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Auf Suschens Hochzeit kommen wir alle wieder zusammen, dies war die Verabredung der sich trennenden frohen Gesellschaft bei dem Mittagsmahle im Hause des Hauptmanns in Appenzell.
Der Oberst von N...land ging bald hernach mit dem alten Professor aus Zürich in dessen Heimat und von da an den Thunersee, auf das Landgut der jungen Schweizerin, die mit seiner Nichte Clotilde während ihres Aufenthaltes in Gais ein Bündnis der Herzen geschlossen hatte und bereits mit derselben nach Bern vorausgeeilt war. Der Monat August war vor der Tür und mit ihm die schönsten Tage der Schweiz; das Land gefiel ihm auch schon besser als am Anfang, und durch das Herumreisen und den Wechsel der Gegenstände war die Last von übler Laune auffallend vermindert, die einförmiges Stillsitzen und Mangel an Gesundheit auf seinen tätigen Geist gehäuft hatten.
Mit Suschen, ihrem Kammermädchen, nunmehr mit dem Prediger verlobt, befand sich Clotilde etwas in Verlegenheit; sie hatte dieselbe mitgenommen, weil sie nicht wohl bei ihrem Bräutigam hätte bleiben können ehe sie vermählt war. Zwar schien es der Bräutigam zu wünschen, wenigstens hatte er schon zur freundschaftlichen Aufnahme in einem benachbarten Pfarrhause für sie Anstalt getroffen, bis die zu ihrer Verbindung nötigen Scheine aus der fernen Heimat angelangt wären; allein bei Suschen war die Anhänglichkeit an ihre geliebte Gebieterin, da die Trennung bevorstand, noch lebhafter geworden; sie bestand darauf, sich nicht von ihr zu scheiden, bevor es die Notwendigkeit erforderte, und Clotilden, die mit ihr im freundschaftlichsten Verhältnisse aufgewachsen, war das auch recht. Jedoch als Kammermädchen sollte sie jetzt nicht mehr auftreten, da sie einem höheren Stande geweiht war, sie wurde als Gesellschafterin mitgenommen. In diese neue Rolle konnte sie sich aber gar nicht finden, weil ihr die Gewohnheit entgegen war; das gute Kind hatte von Jugend auf dem Fräulein gedient, und wenn diese jetzt den Dienst nicht mehr haben wollte, so weinte sie und hielt sich für hintangesetzt. Auch vergaß sich der Oberst zuweilen und sprach vor Leuten die nicht zum Hause gehörten, mit Suschen im alten Tone und brachte damit ebenfalls manche auffallende Störung in das neue Verhältnis. Zum Glück sahen sie selten große Gesellschaft und halfen sich dann, wie man sich im Umgang immer am besten hilft, wenn man etwas aus seiner Rolle tritt, sie suchten ohne viel Umstände wieder hinein zu kommen.
Der Prediger war in sein Dorf im Rheintal zurückgekehrt, wo er seit einigen Jahren als Vikar des betagten Pfarrers in geistlichen Dingen rühmlich gewaltet hatte und nach dessen jüngst erfolgtem Tode an seine Stelle ernannt worden war. Er beschäftigte sich dort emsig mit Vorkehrungen zu seinem neuen Leben; dazu bedurfte er aber weiblicher Hilfe, und da seine Schwester, die sonst bei ihm gelebt, voriges Jahr gestorben war, so rief er eine Tante als Ersatz aus Zürich um Beistand an, die auch mit nächster Gelegenheit zu kommen versprach; über manches beriet er sich inzwischen mit verständigen Hausfrauen aus der Nachbarschaft. Die Vorsteher seiner vermögenden Gemeinde, wo er sehr beliebt war, weil er Güte mit ernsten Sitten vereinigte und ungeachtet seiner jugendlichen Tätigkeit sich nicht in ihre weltlichen Angelegenheiten mischte, ließen, um ihrem neuerwählten Lehrer einen Beweis der Achtung zu geben, das alte Pfarrhaus ganz nach seinem Wunsche erneuern und beschlossen, daß auch die Kirche auf seine bevorstehende Verbindung neu geweißt und gemalt werden sollte. Ja, es war von noch mehrerem die Rede, wie es zu gehen pflegt, wenn einmal der Geist dankbarer Gefälligkeit über eine Korporation gekommen ist.
Dieses alles versetzte den Prediger in manche süße Träumereien von seinem künftigen Glücke, dessen vorempfundene Seligkeit er dann seiner Geliebten brieflich kundtat und damit auch bei dem treuen Suschen einen lieblichen Kampf zwischen ihrer Jungfräulichkeit und den gaukelnden Bildern des neuen Standes aufregte. – Einer der Briefe lautete wie folgt:
Ein Herz und eine Seele sind wir schon, meine Teure, selbst in der Entfernung. Du bist mein Gedanke, mein Alles; und ich weiß es, das bin ich auch Dir. Aber noch eine glücklichere Zeit steht uns bevor, die Verbindung vor dem Altare, der heilige Bund zwischen Mann und Weib, den nichts trennen wird als der Tod, und auch der nur für kurze Zeit. Oh, daß Du bald kämest, und mit Dir jene seligen Tage!
Schon wird an beträchtlichen Veränderungen unserer künftigen Wohnung emsig gearbeitet; Du bekommst außer der Wohnstube noch ein Besuchszimmer für liebe Gäste, und dieses letztere wollen, wie ich unter der Hand vernehme, einige meiner begüterten Kirchgenossen auf eigene Kosten möblieren lassen; es sind wackere Leute, die schon lange meine Achtung hatten, und Du siehst, ich genieße auch die ihrige. Meine Arbeitsstube, vorher düster und abgelegen, kommt nun oben ins Haus, wo ich eine freie Aussicht in die Berge und über den Rhein hinaus habe. Und dann wird noch ein Gemach im Haus bereitet, woran es aber zuletzt kommen soll, weil dessen Bewohner noch ferne sind und erst nach Jahren erwartet werden; errätst Du mich, liebes Suschen?
An diesen Wohnplatz sind wir dann vermutlich zeitlebens gebannt; uns liegt also ob, von uns hängt es ab, ihn zu einem Aufenthalte des Friedens und der Liebe zu machen, und das wollen wir uns geloben, o Du Teure! Es gibt kein bleibendes Heil für den Menschen auf Erden, wenn es nicht an seiner Wohnung haftet, von ihr ausgeht und zurück zu ihr den vertrauten Pfad kennt. Ein Sitz, nicht des prunkenden Scheines, aber des verborgenen Glücks soll unsere Heimat werden, eine freundliche Einkehr von den Mühseligkeiten des Berufes, ein Obdach vor den Stürmen des Lebens; und treten wir aus demselben hervor, so wird es dem Stande eines Pfarrers und seiner Schicksalsgefährtin gemäß mit Würde und Liebe geschehen. Von Dir, um benachbarte Freundinnen zu besuchen, oder aus unserem kleinen Überfluß Dürftige in der Gemeinde zu erquicken; und ich gehe zu verkünden das heilige Wort und armen Kranken den Trost eines besseren Lebens zu lehren, oder denselben von ihnen zu lernen. – Und dann in müßigen Stunden und hellen Tagen ziehen wir zusammen aus, Arm in Arm, durchstreifen Feld und Wiese und besteigen die umsichtigen Hügel der Weinberge, wagen uns zuweilen wohl auch weiter, dorthin, wo wir aus unserem Fenster die grünen Alpen, und hinter ihnen die Schneegipfel des Alpsteins erblicken; ja dorthin, auf jene herrlichen Höhen, in ihre reinen Lüfte begeben wir uns jährlich einmal wie auf eine Wallfahrt, um unsere Seele zu erheben bei dem Anblick der weiten Erde zu unsern Füßen, zu vergessen in der hohen heiteren Einsamkeit die kleinlichen Sorgen des Lebens, um mit regem Geist und erfrischtem Mute zu dem Tagwerk zurückzukehren, das uns die gütige Vorsehung auferlegt hat. Groß ist mein Verlangen, mit Dir, Du Geliebte meiner Seele, diese Blumen reiner Menschenfreude zu pflücken, ja Dich in diesen Garten einzuführen; ich kenne Deinen Sinn für unsere erhabene Bergnatur und weiß zum voraus, daß die Behendigkeit Deiner Füße Dir solche kleine Wanderungen zum Spiele machen wird!
Aber Du bleibst auch gerne zu Hause, Du liebst auch das Lesen, wie ich öfters wahrgenommen; und siehe, dafür ist auch Rat geschafft! Ich habe Großes und Kleines, eine Sammlung besitze ich der vorzüglichsten Heldengedichte alter und neuer Zeit in deutscher Sprache; da fangen wir unsere gemeinschaftliche Lesung mit der Odyssee an und gehen so durch die höchste Poesie der Völkerschaften hinab bis auf unsere Tage; ich erkläre Dir die Geschichte, und Dein unverdorbener Geschmack hilft mir zur Aufmerksamkeit auf manches der Wahrheit der Natur entnommene Gemälde. Auch habe ich Beschreibungen von Reisen und Ländern, die lernen wir kennen, vergleichen; wir bilden uns wechselseitig. Willst Du Romane und Schauspiele lesen, so findest Du auch diese in dem Nachlasse meiner, ach! so früh verstorbenen Schwester, um die mir noch das Herz blutet, und die Du mir, so Gott will, ersetzen wirst. Gewiß, unsere Zeit wird und soll uns nicht ungenutzt verfließen!
Aber verflossen ist leider die Zeit dieses Briefes, und ich hätte Dir noch so vieles zu sagen und kann beinahe nicht von dem Papier wegkommen, das, ein Liebesbote zwischen mir und Dir, in wenigen Tagen in Deiner Gegenwart sein wird; o könnte ich mit ihm, könnt' ich voran fliegen! – Möge ich bald alles, was ein liebendes Herz wünscht, von Dir hören und auch von den Edlen, Deinen Wohltätern, in deren Dienste gestanden zu haben kein menschliches Wesen erröten darf.
Die Braut war stolz auf diesen Brief; das Fräulein und ihre Freundin lobten und lasen ihn auch dem Obersten vor, und dieser sagte zu dem freudig errötenden Suschen: Sei getrost, mein Kind, dein Bräutigam gehört wahrlich unter die guten Menschen, ich weiß es nicht erst seit heute!
Nachher aber, als sie weggegangen, konnte er sich der Bemerkung nicht enthalten, er wolle sich zwar Suschen sehr gerne als eine ehrbare Predigersfrau denken, aber das künftige Honigleben sollten sich Verlobte nie so idealisch vormalen wie es der Prediger tue, weil es doch mit der Natur der Sache nicht bestehen könne. Der heilige Ehestand habe freilich auch seine dichterischen Stunden, aber diese werden schwerlich je von der Phantasie vorbereitet und lassen sich nicht nach Belieben an einen vorausbedachten Zeit- und Standpunkt knüpfen, sondern entspringen, wie alles Echtpoetische, dem Augenblick und zeigen sich, wie die Sonne, oft dann am schönsten, wenn soeben trübe Wolken vorübergezogen. Wer eine Lustreise vorhat, fuhr er fort, träumt sich schönes Wetter, aber dann kommt der Regen, an den er nicht dachte, und er muß sich leidend verhalten; tut er das mit heiterem Sinne, so findet er oft Entschädigung des gestörten Vorhabens wo und wie er es nicht bedachte; denn das ist der Weg des Schicksals, da zu geben, wo es zu nehmen scheint. – Und so wird es wohl in der Ehe sein, nicht wahr? sagte er zu der Schweizerin.
