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Hier aber, in diesen neuen Beziehungen, sahen die jungen Leute einander wenig. Gustav lebte in einem anderen Kreise und konnte sich den hochadeligen Fräuleins nur selten nahen, überdies war er mit seinen Studien beschäftigt und Clotilde mit ihren Lehrstunden und Zerstreuungen. Begegneten sie sich zuweilen auf Spaziergängen, so war dessen Folge bei ihm ein Gefühl der Wehmut, wie die Nachempfindung eines glücklichen Traumes, weil er alsdann ihr unbefangenes Benehmen für Gleichgültigkeit ansah, noch zu wenig bekannt mit der klugen Umsichtigkeit bescheidener weiblicher Wesen; er war niedergeschlagen für denselben Abend und freute sich doch der kommenden Gelegenheit wieder. Sie aber dachte, wenn sie nach Hause ging, noch lange des blühenden Jünglings und der seelenvollen Blicke, womit er sie begleitet. – Es war indes kein Liebesverständnis unter ihnen, keine erklärte Leidenschaft, beide trieben ruhig und munter ihr Tagwerk und schliefen ein ohne zärtliche Seufzer. Gustav gewann an Wissenschaft und Clotilde an weiblicher Bildung und zur Freude ihrer Mutter an dem, was man guten Ton nennt.
Unverdorbene Gemüter behalten auch unter neuen Umgebungen die Eindrücke des Herzens reiner und fester als der im Genuß erschöpfte Weltling glaubt; auch wenn jene Eindrücke zu schlummern scheinen, so gibt es irgendeinen glücklichen Zufall, dergleichen die Liebe in ihrem Gefolge so viele hat, sie wieder zur rechten Zeit zu wecken. So trug es sich meistens zu, daß, wenn Gustav über seine Ferien bei dem Vater war, auch Clotilde, die nichts davon zu wissen schien, ihren Besuch bei dem Oheim abstattete, dem sie nie zu oft kommen konnte. Dies glückliche Ungefähr (wenigstens war es keine Abrede) stimmte bald wieder alle Saiten des Herzens zu vorigem Einklang, ja die Zeit weckte neue bisher unbekannte Töne, die, stärker als die zarten Klänge der kindlichen Leier, sich mehr dem gewaltigen Rauschen der Harfe näherten.
Suschen blieb auch nicht mehr lange auf dem Schlosse, sie wurde von der Baronesse in die Stadt genommen, um sich zu einem Kammermädchen für das Fräulein zu bilden. Gustav, der nicht ermangelte, von Zeit zu Zeit der gnädigen Frau seine schuldige Aufwartung zu machen, die sich gern als die Gönnerin eines hoffnungsvollen jungen Menschen ansah und es ganz wohl leiden mochte, wenn er seine alte Bekanntschaft mit Suschen unterhielt, traf auch öfters die Tochter daselbst an. Zuweilen war diese schon wieder fort wenn er kam, dann hatte sie Blumen zurückgelassen, vergessen ein Band oder sonst einige Kleinigkeiten, die ihm Suschen ohne große Weigerung abtrat und die er mit emsiger Liebe zu Hause aufbewahrte. Hatte sie dem Mädchen etwas geschenkt, einen selbstverfertigten Geldbeutel oder so was, so ruhte Gustav nicht, bis er es erhalten hatte, so daß er bald einen Schatz von Sachen, die von Clotilde herkamen, aller Sittsamkeit unbeschadet zusammenbrachte. Von ihm hingegen erhielt Suschen Zeichnungen zum Nachbilden, auch Bücher sollte er ihr, nach dem Wunsche der Baronesse zum Lesen bringen, aber nur solche, wo Sittlichkeit mit elegantem Geschmack vorgetragen wäre. Dies brachte ihn oft in Verlegenheit, denn wo es der Sittlichkeit Ernst war, pflegte meist der zierliche Geschmack zu fehlen, oder jene ertrank in den Gewässern der Eleganz, oder es waren beide zu einem langweiligen Ganzen verbunden, das weder kalt noch warm gab. Er hätte aber gern seiner Clotilde nur das Vortreffliche in die Hände gespielt, denn es war ihm, als hätte er selbst die Bücher geschrieben, die sie durch ihn zu lesen bekam. Da er eine schöne Schrift hatte, waren Suschen auch allerhand kalligraphische Denksprüche von ihm willkommen, die dann nächst dem Lobe der Tugend, welches die gnädige Frau begehrte, auch öfters von dem Werte der Freundschaft sprachen und in der Beziehung verstanden wurden, wie sie gemeint waren, indem von allem diesem das Fräulein manches auf längere oder kürzere Zeit mit sich nahm. – Und so wußte die Liebe sich auch durch Hindernisse Weg zu schaffen, die Allesbesiegende, der schon in ihrem arglosen Entstehen die Vorsichtigkeit des klugen Alters nicht fein genug ist.
