Ulrich Hegner
Die Molkenkur
Ulrich Hegner

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Suschens Hochzeit

Zweyter Theil.

Zürich, 1819.

Bald mehrten sich Besuche und Bekanntschaften auf Grünenstein und diese teilten sich wieder in näheren Umgang mit einzelnen, so daß es an mancherlei Gesellschaft nie fehlte und das fröhliche Leben nach des Obersten Wunsche wirklich zu beginnen schien. Selbst die steife Tante des Predigers fand in den nahe liegenden Städtchen Freundinnen nach ihrem Geschmack und tat sich darauf zu gut, dieselben im Schloß einzuführen, wo Suschen wie eine Anverwandte des Obersten behandelt wurde und die Frau Amtsrätin sich infolge dieser Verwandtschaft zur Familie zählte. Auch war ihr in der Familie niemand entgegen, selbst der Oberst begegnete ihr schonend, nur fast zu ungezwungen, wie sie sagte. Daß sie ihn gnädigen Herrn nannte, ließ er sich zwar durch Suschen verbitten, denn er meinte, in der Schweiz sei diese Benennung unschicklich; allein es half nichts, sie tue es sich selbst zu Ehren, war die Antwort.

Besser war er mit der jungen Base zufrieden, die sie mitgebracht, welche voll Leben und Feuer war und nicht so viel Umstände mit ihm machte. Sie war nichts von allem dem, was die Tante von ihr erwarten lassen, in ihrer Vaterstadt unter guter Gespielschaft aufgewachsen, verband sie mit einem aufgeweckten Kopf allerhand Kunstgeschicklichkeiten. Sie zeichnete, sang zur Gitarre und war in manchem bewandert, was sonst über den Erreich munterer Mädchen geht. Das alles wußte sie mit einer unverstellten Natürlichkeit zu verbinden, so daß auch die Freundinnen sie ehrten und gerne um sich hatten; sie malte ihre Blumen und sang ihre Verse, und ihre Anmaßungslosigkeit stand den Anmaßungslosen nicht im Wege. Das worauf die Tante stolz getan, war eine kleine Bergreise, die sie beschrieben, die von einem Bekannten nachher überarbeitet und irgendwo dem Druck übergeben worden, sie hatte es aber bei diesem Versuche bewenden lassen. Der Oberst fand Gefallen an ihrem Vorlesen und suchte ihr die richtige Aussprache des Deutschen beizubringen, bemerkte aber, daß solche auch den geläufigsten Schweizermädchenzungen etwas schwerfalle. – Sie bringen es selten weiter, als bis zum Schwabendeutsch, meinte der Professor.

Als nun die jüngeren Bewohner Grünensteins eines Morgens mit einem kleinen Verein aus der Nachbarschaft eine nahe Anhöhe bestiegen hatten um die aufsteigende Sonne zu sehen, wobei denselben einige Abenteuer aufgestoßen, die ihnen zwar den Zweck der Reise verschoben, jedoch so viel Bewegung und Befriedigung gewährt hatten, daß sie mit begeistertem Wohlgefallen immerfort davon sprachen, äußerte der Oberst den Wunsch, eine schriftliche Erzählung aller dieser seltsamen Ereignisse zu haben, wär' es auch nur um des Zusammenhangs willen, zu welchem er bei so vielerlei Besprechungen kaum gelangen könne. Da ihm aber niemand willfahren wollte, rief er in scherzhaftem Unwillen, er getraue sich nach dem, was er gehört, diese Beschreibung selbst zu machen, ja, was die Erzähler selbst nicht zu leisten imstande wären, die Geschichten folgerichtig zu verbinden und dem Verdienste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Des folgenden Tages las er ihnen beim Frühstück, neckisch und erfreulich, vor wie folgt:

Reise nach dem Aufgange

Beschrieben von einem, der nicht dabei war

Auf einem Landsitz im Rheintal hatte sich an einem fröhlichen Abend eine Gesellschaft junger Leute verabredet, bei dem ersten schönen Morgen den Flug, wie sie es nannten, auf eine benachbarte Höhe zu nehmen, um das Erwachen und Aufstehen der Sonne zu sehen. Große Vorbereitungen wurden dazu gemacht und alle Sonnengedichte deren man habhaft werden konnte gelesen und alle Dämmerungslieder gesungen, ja sogar eigene versucht, um sich der Weihe empfänglich zu stimmen.

Ihr habt mich auch angesteckt, Kinder, rief einer der beiden alten Männer, die ebenfalls zu den Bewohnern des Landgutes gezählt wurden und an Leid und Freude teilnahmen, wenigstens oft kritisch besprachen, was sie nicht mit der Jugend fühlen konnten: Hört, da hab' ich ein Lied der Wallfahrt für Euch gemacht! Er las:

Haben wir so lang geharret,
Hat das Wetter uns genarret,
Nun die Wolken sich zerteilen,
Laßt uns eilen;

Daß wir noch bei Nacht und Nebel,
Mit dem Fernglas und dem Ebel,
Dort des Hügels Höh' erreichen
Bei den Eichen.

Matt der Morgenstern noch blinket,
Scheidend uns zu eilen winket;
Seht, schon will der Aufgang glühen,
Laßt uns ziehen!

Sind wir oben, flammt die Sonne
Über Berge; o der Wonne,
Wenn vereint wir niedersinken ...
Kaffee trinken!

Aber der Scherz des Alten war nicht nach dem Geschmack der Jungen, sie sangen anders. Emporschwingen wollten sie sich im Geist auf den Flügeln der Morgenröte, entgegenheben die Arme dem herrlichen Lichte, schauen wie es seine feurigen Strahlen erst in die unendlichen Lüfte sendet und dann sich ausbreitet über Land und Meer. Zwar war das Meer von dem Rebhügel aus nicht zu sehen, aber doch der Rhein, der am Ende auch ins Meer läuft, es war Sprache des dichterischen Gefühls.

Ungeachtet der Alte mit seinen Versen kein Glück gemacht hatte, legte er sich ruhig zu Bette, jene aber meinten in entzückender Erwartung nicht schlafen zu können, es geschah aber doch, ja das Aufstehen frühmorgens noch bei dunkler Nacht wollte einigen so schwerfallen, daß sie die schnellgetroffene Abrede jenes Abends fast bereuten. Doch ergriff sie jetzt alle, da sie beisammen waren, eine morgendliche Munterkeit und die Lust zum Werke.

Volant, ein dänisches Windspiel das zum Schlosse gehörte, sollte nicht mit, so sehr er auch in freudigen Sprüngen seine Erwartung zeigte, denn es hieß: so ein Geschöpf könnte mit seinem animalischen Betragen Zerstreuung verursachen und den reinen Eindruck der herrlichen Erscheinung stören. Aber er wedelte so freundlich und sprang so zuversichtlich herum, daß der weichen Pilgrime einige für ihn sprachen: Wer weiß, hieß es, ob das arme Vieh nicht auch eine dumpfe Vorempfindung dieser großen Morgenfeier hat, sie geht doch über die ganze Natur; ja es wäre möglich, daß die Pracht des Schauspiels selbst auf ein so untergeordnetes Wesen irgendeine wohltätige Einwirkung hätte.

Demnach lief Volant in großen Sätzen mutig und bellend voraus und verfolgte die Katzen, die in den Wiesen auf Mäuse lauerten; er erregte aber damit einen gerechten Unwillen, denn die guten Tiere suchten vielleicht Nahrung für ihre Jungen, die ohne sie elendem Tode preisgegeben wären! Doch kam ihm die Betrachtung zustatten, daß dadurch manchem Mäuslein sein kleines Leben gefristet werde. Indes, das wäre hingegangen, allein kaum waren sie eine Strecke weiter gekommen, so sprang der Hund auf einen Bettler los, der in Lumpen gehüllt sich schon früh aufgemacht hatte um der Gesellschaft zu begegnen, weil seine Frau, gestern im Schlosse bettelnd, etwas von dem heutigen Vorhaben vernommen. Er schrie erbärmlich und obgleich der Hund nur an den Fetzen seines Rockes gezerrt hatte, tat er doch als ob er gebissen wäre und hielt jammernd mit beiden Händen den Schenkel.

Man denke sich die feierliche Stimmung dieser der schönsten Naturerscheinung entgegenpochenden Herzen, so wird man sich einen Begriff von der Bestürzung über das störende Ereignis und von der gutmütigen Teilnahme an dem Leidenden machen können. Man wollte ihn in ein benachbartes Haus führen um ihn zu verbinden, allein er nahm es nicht an und sprach mit schmerzlicher Hingebung, man solle ihn nur in Ruhe lassen, er sei dergleichen Unfälle schon gewohnt und werde sich wohl wieder erholen. Eine Kollekte, die in der Eile für ihn gesammelt wurde, schlug er indessen nicht aus. Die gerührte Gesellschaft verließ ihn mit dem süßen Gefühl der Milde, und der Bettler freute sich lächelnd der List, denn bei Jahren war er nie so reich gewesen.