Sie sprechen wahrhaftig, als ob Sie die Erfahrung selbst gemacht hätten, antwortete diese: Indessen mag auch das Spiel der Einbildung mit bevorstehenden Freuden dem menschlichen Gemüte natürlich sein.
Sehr natürlich, erwiderte der Oberst, denn es findet sich bei den Kindern und Greisen, bei Guten und Bösen. Träumen müssen wir, um glücklich zu sein, nur sollen wir uns hüten, das Luftgebilde nicht in die Wirklichkeit hinüberziehen, oder gar zur Norm des künftigen Verhaltens machen zu wollen, wie unser ehrlicher Bräutigam zu tun geneigt scheint, der bei allen guten Eigenschaften des Mädchens sich doch in manchem getäuscht finden wird, das er jetzt als unausbleibliche Folge ihrer lehrbegierigen Anhänglichkeit an ihn voraussetzt. Der romantische Berg- und Höhensinn zum Beispiel, auf den er soviel hält, scheint ihr nicht recht natürlich zu sein, denn Moden halten nicht lange.
Gnade! rief Clotilde: Was haben wir nicht alles schon hierüber hören müssen!
Und von seinen langen Heldengedichten, fuhr er fort, wird Suschen bald genug sich zu den kurzweiligen Romanen der Schwester flüchten. Das ist dann die Täuschung der allzu sicheren Voraussetzung, und die ist unangenehm.
Clotilde seufzte, ohne zu wissen, oder wenigstens zu sagen, warum und die Schweizerin lachte: Sollte sich wohl der Mann allein in seinen Erwartungen getäuscht haben?
Hier, antwortete der Oberst, hat ein Unterschied statt. Versprechen sich die Männer von ihren Bräuten vorzügliche Ausbildung besonderer, wirklicher oder eingebildeter Eigenschaften, so sind hingegen die Erwartungen des weiblichen Geschlechts vom Ehestand allgemeiner. Sie nehmen zwar alle an, daß sie einen Meister bekommen, denn das ist die Ordnung der Natur, die sie wohl fühlen, aber alle sind der Lenksamkeit dieses Meisters gewärtig, eine Eigenschaft, die sich nicht wohl mit der Meisterschaft verträgt. Und das ist eure Täuschung, ihr Kinder, ihr seid zwar geneigt zum Gehorchen, erwartet aber lauter angenehme Befehle.
Seht den Kenner! rief die Schweizerin.
Wie geht's dann öfters? fuhr er fort. Entweder ist der Meister lenksam aus Schwachheit, das heißt, er wird dem Weibe untertan, oder er ist streng aus Übermacht. In beiden Fällen hat die Frau ihren wahren Standpunkt verfehlt. Muß sie mehr gehorchen, als sie erwartet hatte, so fühlt sie sich an der Ehre der Hausfrau gekränkt, führt sie aber die Alleinherrschaft, so ist sie über den Kreis der Weiblichkeit hinausgetreten und wird, was ein weibliches Wesen nie sein sollte, ein Gegenstand der Furcht.
Nun ja, versetzte die Freundin, Enttäuschungen müssen kommen, aber wenn diese vorüber sind, so geht erst der wahre Ehestand an. Wer diesen kennt, lieber Oheim Hagestolz, der mag auch wissen, daß es eine Herrschaft durch Liebe, einen Gehorsam aus Liebe geben kann.
Ich kann mir auch eine gegenseitige Verträglichkeit denken, tat Clotilde dazu: wohl auch eine süße Wehmut der Aussöhnung.
Ihr habt recht, Kinder, erwiderte der Oheim, denn so wie jeder Mensch Gutes und Böses in sich vereinigt, so wird auch jeder Stand in den er tritt durch ihn abwechselnd gut und böse. Gott bewahre mich, schlecht von der Ehe zu sprechen, wenn ich schon ein alter Junggeselle bin! Man versteht mich immer unrecht, nur den überspannten Erwartungen bin ich nicht hold und wollte Clotilden vorläufig auf den Nachteil derselben aufmerksam machen, aus Besorgnis, die Erfahrungen ihrer glücklichen Freundin reichen dazu nicht hin. – Letzteres sagte er absichtlich, weil ein naher Verwandter der Schweizerin Liebe zu Clotilde merken ließ, ein angenehmer junger Mann, den sonst der Oberst wohl leiden mochte; aber er konnte nicht zugeben, daß seine Nichte einen Schweizer heirate und ließ daher mitunter so ein abwehrendes Wort fallen.
Die Freundinnen spürten etwas Rätselhaftes in dieser Wendung und schwiegen. Die Unterredung über den Gegenstand hatte ein Ende wie es meist geschieht, wenn plötzlich ein geheimer Sinn auffällt.
Er wollte nun auch Suschens zärtliche Antwort lesen, aber das hatte sie sich verbeten, da sie ihrer Rechtschreibung nicht zum besten traute, und weil sie ihre neuen schüchternen Gefühle nicht gern seinen Bemerkungen preisgab, ob er gleich versicherte, daß weibliche Liebesbriefe große Annehmlichkeit für ihn hätten und der Mangel der Rechtschreibung gerade die Würze derselben sei.
Der Oberst hatte, als er die obere Schweiz verließ, mit dem Prediger die Abrede getroffen, daß ihm dieser bis nach der Weinlese, denn solange wollte er noch in der Schweiz bleiben, ein Landhaus in der Nähe seines Pfarrdorfes in dem trauben-, obst- und menschenreichen Rheintal zu mieten suche. Das war mit bestem Gelingen geschehen, eine sehr geräumige wohlmöblierte Wohnung auf einer Anhöhe, ein Schloß, Grünenstein genannt, wartete seiner. Um dasselbe aber nach seinem Geschmack und zum Empfang aller seiner Gastfreunde einzurichten, wollte er jetzt selbst hinreisen, und es wurde beschlossen, daß Suschen ihm zur Hilfe mitgehen sollte, welches sich diese auch um so eher gefallen ließ, da ihr Fräulein nunmehr eine andere Kammerjungfer angenommen hatte, mit welcher sie nicht recht zusammenstimmte.
Dies war ein gewandtes niedliches Bernermädchen, das sich in seiner etwas urbanisierten Landestracht gar fein ausnahm und fertig französisch zu plaudern wußte, welches Suschen nicht konnte und daher auch nicht gern hörte. Zudem war es ihr auch zuwider, daß die Jungfer ihren Anzug beibehalten mußte, der sich, wie sie meinte, für die Bedienung eines adeligen Fräuleins nicht schicke. Das wollte aber hauptsächlich der Oheim: Die Grazie dieser Mädchen, sagte er, haftet an ihrer Kleidung, sie haben solche gleichsam mit der Muttermilch eingesogen, ihre ganze Haltung und Bewegung ist darauf berechnet, ziehen sie andere Kleider an, so findet sich die naive Anmut nicht mehr an ihrem Platze, sie werden linkisch und alltäglich. – Wer weiß, sagte er zu Tobias, als sie abends beim Auskleiden von dem Bernermädchen sprachen, ob nicht Suschen deswegen so sehr auf Abänderung der Tracht gedrungen, weil sie besorgt, neben der neuen Zofe übersehen zu werden, wenn diese in ihrem vorteilhaften Anzuge bleibt? Hübsch ist sie.
Und gelehrt dazu, versetzte Tobias: Als ich ihr heute von unseren Fahrten über Meer erzählen mußte, erkundigte sie sich, ob ich auch die entlegene Insel gesehen, wo wilde Weiber in Grotten wohnen? – Auf meine Frage, woher ihr dies bekannt sei, gab sie zur Antwort: aus dem Telemach.
Dem ungeachtet fanden der Herr und der Diener, daß dem ehrlichen Suschen doch der Vorzug gebühre und das Fräulein schwerlich wieder so innige Anhänglichkeit finden werde, wie von dieser ihr schon in der Kindheit angewöhnten Vertrauten.
Nach einigen Tagen reiste der Oberst mit der Braut und seinem Tobias hinweg, und Clotilde versprach mit ihrer Freundin bald nachzukommen. – In Zürich hielt er sich einen Tag auf, um den alten Professor mitzunehmen, dessen Bekanntschaft er in Gais gemacht und seitdem geflissen unterhalten hatte, der Mann war ihm beinahe unentbehrlich geworden. Suschen benutzte diesen Aufenthalt, um die Tante ihres Bräutigams zu besuchen, von der sie mit großer Förmlichkeit empfangen wurde. Diese Frau hatte soeben die Einladung des Predigers erhalten, ihm bei seinen häuslichen Zurüstungen behilflich zu sein und meinte nun, und ließ es sich nicht ausreden, die Braut komme, oder sei dazu bestimmt, sie abzuholen. Vergeblich stellte ihr diese vor, daß sie nur zu einem Empfehlungsbesuche gekommen und der dritte Platz in dem Halbwagen schon durch den Professor besetzt sei, die Tante blieb darauf, der Vetter im Rheintal brauche Hilfe und der Professor werde wohl eine andere Gelegenheit finden. Suschen mußte es dem Obersten anzeigen und machte die Eröffnung mit schwerem Herzen, bekam aber von ihm lauter ungestüme Antworten: er sei nicht in die Schweiz gekommen, um mit alten Weibern herumzufahren und seine Freunde darüber hintanzusetzen und dergleichen mehr, welches sie zwar der Tante in milder Einkleidung hinterbrachte, die es aber als eine Geringschätzung aufnahm und sich darüber ereiferte, so daß Suschen jetzt zum erstenmal eine kleine Erfahrung von den Unannehmlichkeiten machen konnte, die den Eintritt ins bürgerliche Leben begleiten. Sie mußte sich das ganze Geschichtsregister der beleidigten Person erzählen lassen bis zu einem ihrer Urväter, der ein Standeshaupt gewesen, sie mußte von dem seligen Eheherrn hören, der mehr zu bedeuten gehabt als ein Professor und von unbekannten Fremden, die oft nicht das seien, wofür sie sich ausgeben. Das arme Mädchen, dem diese Art der Selbstschätzung noch neu war, hatte Freundlichkeit von der Verwandten ihres Geliebten erwartet und nicht solche Belehrungen, daher kam sie in große Verlegenheit und konnte eine Träne nicht zurückhalten. Allein Tränen besänftigen diese zähen Herzen nicht, die Anzüglichkeiten wurden fortgesetzt, bis zuletzt die gereizte Dulderin aufstand und sagte, sie sei überzeugt, daß es ihrem Bräutigam selbst nicht lieb wäre, wenn sie Beleidigungen, die nicht sie allein angehen, länger anhöre.