Aber eine bedeutendere Trennung stand den Liebenden bevor. Die Zeit war gekommen, daß Gustav die Hochschule beziehen sollte, schon war er bei seinem Vater um Abschied zu nehmen und Clotilde hatte sich beeilt, den gewohnten Besuch auf dem Schlosse des Oheims zu machen, getrieben von mächtigem Verlangen, ihn – ach für lange Zeit zum letzten Male! – da zu sehen, wo sich die Erinnerung ihrer Liebe an so viele Gegenstände knüpfte und in die ersten Jahre der stammelnden Kindheit verlor.
Notwendig entschieden jetzt diese letzten Tage des Beisammenseins, was so lange schon vorbereitet war und einzig noch fehlte: das ausgesprochene Geständnis der Liebe. Im Drange des Scheidens nach so vielen Jahren eines beglückenden, ahnungsvollen Umgangs mußten endlich, wie konnte es anders sein, die aufgeregten Gefühle der zärtlichsten Neigung zu stammelnden Worten werden. Auf der letzten Wanderung, die sie noch in das Wäldchen machten, das ehemals ihre einsame Welt gewesen, saßen sie in der jetzt halbverwilderten Laube, die sie als Kinder zusammen gebaut hatten, schweigend, den Stachel der Trennung im Herzen und die unbefangene Vertraulichkeit vergangener Jahre in Gedanken. Sie fühlten beide, daß die Zeit zum Sprechen reif war, ihre ganze Seele lag auf ihrer Zunge und doch wußte keines das Wort des Anfangs zu finden, sie waren ihrer Liebe gewiß und doch wagte keines den heiligen Schleier des Geheimnisses zu heben.
Werden Sie, sagte Gustav, der sich das vertrauliche Du schon lange abgewöhnt hatte ... Werden Sie, gnädiges Fräulein, sagte er mit zitternder Stimme und ergriff ihre Hand ... Werden Sie sich meiner noch erinnern, mich nicht vergessen, wenn ich ferne bin?
Gustav! Mein Auserwählter! ... war ihr Gedanke, und unwillkürlich ihr Wort. – Und in dem Augenblicke, ergriffen von der Allgewalt der verschlossenen Empfindung, umschlangen sie sich in unendlicher Liebe und tauschten die Seelen im ersten glühenden Kusse.
Der Bund war ausgesprochen, geschlossen für die Ewigkeit, und wie nach einem Gewittersturme die Sonne wieder mit friedlichem Glanze in die aufgestörte Natur tritt, so umfloß das Gemüt der Liebenden, entladen der höchsten Spannung, eine stille Ruhe, eine süße sorgenlose Freude an der Gegenwart. Sie waren sich einander sicher für immer und konnten nun auch ans Scheiden mit Gelassenheit, ja fast mit Verlangen, um eher wieder zusammenzukommen, denken. Sie schienen um ein paar Jahre älter geworden und empfanden doch, wie noch nie, die Fülle jugendlicher Kraft.
Die Veränderung war auffallend, auch der Oberst nahm sie wahr: Es ist was unter den Kindern vorgefallen, sagte er abends zum Major, sie sind so freudig, wie ich es unmittelbar vor der Trennung nach so langer Bekanntschaft nicht erwartet hätte. Es ist gut, daß der Junge bald wegkommt, er würde nach dem Mädchen den Kopf verrücken!
Wenn es nur nicht schon zu spät ist, antwortete der Major. Darüber ergrimmte der Oberst, er hatte die Wahrscheinlichkeit zwar auch gefühlt, aber er hörte sie nicht gerne aussprechen. Was zu spät! schrie er, der Bursche wird sich doch nicht einfallen lassen, verliebt zu sein? Der Sohn eines Geistlichen in meine Nichte? – Und nun brauste der Sturm, den man mußte toben lassen, bis er fertig war. Der Major konnte kaum verhüten, daß er nicht auf bloße Vermutung hin Clotilden sogleich zur Rede stellte.
