen, zurückhaltenden Frühjahrs. Noch waren, obgleich es nicht weit von Pfingsten war, die Birken nicht zu ihrem reinen, grünen Laub entfaltet; wo sie dicht gedrängt das Vorholz zu fernen Kiefernwäldern bildeten, breiteten sie zartgoldene Schleier über den schwärzlichen, winterlichen Grund. Noch war das jubelnde Zusammendrängen nicht zu spüren, worin im Frühjahr alles Wachsende zu einem Strom des Lebens sich einigt, – sondern Baum und Strauch und Saat standen noch in ihrer ängstlichen, dürftigen Vereinzelung da. Über Nacht hatte es kräftig geweht, und die magere Feldmark war auf der Wanderung gewesen, der Wind hatte den Sand zu lauter kleinen, dünenartigen Wellen zur Ruhe gelegt – frostig sahen die unbebauten Felder aus. Aber die Luft, angenehm von der Sonne gewärmt, schmeichelte dem Gesicht des Fahrenden, und da es windstill war und er keine Sandkörner zwischen die Zähne und in die Augen bekam, so fand er sich zu Spiel und Traum mit sich geführt, ganz wie er es gewollt hatte. Über den Feldern gaukelten, schwarz flimmernd im Flug, die Kiebitze, und als das Fuhrwerk an Wiesen entlangfuhr, die an dem schmalen Band eines kleinen Flusses aufgereiht waren, lärmte aus tausend Vogelkehlen der Tumult des neuen Jahres.

Der Pfarrer predigte, besuchte Kranke und Greise, – mit Verklärtheit und freudig tat er alles. Wenn er in diesem Zustand war, empfanden die Pfarrkinder sein Wesen noch fremder als sonst, noch unpersönlicher. Er wiederum fühlte wohl, daß das Wort, das er ausschickte, nicht Ruhe und Herberge fand bei den Herzen, zu denen es kam; von dem einen grob, gleichgültig vom andern wurde es zurückgeworfen. Und nicht immer hatte der Pfarrer die Kraft, das verirrte wieder bei sich aufzunehmen; sondern er konnte mit Bitterkeit zusehen, wie es unterwegs verkam und verdarb.

Ja, er sah »das Wort«. Und heute schwebte das geflügelte, helle Ding frei und fröhlich in der Luft, als sei es um seiner selbst willen da und nicht, um Botschaften vom Geist zu den Herzen zu tragen.

Er war kein Narr und war kein Kind. Die bloße Tatsächlichkeit eines noch kostbareren, noch edleren Geschenks, als die Vase es sein konnte, hätte nicht vermocht, ihm wichtiger als für die Laune einer Stunde und eines Tages zu werden. Aber eine eigentümliche Anlage seines Charakters, eine fast krankhafte Dankbarkeit, regte bei Ereignissen, wie dieses war, sein Innerstes auf. In dichterischem Spiel fügte und ordnete er die Elemente: er sah das Gefäß und überdachte das eigensinnige Arbeiten des Freundes in Kunst und Handwerk: er probierte Entwürfe zu den Darstellungen auf der Vase, – die hatte er selber aufgegeben, es sollten Szenen aus der Tobiasnovelle sein, seinem Lieblingsstück aus den Apokryphen; sie war ihm wie ein lieblicher Vorspuk zu dem Haushalt und der Laufbahn des Heilands selbst, in idyllischer Verkleinerung fast ähnlich reich an Bildern; er wob aus ihren Fäden ein unsichtbares Netz, mit dem er nach der Seele des ihm anvertrauten Knaben haschen wollte, – und wieder trat die unerschütterte Gestalt des Freundes beherrschend in des Spiel; dann dachte er, wie seine Frau die Vase behüten, säubern, schmücken würde, und da wurde die Frau vor seinen träumenden Augen groß wie ein Riesenfräulein, das Mann und Kind und Haus und Gerät mutwillig mütterlich in seiner Schürze trägt.

Als er nach Hause kam, tat er keine Frage nach der Vase, und nur einmal, während des Essens, sprach er die Erwartung aus, daß Thornow kommen würde. Nach dem Essen stand er lächelnd auf, auch seine Frau stand auf und lächelte, und Gaston stemmte sich auf seinen Stock, der Hund war nicht im Zimmer. Dann gingen die drei in das Bibliothekzimmer, und dort stand auf der Platte eines großen Bücherschranks, in Tischhöhe, endlich die Vase.

Der Pfarrer stieß einen freudigen Ruf aus, so prächtig strahlte die Vase, und so herrisch stand sie da.