Was Tränen nicht vermögen tut oft der Mut, die Alte war dessen nicht erwartet, und da sie ihre Gründe hatte, es mit dem Prediger nicht zu verderben, suchte sie mit schalen Ausreden wieder in das Geleise der Gefälligkeit einzulenken, ja sie weinte selbst über das Mißverstehen, wie sie es nannte, und nahm die leidende Braut mit sich zu ihrem wöchentlichen Abendbesuche, wo sie dafür sorgte, daß dieselbe schon als künftige Frau Pfarrerin behandelt wurde, die auch durch ihre Sittsamkeit die Achtung der jüngeren und durch ihre jugendliche Frischheit das Wohlgefallen der ältern Frauen, welche über die Jahre der Vergleichung hinaus waren, zu erhalten wußte.
Ungeachtet einer gewissen Scheu, die Suschen vor den beiden alten Herren, bei denen sie jetzt im Wagen saß, hatte, so daß sie sich wenig zu sprechen getraute, und obwohl des Professors Tabakpfeife ihr lästig war, befand sie sich doch besser zu Mut, als gestern bei der geschraubten Frau Amtsrätin (so hieß die Tante) und in ihrer Abendgesellschaft. Die beiden Herren aber waren seelenvergnügt, der Oberst, weniger von Mißlaunen gestört als vormals, war sehr offen gegen Freunde, und mit dem Professor wäre er bis an der Welt Ende gefahren, weil sie in der Ansicht des Lebens übereinkamen und was der Professor theoretisch erkannte, der Oberst durch seine Erfahrungen bestätigt fand. Im Reisewagen, sagte er, sollten nur Freunde sitzen, die sich verstehen, das nahe Beisammensein und der immer wechselnde Schauplatz der Reise wecken die Vertraulichkeit und nähren den Stoff der Unterhaltung, so schrecklich hingegen diese gedrängte Nähe unter widrigen Personen ist.
Da sitzt man lieber allein, erwiderte der Professor, welches auch sein Angenehmes hat. Ich habe mich wirklich schon oft gewundert, da schon so viel über die Vorzüge der Einsamkeit geschrieben worden, daß man nicht auch des Alleinreisens dabei gedacht hat, welches doch auch eine Einsamkeit und wohl die unterhaltendste ist.
Versteht sich mit Bequemlichkeit, sagte der Oberst. – Und mit Gesundheit, fuhr jener fort: Man schaut, denkt, liest, phantasiert, ruht, man muß sich keinen Zwang antun; kurz, man hat allen Genuß des Alleinseins und dennoch immer eine neue Gegenwart um sich, die einen weckt und beschäftigt und die Grillen und die Eigenheiten abwehrt, die sich oft des Einsamen im abgeschlossenen Räume bemächtigen.
Wie ich leider aus Erfahrung weiß, seufzte der Oberst. – Aber, sich ermunternd, fragte er Suschen: Was sagt das schöne Geschlecht dazu?
Es schickt sich doch wohl nicht recht, daß junge Frauenzimmer allein reisen, antwortete sie.
Nicht? Nimm dich in acht, mein Kind, das will ich der Chanoinesse sagen, drohte er lachend: Die wird dich zurechtweisen, denn sie hat darüber eigene Erfahrungen gemacht!
Reist sie aber wirklich ohne Gesellschaft? fragte der Professor: Oder ist sie nur die bedeutende Hauptperson, wie reisende große Herren, von deren Gefolge die öffentlichen Berichte wenig oder nichts sagen?
Wenn die Chanoinesse eine Ausnahme macht, gnädiger Herr, fing Suschen wieder an, so wird die Tante in Zürich mir recht geben, die ja lieber mit Ihnen als allein gereist wäre.
Der Professor lachte. – Was ist sie denn für eine Person? fragte der Oberst.
Die hätte uns in der Demut erhalten! war die Antwort: Erst ihre Stadt und dann die seligen und unseligen Verwandten – um das dreht sich der Haspel ihrer langweiligen Gedanken; was etwa sonst noch in der Welt sein mag, ist diesem untergeordnet oder liegt im Nebel. Kaum wird der Höchste anders als ein mächtiger Herr Vetter betrachtet, zu vertraulicher Unterhaltung sind dann Klatschgeschichten ...
Zum Kuckuck mit euren bürgerlichen Tanten, unterbrach ihn der Oberst: Sie sind ja wie unsere Adeligen!
Es war ein schöner Tag; Schnitter belebten die Felder, und Lerchen die Lüfte, in den Dörfern spielten sorgenlose Kinder, die Straßen waren trocken, der Wanderer viele, wer wollte in diesem Frieden der Natur nicht gerne über Land ziehen?
Auf der Höhe dem Rheinfall gegenüber stiegen sie aus und gingen den Abhang hinunter zum Fuß des entgegenrauschenden Stromes. Öfters sahen sie im Herabsteigen durch Öffnungen des Wäldchens einzelne Teile des schäumenden Sturzes, wobei sich der Oberst mit Wohlgefallen aufhielt, weil er auch hier seine alte Behauptung vorgreiflich bestätigt finden wollte, daß das Halbe anziehender sei als das Ganze.
Wenigstens mag es diese Bewandtnis mit solchen Sätzen haben, woran kaum die Hälfte wahr ist, bemerkte etwas verdrießlich der alte Professor, der kein Liebhaber wunderlicher Meinungen war: sie sind meist dunkle Begriffe höherer Wahrheiten. Was ist Halb und Ganz? Was wir hier sehen, ist so gut ein Ganzes, als was dort unten in die Augen fallen wird.
Wir wollen sehen, sagte der Oberst. Und als sie unten waren und über das weite Becken an den Laufen hinschauten, rief er: Hier sehen wir nun das ganze Gewässer, ich wiederhole es noch einmal, die einzelnen Partien, die wir oben durch das Gebüsch erblickten gefielen mir besser, der Fall ist zu breit für die geringe Höhe und die Entfernung von hier bis dort zu groß.
Dem Professor, als einem echten Schweizer, tat es weh, daß der Freund die Wunder seines Landes gering schätzte: Wenn Sie nie etwas vom Rheinfall gehört hätten und von ungefähr dazu gekommen wären, sagte er, Sie würden ihn jetzt mit überraschender Lust schauen, aber Sie haben zu große Erwartungen mitgebracht, das ist der Nachteil jeder Berühmtheit.
Man hatte Mühe, den Obersten zu bewegen, daß er den Turm besteige, auf dessen Höhe der ganze Wasserfall in einem Schaudunkel (in camera obscura) zu sehen ist: denn, sprach er, wie kann mir im Bilde gefallen, was mich in der Wirklichkeit nur wenig rührt? – Und doch gefiel es ihm, sobald sein Auge sich gewöhnt hatte, in der dunklen Kammer den Schimmer des lebendigen Gemäldes zu ertragen.
Der schönbeleuchtete Hügel auf dem das Schloß sich zeigte, die herabwirbelnden Ströme, das wellenbewegte Wasserbett, auf welchem durch Veranstaltung des Professors ein Schiffer mit einem Kahn herumschaukelte, der heitere Sonnenschein über dem Ganzen und das fernertönende Rauschen, alles das gestaltete sich zu einem in fortwährender Bewegung regsamen Bilde, das ihn durch seine Neuheit hinriß. – Lachen Sie mich aus, wenn Sie wollen, rief er, aber ich kann mir nicht helfen, dies Kunstwerk, wenn es eines ist, zieht mich jetzt mehr an als die Natur, weil ich hier einmal in gelungener Vollendung schaue, was alle Maler umsonst versucht haben.
Und doch ist's dasselbe, was wir unten sahen, sagte der Professor, nur zeigt uns das durch künstliche Vorrichtung sich malerisch ordnende Bild hier das Ganze im Kleinen, wie es kunstgeübtere Augen unten im Großen erblicken. Ein glücklicher Sinn, der die Gegenstände in einem günstigen Gesichtspunkt aufzufassen weiß, ist die Quelle unsres Wohlgefallens, nicht vorgefaßte Meinungen über Halbes und Ganzes.
Sehen Sie, sagte der Oberst, dies bewegte Leben auf dem Tuche ist mir neu und bezaubert mich, ich bin ein Kind, lassen Sie mir die Freude! – Ich teile sie mit Ihnen, war die Antwort: Ich bin weit entfernt, das sinnliche Wohlgefallen in die Regel zu zwingen, es ist persönlich und flüchtig und läßt sich nicht durch allgemeine Begriffe festhalten, noch erklären.
So wenig, erwiderte jener, als aus den Bestandteilen einer Kerze das Licht; wir wollen uns also nicht selbst stören, uns nicht die Freude an der kleinen Erscheinung aus vermeinter schuldiger Achtung gegen die große versagen, denn man könnte ebenso gut die Frage auf werfen: Was ist Klein und Groß? Wie Sie gefragt haben: Was ist Halb und Ganz?
Nachdem sie das Naturgemälde verlassen, stiegen sie unten in den Kahn, der zur Überfahrt dient, um jenseits am Fuße des Schloßhügels die Wasserwogen aus der Nähe zu sehen. Der Oberst verlangte, daß das Schiffchen mitten in das große Wasserbecken hinein gefahren werde, dorthin auf die Stelle, wo sie es oben so lustig hatten tanzen sehen; allein der Professor bat zürnend und Suschen flehte weinend, was wollte er machen? Kaum aber waren sie herüber, so ließ er die Gefährten aussteigen, und es half alles nichts, der Schiffsmann mußte ihn und Tobias, der zu allem kein Wort sagte, dahin führen, wo er doch schon anfangs gewollt hatte, in den Tanz der Wogen und in die Nähe des hochaufspritzenden siebenfarbigen Schaumes. Die andern sahen ihm von dem gewöhnlichen Standpunkte ängstlich zu und Suschen erlaubte sich nachher, als sie wieder im Wagen saßen, den Vorwurf, er habe sie in ihrer Bewunderung des Rheinfalls gestört, gerade wo sie sich derselben am liebsten überlassen hätte.
Er wollte eben selbst bewundert sein, sagte der Professor und nannte es einen Wagemut der Eitelkeit.
Nennt es wie ihr wollt, versetzte der Oberst: Die Lockung der Gefahr war zu groß, ich mußte wieder einmal ihren Genuß haben.
Den Genuß der Gefahr? fragte jener erstaunt.
Den kennen Sie nicht? war die Antwort: und sind ein Philosoph, der das menschliche Herz ergründet?
Unter diesen Reden waren sie an die steile Straße, die nach Schaffhausen hinabführt, gekommen und sollten nun, ehe sie weiter im Gespräche fortrückten, sich in einer wirklichen Gefahr erproben. Der Kutscher war abgestiegen um den Radschuh einzulegen, und anstatt die Zügel dem neben ihm sitzenden Tobias zu übergeben, hatte er sie nachlässig hingeworfen. Unvorsichtig knallte ein anderer Fuhrmann, der hinten nach kam, mit der Peitsche, da fingen die Kutschenpferde an zu ziehen, und da nichts sie hielt, zu laufen, zu jagen, durchzugehen. Die im Wagen saßen, erschraken und schrien; Suschen wollte hinausspringen, aber der Oberst riß sie mit Gewalt zurück: Du brichst den Hals, rief er, siehst du nicht den tiefen Graben? – Ein gewaltiger Schlag hatte Tobias, der sich bemühte, den Zügel zu erhaschen, vom Bocke geworfen. Der alte Professor stemmte sich an, so gut er konnte, und der Oberst hatte Suschen, die rückwärts gesessen, auf seine Seite gezogen und hielt sie fest. Es war eine fürchterliche Unordnung, jedoch nur einige Minuten dauernd, denn zum guten Glück fuhr am Ende der Halde ein breiter Frachtwagen, der die scheuen Pferde hemmte. Man lief hinzu, hielt mit Mühe die schnaubenden Tiere und half den Geängstigten dann aus dem Wagen.