Von da gelangte man an ein Bächlein, das lispelnd über Kiesel floß und hier und da kleine Gebreite bildete, heimliche von grünem Gebüsche umhangene Plätzchen, in denen sich durch die Zweige noch der scheidende Mond spiegelte. Man nannte das Bächlein einen freundlichen Strom und lauschte mit Wohlgefallen den zarten Tönen der Laubfrösche, die sich da ihres unschuldigen Daseins erfreuten. Und als noch gar weiterhin der Bach über kleine Abhänge herunterrieselte, wurde sehr bedauert, daß man nicht Papier und Reißfeder mitgenommen, um auf dem Rückwege diese reizenden Partien zu zeichnen: Gab es doch große Meister, die aus Steinen ungeheure Felsen und aus Moos Wälder schufen, sprach ein Kenner; sollten wir nicht auch aus einer spannenhohen Rinne einen Wasserfall machen können? vereinigt sich doch alles, was der Beschaffenheit nach zu einem großen Stromsturze gehört und hat dann noch das Liebliche der Kleinheit obendrein. – Man fand das sehr gegründet, ja ein Kunstliebhaber bemerkte, daß der Gegenstand nicht nur gezeichnet, sondern auch gestochen Beifall finden müßte, wäre es auch nur um der Seltenheit willen, einen Wasserfall in Lebensgröße zu haben.

Man hatte sich etwas lange bei dem freundlichen Strome gesäumt und kam nun zu einer einsamen Bauernhütte, an deren Vorderseite sich eine Weinrebe in malerischen Krümmungen bis unter das Dach emporwand. – Welch eine idyllische Wohnung! erschallte es schon aus einiger Entfernung, noch ehe man in der Dämmerung das Haus recht sehen konnte: Welch ein Aufenthalt für ein stilles Gemüt, hier so allein, am Vorgebirge des Hügels, so traulich eingeschlossen von Bäumen, auf grüner Matte und in der Tiefe die Weite des Landes! Noch schläft alles, glückliche Landleute, wenn sie den Tag über die allernährende Erde anbauten, ruhen sie unter den Fittichen der Nacht von ihrer einfachen Arbeit in den wohltätigen Armen des Schlafes, um morgen das schöne Werk wieder fröhlich zu beginnen! – Und nun erhob sich ein Lob des Landlebens, als wollten sie alle stehenden Fußes Bauern werden, als prickelten ihnen schon die Hände nach Karst und Hacke.

Als sie sich aber dem Hause näherten, flog plötzlich die Türe auf und ein junger Mann, halbangezogen, sprang hinaus und lief an ihnen vorbei.

Wohin so eilig, Freund?

Geht hinein, helft! rief er, um Gottes willen, helft! – Weg war er.

Sie hörten drinnen Töne des Leidens, Gebet, Angstgeschrei. – Wer sollte aber hineingehen? –, es war stockdunkel in dem Hause. Die Frauenzimmer drängten sich erschrocken zusammen, die Herren gingen bedächtlich bis an die Schwelle. – Die wehklagende Stimme ließ nicht nach. – Endlich wagte es der herzhafteste unter den Herzhaften und stolperte hinein, dahin wo die Wehklage herkam.

Hast du die Hebamme, Heinrich? schrie ihm die Stimme entgegen; o Lieber, hilf mir, ich vergehe!

Aber der vermeinte Heinrich lief schnell wieder hinaus. Eine Frau in Kindesnöten! rief er: Mein Gott, was ist denn da zu machen?

Allervorderst mußte Licht gemacht werden, und schnell wurden mit Hilfe des Feuerzeuges, das man mitgenommen hatte um die Sonne mit Kaffee zu begrüßen, ein paar Holzspäne angezündet. Aber noch zauderte man, das Haus zu betreten, und die Jünglinge verwünschten die Stunde, in der sie heute aufgestanden.

Heinrich, wo bleibst du? schrie es wieder jammernd.

Hilfe muß da geschafft werden, sagte mitleidig eine Dame, die Kinder zu Hause hatte; ich will tun was ich kann, wenn jemand bei mir bleiben will. – Ich bleibe, rief die menschenfreundliche Schweizerin: Soll ich nicht die Sonne, so will ich doch einen Menschen kommen sehen; jene wird ohne mich wohl ihren Weg finden, diesem kann ich vielleicht helfen. Beide gingen mit dem Licht hinein.

Die übrige Gesellschaft machte sich eilig auf den Weg, denn schon war von dem himmelanstrebenden Turme eines benachbarten Christentempels ein viermal wiederholter Klang in feierlichen Schwingungen durch die Lüfte gedrungen, das heißt, es hatte in dem Dorfe viere geschlagen und schon breitete sich an dem unendlichen Gewölbe des Himmels ein stilles Licht wie ein in Silber und Purpur gewirktes Tuch aus, es fing an zu tagen. Hohe Zeit war es, um auf die Spitze des Hügels zu kommen, man eilte deswegen, ohne weiter ästhetisch bei der Natur zu verweilen; auch hatte das Ereignis in dem idyllischen Hause sich so sehr der Einbildungskraft bemächtigt, daß man selbst in einem allerliebsten Wäldchen, wo der reiche Gesang der Vögel den Morgen begrüßte, nur von der Kindbetterin sprach und kaum auf ein Eichhörnchen achtete, das in niedlichen Sprüngen, als geschähe es der Gesellschaft zu lieb, von Baum zu Baum hüpfte, welches sonst alles Gegenstände sind, an denen sich jene der Naturanschauung geweihten Gemüter nicht sattsehen noch sprechen konnten.

Doch alle Eile war leider zu spät, anstatt daß die frommen Wanderer die Sonne hervortreten sahen in ihrer Pracht, lag diese schon oben auf dem Hügel ehe sie ankamen und schaute ihren Mühseligkeiten zu, wie sie keuchend hinanklimmten. – Welch ein Mißgeschick! hieß es: Werden nicht unsere alten Herren zu Hause uns aufziehen, die immer recht haben wollen und uns voraus sagten, daß wir zu spät kommen würden, wir möchten die Wallfahrt so früh antreten als wir wollten! Aber war es unsere Schuld, daß uns der Bettler aufhielt? sagten die einen. Es schwebte so viel Reiz um den freundlichen Strom, daß es schwer war, sich von ihm zu trennen, bemerkten die andern; alle aber kamen darin überein, daß sie ohne die Frau in Kindesnöten noch zu rechter Zeit angelangt sein würden: Indes haben wir auch ohne das Schöpfungsgemälde des Aufgangs hier noch genug zu schauen, laßt uns genießen was vor uns liegt! – Und so machte man sich gefaßt, sich in die Empfindung hinein zu empfinden.

Allein es sollte nun einmal nicht sein, man konnte zu keiner rechten Andacht kommen. Die zarten Pilgerinnen waren durch das schnelle Steigen sehr erhitzt und jetzt trat mit der aufsteigenden Sonne eine kalte Morgenluft ein, die alle warmen Gefühle zurückdrängte und die Leidenden zwang, ihre bloßen Arme, statt sie jauchzend der Sonne entgegenzustrecken, fröstelnd unter der Schürze oder wo sonst Platz war, zu verbergen. So konnte sich keine Begeisterung einstellen, und das Häuflein stand verdrossen da wie Krieger nach verlorener Schlacht. Ein Feuerchen anzünden angesichts der strahlenden Sonne schien ihnen auch zu kleinlich.

Zum Glücke war ein halbverfallenes Rebhäuschen in der Nähe, auf welches schon mehrere von ihnen lüsterne Blicke geworfen, und kaum hatte einer den Vorschlag gewagt, sich dorthin zu begeben, war schnell die ganze Gesellschaft bereitwillig. Man stieg hinein, machte Ordnung und traf Anstalt den Kaffee zu kochen, einige trugen Holz und Wasser herbei, andere reinigten den Kamin und machten Feuer, diese packten Schinken und Wein aus, kurz alles geriet in Tätigkeit und mit derselben stellte sich auch die frohe Laune wieder ein; die geistige Spannung ließ nach, man vergaß die Sonne und alle prächtigen Worte, die sie hätten begrüßen sollen, man war von dem Prunkgeschosse hinabgestiegen in die behagliche Wohnstube des gemeinen Lebens und tat nur zuweilen einen Blick hinaus in die freie, sonnenhelle Welt, einen Blick verzichtleistender Zufriedenheit, in dem mehr wahre Empfindung lag, als in allen Hochflügen gereizter Einbildung.