Über Nacht legte sich indes die Hitze: Noch ist die Sache eine bloße Mutmaßung, sagte er des Morgens, wenn sie aber auch mehr wäre, so ist das beste Mittel ja schon ergriffen, sie entfernen sich auf Jahre und werden inzwischen wohl klüger werden. Und da er ohnedies bei aller auffahrenden Reizbarkeit doch nie imstande war, einen erloschenen Zorn wieder anzufachen, so nahm er sich jetzt bloß vor, die Sache mit ruhigem Auge zu beleuchten. Als er aber die lieben Kinder wieder vor sich hatte und ihre Unbefangenheit sah, überwog sein väterliches Herz, er ließ alles gut sein, um sich und ihnen die Stunde des Abschieds nicht zu trüben. Es wurde jedoch, hauptsächlich auf Veranstaltung des Majors, nach der Stadt geschrieben, daß Clotilde bald möchte abgeholt werden und Suschen ward über manches ausgeforscht, allein Suschen sagte weniger als sonst und als sie wußte, denn die Rolle, die sie lange schon in diesem Liebesspiel hatte, beschäftigte sie zu gefällig, als daß sie ihr hätte untreu werden wollen. Das Mädchen warnte vielmehr die Liebenden und wußte, was dem Fortgang der Liebe behilflich war ohne es je gelernt zu haben, an das, was die Dankbarkeit gegen die gnädige Herrschaft allenfalls wider solche Verheimlichungen erinnern könnte, dachte Suschen nur leise, weil die Neigung zu ihrer Gebieterin so laut sprach. Mädchen, sagte einst der Oberst, haben das Privilegium, da wo sich Empfindung von einer schönen Seite zeigt, die Überlegung schweigen zu lassen. Er sprach's und Suschen tat's, die Rede rächte sich an ihm selbst.
Clotilde fuhr in die Stadt zurück, sie ging ohne große Mühe, ihre ganze Seele war der Gegenwart voll und sicher in dem klaren, alle Besorgnisse vergessenden Erwachen neuer, lange verschlossener Gefühle. Sie stand auf der Höhe der Unschuld, ohne dahin zu schauen, wo es auf der andern Seite hinunter geht, sie pflückte noch arglos die schmeichelnden Blumen, die unter ihren Tritten in Fülle sproßten, sie pflückte und lebte für Gustav, der ihr immer vor Augen stand. Er selbst bereitete sich rüstig zur Abreise, schaute aber mit mehr Mißtrauen in das Dunkel der Zukunft, als die weibliche Seele. Der Oberst gab ihm Geschenke, der Vater seinen Segen, alle sahen ihn ungern scheiden, weil er allen lieb war; sein Herz ließ er bei Clotilde, den Kopf hätte er gerne mitgenommen, wenn sich diese Bestandteile des Menschen so leicht trennen als benennen ließen.
Auf der Universität war Gustav fleißig und blieb gesittet, daher lebte auch die erste Liebe lauter und rein in ihm fort. Eine Freundin von Suschen hatte einen Bruder auf ebenderselben Schule, dieses Mittel benutzte das Mädchen, dem Freunde ihres Fräuleins unter einem unbedeutenden Vorwande, womit die Klugheit immer den Anfang macht, zu schreiben. Die Antwort blieb nicht aus, und auf diesem Wege erhielt Gustav von Zeit zu Zeit Nachricht von dem, was ihm zu wissen teuer war und teilte hinwiederum von seinem Leben das Erfreuliche mit. Jedoch von dem Fräulein selbst konnte er nie eine förmliche Zuschrift erhalten, so sehr er darnach strebte; so schwer sie die Zurückhaltung ankam, sie tat es nicht. Nicht nur blieb sie fest auf dem Pfad reiner Gesinnung, sondern sie fing auch an, von der Höhe herab, wohin die Liebe sie gestellt hatte, klarer in die Tiefen des Lebens zu schauen und zu fühlen, daß sie das Gewand der Schicklichkeit, welches die Welt auch um die menschlichsten Handlungen zu werfen gebietet, um keinen Preis von sich legen dürfe. Alles was sie tat war, Suschens Briefen zuweilen den beziehlichen Vers eines Dichters oder eine bloß mit der Seitenzahl bezeichnete Hinweisung auf ein Buch beizufügen, Stellen die freilich deutlich genug sprachen. Das konnte sie denn doch nicht lassen und auf diese Weise nährte sich und wuchs die Liebe, ohne daß sie einander sahen.
Über zwei Jahre waren so hingeschwunden und Gustavs gelehrte Zeit ging zu Ende. Er war zum kräftigen Jüngling gereift, gesund und froh, aber nicht ohne wachsende Besorgnis für seine Liebe, weil seine Geburt mit dem Stande des Fräuleins verglichen ihm immer mehr Schwierigkeiten zeigen mußte. Clotilde, nunmehr in den Gesellschaften der Residenz gebildet, hatte nach und nach die ländlichen Sitten mit den feineren der Stadt vertauscht, ihren Verstand erweitert und dennoch die Güte eines edlen Herzens beibehalten und Würde mit jungfräulicher Einfalt zu paaren gewußt, so daß sie jetzt als eines der vorzüglichsten Wesen der Hauptstadt galt.