Suschen war außer sich; der Professor blaß wie der Tod, konnte sich doch nicht enthalten, dem Obersten zuzurufen, daß er von dieser Gefahr wenig Genuß gehabt habe. Dieser aber hörte nicht und war um seinen Tobias bekümmert, der halb betäubt und mit Blut bedeckt herangebracht wurde.
Da die Stadt nahe war, so beschloß man zu Fuße hinzugehen und den armen Tobias in den Wagen zu setzen. Aber da zeigte sich ein neuer Schreck: Suschens Gewand hatte, als sie von dem gefährlichen Sprunge zurückgezogen wurde, einen solchen Riß bekommen, daß sie nicht öffentlich damit auftreten durfte. Die Entdeckung dieses Unfalls brachte sie zwar, wie das dem züchtigen Geschlecht eigen ist, besser zu sich selbst, als es ein ganzer Arzneiladen vermocht hätte; allein wieder in das Fuhrwerk zu steigen, graute ihr vor den Pferden, und auch vor dem blutigen Tobias, der schon drinnen saß. Doch der Oberst befahl und die Notwendigkeit gebot es, mit Tränen saß sie ein, und der Kutscher mit Unmut wieder auf den Bock. Ein Mann ging zur Vorsicht neben den Pferden her, und so kam der Zug langsam und ohne Zwischenfall vor das Wirtshaus.
Die Untersuchung zeigte, daß die Wunden des Tobias zwar nicht gefährlich, jedoch beträchtliche Quetschungen seien, die sein Weiterreisen aber unmöglich machten. Der Oberst, darüber verdrießlich, weil er seinen alten Diener liebte und nicht missen konnte, war jetzt gar nicht aufgelegt, mit dem Professor nach dessen Wunsch über die Freuden der Gefahr einzutreten. Ein andermal, lieber Professor, sagte er, als dieser des folgenden Morgens davon anfing: Die Erfahrung kam zu unerwartet.
Ich wenigstens war gar nicht auf diesen Genuß vorbereitet, munkelte der kranke Tobias, der mit verbundenem Kopf und Arm in einem Lehnstuhle saß, weil er nicht im Bette bleiben wollte.
Schweig du, Alter! entgegnete sein Herr: Der Scherz ist nicht an dir. Und zum Professor sprach er: In der Gefahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit noch Hoffnung, Hoffnung aber gibt Mut und dieser ist Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen heißt. Ist hingegen die Gefahr in wirkliches Unheil übergegangen, wie hier, so tritt ein ganz anderer Zustand ein, aus dem man sich dann ziehen muß, so gut man kann.
Ich habe mich diesmal schlecht daraus gezogen, begann von neuem der schmerzleidende Tobias: Wenn mich schon die Leute glücklich preisen, daß ich nicht das Auge verloren oder gar den Hals gebrochen habe, ein gemeiner Trost!
Der Stellvertreter des Mitleids, mein Freund! gab ihm der Professor zur Antwort. – Doch war diesem einiges in der Äußerung des Obersten aufgefallen, woran er unter seinen Büchern noch nie gedacht hatte und das er während seines Hierseins weiter mit ihm zu besprechen sich vornahm, indem jener sich erklärt hatte, den Ort nicht zu verlassen, bis sein Bedienter ihn wieder begleiten könne, welches nach des Wundarztes Versicherung nur einige Tage dauern sollte; ein Aufenthalt, der dem Professor auch nicht ungelegen kam, denn er hatte in Schaffhausen einen gelehrten Gastfreund, in dessen Hause er während dieser Zeit wohl aufgehoben war.
Der Oberst pflegte indessen den Tobias mit eben der liebenden Fürsorge, wie er schon so oft von ihm war gepflegt worden. Suschen aber flickte ihren Rock und schrieb dann verstohlenerweise an ihren Geliebten, denn der Oberst wollte nicht, daß etwas von dem Unfälle ruchbar würde, weil sowas die Freunde nur beunruhige, wenn man es auch noch so harmlos darstelle: Schreiben wir nicht, sagte er, so denken sie weiter nichts, als daß wir uns irgendwo säumen. Nach seiner männlichen Sinnesart war die Meinung gut, aber wer kann einer zärtlichen Braut zumuten, ihren harrenden Freund ohne Nachricht zu lassen?
Sie fand also Gelegenheit, ein Brieflein abgehen zu lassen, allein das war aus Ängstlichkeit vor dem Verbote des gnädigen Herrn nur kurz und abgebrochenen Inhalts: Unweit der Stadt, schrieb sie, sind wir mit den Pferden durchgegangen, es ist aber außer Tobias niemand beschädigt worden; das hält uns einige Tage hier auf. Der übrige Inhalt des Schreibens war liebevolle Sehnsucht nach dem Wiedersehen, worin sie sich aber so ganz verlor, daß sie darüber die Ort- und Zeitangabe vergaß.
Es währte jedoch eine volle Woche, ehe der sein Säumnis verwünschende Tobias zur Abreise tüchtig war. Der Oberst vertrieb sich indessen die Zeit, so gut er konnte; er hatte einige alte Schweizeroffiziere kennengelernt, mit denen er ganz gut zurechtkam, und der Professor brachte die meiste Zeit bei seinem Gastfreunde zu. Auch Suschen mochte der Aufenthalt in Schaffhausen wohl gefallen; sie wurde als eine Verwandte des Obersten angesehen, niemand wußte, weil weder er noch seine Begleiter ein Wort davon sagten, daß sie bloß Kammermädchen in seinem Hause gewesen, und wenn sich so etwas gleichsam von selbst ergibt, wie hier, so kann man es gerne haben, ohne eben großer Eitelkeit schuldig zu sein. Dies Ansehen hatte ihr auch einige stattliche Bekanntschaften unter den Einwohnerinnen zugezogen, mit welchen sie sich, da dieselben ebenso wort- als dienstreich waren, emsig befliß, in ihrer künftigen Muttersprache, wie sie das Schweizerdeutsche nannte, Fortschritte zu machen. Sie fand aber bald, daß das Wenige, was sie am Thunersee gelernt hatte, anders laute und ihrer Stimme besser zusage als die hiesige Aussprache und fragte darüber den Professor um Rat. Dieser, zwar geneigt, wie alle Gelehrten, die über etwas das in ihr Fach läuft befragt werden, umständlich über die Altertümlichkeit der schweizerischen Mundart einzutreten, bedachte gleichwohl, daß junge Mädchen, auch wenn sie ernsthaft fragen, für Ausführlichkeit keine Ohren haben und antwortete deswegen halb im Scherz, halb im Ernst: Jenes ist eine reinere Ausartung, oder, wenn Sie lieber wollen, eine vollkommenere Unvollkommenheit. Er drückte sich dabei auch wieder in einer anderen Sprachweise aus, als die, wovon die Rede war, so daß Suschens Verlegenheit noch vergrößert wurde.
Die Landessprache, mein Schatz, werden dich erst deine Kinder lehren, tröstete sie der Oberst: Bis dahin sprich du nur die deinige, sonst gelingt dir gar keine, denn der Sprecharten sind in diesem Lande so viele, wie der bürgerlichen Meinungen.
Oder der Regierungsarten, oder der Landschaftsrechte, sagte der Professor.
Oder wie der Maße und Gewichte, fuhr der Oberst fort, oder der Münzgepräge, oder der Uniformen und so weiter. Bei jenem Turme war es auch so, der gleich der Schweiz seine Spitze über die Wolken erhob, indessen sich am Fuße die Bauleute selbst nicht mehr recht verstehen wollten. Man versteht sich am Ende doch, erwiderte der Professor, den die spöttelnde Bemerkung verdroß: Wenn sich die Sprache der Zwingherrschaft verwirrt, so erheben sich der freien Stimmen mancherlei, und diese Stimmen sind eben schwer zu vereinigen; dies war von jeher und ist noch bei uns der Fall, einst werden Sie es auch in Ihrem Lande erfahren!
Es befand sich zu dieser Zeit in Schaffhausen eine von den wandernden Schauspielergesellschaften, die zuweilen aus Deutschland in die Schweiz kommen, um sich mit dem schlechten Geschmack auszugleichen und den langsamen Gang des häuslichen Lebens mit schnell überlaufenden Gefühlen zu erfreuen. Als Suschen eines Abends in diesem Schauspiel saß, wurde sie unter den Zuschauern eines jungen Mannes gewahr und verlor ihn gleich wieder aus dem Gesichte, der ihr bekannt schien, ohne daß sie sich seiner zu erinnern wußte. In einem Zwischenakte sah sie ihn wieder und glaubte bei der spärlichen Beleuchtung wahrzunehmen, daß er in ihre Nähe zu kommen suchte, welches aber wegen des engen Platzes nicht möglich war. Doch bald nachher schwand er ihr aus den Augen und, wie es von ihrer ehrbaren Gesinnung zu erwarten war, auch wieder aus dem Gedächtnis.
Sie sollte ihn aber doch wieder sehen. Denn als sie des folgenden Morgens am Fenster saß und in den Regen hinausschaute, fuhr sie jählings mit einem Schrei auf, warf ihre Arbeit weg, und sprang die Treppe hinab.
Der Oberst, der gegen die Langeweile in einem Buche zur Unterhaltung für gebildete Leser las und dennoch Langeweile hatte, erschrak eben nicht sehr. Was wird das sein? Eine Unterhaltung, die so anfängt, muß doch immer lebendiger ausfallen als so eine gedruckte hier, sagte er bei sich selbst und legte gelassen das Buch auf die Seite.
Es währte nicht lange, so trat Suschen mit einem Fremden an der Hand –, es war der von gestern abend –, herein und hinter ihnen der Professor. – Gustav! schrie sie freudig dem Obersten entgegen.
Des Pastors Gustav? rief dieser in frohem Erstaunen.
Wo die Worte Flügel haben, wie bei einem so unvermuteten Zusammentreffen, kommt Pinsel und Feder zu kurz. Umarmung, Frage, Händedruck, halbe Antwort, und wiederum Frage; Freude, Neugier – Wer will diese schnellbewegte Unruhe malen? Es war Gustav, dessen Vater der Hauptpfarrer auf der Freiherrschaft des Obersten und zugleich desselben Freund war. Seine frühen Jahre hatte der Knabe meist im Schlosse zugebracht, war mit Clotilden aufgewachsen und von dem gnädigen Herrn wie sein Kind geliebt, später, nachdem er die Lehranstalten der Hauptstadt durchlaufen, bezog er eine Hohe Schule, von wannen er jetzt herkam, um den Winter in der französischen Schweiz zuzubringen, damit er sich in der Sprache vollende. Er war Tages vorher in Schaffhausen angelangt und aus Langeweile in das Schauspiel gegangen. Hier erschien ihm eine Gestalt, die Suschen, dem ihm wohlbekannten Kammermädchen Clotildens, auffallend gleich zu sein schien, da er sie aber Jahre nicht gesehen und nichts von ihrem gegenwärtigen Aufenthalt wußte, sie auch nicht in solcher Gesellschaft vermuten konnte, hielt er es für eine Täuschung der Ähnlichkeit und um den Eindruck und die ihn begleitenden Erinnerungen aus den glücklichen Jahren der Kindheit, die ihn jetzt nur störten, los zu werden, verließ er das Schauspiel, wo er ohnehin nicht viel Ergötzung gefunden hatte.