Die Wirkung hievon zeigte sich bald, denn kaum hatte man sich zum Frühstücke so gut als möglich niedergelassen, hob eine edle Stimme an: Aber wie geht es wohl unserer armen Wöchnerin? wie wärs, wenn wir einen Teil unseres Überflusses ihr zukommen ließen? – Gesagt, getan, mit einmütigem Jubel wurde Brot, Wein, Braten, Kaffee alles schnell eingepackt und der Bediente mußte sich sogleich damit auf den Weg machen. Mit dem geringen Überreste tat man sich gütlicher, als wenn man den Hunger der Hochgefühle noch im Leibe gehabt hätte; man sang und scherzte und übte sich mitunter auch in der französischen Tugend, welche der Weltweise des Nordens die Kunst heißt, mit Kleinigkeiten gefällig zu werden, ohne Unbequemlichkeit zu verursachen.

Sobald der Bediente mit Dank und guter Nachricht von der Wöchnerin zurückgekommen war, wurde der Rückweg angetreten. In der idyllischen Hütte war unterdessen ein junger Daphnis zur Welt gekommen, die Frauenzimmer besuchten die Mutter, eine hübsche Frau, deren erste Niederkunft es war; sie fanden dieselbe voll stillen Dankes mit einer Träne im Auge und ihr hochbeglückter Mann wußte vor Vaterfreuden und überwältigenden Gefühlen des Herzens sich nicht zu fassen, noch immer sah er die zwei zurückgebliebenen Frauen für eine Erscheinung von Engeln an, so wie sie ihm in dem Augenblicke vorgekommen waren, als er endlich mit der alten Wehmutter, die er wegen ihrer Langsamkeit auf seinen Rücken geladen, in die Stube trat und diese Fremden, die er ganz vergessen hatte, ihm den neugeborenen Knaben entgegenhielten.

Was sind Engel auch anderes, als Boten des Himmels, ausgesandt zum Dienste gottgefälliger Menschen; und ist dies nicht ein solcher, der unvorgesehen zu einem Anlaß hingeleitet wird, wo er, und gerade dann sonst niemand, einem Hause Heil bringen kann und der diesen Anlaß mit Aufopferung glänzender Freuden, also gleichsam aus dem Himmel auf die Erde hinabsteigend ergreift und sich hingibt einem heiligen Willen? Die solches taten, laßt sie uns wert halten in Ehre und Liebe, es wird ihnen nicht unvergolten bleiben!

Die ganze Gesellschaft verließ nun das dankbare Haus unter tausend Segenswünschen des Vaters. Jeder freute sich dessen was geschehen, aber von dem Glücke des einsamen Landlebens war keine Rede mehr, die einsame Niederkunft und die Dürftigkeit hatte sie alle so ziemlich abgeschreckt, man fand das Schloß doch bequemer und die Bequemlichkeit wünschenswert, wäre es auch nur, um der vom Tau schlappenden Röcke und des nassen Fußwerkes los zu werden und sich von der Erhitzung zu erholen. Kurz, alles zusammengenommen hatte den romantischen Schwung der Sonnenpilgrime in die klare Prosa der Wirklichkeit umgewandelt und so ging man jetzt auch an dem freundlichen Strome und seinen malerischen Partien wie an einem gewöhnlichen Bache vorüber, ja selbst des Bettlers Frau, die sich nunmehr statt ihres Mannes auf den Weg gestellt hatte und auch gerne von Volant gebissen worden wäre, fand wenig Beachtung, nicht einmal von dem Hunde, der ebenfalls vernünftiger geworden schien.

Die lebenslustige Genossenschaft war nach Erscheinungen ausgegangen um vorbedachte Gefühle in dieselben legen zu können und hatte, wie bei solchen Bemühungen immer der Fall ist, ihren Zweck verfehlt; sie war aber mit besseren Erfahrungen zurückgekommen und erkannte jetzt beides unverhohlen, den Mißgriff und den Gewinn. Daher auch die beiden gestrengen Alten im Schlosse, als ihnen die Wanderer auf die Frage, was sie Neues aus Morgenland brächten, eine getreue Erzählung von allem gemacht hatten, die Ironie, die ihnen schon auf den Lippen saß, in väterlichen Beifall und gemütlichen Ernst umstimmten. So recht, Kinder! sagte der eine, ehret die Natur und geht ihr liebend entgegen, aber tut es mit besonnener Freude und tragt eure Empfindung nicht in hochtönenden Phrasen zur Schau; wahre Rührung will nicht vornehm besprochen, sondern still gefühlt werden und zur echten dichterischen Anschauung bedarf es keiner Zierbrillen, sondern einzig der Klarheit gesunder Augen.

Und der andere alte Freund, dem das Licht des Lebens noch heller leuchtete, fügte hinzu: Was Ihr gewollt, ist Euch nicht geworden, weil Ihr mit so viel Gepränge Euch anstelltet etwas zu suchen, das man jeden schönen Morgen auch hier im Schlosse haben kann, denn auch hier geht die Sonne über ein weites Gelände auf. Aber wohl Euch! denn seht Ihr nun was Euch trieb? Nicht der Drang des Gefühls, wie Ihr wähntet und nicht die Eitelkeit, wie wir meinten, sondern Ihr wart zu etwas Besserem berufen, es war beschlossen, daß durch Eure Hilfe in einer abgelegenen Bauernhütte eine junge Mutter mit ihrem Kinde sollte gerettet und getröstet werden. So macht es die unsichtbare Leitung, sie gibt den Schwachheiten derer, die sie lieb hat, die Folgen sittlicher Kraft; der Mensch denkt, Gott lenkt.

Bald war Clotildens Neigung zu Gustav im ganzen Schlosse einzig noch dem Obersten verborgen. Der Prediger wußte alles durch Suschen, die eine so wichtige Angelegenheit ihrem Geliebten nicht verschweigen zu dürfen glaubte. Simmenthal hatte der Schweizerin zu seiner Rechtfertigung ein Wort darüber geschrieben, das ihr bald auf die Entdeckung half, der Professor wollte nichts wissen, und wer noch nicht davon gehört hatte und sich nur ein wenig auf die Sache verstand, konnte es mit Augen sehen. Nur die schuldige Liebe weiß sich zu verbergen, so eine reinmenschliche, durch die natürlichsten Verhältnisse von Jugend an genährte Neigung, jetzt in ihrer schönsten Vollendung, konnte sowenig ihren Strahlenschein verhehlen, als die duftende Blume ihren Wohlgeruch in den Feiertagen des Frühlings. Ihre Blicke begegneten sich jeden Augenblick und zogen sich schnell zurück; sie suchten, sie näherten sich und wußten sich doch vor den Leuten nichts zu sagen, bei Spaziergängen blieben sie unwillkürlich von der Gesellschaft zurück, und kein Gespräch hatte Reiz für ihre gesteigerte Empfindung, wenn es nicht die Schönheit der Natur oder Züge des Edelmutes betraf.

Dem vielerfahrenen Auge der Chanoinesse war dies schon in den ersten Tagen nicht entgangen, sie fand das Außergewöhnliche dabei nach ihrem Geschmack und den unverdorbenen Jüngling des Fräuleins würdig. Und so wie niemand im Schlosse dieser Liebe ungünstig war, machte sie es sich zur besonderen Angelegenheit, derselben beförderlich zu sein; sie sprach darüber mit dem Professor und meinte, er sollte seine Einwirkung beim Obersten für die Liebenden verwenden. Allein der Mann wollte nicht; Sie haben, sagte er, einander gefunden und gehören sich an, das übrige wird sich schon geben, wenn es sein muß. So eine Liebe hat einen mächtigen Schutzgeist, den muß man walten lassen, er weiß sich allein zu helfen.

Aber Sie kennen den Obersten, entgegnete die Chanoinesse, gehen ihm endlich durch Zufall die Augen auf und erkennt er das, was er bisher nur für jugendliche Angewöhnung hielt, als das was es ist, als die innigste, verschlungenste Liebe, so bricht er in unbegrenztem Zorne los.

Desto besser, versetzte der Professor.

Wie? Sollte das Ihr Ernst sein, so erklären Sie sich!

Je heftiger der Ausbruch seines Zornes ist, äußerte der Professor, desto kürzer ist die Dauer und milder die Folge, weil seine Gutmütigkeit sich der Übereilung schämt.

Bedenken Sie doch, sagte die Chanoinesse, die Wirkung einer so plötzlichen Erschütterung auf seine Gesundheit!