Auch dieses Zimmer hatte einen düsteren, zumindest ernsten Charakter; die Täfelung, mit der die Wände belegt waren, war dunkel und ersichtlich alt; der Pfarrer, ein wohlhabender Mann, hatte sie auf einer Reise in der Schweiz als echt, aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts stammend, gekauft. Die hohen Schränke verstärkten den Eindruck, der sonst wohl fast bedrückend sein mochte: jetzt aber stand die Vase da und sandte die lustigen, kräftigen Feuer ihrer Farben verschwenderisch nach allen Seiten.

Der Pfarrer trat nicht näher, lange blieb er betrachtend auf demselben Fleck.

Gaston unterbrach die Stille, der die Freude des Pfarrers vornehmlich respektiert hatte, weil er eine große Freude über diese Freude in den Augen der Frau bemerkte. Schließlich konnte er sich jedoch nicht länger halten und fragte: »Herr Pastor, wo ist denn nun meine Überraschung an dem Topf?« Der Pfarrer wachte auf, ging näher und untersuchte nun, wie der Freund die Geschichte des Tobias dargestellt habe. Aber da fand er etwas ihm Neues, auf den ersten Blick Unvertrautes, so daß er sich nicht gleich zurechtfinden konnte.

Die Erscheinung des Fisches war das Thema, das er mit dem Freund verabredet hatte.

Thornow also, der ein Rationalist sein mochte, hatte Mitleid mit dem guten, zu langer Wanderung verpflichteten Jungen gehabt, und hatte den Tobias, als er ihm gar zu müde schien, genommen und auf einen derbzierlichen, niedrigen Kinderwagen gesetzt. Und wie es wohl Darstellungen gibt, auf welchen die Kirche, in Gestalt eines Papstes auf einem Wagen sitzend, von den symbolischen Begleitern der Evangelisten gezogen wird, von dem Engel und dem Löwen, dem Ochsen und dem Adler, so hatte auch Thornow seinen Tobiaswagen bespannt. Er hatte dem Hündchen und der Ziege Geschirre angelegt und der Schwalbe einen Faden als Zügel in den Schnabel gehängt; und da diesen Dreien nicht recht zu trauen war, so hatte der breit und schwer beflügelte Engel Raphael einen derberen Strick genommen, an dem er das Gefährt hinter sich herzog.

So waren sie, zwar nur widerwillig einig, doch verträglich gewandert, bis sie an einen See kamen. Als sie dem Ufer seitlich hatten folgen wollen, waren die Wellen des Sees empört worden, aus denen sich drohend ein mächtiger Fisch erhob. Da stockten die Räder, der zottige Hund stutzte und hemmte, auf die Vorderfüße gestemmt, seinen Lauf; die Ziege sprang in die Quere und glotzte mit den immer verwunderten Augen noch verwunderter darein; die Schwalbe, die eben nach einer niedrig fliegenden Mücke geschnappt hatte – denn ein Gewitter kam über den See – schoß segelnd in die Höhe; und Tobias hob, aus dem Dämmern der Müdigkeit auffahrend, in Märchengrauen das zarte Gesicht. Der Engel aber hatte sich umgedreht und umfaßte mit seinen treuherzigen, listigen Augen das ganze Gesinde.

Dieses war der Augenblick des Bildes, dessen lebhafte Hartfeuerfarben einen glühenden Sommer ausstrahlten. Schilf umflüsterte das Ufer des Sees, und die Räder des Wagens standen in Gräsern und Blumen. Von links nach rechts war der Zug gerichtet. Alle Formen, Vließ und Horn der Ziege, Gras und Blume, Hundezottel und Schwalbenflügel, das Wams des Knaben und der Mantel des Engels, ja sogar die Hexenmeistermützen auf beiden Köpfen, hatten etwas Zierliches, Auseinanderspritzendes, was dem Bilde einen lustigen, exotischen Anschein gab.

Dem Pfarrer gefiel das alles, aber es befremdete ihn auch, und er fühlte, daß er seine Lust zu der seinem Pflegling zugedachten Exegese hieran vorläufig nicht würde üben können. Darum, als ihn Gaston wieder mahnte, besann er sich kurz und fand eine Erklärung.

Er nahm aus einem Fach des Schrankes eine Mappe heraus, suchte darin und brachte eine Photographie zum Vorschein. »Du weißt«, begann er, »daß ich gerne diese Blätter ansehe, und eines der liebsten ist mir das, was ich hier in der Hand habe. Das aber ist mir auf eine Weise, die du noch nicht verstehst, überflüssig geworden, und ich schenke es dir.«

»Schön«, warf die Pfarrerin ein, »und ich werde es dir rahmen lassen, und du magst es dir in deinem Zimmer aufhängen.«

»Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen«, sagte Gaston und gab beiden die Hand. Er war verlegen und sah ohne seine spöttische Art auf das Blatt, das er ungeschickt hielt.