Jetzt wollte er des andern Morgens nur noch einen Brief an den Gelehrten abgeben, in dessen Hause sich der Professor aufhielt und dann weiter ziehen. Dort vernahm er aber zufällig die Anwesenheit des Obersten von N...land, seines Gönners, seines zweiten Vaters. – Welche Überraschung! Es war also doch Suschen gewesen und wo diese ist, da ist auch die herrliche Clotilde, sprach er bei sich selbst. Wie hätte er weiter an die Abreise denken können!
Der alte Professor begleitete ihn zu der Wohnung des Obersten, und wie sie sich dem Hause näherten, erblickte ihn Suschen vom Fenster. Sei es, daß das gestrige Anschauen schon manche dunkle Erinnerungen geweckt, die nur auf einen neuen Anlaß warteten, in eine helle Erkenntnis zusammenzufließen, oder war es etwas in seinem Gange, das ihr plötzlich Licht gab oder sonst eine der vielen Unerklärlichkeiten in der menschlichen Natur; kurz, sie erkannte ihn jetzt auf der Stelle, schrie und lief ihm entgegen.
Brief des Obersten an den Major von ...
Schaffhausen, 5. August
Die alte Wahrheit, daß keine Widerwärtigkeit ohne Trost sei, hat sich aufs neue an uns bestätigt. Wären die Pferde nicht durchgegangen, so wäre Pastors Gustav nicht bei uns.
Die Pferde durchgegangen! wird meine Schwester aufgeschreckt rufen: Gütiger Himmel! Wem ist denn so ein Unglück widerfahren?
Gustav bei ihnen, das freut mich; wie weiter? wirst Du mit Deiner ruhigen Fassung sagen. – Und dem Pastor, der weiter an nichts mehr denkt, wenn von seinem Einzigen die Rede ist, wird eine Träne der Zärtlichkeit in den Augen glänzen, die stillschweigend spricht: Gott sei gelobt, daß alles so ergangen und ich weiß wo Gustav ist!
Beruhige meine Schwester, wenn Du ihr etwas von dem Mißgeschicke sagen willst, sonst bekomme ich einen klagenden Brief, den ich nicht haben mag. Ich weiß wohl, daß ich damit nicht hätte anfangen sollen, ich habe sogar Suschen untersagt, etwas davon zu schreiben, aber man erlaubt sich oft, was man andern verbietet, und so ist's nun einmal geschehen und einen angefangenen Brief zu ändern ist eine leidige Arbeit. – Übrigens ist der Vorfall unbedeutend, Tobias allein hat sich etwas beschädigt, so daß ich einzig seinetwegen einige Tage hier bleiben muß; Clotilde aber ist noch in Bern und ich bin frisch und gesund, bis an die streitigen Punkte, wie Tobias zu sagen pflegt, wenn man ihn über sein Befinden fragt.
Dem Vater sage auf mein Wort hin alles Gute von seinem Sohne. Ein freundliches Geschick brachte ihn gerade in diesen Tagen hieher, wo er, ein anständiger Deutscher, dem Rheinfalle huldigen wollte. Jetzt geht er mit uns auf die Hochzeit im Rheintal, wenn der gute Alte nichts dawider hat, wie könnte er? Ich habe den lieben Jungen so lange nicht gesehen, daß ich mich seiner jetzt freuen will, solange mein Aufenthalt in der Schweiz noch dauert; in das französische Land kommt er dann noch früh genug.
Er ist ein hübscher junger Mann, sanft und unverdorben, seine kindliche Natürlichkeit ist in ein gerades, offenes Wesen übergegangen, das an Treuherzigkeit grenzt, und ihm die Schweizer zu Freunden machen wird. Wie er studiert habe, will ich von dem Professor hören, der ihn schon aufs Korn genommen, aber, wie ich fürchte, auch schon durch eine Unterhaltung, die sie gestern über die griechische Sprache hatten, bestochen ist; Gustav behauptete nämlich, ohne dieselbe gebe es keine vollendete Bildung: Das ist der Ausspruch eines jungen Menschen, der soeben aus einem deutschen Athen kommt, dachte ich, der Professor wird ihn wohl berichtigen. Aber siehe! Das war diesem, der das Griechische vorzugsweise treibt, eine ausgemachte Wahrheit, die er bekräftigte und mit vielen Beweisen von Gelehrten und Beispielen von Staatsmännern bestätigte und dabei angelegentlich von dem jungen Hochschüler unterstützt wurde. – Ich schweige wie billig, wo man mit Grund sagen kann: du verstehst es nicht, allein wer hört es gern, wenn etwas, das ihm mangelt, als unerläßliche Bedingung des Habens herausgestrichen wird? Und wenn so ein schneidender Ton immer crescendo geht, wer mag ihn aushalten? Ich begnügte mich jedoch, nur eine Anzahl Namen von Männern und Frauen älterer und neuerer Zeit anzuführen, die gewiß kein griechisch Wort verstanden und doch manchem durch und durch vergriechten Gelehrten an Bildung vorangingen.
Man spreche von vollendeter Bildung, war die Antwort. Gibt es aber auch eine vollendete Bildung? fragte ich, unbedacht, daß ich einen Gelehrten nicht so fragen sollte.
Es lasse sich doch immer aus den Werken der Griechen mehr gründliche Geistes- und Geschmacksbildung schöpfen, als aus den neueren Sprachen, zumal aus der deutschen, versetzte ausweichend der Professor; der aber als Schweizer und nach der Richtung seines Geschmacks kaum eine befugte Stimme bei dem neuen «deutschen Sprachgerichtshofe» haben dürfte.
Das Gespräch nahm nun, wie mir lieb war, eine andere Wendung, denn der Professor fand über seine geringe Meinung von dem Deutschen einen Gegner, so sehr er vorhin mit ihm eins gewesen, an Gustav, welcher auf der Hohen Schule für das erwachende Selbstgefühl seiner Muttersprache mit Begeisterung erfüllt worden und jetzt mit dem Feuer eines Jünglings ihre Vorzüge über alle neueren Sprachen ganz artig behauptete.
Über alle? wirst Du fragen. Das fragte auch, sein graues Haupt schüttelnd, der Professor, der die Italiener liebt, die Engländer verehrt und die Franzosen gar nicht verachtet, und sprach dagegen von Weitschweifigkeit, Ungelenksamkeit, Dumpfheit. Allein Gustav bewies ihm mit Sprüchen und Distichen von Klopstock, die ich nicht recht verstand, daß dieses nur eingebildete Mängel seien.
Gegen das Ansehen jenes großen Mannes mochte der Professor nicht kämpfen, und Gustav war nach Art der Jugend allzusehr für seine neuerlernte Meinung eingenommen, und so kam wenig dabei heraus, wie bei den meisten Streitigkeiten, besonders aber bei dem Streit über Nationalvorzüge, wo immer wieder neue Gewaltige ins Feld treten, die über den Leibern der Erschlagenen siegreich kämpfen.
Du wirst Dich wundern, mich so über Gegenstände sprechen zu hören, wovon sonst unter uns wenig die Rede war. Auf Reisen lernt man, wie Du siehst, auch wenn man zu Hause nichts mehr lernen mag, man muß! Die Eindrücke ergreifen uns stärker, weil sie durch neue Mittelwege zu unserem Verstande gelangen. Es ist aber meist ein passives Lernen und so drängt sich dann auch vieles in die Masse unserer Erkenntnisse ein, das man lieber draußen ließe, bis zuletzt auch dieses durch die Gewohnheit erträglich, ja lieb wird. So ging es mir mit den An-, Aus-, Um- und Fernsichten der Schweiz, deren allenthalben erschallende Lobpreisungen mir anfänglich die Natur verhaßt machten; jetzt habe ich durch Gewohnheit nicht nur wahre Midas-Ohren für diese schweizerischen Pangesänge bekommen, sondern ich schaue nun wirklich Berg und Tal mit Liebhaberei an. Denn so wie uns das Buch oder die Taten eines Mannes interessant sind, wenn wir ihn persönlich kennen, so wie uns die Sterne gefallen, deren Namen wir wissen, und so wie Clotilde und die Schweizerin ihre Pflanzenlust durch die Benennungen nährten, so haben auch Gebirge, Seen und Wasserfälle mehr Anmut für mich erhalten, seitdem ich in der Nähe mit ihnen bekannt geworden und sie durch ihre Namen unterscheiden gelernt habe. Der Name hebt den Gegenstand aus der Allgemeinheit heraus und stellt ihn einzeln dar; es ist der erste Schritt zur näheren Bekanntschaft, eine Befriedigung der Ungewißheit, womit schon Adam seine Naturkunde begann. Sobald wir nicht mehr gleichgültig für den Namen sind, ist auch schon Hang zur Verdeutlichung der Vorstellung da, wo hingegen an dem Namenlosen die Aufmerksamkeit nur flüchtig hinstreift.
Diese Erfahrung machte ich vorzüglich in dem Berner Oberlande, das ich durchkreuzt und durchirrt habe, soweit man auf Pferden und den leichten Wägelchen daselbst kommen kann. Ich gestehe Dir, einen ganz anderen Eindruck als jene rührenden Aussichten, mit deren gefühlvollen Beschreibung man mich anfangs gelangweilt hatte, machten mir jetzt diese gewaltigen Erscheinungen. Es war mir, als sähe ich zusammengedrängte Trümmer einer gigantischen Vorwelt: Berge, deren Höhe alles Augenmaß verwirrt, herabgerollte Steinklumpen in den Tiefen, hinter denen sich Hütten zur Sicherheit schmiegen, Ströme, die aus den Regionen der Wolken, wie geschmolzenes Silber über die Felsen hinabschießen, Flüsse in dem Momente zu Eis erstarrt, als sie zur Verheerung des Landes vom Gebirge hernieder stürmten, denn gerade so kamen mir zum ersten Male die Grindelwaldgletscher vor, stundenlange Schneefelder wie in dem fernsten Norden, und Seen anmutig wie die Augen des Frühlings, blendendes Licht und ungeheure Schatten, Grausen und Lust, Sommer und Winter, alles neben- und durcheinander und Menschen in diesem Chaos wie Ameisen herumkriechend. – Komm und siehe, wenn Du glaubst, daß ich zuviel sage! – Staubbach, Jungfrau, Gletscher, Wetterhorn, Reichenbach ... das sind Namen, die niemand vergessen wird, der das, was sie bezeichnen, je gesehen hat.
Durch jenes Große ist mir nun selbst das Kleinere vernehmbarer geworden und anziehender, so daß ich auch niedrigeren Wasserfällen nachgegangen bin, um zu erforschen, wodurch sie gefallen und mich der Seen freue, als wären sie Kinder des Ozeans und wie ein Gelehrter nach den Gestirnen, schaue ich nach den fernen Bergspitzen, um sie mir bekannt zu machen.