Gemütsbewegungen sind dem Obersten heilsam, erwiderte jener, seine Natur bedarf ihrer. Ihm ist alles gut, was ihn hindert, über Grillen zu brüten.

Sie wollen also das Glück der Liebenden dem Zufall überlassen?

Dem Geschicke, war die Antwort.

Aber diese Ergebung war nicht nach dem Sinne der Chanoinesse, sie fand es angenehm, da wo es sich mit gutem Gewissen tun ließe, dem Geschicke hilfreiche Hand zu bieten: was hätte sonst das Leben für Freude? Aus gutem Willen, sagte sie, muß immer etwas Gutes hervorgehen. Und damit faßte sie den Entschluß, den Obersten selbst zur rechten Zeit auf die Entdeckung zu leiten und sann auf allerlei Mittel.

Eines hatte die Vielgestaltige schon versucht, das mit dem Hauptmann von Appenzell verabredet, aber in der Ausführung nicht gelungen war und deswegen ein Geheimnis bleiben sollte, und auch eines geblieben wäre, hätte es nicht der verräterische Zufall an das Licht gebracht. Ein paar Tage nämlich nach dem Jahrmarkt in Rheineck brachte des Morgens früh ein Knabe ein schlecht zusammengeschnürtes Bündel alter Kleider, er gab es in der Küche ab und wußte auf die Weigerung der Dienstmädchen, den häßlichen Pack anzunehmen, weiter nichts zu sagen, als er sei in einer Mietkutsche liegen geblieben. Die Neugier trieb die Mädchen nach dem Inhalte zu sehen und bald warfen die Mutwilligen die alten Lappen einander zu, als eben Tobias vorüber ging, dem dann auch ein Stück davon anflog, welches er sogleich für den Anzug der Zigeunerin in Rheineck erkannte. Das kam ihm seltsam vor, er sagte aber nichts, nahm den ganzen Plunder zusammen, ließ sich einige Stunden nicht reuen, der Sache nachzuspüren und erfuhr so von dem Mietkutscher selbst, daß er an jenem Jahrmarkttage die gnädige Frau, so nannte er die Chanoinesse, nach Rheineck fahren müssen, die aber außerhalb des Städtchens in einem Privathause abgestiegen sei und ihm Stillschweigen auferlegt habe. Nun ging dem Tobias immer mehr Licht auf, er eilte, es seinem Herrn zu erzählen; dieser aber befahl die Entdeckung geheimzuhalten und sann auf Rache, da es ihm nun klar war, daß es die Chanoinesse gewesen, die ihn als Wahrsagerin zum Besten gehabt hatte. Zu dem Ende vermochte er die für jeden unschuldigen Scherz aufgelegte Nichte der Frau Amtsrätin, im Schlosse nur die Base genannt, die Rolle der Zigeunerin beim nächsten Mittagsmahle zu übernehmen.

Als nun die Gesellschaft noch bei der frohen Tafel saß, öffnete sich die Türe und ein Wesen kam hereingeschlichen, im Sein und Schein ganz der alten Zigeunerin von Rheineck ähnlich. Alles war überrascht, die Hexe wieder zu sehen, einige murrten, andere lachten, die Chanoinesse aber, als sie das Weib auf sich zukommen sah, wurde totenblaß und war dem Einsinken nahe. – Der Oberst, der sie im Auge hatte und dies bemerkte, rief schnell: Es ist die Base! Und Clotilde, die neben ihr saß und ihre Bestürzung auch wahrgenommen hatte, riß der Vermummten die Hülle vom Kopf, und ein fröhliches Gelächter wiederholte: Es ist die Base!

Das war jedoch nicht, was der Oberst gewollt, er hatte vielmehr dem munteren Mädchen allerhand neckende Weissagungen in den Mund gelegt, die sie den Anwesenden, vorzüglich der Chanoinesse, vorbringen sollte. Er sah nun aber wohl ein, daß seine Rache, wiewohl anders als er erwartet hatte, mehr als hinlänglich sei. – Sämtliche Tischgenossen bewegten sich in forschender Ungewißheit, war es in Rheineck auch die Base? fragten die einen. Nicht doch, sagten die andern, sie war ja zugegen. Der Oberst und die Chanoinesse allein wußten die wahre Beschaffenheit, allmählich aber klärte sich die Sache auf und die Betroffene gewann Zeit, sich zu erholen, konnte jedoch ein fortdauerndes Zittern der Hände nicht gleich los werden; dem ungeachtet behauptete sie, es sei nicht Schrecken, sondern bloß das unerwartete Befremden, die rasche Veränderung der Ideen gewesen, was ihre schwachen Nerven angegriffen habe. Man ließ ihr alles gelten um sie zu beruhigen, aber nachher konnte sich der Professor, als er mit seinem Freund allein war, doch nicht enthalten zu sagen: Ei was, schwache Nerven! Ihre Weiblichkeit überwog ihre Philosophie, die Einbildung den Verstand, die Natur vergaß der Kunst, das ist die Sache, die gute Dame glaubte sich selbst zu sehen.

Nach und nach enthüllte sich die ganze Geschichte: Das Zigeunerbündel war in dem Wagen der Chanoinesse liegen geblieben, weil sie es bei der Rückkehr nicht füglich auspacken konnte und ihr Mädchen vergaß nachher, dasselbe abzuholen. – Was sie aber eigentlich mit der Verkleidung gewollt, machte sie jetzt noch nicht offenbar, denn ihre Absicht war es gewesen, sich an Clotilde und Gustav vorzüglich zu wenden und ihnen ein viel klareres Prognostikon zu stellen um dem Oheim auch wider Willen die Augen zu öffnen, wo alsdann der Hauptmann von Appenzell all seinen Einfluß auf ihn gelten zu machen versprochen hatte. Dies wurde aber ihrem Feingefühl unmöglich, als sie den verbundenen Kopf des Jünglings und die übergewöhnliche Freudenstimmung der Gesellschaft bemerkte, die zu stören ihr teilnehmendes Herz Bedenken trug. Sie war deshalb wieder im strengsten Inkognito abgezogen, zwar mit ihrer mimischen Gabe, aber nicht mit derselben Erfolg zufrieden.

Das Lob, das man jetzt der Kunst gab, womit sie ihre Rolle ausgeführt und alle täuschend geneckt hatte, machte sie wieder froh, um so viel mehr, da ein neuer Umstand die Szene veränderte. Vom Prediger aufgeführt, trat ein junger Bauersmann ins Zimmer; es war der Mann aus der idyllischen Hütte, der mit allgemeinem Wohlwollen empfangen wurde. Belehrt von seinem Führer wollte er sogleich anfangen, den Menschenfreunden jenes Morgens ... Er stockte aber, denn wie er die beiden Frauen ansichtig wurde, die ihm dort wie heilige Engel erschienen waren, übernahm ihn die Empfindung, er mußte erst eine Träne des Dankes wegwischen; bald jedoch kam er wieder zurecht und bat dann in wohlgeordnetem Vortrage die ganze anwesende Gesellschaft zu Gevatter.

Die Bitte wurde mit Vergnügen angenommen. – Wer sollten nun aber die Stellvertreter bei dieser feierlichen Handlung sein? Die meisten wären es nicht ungern gewesen und es kamen deshalb mancherlei Vorschläge und Höflichkeiten auf die Bahn. Die Frau Amtsrätin wagte es, den gnädigen Herrn darum anzusprechen als das Haupt der Gesellschaft, und in ihrem Blick lag eine bescheidene Erwartung des Gegenseitigen, dieser aber lehnte es ab als einer, der nicht bei dem Abenteuer gewesen. Der Professor schlug bedächtlich Gustav und Clotilde vor. – So recht! rief augenblicklich die Chanoinesse und klatschte in die Hände: Wer könnte es auch schicklicher sein, als die beiden Liebenden? Sie gehören in mehr als einer Beziehung vor den Altar!

Alles verstummte. – Der Oberst sah sie mit großen Augen an und verließ das Zimmer, die Schweizerin faßte die bebende Clotilde unter den Arm und ging mit ihr hinaus, bald darauf folgte Gustav. Die Zurückbleibenden aber mißbilligten es, daß die Chanoinesse das Wort der Entdeckung so unvorbereitet ausgesprochen habe.

Wer war denn unvorbereitet dabei, erwiderte sie, als der Oheim? und auch der sollte es nicht sein, wenn er es nicht geflissen hätte sein wollen. Jetzt weiß er's und es ist besser, er habe, was doch nicht länger verborgen bleiben konnte, von Freundes Mund und aus wohlmeinendem Sinn erfahren als durch einen widrigen Zufall. Hier war er in guter Stimmung, unter teilnehmenden Bekannten, wer hätte es wohl gewagt, dem Brausekopf die Entdeckung unter vier Augen zu machen?