Der Pfarrer setzte sich und lud den Jungen an seine Seite, die Frau nahm einen Platz am Fenster ein und sah herüber.

Es war etwas Wohltuendes in der an Gaston auffälligen Bescheidenheit, und der Pfarrer gab einem alten Wunsche nach, an des Knaben Gemüt zu rühren, ob es einem minder irdischen Klange würde widertönen können.

Er begann: »Was du auf diesem Blatt siehst, weißt du doch?« Der Knabe, der sich auf Bildern leicht zurechtfand, sagte: »Ja! Hier sind drei Engel und ein Junge.« »Nun, und was hat der Junge in der Hand?« »Einen Hecht!« Das paßte dem Pfarrer nicht ganz, und er wiederholte: »Einen Hecht, ja, einen Fisch!«

Und da verließ ihn schon die sokratische Methode, und statt zu fragen, erklärte er: »Das ist nämlich Tobias mit dem Fisch, und eigentlich müßten dich die drei Engel sehr wundern, denn in der Geschichte kommt nur einer vor. Du kennst doch die Geschichte?«

Da aber hatte die Befangenheit des Jungen ein Ende, der Schalk flunkerte in seinen Augen, als er die Frage in einer Weise beantwortete, wie wenn er einem guten Spaße zustimmte. Der Pfarrer merkte es gerade nicht, aber es wirkte doch auf ihn, so daß er in Hast geriet.

»Du weißt«, hub er an, »wie sie an den Fluß Tigris kommen und der müde Knabe seine Füße waschen will, da fährt der große Fisch wider ihn, als ob er ihn wollte verschlingen. Und als Tobias erschrickt und mit lauter Stimme schreit: Herr, er will mich fressen, – sagt der Engel zu ihm: habe keine Angst, greife fest zu, zieh ihn dir heraus. Sein Herz, seine Galle und seine Leber enthalten dir eine köstliche Arznei. Ja, mein Lieber, du lachst, ich sehe es wohl, das ist noch schlimmer als erschrecken. Du weißt eben noch nicht, was du hörst. Ich habe dir oft gesagt: wenn du dich zusammennimmst und deine guten Gaben nicht im Stiche läßt, so sollst du Dinge zu lernen bekommen, die dich mit dem Schönsten auf der ganzen Welt bekannt machen. Griechisch sollst du lernen, und wir wollen mal gleich einen Anfang machen. Hier ist ein Fisch. Merke dir: Fisch heißt auf griechisch Ichthys. Sprich es nach!« Gaston sprach es nach, aber der Pfarrer wußte nicht, wie fortfahren und veränderte also gänzlich den Ton: »Ichthys, in diesem Wort sind die Anfangsbuchstaben eines Satzes enthalten, welcher lautet: Jesus Christus Theou Yios Soter; das heißt auf deutsch: Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland. Und darum war den ersten Christen, die noch dem Geheimnisse des Herrn nahe waren, der Fisch ein bedeutungsvolles Zeichen. – Mein lieber Gaston, wenn ich mit dem Tobias an den Fluß Tigris käme und der große Fisch ihn erschreckte, so würde ich auch sagen, wie der heilende Engel Raphael: habe keine Angst, du mußt ihn fest anfassen; sein Herz und Galle enthält dir wunderbare Heilkraft.« Dem Jungen wurde bei diesen Worten doch eigen zumute, sie hatten geklungen, als würden sie gar nicht zu ihm gesprochen, als wehten sie hoch über ihn und kalt hinweg. Denn der Pfarrer, der eine ähnliche Rede oft im Geiste gehegt und vorbereitet hatte, spürte, während er sprach, um wie viel gröber seine Absicht in der Wirklichkeit erschien und daß sie wie eine ordinäre Proselytenmacherei allen Zauber verlor; und die Scham darüber hob den Klang seiner Worte ins Ungewisse.

Er stand auf, reichte dem Jungen den Stock und sagte: »Weißt du was? Geh mal nun auf dein Zimmer und such' dir eine Stelle, wo du das Bild hinhängen willst. Miß auch, wie groß der Rahmen sein soll. Und da eine kahle Stube durch ein Bild noch kahler wird, so sieh nur gleich zu, wo du ein paar andere Bilder hinhängen magst; die sollst du haben, sobald du sie forderst.« Gaston ging.

Der Pfarrer blieb mit seiner Frau in bewegter Unterhaltung, die sich um den Freund und seine Arbeit drehte. Und hierbei bedachte der Pfarrer nicht, daß seine Frau den ganzen Vormittag im Hause gewesen war, und daß sie das, worüber er sie belehren wollte, schon wissen mochte.


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