Diese Naturempfindungswissenschaft, die weder Naturkunde noch Naturlehre, weder Erdbeschreibung noch Erdmessung ist, und wovon man vor einem halben Jahrhundert noch wenig in Büchern, selbst nicht in Reise- und Liebesgeschichten las, ist als ein neuer Zweig der Gelehrsamkeit in der Schweiz entsprossen und schon zum reichen Baume gewurzelt, von dessen Früchten nun jeder pflückt, weil sie nicht zu schwer zu erhaschen sind. Aber gerade einer solchen Unterhaltung, so sehr sie mir in der Vorausbetrachtung zuwider war, bedarf ein kranker Mann, wie ich bin; sie fordert Bewegung und alles tut mir besser als verdrossenes Stillesitzen. – Ist es denn nicht auch billig, rief mir einst der Professor zu, als ich ihn durch meine üble Laune selbst verdrießlich gemacht hatte, daß man in jedem Lande dasjenige, was es eigentümlich bietet, für gut nehme? man sollte es wohl für eine natürliche Verpflichtung jedes Reisenden halten, der nicht absichtlich seinem Unwillen Luft machen will. – Eine Erinnerung, die damals schon eine gute Wirkung auf mich machte, denn Verweise vergißt man weniger als Beweise.
Dieses Oberland kann ich nicht vergessen, es ist in Ansehung großer Naturerscheinungen der gedrängte Inbegriff der ganzen Schweiz; Alpen, Eisgebirge, Schneelauen,Die Schneelaui –, so wird das Wort in der Schweiz ausgesprochen, nirgend Lawine, mit einem langen i; und kommt von lau, wenn der Schnee lau wird. Als Substantiv brauchen wir: die Laui (Lauigkeit) so wie wir sagen: die Lindi, die Rüchi, die Letzi usw. – Aus dem Plural: die Lauinen (stets mit einem kurzen i ausgesprochen) ist wohl die falsche Herleitung und Rechtschreibung des Singulars in die Schriftsprache gekommen. – Im gleichen Sinne wie der Schweizer, sagt auch der Tiroler: Schneelänen, von Leinen, Auftauen Wasserfälle, Seen, Vegetation (selbst die menschliche einiger Orte), alles ist daselbst vorzüglich und in der Beschränkung von einigen Meilen zu finden, so daß, wer dieses Land gesehen, sich rühmen darf, daß ihm die größten physischen Gegenstände der Schweiz nicht unbekannt seien. Ich habe auch von zuverlässigen Reisenden versichern gehört, daß das Chamounixtal seinen berühmteren Namen nur dem Griffel glänzender Schriftsteller verdanke, aber in der vereinigten Mannigfaltigkeit großer Gegenstände diesem Wunderlande nicht gleich komme.
Ich schreibe Dir so, wie die Feder läuft, so wie ich mit Dir zu sprechen gewohnt war und so wie ich denke, abgebrochen und sprungweise, das kann ich nicht mehr ändern. Wenn ich an einen Freund und Vertrauten schreibe, so mag ich nicht scheinbaren Zusammenhang langsam in meine Feder hineinkauen, sondern ich gehe gern von einem Gegenstande zum andern über, wie es mir einfällt und damit, ich weiß es, ist der Freund zufrieden. Gewöhnlich sind es auch die Briefe, welche man am liebsten liest, worin um Entschuldigung wegen Eilfertigkeit und dadurch verursachten Mangels an Zusammenhang gebeten wird.
Wirst Du jetzt nach diesem allem was Du von mir vernommen, auch die Meinung hegen, wie mir meine Begleiter zu verstehen geben, daß mein Gemütszustand heiterer, meine Laune milder geworden? Sie sagen es zwar nicht gerade heraus, weil sie wohl wissen, daß ich (und dieser Ich ist wohl jedermann) das Lob über einen abgelegten Fehler nicht gerne hören mag, auch wenn ich sonst kein Hehl von meinen Mängeln mache. Ich will samt meinen Unvollkommenheiten geliebt sein, so wie ich andere auch mit Inbegriff der ihrigen liebe; jenes Kompliment aber setzt uns in ein erniedrigendes Verhältnis mit dem Lobenden, der sich uns damit gleichsam wie ein Kerngesunder einem bloß Genesenden gegenüber steht. – Sie geben es mir zu verstehen, sage ich, und ich fühle selbst, daß ich mir und andern erträglicher geworden bin. Der Doktor wird das den Molken, Du der Luftveränderung, der Pastor den neuen Liebhabereien und meine Schwester meiner unbegreiflichen Vorliebe für ein freies Leben zuschreiben. Ihr mögt alle recht haben; genug, wenn ich auf dem Wege der Wiedergeburt bin! Ach, was ist der Mensch! Er fängt groß an und hört klein auf und ist meist in dieser selbstgefühlten Kleinheit erst was er sein soll.
Ich freue mich jetzt auf den Herbst im Rheintal, denn so lange bleibe ich noch in der Schweiz, die herbstlichen Tage werden oft unter die schönsten hierzulande gezählt. Zu leichterem und unabhängigem Fortkommen bei meinen Streifereien habe ich mir ein Reitpferd gekauft, das gut aussieht und sicher geht, aber auch die Landesart hat, daß es sich Zeit läßt, wie ein Gerichtsverwalter; das soll mich tragen, wohin kein Wagen geht und die Kraft meiner Füße nicht hinreicht. Und wenn ich wieder zu Hause bin, soll es unser Pastor haben, der einst behauptete, des Menschen Glückseligkeit bestehe in seiner Phantasie; da darf er sich nur auf den Schweizergaul setzen und die Augen zumachen, um sich sein zu lassen, er reite glückselig in dem Lande herum, das er sich so idealisch träumt. Grüß ihn.
So sehr mir indessen das Herumstreifen als Arznei behagt, so kann ich doch die Heimat und was ihr anhängt, nicht vergessen, wie könnt' ich das! Noch immer bin ich der Überzeugung, daß es keine unseligeren Sterblichen gebe als solche, die immerfort reisen, denen jede Niederlassung zu enge wird, weil ihnen die Gewohnheit des zweck- und tatenlosen Wanderns zur Notwendigkeit geworden und sie, erschöpft von beständigem Jagen nach Reizung abgestorben sind der Freude am Kleinen und der Innigkeit des häuslichen Berufs. Lieber will ich zu Hause früher sterben, da habe ich doch meine geprüften Freunde um mich und den abgeschlossenen Kreis meines Wirkens und Denkens, als jahrelang gleich einem Irrwisch in den Sümpfen der Wirtshäuser herumhüpfen, um irgendwo zu verlöschen, wie ein eitles Licht ohne Schein und ein Feuer, das niemand erwärmte. Nur dem Reisenden ist wohl, der sich mit Freuden seiner Heimat erinnert.
So denke ich noch, und Du hast nicht zu besorgen, treuer Gefährte meines Lebens, daß ich in den Jahren des Alters auf eine unserer Freundschaft unwürdige Art für Dich verloren sei. Ich komme wieder, um mit Dir meine Tage zu beschließen.
Sobald Tobias sich wieder auf dem Bocke halten konnte, wurde der Marsch fortgesetzt. Der ehrliche Bursche, zwar noch mit dem Arm in der Schlinge, hatte am meisten auf die Abreise gedrungen, weil es ihn beständig quälte, sich als die Ursache dieses Aufenthaltes anzusehen. Suschen trieb die Liebe vorwärts, so behaglich ihr sonst das Schauspiel und der Umgang in Schaffhausen war, und Gustav fühlte einen geheimen Zug zu Clotilde, von dem er aber nichts merken ließ. Nur die beiden Alten fanden sich hier gemächlich; der eine bei seinem gelehrten Gastfreunde und der andere in Gesellschaft zweier bejahrter Kriegsmänner, die mit ihm abends bei einer Flasche Wein in der Erinnerung alter Feldzüge wieder jung wurden. Doch die Stunde der Abreise hatte geschlagen; Gustav, der im Wagen nicht mehr Platz fand, setzte sich auf das Pferd des Obersten und so schieden sie von dannen.
Im Rheintal aber herrschte große Bestürzung. Clotilde mit ihrer Gesellschaft war angekommen und hatte nichts anderes erwartet, als den Oheim schon auf seiner Burg eingehaust anzutreffen. Jetzt war er nicht da und keine Nachricht von ihm und seiner Begleitung als das wenige, was Suschen insgeheim über den Vorfall an ihren Geliebten geschrieben; da diese aber in der Andacht der Empfindung das Datum vergessen hatte und der Brief nicht von der Post bezeichnet war, so konnte man daraus nicht klug werden und machte sich wechselseitig durch das Besprechen darüber bange. Der Prediger, von wachsender Sorge getrieben, schickte einen Eilboten nach Zürich, wo er, selbst ein Zürcher, die beste Auskunft über alles zu finden gewohnt war. An Schaffhausen dachte niemand, denn da die Gesellschaft Clotildens ihre Richtung durch die innere Schweiz genommen, konnten sie nichts von dem Umwege des Obersten wissen.
Um nichts zu versäumen, die verlorenen Freunde zu finden, wurde von den Frauen noch ein Abgeordneter auf Entdeckung ausgesandt, ob vielleicht in Konstanz, wo sich der Oberst unlängst so wohl gefallen, eine Spur von ihm anzutreffen wäre. Dazu mußte sich der nahe Verwandte der Schweizerin bequemen, der die beiden Freundinnen hierher gebracht hatte und der von einer leidenschaftlichen Neigung zu Clotilde befangen war, weswegen auch der Mann von jener unter dem Vorwande von Geschäften in Bern zurückgeblieben und ihm das Geleit der Reisenden überlassen hatte.
Von Simmenthal, so hieß dieser junge Mann, entschlossen von Natur und sorgenlos aus Grundsätzen, machte sich zwar wenig Kummer über das Ausbleiben der Erwarteten und suchte auch die Besorgten zu beruhigen; allein der Prediger hielt es nächst seiner Liebe auch für Pflicht, in diesem Fall ängstlich zu sein und den Frauenzimmern schien die Unruhe eines edlen Bemühens ebenfalls verdienstlich. Simmenthals Trostgründe fanden also wenig Eingang, zumal er sie unbefangen, ohne in die leidende Stimmung der andern einzutreten vortrug; er mußte gehorchen und zeigte wirklich einige Eilfertigkeit zur Abreise, solange er unter den Augen der beunruhigten Clotilde war. Nachher ritt er ganz gemächlich fort, wie einer, der gar keine Sendung hat, drei oder vier Personen gehen nicht so bald verloren, dachte er, wäre etwas von Bedeutung vorgefallen, man hätte es wohl berichtet.
Da aber zuweilen auch der, welcher nicht sucht, findet, so geschah es auch jetzt; denn als er gegen Mittag nach Rorschach kam, war eben ein anderer Reiter vor dem Gasthof abgestiegen. Simmenthal wollte fürbas reiten, aber der andere kam auf ihn zu, sah im freundlich ins Gesicht; darf ich fragen, sind Sie nicht ...