Der Würfel ist gefallen, sagte der Professor.

Die lebhafte Sprecherin erwartete Beifall, den man auch selten der dreistgesprochenen Frage eines Verständigen versagt. Unter sich aber vermuteten mehrere, ein Rest von Unlust über ihre Schwachheit bei Erscheinung der Zigeunerin habe diesen Freimut bewirkt oder wenigstens beschleunigt.

Man sah nachher den Obersten mit dem Professor langsam und ernst unter den Bäumen auf und niedergehen. Dann schloß er sich den ganzen Abend ein um zu schreiben, erschien nicht beim Nachtessen und des folgenden Tages war er früh schon mit Tobias ausgefahren und ließ die Nachricht zurück, er gehe nach Sennwald, um den Engländer zu besuchen. – Was er am Abend geschrieben, war folgender Brief an den Major:

Grünenstein, 28. August

Was ich schon lange hätte sehen sollen aber nicht merken wollte, was Du schon zu Hause durch Winke mir nahelegtest, was ich, wenn es mir auch selbst wahrscheinlich werden wollte, immer noch durch elterliches Ansehen, durch einen Machtspruch, leicht wie eine Kinderei zu hintertreiben glaubte, das liegt mir jetzt als eine ausgemachte Sache, der nur noch das bezeichnende Wort mangelte, nicht nur hell vor den Augen seitdem die Chanoinesse heute das Wort ausgesprochen hat, sondern auch empfindlich und unerträglich wie ein zu nahes Licht: Liebe zwischen Clotilde und des Pfarrers Gustav!

Ach, daß wir mit den Jahren auch die Liebe und ihre Erscheinungen vergessen oder nur noch wie ein irrendes Licht aus der Ferne ansehen! – Sie liebten einander von Kindsbeinen an, und ich alter Schwachkopf bedachte nicht, daß so ein Funke zur Flamme werden kann, die alle Verhältnisse überwältigt. Ich wollte in beiden nur folgsame Kinder sehen und damit sie recht folgsam seien, tat ich, was sie wollten; ich hegte und pflegte sie, ich nahm ihn sogar hier wieder in mein Haus auf, just als wenn ich es darauf angelegt hätte, daß sie unzertrennlich würden. Jetzt hat es mir die Chanoinesse gerade herausgesagt mit ihrer zuversichtlichen Miene, als ob sie es im Rate des Schicksals selbst vernommen hätte, und die übrigen andächtigen Zuhörer, sogar der Professor, statt sich zu befremden, schienen weiter nichts als mein Jawort zu erwarten.

Mein Jawort? Nein, soweit soll es noch nicht kommen und wenn auch alle Weiber, die so gerne Liebeshändel begünstigen, sich samt und sonders für die Unbesonnenen vereinigten! – War das recht, so hinter mir umzugehen? Ich kann es auch der Chanoinesse nicht verzeihen, daß sie, die so oft die Strengverständige spielt und nach ihrem Stande unsere Verhältnisse kennen sollte, sich in diesen Roman eingelassen hat; und Suschen ist eine Natter, die ich im Busen nährte, die in Gestalt einer Turteltaube und die Schuld im Nacken von jeher, wie es mir jetzt wahrscheinlich wird, mit Wort und Schrift der Liebe hin und her flog! Der Professor hielt mich ab, sonst wäre ich in Vorwürfe gegen beide losgebrochen, wenn schon die eine nie Unrecht haben will und die andere mit Tränen alles gut zu machen meint. Vorwürfe erleichtern die Last des Verdrusses, allein, wie mir der Freund mit Grund bemerkte, sie helfen nicht zum Zweck. Nein, ich will nichts übereilen, aber Rat muß geschafft werden, wer gibt mir ihn, wer steht mir bei in meiner Ohnmacht?

Oh, daß Du hier wärest, Du Leuchte meiner Jugend und meines Alters! denn bei den Schweizerfreunden ist wenig Hilfe zu erholen, sie kennen unsere Familienbeziehungen nicht, und dem Professor selbst, so wahr und klug er sonst ist, steht's auf dem Gesicht geschrieben, daß er diese Verbindung für abgeschlossen im Himmel ansieht, weil er von jenen Vorurteilen keine Begriffe hat, noch haben will.

Vorurteile oder nicht, sie sind nun einmal da und so in unsere gesellschaftliche Konvenienz eingeflochten, daß man ihnen ohne die nachteiligsten Folgen nicht Trotz bieten kann. Wie dürfte ich wieder zu Hause, wie in der Residenz erscheinen, wenn durch mein Zutun ein Fräulein vom ersten Adel des Landes die Gattin eines Bürgerlichen würde? Und wäre auch ich schwach oder stark genug, mich darüber hinwegzusetzen, so könnte ich es gegen meine arme Schwester nicht verantworten, die durchaus an diesen Äußerlichkeiten hängt, deren ganzes Dasein damit verwoben ist, die, wie Ihr mir schreibt, ohnedies schon kränkelt. Sie, mit den schönsten Aussichten für ihr einziges Kind, würde sich über den Schimpf einer solchen Herabsetzung zu Tode grämen und ich hätte die Schuld ihres Todes zu tragen! Nein, nimmermehr!

Hätte ich doch die Schweiz nie gesehen, oder hätte ich vielmehr diese Reise mit meinem Tobias allein gemacht und das Mädchen zu Hause gelassen, so wäre es dann Eure Sache gewesen, ihre Liebe zu hüten, und ich würde jetzt nicht in dieser schrecklichen Verlegenheit sitzen! Ein Land, wo es keine privilegierten Stände gibt, ist für heiratslustige Mädchen von vornehmer Geburt eine gefährliche Schule; das Heraustreten aus dem Zwange herkömmlicher Beschränkung, wozu sie jetzt ohnehin romantisch geneigt sind, wird ihnen durch das, was sie vor Augen haben, erleichtert. Heiratslustig, wußte ich das von Clotilde? Ich hätte es wenigstens wissen können, sind sie es denn nicht alle, besonders die von schlichter, unverdorbener Natur?

Wenn sich der Mensch am meisten gefällt, dann macht er gewöhnlich einfältiges Zeug. Ich tat mir was auf die freundliche Art zu gut, womit ich den Gustav bei mir bleiben hieß, und er nahm die Nötigung so willig an, daß ich die Hälfte meiner Gutmütigkeit für etwas Besseres hätte sparen dürfen. Mußte er nicht denken, ich wolle ihm noch selbst Mut machen, oder ich sei ein Tropf? Wohl heißt jeder so, der mit sehenden Augen blind ist! – Und doppelt wirst Du sagen, verdient diesen Namen, wer, wenn ihm die Augen aufgegangen, jammernd nur auf die Finsternis zurück und nicht nach neuem Lichte blickt. Habe Geduld, Lieber, ich will nicht beim Jammern stehen bleiben, nur mußt Du mir vergönnen, in den Schoß des Freundes meinen Kummer auszuschütten, mir an Deinem treuen Herzen Luft zu machen, nach Art und Weise, wie ich es von jeher gewohnt war.

Höre nun, was ich zu tun beschlossen und wie ich es mit dem Professor verabredet habe, der, ohne über den Beweggrund selbst eintreten zu wollen, doch die Notwendigkeit der Entfernung Gustavs auch begreift. Diese muß unumgänglich das erste sein; es wäre aber unedel gehandelt, ihn so geradezu aus dem Hause zu weisen, das sehe ich auch ein; er verdient eine so herabsetzende Behandlung nicht, hat er sich immer bieder und rechtlich gezeigt. Aber fort muß er, und das unter einem Vorwande, der seiner Ehre keinen Nachteil bringen soll, für dessen Ausführung der Professor sorgen wird. Ich aber gehe indessen auf einen Besuch zu dem Engländer, mit dem, wie Du weißt, sich Simmenthal geschlagen hat; er liegt eine halbe Tagesreise von hier an seiner Wunde krank und soll wirklich den Wunsch geäußert haben, mich zu sehen, was ich gerne hörte, denn bisher habe ich mich nie recht über jenen Vorfall befriedigen können. Jetzt hoffe ich den Leidenden zur Versöhnung zu stimmen und somit, indem ich einem Übel ausweiche, ein anderes gut zu machen. In das Schloß kehre ich nicht wieder bis Gustav hinweg ist, ich muß mir leider selbst entfliehen, das heißt, meinem auffahrenden Zorn und meiner weichen Nachgiebigkeit. Ach was ist der Mensch? Jung will er sich nicht ändern und alt kann er nicht mehr!

Das Hausregiment habe ich inzwischen dem Professor übergeben, der verständige Freund wird schon mit der gewandten Chanoinesse Bedacht nehmen, den jungen Menschen als die Ursache meiner Verlegenheit milde fortzuschaffen. Wenn nur alsdann mit der Ursache auch die Wirkung gehoben wäre, aber ich fürchte, diese schulgerechte Folgerung werde sich auch hier nicht bewähren!

Bringe ich nur das Kind wieder ledig und gesund nach Hause, so mag ihr dann die Mutter oder sie selbst für einen Mann sorgen, ich lege meine Mädchenobhut auf den Altar des befreienden Zeus und werde mich sobald mit keiner mehr befassen.

Meine Zurückkunft wird nicht mehr lange anstehen, alle Umstände treiben und drängen mich dazu, wiewohl ich das schöne Land ungern verlasse, wo ich die Behaglichkeit des Daseins wieder empfinde und mir im Herbst der Jahre noch einen kurzen Frühling des Lebens zu schaffen die Kraft fühle, wenngleich täglich meine Pläne zu der neuen Lebensweise, wie ich sie wünsche, scheitern und das Schicksal, so wie mein Freund der Professor, ihrer zu spotten scheint. Er spottet ihrer, indem er mir aus hundert christlichen und heidnischen Sprüchen und noch besser aus der selbsteigenen Erfahrung beweisen will, daß kein Heil in solchen Anschlägen liege, kein Ersprießen in der Willkür, daß wir Geschöpfe eines Tages seien und weiser Genuß der Gegenwart allein unser Glück sowie unsere einzige oder höchste Pflicht ausmache. Einrichtungen für die Zukunft, meint er gleichwohl, dürfen wir darum brechen, weil in ihrem Schaffen wenigstens eine Freude der Gegenwart liege; aber wenn keine dieser Einrichtungen gerate, müssen wir es dem Schicksale nicht übelnehmen, das sich das Walten über die Zukunft allein vorbehalten habe, dagegen aber den guten Willen redlich bezahle und was es mit der einen Hand nehme, unvermerkt, doch reichlich, mit der anderen ersetze. So mir statt der goldenen Tage, die ich mir hier zu machen gedachte, tägliche Hindernisse und Plagereien, dagegen aber auch der irdischen Güter höchstes, Gesundheit und neue Lust am Leben.

Das haben wir schon lange gewußt, wirst Du sagen. – Ganz recht, auch zusammen besprochen und die Wahrheit einzusehen geglaubt, aber die Erfahrung soll es mir nun bewähren; es liegt ein erhebender Reiz für das Selbstgefühl in dem Versuche, unschuldigen Idealen des Lebens Wirklichkeit zu geben, davon kann ich noch nicht abstehen. Und wenn das Ergebnis nicht der Erwartung entspricht, was ist's dann? Man ist wie zuvor und hat die Phantasie an die Klugheit getauscht, weise werden wir doch nie.

Die Kränklichkeit meiner Schwester beunruhigt mich, ihr muß Clotildens Torheit sorgfältig verhehlt werden, denn ich hoffe, alles soll noch gut gehen; es ist schon aus mancher ersten Liebe nichts geworden. – Der Pastor dauert mich, wenn es seinem Söhnchen nicht geht wie er wünscht, der gute Alte ist wahrhaftig unschuldiger als ich; ich liege jetzt aber auch nicht auf Rosen. Er sei mir gegrüßt, wenn er auch der Vater eines zehnmal ungerateneren Sohnes wäre, und nichts soll mich hindern, insofern er es auch vertragen mag, nach wie vor meinen freundschaftlichen Umgang mit ihm fortzusetzen.

Suschens Hochzeit stand nun nichts mehr im Wege als die gänzliche Vollendung der neuen Pfarrwohnung; ihre Papiere und die nötigen Scheine waren angekommen und fanden sich in bester Ordnung. Auch beeilten sich die wohlhabenden Männer der Gemeinde ihr Versprechen zu halten und dem verdienten Pfarrherrn die zwei besten Zimmer mit Hausgeräte auszustatten, so daß die Wahl, welche sie getroffen, jedermanns Beifall hatte mit Ausnahme des Predigers Tante, der Frau Amtsrätin, die es da und dort in Pfarrhäusern noch geschmackvoller gesehen haben wollte. Dies sagte sie aber nur, wie sie sich im Vertrauen äußerte, um Suschen zu belehren, daß man die Gaben geringer Leute nicht zu sehr erheben müsse, damit man sich nichts vergebe; sie nannte das eine vornehme Denkungsart.

Noch sollte aber der bevorstehenden feierlichen Verbindung ein anderes Fest vorangehen, das die Frau Amtsrätin veranstaltete. Denn zufrieden mit ihrer Behandlung im Schlosse, ja eingebildet darauf, hatte sie schon einige Zeit sich vorgenommen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und in einem bereits fertig gewordenen Geschosse der Pfarrwohnung sämtlichen Bewohnern Grünensteins und einigen guten Freunden aus der Nachbarschaft zum Beweise ihrer Lebensart ein Gastmahl zu geben, welches zugleich die Weihe der neuen Wohnung und eine Anleitung für die künftige Frau Pfarrerin sein sollte, wie man angesehene Gäste empfangen müsse.

Große Zurüstungen waren im Werk. Schon seit acht Tagen sprach sie von nichts anderem mehr, handelte mit Fischern und Jägern, dem Zuckerbäcker und dem Aufwärter, versicherte, daß sie keine Kosten scheue und hatte schon die Paare geordnet, die sich bei Tische zusammenfinden sollten. Für sie, die Spenderin des Festes, war der Herr bestimmt, als die Hauptperson des Schlosses, die gelehrte Frau Chanoinesse sollte von dem gelehrten Herrn Professor aufgeführt werden, das Fräulein von einem jungen Herrn von Adel aus der Nachbarschaft und so fort hatte sie jedem das seinige zugeteilt, daß eben keiner recht damit zufrieden war. Jedoch da der Faden dieser Parze, wie der Oberst sagte, nur für einen halben Tag gesponnen war, unterzog man sich ihrer Fügung.

Aber um Himmels willen! rief die Base, als sie die Abreise des Obersten vernommen hatte: Was wird die Tante sagen, daß der gnädige Herr gerade heute, am Morgen ihres Festes, sich entfernt hat? Unendlich wird ihr Verdruß sein.

Und unerschöpflich ihre Klage, tat der Professor hinzu, wer will es wagen, ihr die Anzeige zu machen? – Ich tue es nicht, antwortete Suschen. – Und ich mache mich eher aus dem Staube, sagte die Base.

Auch die anderen Bewohner des Schlosses, die den wahren Grund von der Abreise des Obersten wohl erraten konnten, waren zu düster für eine solche Sendung gestimmt; zuletzt ließ sich doch die Chanoinesse gefallen, diese Botschaft zu übernehmen, die auch am besten dazu geeignet war, weil die Tante für sie, als für eine hochadelige Frau, immer am meisten Achtung bezeugte. Es gelang ihr auch, dieselbe soweit zu beruhigen, daß sie versprach, bei Tische nichts, weder Gutes noch Böses darüber zu sprechen, und daß sie die Gäste, die jetzt anzukommen begannen, fast ebenso anmutig empfing, als wenn der gnädige Herr an ihrer Seite gestanden hätte.

So war wenigstens ein Stein des Anstoßes gehoben und schon bereitete man sich nach Anweisung der Gastgebieterin, die neben ihrem Platz ein leeres Gedeck, als wäre es für den Obersten, hatte hinsetzen lassen, munter zum Mahle, als ein lautes Getrampel auf der Treppe erscholl und augenblicklich darauf ein Mann mit verstörter Gebärde atemlos hereinstürzte und vor Beklemmung kein Wort reden konnte. Es war der Küster.

Ist das eine Manier! schrie ihm auffahrend die Frau Amtsrätin entgegen, so unangemeldet ...

Es brennt, wohlehrwürdiger Herr Pfarrer! stöhnte jetzt der Schreckensbote hervor. – Alles sprang vom Tische auf. Die Tante war außer sich über die Unterbrechung so wie der Küster über das Ereignis. Mit Mühe wurde aus dem erschrockenen Manne herausgebracht, daß das Feuer am Ende des Dorfes sei; sogleich eilten der Prediger und die jungen Männer aus der Gesellschaft hin.

Auf der Straße erhob sich nun auch furchtbares Geschrei und angstvolles Herumlaufen, denn die durchaus hölzernen Häuser machen in diesem Lande die Feuersbrünste höchst gefährlich.