Ja, ich bin's! unterbrach ihn Simmenthal; und du bist Gustav. – Er schwang sich vom Rosse.
Große Freude; sie hatten sich auf der Universität gekannt und vertrauten Umgang gepflegt.
Gustav, der dem Wagen des Obersten vorausgeeilt war, um das Mittagessen zu bestellen, nötigte seinen Freund zum Bleiben. – Ich wollte gern, erwiderte von Simmenthal und besann sich wirklich. Doch laß mich jetzt, fuhr er fort und machte sich wieder zum Fortreiten gefaßt: Ich bin auf einer irrenden Ritterfahrt, ich soll verirrte Pilgrime aufsuchen, oder gar, wenn's Not ist, Gefangene befreien. Wir werden uns wohl wieder sehen, sage nur, wo? Oder komm und mache den Zug mit, er geht nicht weiter als bis Konstanz.
Da komme ich soeben her, sagte Gustav und gehe jetzt für einige Zeit auf das Schloß Grünenstein.
Du, nach Grünenstein? rief Simmenthal: Laß dich nicht gelüsten, dort ist die Burg, wo ich einen Schatz hüte! – Er übergab sogleich sein Pferd dem Stallknecht und wollte mit Gustav hinaufgehen, um nähern Aufschluß zu haben. Als sie aber in das Haus treten wollten, kam der Oberst angefahren und nun klärte sich bald alles von selbst auf.
Bei Tische ging es sehr munter zu. Der Oberst machte sich nicht viel aus der Angst und Unruhe, die im Rheintal über sein Ausbleiben stattgehabt und lachte zu Simmenthals kläglicher Beschreibung, worüber hingegen Suschen gerne geweint hätte.
Als man nach dem Essen zum Hafen hinabging, blieb Simmenthal allein zurück, um in einem Buche zu lesen, das Gustav auf dem Fenstergesims abgelegt hatte; frei und ungezwungen wie er war, sagte er, er habe das Gewässer schon öfters, dies Buch aber noch nie gesehen. Suschen schloß sich vertraulich an Gustavs Arm, zögerte im Gehen und hatte ihm vieles in Geheim zu sagen, wobei bald ein Lächeln der Freude, bald eine Wolke des Kummers über sein jugendliches Angesicht hinflog.
Sie standen nicht lange am Ufer des Sees, so kam keuchende Botschaft aus dem Gasthofe: Der Herr, welcher zurückgeblieben, habe Händel mit zwei anderen Fremden. Schnell eilte Gustav dahin, ihm nach, etwas langsamer der Professor, und der Oberst nahm das erschrockene Suschen am Arm und ging gelassen hinterher.
Zwei junge Engländer, die mit ihrem Hofmeister diesen Morgen über den See gekommen waren, hatten für gut befunden, sich nach dem Essen eine Leibesbewegung zu machen, hatten Gustavs und Simmenthals Pferde aus dem Stall genommen und jagten damit im Hof des Wirtshauses herum. Simmenthal, dem dies von Tobias, der noch zu schwach war, es zu wehren, angezeigt wurde, ging hinunter, fand da den Hofmeister, der den beiden Kunstreitern Sitten predigte, worauf aber keiner im mindesten acht gab. Ärgerlich hierüber fiel er dem einen in den Zügel und ersuchte dem Spaß ein Ende zu machen und das müde Pferd zu schonen; dieser lachte und trieb das Pferd desto stärker an, um sich loszumachen. Darüber verlor Simmenthal die Geduld, er riß den Ungezogenen mit Gewalt herunter und ging dann auf den anderen los, der aber sogleich absaß und über ihn herfallen wollte: jedoch er, der keine Lust zum Faustkampf hatte, ergriff einen Knittel, der in der Nähe lag und hielt seinen Gegner damit in Achtung.
Der Hofmeister war nicht mehr zu sehen. – Inzwischen hatte sich der Gefallene wieder aufgerafft und war im Begriff gegen Simmenthal loszustürmen, als Gustav kam, sich ihm entgegenstellte und befahl, ruhig zu sein; allein der Mensch war wie rasend und warf einen großen Stein nach ihm, der ihn zwar verfehlte, aber den hinten stehenden Stallknecht traf, welcher gleichwohl noch so viel Besinnung hatte, dem sich nach einer Wehr umsehenden Gustav schnell eine Reitpeitsche zu reichen, womit dieser auch den Tollkopf so bearbeitete, daß er taumelte.
Der kluge Hofmeister war indessen nach Hilfe gelaufen; es kamen Leute, die dem Streit ein Ende machten. Der eine von den Engländern, der sich auch am wildesten betragen, befand sich von der Behandlung, die er durch Gustav erlitten hatte, übel und mußte hinaufgeführt werden; der andere aber forderte Simmenthal zum Zweikampfe, weil er ihn einen Polisson geheißen habe. Jedoch ein entschlossener Beamter, unterstützt von der zugelaufenen Menge, drohte dem Engländer mit Verhaft, wenn er nicht Frieden hielte. Die Sieger gingen auf ihr Zimmer, um sich zur Abreise fertig zu machen.
Sie waren noch oben, so trat der, welcher Simmenthal herausgefordert hatte, hinein, und verlangte höflich eine Namensangabe, weil er sich mit ihm schlagen müsse: er hätte ihn füglich einen Toren heißen können, tat er hinzu, aber ein Polisson wolle er nicht sein.
Simmenthal schrieb auf ein Blatt in seinem Taschenbuche seinen Namen und Aufenthalt und übergab es stillschweigend dem Herausforderer, der sich damit entfernen wollte.
Der Oberst schüttelte den Kopf: Aber, meine Herren! rief er, wozu der Krieg? Könnte man nicht auf diese Weise Frieden machen, wenn das beleidigende Wort zurückgenommen und das andere als für den damaligen Moment passend angesehen würde?
Der Engländer war es zufrieden. – Nun denn, sagte Simmenthal und stand freundlich auf: So erkläre ich hiermit, daß ich diesen Herrn für keinen Polisson halte, auch nicht, wenn er es gleich auf sich nehmen wollte, für einen Toren, sondern für einen rechtlichen jungen Mann, der in einer bösen Stunde der guten Sitte vergessen.
Schamröte überglühte die Wangen des Jünglings. Es ist mir Recht widerfahren, sprach er und verließ die Gesellschaft.
Welch ein sonderbares Benehmen, sagte der alte Professor: Und doch ist etwas Edles darin!
Dem Obersten schien das nichts Neues zu sein. – Hätten Sie sich wirklich mit dem Engländer geschlagen? fragte er Simmenthal.
Warum nicht? ich schlage mich mit jedem, der mich fordert.
Gott bewahre! rief der Professor und Suschen blickte erschrocken auf Gustav.
Aber ich würde seiner geschont haben, fuhr er fort: Er wäre mit einer kleinen Züchtigung weggekommen.
Ob er auch Ihrer geschont haben würde? fragte der Professor.
Mit diesem wäre ich wohl fertig geworden, erwiderte Simmenthal, wenn er aber auch mir eines angehängt hätte, so wär's eine verdiente Büßung meiner Schlagfertigkeit gewesen, die sich jeder gefallen lassen muß. Jedoch sind meine Kämpfe niemals sehr blutig, weil ich mich nie in große Leidenschaft einlasse und in solchen Fällen meiner selbst, wie meines Degens Meister bin. Ich schlage mich daher auch, wiewohl ich gut schieße, niemals auf Pistolen, weil ich nicht gern töte.
Das heißt Großmut! sagte der Professor mit einer Zögerung, als wenn er lieber Großtun gesagt hätte.
Ich spreche von mir selbst wie von einem Dritten, versetzte Simmenthal mit einem ruhigen Blick auf den Professor: das tun ja die Gelehrten auch zuweilen. Übrigens sollten, fuhr er fort, meines Erachtens alle Händel durch Zweikämpfe ausgetragen werden, so würde mancher sich besser besinnen, ehe er welche anfinge, die langsame Marter des Rechtsganges würde verkürzt und ein Heer geldlustiger Sachwalter wäre außer Tätigkeit gesetzt. Auch hätte der, welcher zu kurz gekommen, auf dem Krankenlager Zeit, über die Nichtigkeit des Streites um irdische Dinge Betrachtungen anzustellen und sich zur künftigen Nachgiebigkeit gegen den Feind zu sammeln. Wahrscheinlich wäre auch der Arme von dem Reichen, der Kleine von dem Großen minder geplagt. – Freilich müßte über einen solchen Rechtsentscheid eine Ordnung festgesetzt werden, das ist aber in einem Zeitalter ein Leichtes, wo man mit Verfassungen, Ordnungen und Rechten wie mit Kegeln zu spielen versteht.
Dazu, fiel der Oberst lachend ein, könnte man ja die alten Ordalien benutzen und so das gepriesene Mittelalter nicht immer nur in Worten, sondern auch in der Tat ehren.
Und da, fuhr jener fort, neuere Staats- und Weltweise herausgebracht haben, daß das Recht des Stärkeren die Grundfeste der Staaten ist, warum sollte dasselbe nur unter den Oberen stattfinden und nicht auch dem Geiste des Volkes durch Gesetze und Übung angeeignet werden?
Lernt man das auf deutschen Schulen? fragte verwundert der Professor. – Noch nicht förmlich, gab Gustav zur Antwort: Man lernt aber dort manches, das nicht gelehrt wird. – So wie man manches lehrt, das ebenso wenig des Lernens wert ist, tat Simmenthal dazu.
Es war Zeit zum Aufbruch. Unter der Haustüre sprach der Oberst noch mit dem englischen Hofmeister, der ihm für seine Vermittlung dankte, aber erbärmlich über den unbiegsamen Sinn seiner Zöglinge klagte.
Simmenthal eilte voraus, um seinen Fund auf Grünenstein anzukünden, Gustav aber ritt kleinmütig hinter dem Wagen her und kaum vermochten die Annehmlichkeiten der Landschaft, die Lichtpfade der Abendsonne auf dem offenen See und die blaue, friedliche Ferne, sein zagendes Gemüt aufzuheitern.
Er liebte Clotilden, sie nun in der Schweiz und zwar so bald zu finden, hatte seine geheime Seligkeit ausgemacht, allein Simmenthals Anwesenheit in Grünenstein und dessen Bemühen um das Fräulein, wovon ihn Suschen soeben unterrichtet, war ihm jetzt eine bittere Störung und die Ursache seines Mißmuts. Zwar, das wußte er, war auch sein Bild in Clotildes Seele wie eine Blume im zarten Hauche des Frühlings bisher gewiegt und gepflegt worden, aber es gibt der Blumen viele, die den Mädchen behagen, und der Frühling ist kurz, sagte er jetzt in banger Stunde. – Nichts als die Gegenwart vermag den Zweifel der Liebe zu heben, der sich in der Abwesenheit regt; er eilte der Geliebten entgegen, und zögerte im Geiste bei jedem Schritte und suchte den Trost, den ihm die Zukunft zu versagen schien, in den Erinnerungen vergangener Jahre.