Man schickte nach Bericht aus, es währte nicht lange, so hieß es, es brenne schon in zwei Häusern. Nun wurde an kein Essen mehr gedacht, wer nur immer Hilfe leisten zu können glaubte, begab sich hinweg. Die Frau Amtsrätin war untröstlich über das Schicksal ihres Gastmahls, und daß gerade ihr das habe begegnen müssen; sie schalt auf das bäuerliche Packvolk, das sich seine eigenen Häuser anzünde und keifte zuletzt, da sie alles verließ, mit dem Gesinde und mit einem bejahrten französischen Schweizeroffizier, der eine alte Burg in der Nähe bewohnte und, weil er ein Auge auf sie geworfen hatte, jetzt bei ihr zurückblieb und alles geduldig anhörte.

Unterdessen stürmten die Glocken und aus den benachbarten Dorfschatten eilte viel Volk zur Hilfe herbei. Es wurde mit Anstrengung gearbeitet und da es lange dauerte, ehe man des Feuers mächtig war, so kam bald dieser, bald jener der Gäste in die Pfarrwohnung zurück und brachte noch andere mit, um sich an der gedeckten Tafel für einige Augenblicke zu erfrischen, so daß das Mahl, welches zu einem Schmause bestimmt war, jetzt unvermerkt und ohne Ordnung, aber zu edlerem Bedürfnis aufgezehrt wurde. Damit suchte auch der alte Professor die Frau Amtsrätin zu beruhigen: Der Mensch denkt, Gott lenkt, sagte er; allein sie konnte sich nicht recht in diese Lenkung finden.

Mehrtägiges Regenwetter hatte die Dachschindeln durchnäßt, so daß sie nicht so schnell Feuer fingen und es der tätigen Hilfe gelang, die Flamme, nachdem sie drei nebeneinander liegende Häuser verzehrt hatte, zu bändigen. Ehe dies aber noch vollbracht war, fand der Prediger Gelegenheit, durch eine schöne Tat sich ehrenvoll auszuzeichnen.

In einem der Häuser nämlich lag in einer oberen Kammer ein hilfloser alter Mann, der schon für verloren gehalten wurde, weil man nicht mehr in das Haus hinein kommen konnte und hinaufzusteigen sich keiner getraute, da jeden Augenblick der brennende Dachstuhl herabzustürzen drohte. Man hörte seinen Jammer. Da kam der Geist seines Glaubens über den Prediger: Gott stehe mir bei, rief er, ich will ihm zu Hilfe! – Schnell faßte er eine Leiter und eilte damit zu dem hochaufflammenden Gebäude. Sein Beispiel ergriff zwei junge Burschen, sie sprangen helfend herzu, einer hielt die Leiter, indes der Prediger und der andere den Alten mit begeisterter Behendigkeit aus dem Fenster holten und ihn so glücklich außer Gefahr brachten. Es war hohe Zeit, denn ein brennender Balken fiel jetzt neben den Hinweggleitenden nieder, der dem Prediger das Kleid versengte und den vorgehaltenen Arm unbedeutend beschädigte. Aber die Tat war getan, gerettet ein Menschenleben, ihn und seinen Gehilfen umrauschte der Jubel des Volkes und ihr Inneres belebte das stille Bewußtsein edler Kraft.

Dieser Vorfall hatte dem Prediger alle Herzen gewonnen; man hatte wohl fromme Gesinnung, aber nicht so kühnen Mut von ihm erwartet. – Ich hätte es mir selbst nicht zugetraut, sagte er, aber es erwachte in mir plötzlich ein entschlossener Wille, über den ich alles andere vergaß, Gott gab es mir ein, Ihm allein sei die Ehre!

Gerade in dieser Stunde sollte er jetzt Hochzeit machen, meinte die lebhaft gerührte Chanoinesse, jetzt stiege die betende Liebe aufrichtig gen Himmel und durch das, was sich begeben, wäre der Tag der Verbindung an die Unvergeßlichkeit geknüpft. Sie und jedermann beeilte sich, Suschen Glück zu wünschen, die auf dem Gipfel der Freude und mehr als jemals glückselig in ihrem Bräutigam war und recht gerne gleich jetzt Hochzeit gemacht hätte, wenn es nur an ihr gelegen hätte. Auch die Tante hatte ihr Herzeleid über dem neuen Glanz ihres Neffen vergessen und verhieß ihm nicht nur eine reichlichere Ausstattung, sondern gelobte auch, den ganzen Verlauf an hohe Personen zu berichten.

Leuchtete aber dort das Licht des frohen Mutes, so schwebte hingegen über Clotilde und ihrem Geliebten das Dunkel banger Erwartung, denn die unvermutete Abreise des Oheims hatte die Besorgnis des Fräuleins vermehrt und obgleich die Chanoinesse und der Professor noch nichts verlauten ließen, weil dieser ohne Not nichts zu sagen sich vorgenommen, jene aber eine schonende Gelegenheit abwarten wollte, so sah die ahnende Seele doch einen Sturm voraus, dessen Herannahen sie ängstigte. Zwar wollte sie den Geliebten ihre Beklemmung nicht merken lassen, doch Gustav, dessen Auge an ihr hing, wie der Lichtstrahl an dem Gestirne – wie hätte ihm auch nur ein Wölkchen, das über ihr Angesicht fuhr, verborgen bleiben können? Allein auch er wagte keine laute Vermutung und teilte stillschweigend ihren Kummer.

Nur zu bald enthüllte sich der düstere Schleier ihrer Sorge. Der Oberst meldete aus Sennwald mit kurzen Worten, er sei gesinnet, den verwundeten Engländer bald nach Grünenstein zu bringen, weswegen er notwendig finde, daß Gustav sich für einige Zeit entferne. Der Professor war beauftragt, ihm dieses auf beliebige Weise kundzutun und zugleich auch die nötigen Winke über die Unmöglichkeit einer Vereinigung mit dem Fräulein zu geben. Die Freundinnen waren ersucht, Clotilde zurechtzuweisen und, wie die Zärtlichkeit des Oheims sich auszusprechen nicht lassen konnte, sie aufzurichten.

Ersterer erfüllte seinen Auftrag mit Schonung, jedoch ernsthaft und abratend, wie es Freundespflicht gegen den Oberst erheischte. Gefälliger war die Chanoinesse und weniger gewissenhaft als der Professor, weil es darauf ankam, einer schuldlosen Liebe zu dienen, die nichts gegen sich hatte, als einige äußere Verhältnisse; sie sprach den Liebenden Hoffnung und Trost zu, wiewohl sie nicht verhehlen durfte, daß der Oheim die Verbindung nun einmal für unmöglich erklärt habe. Was helfen aber alle Trostgründe gegen die Schmerzen getrennter Liebe, die jetzt desto empfindlicher sein mußten, da diese Trennung nicht ein Werk unvermeidlicher Notwendigkeit, sondern ein eigenmächtiger Befehl war? Der Verstand weiß zu gehorchen, aber nichts tut dem wunden Herzen so weh, wie fremde Willkür.

Reiße dich los, junger Mann, und mache die Liebe nicht zu deinem Berufe, sprach der Professor: So edel auch ihr Gegenstand sein mag, deine jungen Kräfte bedürfen noch anderer Übung. Gehe in die Welt und kehre mit Erfahrung und Weisheit zurück, und dann komm und hole die Braut, die dir bestimmt ist!

Liebes Kind, tröstete die Chanoinesse, du wirst ihn wiedersehen! Ist auch Geburt und Meinung euch entgegen, die höhere Hand des Schicksals, ein günstiges Gestirn, waltet über eurer Liebe. Sie dürfen sich dieser Liebe nicht schämen, teure Clotilde, sie ist nicht eine gewöhnliche Leidenschaft, ein schnellerglimmter Funke rascher Gefühle, sie ist eine von der Natur geleitete Verschwisterung der Seelen von Jugend an. Zwei edle Reiser sind nebeneinander emporgewachsen zu blühenden Bäumen und haben sich mit den ersten Wurzeln schon in ein gemeinsames Leben verwunden; wo wäre die feindliche Hand, die sie auseinander risse? Für jetzt aber müssen Sie beide den Umständen nachgeben, der Unwille des Oheims will auch sein kurzes Recht haben. Lassen Sie Ihren Geliebten in die Welt gehen und seine Bildung vollenden, ergeben Sie sich in die Zeit des Scheidens, um die Tage der Wiederkunft desto heiliger zu machen!

Das war nun freilich nicht nach dem gegenwärtigen Sinne des Obersten gesprochen; er sollte ihr auch schlecht gedankt haben, wenn er diese Auslegung seiner Wünsche erfahren hätte. Sie behauptete aber, man müsse bei Männern immer zwei Ansichten unterscheiden: die erste gehöre dem Impuls des Augenblickes und halte nie fest, weil ihnen die Gabe der Überlegung gegeben sei, mit der sie erst später das Richtige auffassen; die Frauen hingegen haben alles im ersten Momente weg, und was sie nicht so erfassen, das begreifen sie nimmermehr.

Was von allen gesagt wird, paßt nie auf alle, versetzte der Professor.

So werde, fuhr jene fort, auch der Oberst bald wieder zurecht kommen und dann noch danken, daß man die Liebenden so schonend behandelt habe.

Daß doch die Weiber in fremden Herzensangelegenheiten umsichtiger sind als in ihren eignen! dachte der unverheiratete Alte und konnte und mochte es der Chanoinesse nicht wehren, Trost und Hoffnung den Scheidenden zu spenden.

Aber jene, von der Allgewalt der Liebe umfangen, hatten sich in diesem Beisammensein so glücklich gefunden, daß sie gerne die Gegenwart zur Ewigkeit gemacht hätten und wurden nunmehr durch das Unvorhergesehene dieser schnellen Trennung zu stark aufgeschreckt, als daß sie in etwas hätten Beruhigung finden können; ach und sie waren beide mit den Schwierigkeiten, welche die Sitte ihres Landes gebot zu bekannt, als daß sie sich eine frohe Zukunft hätten versprechen dürfen, wären sie jetzt auch imstande gewesen, an die Zukunft zu denken.

Clotilde ergab sich mit blasser Wehmut, ihr standen die treue Schweizerin und die wohlmeinende Chanoinesse zur Seite, die sie unterstützten. Gustav hatte niemand als den alten Professor, dessen Herz zwar nichts Menschlichem fremde, doch zu ferne den Tagen der Jugend war, um den Liebesschmerz eines Jünglings mitzufühlen, und bei Suschen war kein Trost, sie weinte zaghaft über die Tränen ihres Fräuleins. – Ungestüm riß er sich los und sein rascher Entschluß war, Simmenthal aufzusuchen und sein Los unter den Waffen mit ihm zu teilen. Dazu trieb ihn noch ein Gedicht von diesem, das von Konstanz aus gerade in dem Zeitpunkt eingetroffen war und jetzt beide Freunde in einem Schicksale zu vereinigen schien.

Simmenthals Seefahrt

Führt mich fort aus den engen Mauern,
Ich will in der Freiheit trauern;
Schwebender Nachen nimm mich auf,
Schweigender Schiffer steure den Lauf
Hinaus in des Sees weite Stille,

Wo des Morgenschimmers neubelebende Fülle
Mich umschließt und, auf der Höhe sonnenbesät,
Kein Auge des Ufers mich mehr erspäht.
Könnt' ich auch so dem irdischen Dasein schwinden,
Und in dem ewigen Licht mein Leben finden,
Nicht mehr gebannt in finsteren Staub, zu sein
Das Spiel von jedem nichtigen Schein!

Schweige Beklemmung und Sorge zur Stunde,
Lege dich Schmerz der brennenden Wunde,
Kehre wieder o flüchtiger Mut,
Daß ich schwebend auf strahlender Flut,
Einmal mir selbst wieder gegeben,
An dieser reichen Schöpfung erquicke mein Leben,
Noch einmal mich labe am Göttermahl,
Eh ich scheide von Berg und Tal!

Gleite o Schifflein gelockt von gelinden
Schmeichelnden Morgenwinden,
Sanft und frei in weiten Kreisen umher,
Auf dem ruhigen Silbermeer,
Wo mit dem Frieden der Gegenwart füllen
Ich all mein Wesen möchte, mein Sehnen stillen. –

Ziehe dort nahe der freundlichen Küste hin,
wo Städt' und Dörfer einladend in Freiheit blühn,
Und über ihnen sich in Reichtum erheben
Fluren voll Bäume, Hügel voll Reben;
Wo weiterhin annoch, den Wolken vertraut,
Der jauchzende Appenzeller sich Hütten gebaut.

Oder willst du hinüber dich wenden,
Schifflein, zu Schwabens fruchtbaren Geländen,
Wo der Nebel im Tale noch streicht,
Und, wie er der Sonne entweicht,
Blaue Höhen mit den Lüften sich einen,
Die mir Ruhe zuzuwinken scheinen.
Gesegnetes Land, dem statt des Goldes, Brot
Die schönere Gabe, schenkt ein guter Gott!

Jede Ferne, die den Menschen verhüllet,
Wie ist sie mit stillem Frieden erfüllet,
Wie selig dort, gleich Schwänen auf der Flut,
Die Inselstadt, die Seeumfloßne ruht!
Nicht länger scheinen Buchhorns alte Mauern
Um ihren rechtlichen Namen zu trauern.
Menschenwohnungen sind zu schaun
Wie friedliche Schafe auf goldnen Au'n.
Was funkelt hell aus Meersburgs hohem Saale,
Die Fenster glüh'n im Morgensonnenstrahle;
Ist's Vorbedeutung, die bald höheres Licht
Von einem edlen Hirten weit umher verspricht?
Schweifender Sinn, meine Lust und Plage,
Zu der nördlichen Bucht hin mich noch trage,
Wo vom Himmel gefallen ein Eiland ist,
Das keiner, der es sah, vergißt,
Mainau, ein Paradies hienieden,
Wär' uns ein solches beschieden,
Wäre an Boden und Land,
Und nicht ins Herz unser Glück gebannt. –

Mein Glück ist nirgends! Wenige Stunden
Wähnt' ich auf Rheintals Hügeln es gefunden;
Eine Erscheinung in Mädchengestalt,
Lieblich und zart, wie von Amor gemalt
Das schönste Gebilde – ach meinem Verlangen
Wie ein täuschender Traum vorübergegangen,
Aber haftend in beklommener Brust,
Wie dem Schiffbrüchigen sein Verlust!

O daß Winde mich auf Flügeln
Unsichtbar trügen zu Grünensteins Hügeln!
Daß die Wolke in ihren silbernen Schoß
Mich hüllte, zu schweben über dem Zauberschloß,
Nur jetzt noch die holdseligste der Frauen
In ihrer Herrlichkeit zu schauen,
Ihr lieblich Erscheinen in mein Herz
Noch einmal zu drücken, und dann dem Schmerz
Zu erliegen, seh' ich sie am Arme des Andern
Über Blumen der Freude wandern! –

Unseliger, der sich aus Licht Finsternis macht!
Siehe nach oben, da schwimmt die heilige Pracht
Der Sonne hoch im unendlichen Runde,
Unanschaubar, und du der Sohn einer Stunde,
Auf diesem Wassertropfen kaum
Bemerkt, eines Schattens Traum,
Bist dennoch die ewigen Bahnen
Der Sonnen fähig zu ahnen,
Ja in höheres Heiligtum hin
Den Schritt zu wagen mit kühnem Sinn;
Warum wolltest Du tatenlos, ohne Ruhme,
Wie ein Schmetterling vor einer Blume,
Wäre sie auch als die schönste verehrt,
Verschweben deines Daseins Wert?
Die ihr dort die schneebedeckten Gipfel
Hoch über die Hügel und ihrer Bäume Wipfel
Erhebt, ihr Berge – auch jetzt vielleicht
Ein Blick von Ihr nach euren Sonnenspitzen reicht –
von Euch zu scheiden ist beschlossen!
Herrlicher See, von dir! Es umflossen
Heute mich deine Fluten zum letzten Mal,
Mit meinen Freuden, mit meiner Qual.
Ihr Höhen, ihr Täler, ihr Schattengefilde,
Meine Seele hängt an eurem Bilde;
Doch reiss' ich mich los! In fremdem Land
Will ich suchen, was ich hier nicht fand –
Nicht die Gunst der Frauen,
Wie könnt' ich wieder solche Anmut schauen! –
Suchen will ich ein verirrtes Schaf,
Wecken will ich aus dem Schlaf
Mein eignes Selbst zu neuem Leben,
Ihm den wahren Führer wieder geben,
Der es leite zu dem reinen Quell,
Wo die Weisheit fließet still und hell;
Der es nähre mit der Wissenschaft
Und der Künste ewigjunger Kraft;
Der des Lebens Freud' und Ehre
Mich in edeln Taten suchen lehre.

Aber wo ist der Führer, wo das Land? –
Wo ernster Wille herrscht, sind beide bekannt.
Wie des Trübsinns düstre Nebel schwinden,
Werd' ich des Landes Sonnenküste finden;
Dorthin steure, Schiffer, froh den Lauf,
Die Hoffnung treibt, dich nimmt Gelingen auf! –
Gelingen oder Täuschung; Glück des Lebens,
Oder ein sicheres Ende meines Strebens,
Wo auf immer Ruhe mir lacht:
Ruhmvoller Tod in blutiger Schlacht.


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