Er und sie – schon als Kinder im täglichen Umgange vereint, da das Mädchen auf dem Schlosse des Oheims erzogen wurde; Lehr- und Spielgenossen, so ward ihnen gleich anfangs die Gewohnheit des Beisammenseins zum unschuldigen Bedürfnisse und ehe sie noch wußten, was Liebe sei, hatte sich das natürliche Verhältnis zwischen der männlichen Obermacht und der schmiegsamen Weiblichkeit schon unter den Kindern festgesetzt. Sie war die Vertraute seines kindlichen Strebens, er der Gegenstand ihrer Teilnahme. Von edler Art beide, trübte kein unreiner Hauch das Gedeihen ihrer Freundschaft und ihr Dasein gleitete, wie aus zwei Quellen ein lauteres Bächlein, lieblich dem Strome der Liebe entgegen.
Es war zuviel Anmut in diesem Verhältnisse der Kinder, als daß der gute Oheim es hätte stören wollen. Bejahrte Leute lieben die jugendliche Eintracht, ihre Begriffe von der Liebe sind durch das Alter umgewandelt, und die Besorgnis, daß aus dem vertrauten Umgang der Kinder ausschließliche Anhänglichkeit in die folgenden Jahre übergehen möchte, ist ihnen fast fremd geworden. Beobachtung der Welt und öfters auch eigene Erfahrung hat sie gelehrt, daß alles wandelbar ist, und daß die Zeit nichts Ewiges verträgt, selbst nicht ewige Liebe und Freundschaft. – Auch Clotildens Mutter machte sich über eine bleibende Neigung der Kinder keine Sorgen, aber ihr gefiel nicht, wenn sie zu ihrem Bruder kam, welches öfters geschah, daß des Pastors wilder Knabe gleichsam den Gebieter über die einzige Sprosse ihres edlen Stammes spielte und sie ihn auf allen seinen Streifereien so willig begleitete. So wie das Mädchen ein Lamm hatte, das ihm auf allen Schritten nachfolgte, war sie das Lamm Gustavs, alle drei zogen oft stundenlang durch Wald und Gefilde, die Landleute waren ihnen freundlich und ihre Kinder spielten mit ihnen. Dies Leben konnte der Baronesse nicht gefallen, sie machte dem Obersten oftmals Vorwürfe darüber, der dann freilich das Ungezogene desselben, wie es die Schwester nannte, auch fühlte und diesen freien Wandel beschränkte so gut er konnte und solange sie da war, jedoch nach ihrer Abreise mochte er gewöhnlich das Herzeleid der Kinder über die Hemmung ihres Umgangs nicht lange ertragen und ließ ihnen bald wieder die süße Freiheit.
Kurze Trennung stärkt die Liebe und so diente sie auch in solchen Fällen, die arglosen Herzen nachher nur desto näher zu vereinen. Auf diese Weise aber konnte sich kein Fräulein nach der Baronesse Geschmack bilden: Wenn das Mädchen fortfahre, meinte sie, in diesem Naturzustande, dessen Vorurteile so schwer auszutilgen seien, aufzuwachsen, welche Mühe würde man einst haben, sie für den Hof zu bilden! Das war die Sorge der Mutter, womit sie den Obersten plagte, so oft sie zu ihm kam und da dieser immer versprach und nie half und das freie Leben der Kinder beständig fortdauerte, sie auch nach Übereinkunft das Mädchen bis auf ein gewisses Alter bei dem Bruder auf dem Lande lassen mußte, wandte sie sich an den Vater Gustavs, um ihm die Ungebundenheit seines Knaben und ihr Mißfallen an der Art, wie dieser Clotilde behandelte, auf eine ernstliche Weise begreiflich zu machen.
Der Pastor, der in seinem einzigen Knaben den Trost seiner alten Tage fand, hatte so wenig wie die Kleinen selbst an ihrem Umgang Anstoß genommen und bisher geglaubt, Kinder in diesem Alter würden schon recht wohlerzogen, wenn man für weiter nichts sorge, als daß sie gesund und gut blieben. Desto mehr erschrak jetzt der friedliche Mann über den Ton, den die Baronesse jetzt anstimmte und wußte zur Stunde wenig einzuwenden, welches die vornehme Frau aber auch nicht erwartete. Allein, wie sollte er zu Werke gehen? Seinen Gustav einzusperren, das war ihm nicht zuzumuten, und war er frei, so hatte er in ein paar Sprüngen sein Mädchen aufgefunden; ihm aber den Umgang mit Clotilde zu verbieten, wie hätte er die hohe Unschuld des Knaben mit irgendeinem Grunde des Verbotes behelligen dürfen, ohne sich an Gott und der heiligen Kindheit zu versündigen? – Alles also, was die Bemühungen der gnädigen Frau bewirkten war, daß der Spielraum der Kinder auf den Schloßgarten beschränkt wurde. Aber das war Gustav bald zu enge, er kletterte über die Mauer und half dem Mädchen auch hinüber, und der nachsichtige Oheim fand, es sei denn doch besser, den Kindern freien Lauf zu lassen, als daß sie den Hals brächen, und so ging es wieder wie zuvor. Kam dann zu Zeiten die Mutter, so wurde Clotilde, so gut es ging, von dem Knaben entfernt gehalten, sie mußte schöne Kleider anziehen und durfte mit der alten Hausmeisterin des Obersten nichts als französisch sprechen. Aber der naturgewohnten Blume war das Zwingbeet zuwider, sie blühte dann weniger lebendig und frisch und schien sich immer nach den freien Lüften und dem lieben Gärtner, der sie zuvor gewartet hatte, zu sehnen und der Oberst, sobald er wieder allein war, konnte ihrem Verlangen nicht entgegen sein: Die Unschuld, bemerkte er, müsse man nicht zwingen, solange sie nicht aus ihrer Bahn trete, sonst mache man sie zur Schuld und für diese sei dann erst der Zwang gut, einem bloßen Kinde schon seinen Standesvorzug begreiflich machen, heiße es prinzlich erziehen, das aber sei, wie die Erfahrung lehre, nicht immer die beste Erziehung.
So verflossen die Tage der Kindheit den Glücklichen im Sonnenscheine sorgen- und schuldloser Vertraulichkeit. Auch wenn es zum Unterricht ging blieben sie ungetrennt, welches jedoch die Baronesse nicht ungern sah, denn da das feinere Mädchen schneller begriff, als der sich langsamer entwickelnde Knabe und daher alles besser konnte, so schmeichelte ihr das und sie mochte darum Gustav auch den Vorteil gönnen, daß er neben Clotilde von der Hausmeisterin Französisch lernte, wenn nur dabei der gehörige Unterschied streng beobachtet und der angemaßten Meisterschaft des Knaben über ihr Kind Einhalt getan würde. Selbst als Gustav anfing Latein zu lernen, durfte Clotilde den Stunden, die der Pastor seinem Knaben gab, beiwohnen und so gesellschaftlich mitnehmen, was ihr allein zur Qual geworden wäre und der Oheim, ein Freund der Römersprache, hatte seine Freude daran: Laß es immerhin seltsam scheinen, daß ein Mädchen Latein verstehe, sagte er zur Schwester, wenn sie es nicht zur Schau trägt, so wird sie nie bereuen, es gelernt zu haben.
Unterdessen wuchsen die Kinder heran und wie die kindliche Einfalt schwand, änderte sich auch unvermerkt manches in ihrem Betragen. Die Unschuld blieb, aber sie wurden sich selbst in manchen Dingen gegenseitig unbequemer, die natürlichen Neigungen fingen an verschiedene Richtungen zu nehmen, die Aufmerksamkeit für Schicklichkeiten ward größer und die Anneigung der Gemüter weniger sichtbar aber desto inniger; es war auffallend und Clotilde fühlte es selbst, daß sie noch anderen Umganges bedürfte. Der Oheim sah das ein, und da eben einer seiner Unteroffiziere, der in der Nähe eine Zollbedienung versehen, gestorben war und ein Mädchen ungefähr von Clotildes Alter hinterlassen hatte, das er sorgend auf dem Totenbette noch seinem edel gesinnten Obersten empfohlen, so nahm er jetzt das verwaiste Mädchen, welches Suschen war, zu sich, damit es mit seiner Nichte, jedoch derselben untergeordnet, aufwuchs und lernte und zugleich eine Mittelsperson zwischen Gustav und Clotilde, gleichsam einen Ableiter ihrer gegenseitigen Anziehung abgäbe. Sie wurde daher auch gut gekleidet und beinahe Clotilden gleich gehalten.
Suschen zeigte sich als ein ehrliches Kind, war durchaus anhänglich an das milde Fräulein und darum auch ihrem Gustav treu ergeben, da aber jene schon einen großen Vorsprung im Unterricht hatte, konnte Suschen sie nicht mehr einholen und lernte daher nicht eben viel, obgleich die Hausfreunde des Obersten, der Major und der Pastor, sich einige Mühe mit ihr gaben, denn wovon ihnen die Notwendigkeit nicht klar ist, das lernen Mädchen nicht gern allein. In weiblichen Arbeiten hingegen wetteiferte sie mit dem Fräulein, weil diese zu etwas, woraus sich Gustav nichts machte, auch noch keinen rechten Hang hatte.
Obgleich sich die Gesellschaft der Kinder (so hießen sie bei dem Oheim noch immer) um eine Person vermehrt hatte, denn Suschen fand sich beinahe allenthalben wo Clotilde war, so wurde sie denselben doch nicht zur Last, weil sie nie absichtlich die Einsamkeit gesucht hatten und auch jetzt nicht daran dachten; der Zauber der Liebe lag zwar im Innersten ihrer Empfindungen, aber noch nicht in ihrer Erkenntnis. Gut wie Suschen war, und dem Fräulein so ganz ergeben, daß sie alles für recht hielt, was sie tat, und sich deswegen auch Gustavs Wünschen wie Befehlen unterwarf, hätte man noch zehn solcher Mädchen anstellen können, sie würden den Liebenden nicht vor den Weg getreten sein, auch wenn der Weg nicht so rein von allem Unkraut gewesen wäre.
Aber auch diese glückliche Periode der zum Jünglingsalter reifenden Knabenschaft, der sprossenden Liebe und aller der empfundenen noch unenthüllten Seligkeiten, die sie einschließt, ging zu Ende. Gustav war zu höheren Lehranstalten zeitig, er wurde auf das Gymnasium der Hauptstadt geschickt und bald hernach mußte der Oheim, so weh es ihm tat, zugeben, daß auch sein liebes Kind, das Sternlein seiner Nächte, sich von ihm trennte. Denn ihres Jugendfreundes beraubt, an den die süßeste Gewohnheit und die verborgene Gewalt der Neigung sie knüpften, konnte das arme Mädchen die Leere dieser ländlichen Einsamkeit nicht lange ertragen, es fehlte ihr die Gegenwart dessen, der alles belebt hatte und Suschens Gesellschaft war ein zu kleiner Ersatz. Auch die Herzensgüte der Alten vermochte sie wohl zu rühren, aber nicht zu trösten. Man sah die Notwendigkeit ein, das zarte Gewächs in einen lebendigeren Garten und leichtere Lüfte, unter ihresgleichen, zu verpflanzen, und so wurde sie, nach dem Willen der Mutter und mit Zufriedenheit des betrübten Oheims in eine vielversprechende Bildungsanstalt für Töchter edler Herkunft in die Nähe der Stadt gebracht.