Nun kam die Zeit, daß der von seiner lieben Jugend verlassene, seither verstimmt und grämlich gewordene Oberst, es in seiner podagrischen Einsamkeit nicht mehr aushalten mochte und die Reise nach der Schweiz vornahm mit Clotilde und Suschen. Natürlich erfuhr dies Gustav bald, er suchte jetzt auch seinen Aufenthalt desto schneller abzukürzen und wußte vom liebenden Vater die Erlaubnis zum Reisen und mit der Schweiz den Anfang zu machen, ohne Mühe zu erhalten. – Und so trafen die beiden edeln, treuen, zwar durch ihren Stand getrennten, aber durch die mächtigere Natur von Kindheit an vereinigten Seelen wieder zusammen im Rheintal, am Fuße der fernhin glänzenden Alpen des fröhlichen Appenzellerlandes.
Clotilde und ihre Freundin sahen von der Anhöhe bei Grünenstein, wohin sie der Prediger abends spazieren geführt hatte, in der Ferne einen Mann zu Pferde, der immer stärker eilte, je näher er kam und endlich gegen sie mit dem Schnupftuch wie frohlockend winkte.
Es ist Simmenthal, der uns gute Botschaft bringt, sagte die Schweizerin, er hat uns erkannt. – Sie eilten in den Schloßhof hinunter, wo er auch bald hernach hineinsprengte.
Wo sind sie?
Sie kommen. – Mehr brauchte der Prediger nicht zu hören, um schnellen Fußes an die Landstraße den Ersehnten entgegen zu eilen.
Man sah jetzt auch wirklich einen Reisewagen heranrücken, und endlich gegen das Schloß einlenken. Große Freude war unter den Freundinnen; ja sie meinten sogar Simmenthal Dank schuldig zu sein, priesen sein Geschick und nannten ihn einen glücklichen Menschen.
Wer ist denn der Reiter, der so verloren hintennach kommt wie ein Verliebter? fragte Clotilde.
Es ist Gustav, antwortete Simmenthal, ein Freund von Ihrem Hause, den der Oberst in Schaffhausen getroffen. Verliebt mag er wohl sein, setzte er lose hinzu, denn er hatte unterwegs immer was mit Mamsell Suschen zu flüstern, der Bräutigam mag sich in acht nehmen, es ist ein hübscher Junge.
Schäme dich, Leichtfertiger! zürnte die Schweizerin.
Clotilde aber hatte von allem dem nichts gehört als den Namen des Geliebten, da glühte ihr Gesicht von schnellem Erröten und ward plötzlich wieder im Schrecken der unaussprechlichen Überraschung blaß; zum Glück fuhren die Kommenden heran, sie verbarg ihre Verwirrung in der Eile der Annäherung. Gleichwohl war ihre Bewegung dem hellen Auge Simmenthals nicht entgangen, und hierdurch aufmerksam gemacht, blieb es ihm auch nicht verborgen, wie sie schon in der ersten Freude über die Wiedergefundenen, ja selbst während des Oheims Gruß, sich gleichsam unwillkürlich nach Gustav umsah und als dieser sich bescheiden nähernd ihr die Hand küssen wollte und der Oberst in überströmender Gutmütigkeit ausrief: So umarme doch die Gespielin deiner Kindheit! sagte Simmenthal kalt zu seiner Base: Ihr habt mich heute einen glücklichen Menschen geheißen, ich habe in der Tat mehr gefunden als ich suchte, dennoch hatten die Alten recht: Vor dem Tode ist niemand glückselig! – Und mit diesen Worten entfernte er sich; die Schweizerin aber, die nicht wie er gesehen hatte, verstand ihn nicht und achtete bei dem Gewirre der allgemeinen Begrüßung sein Weggehen wenig.
Aber wer will die Wonne des Predigers beschreiben, als er seine so lange vermißte Braut wieder in den Armen hatte, voll Huld und Anmut mehr als jemals? Er hätte sie gern alles auf einmal gefragt, ihr alles auf einmal erzählt, und konnte eben deshalb nicht recht zum Sprechen noch zum Hören kommen, weil sich seine Vorstellungen drängten, wie lebendiges Wasser aus einer sprudelnden Quelle. Ebenso gerne hätte er sie noch an demselben Abend zu seiner neuen Pfarrbehausung, die beinahe völlig fertig war, hingeführt, um ihr alle die gelungenen Anordnungen, wovon seine Briefe gesprochen, nunmehr in gefälliger Wirklichkeit vorzuweisen, denn seine Einbildung beflügelte jetzt die Idee von seinem doppelten Glücke das ihm sein Beruf und die Liebe bereitete. Aber Suschen fand bei allem Liebesgehorsam, daß es damit doch noch Zeit habe bis morgen; jetzt war sie müde von der Reise und wollte sich heute noch im Schlosse einordnen. Auch da hatte sein zärtliches Herz gesorgt, sie war wirklich überrascht als der Bräutigam, der während des Obersten Abwesenheit alles im Hause auf das sorgfältigste und zur Zufriedenheit Clotildens eingerichtet hatte, sie in ein niedliches, mit Schweizerprospekten und Frauenzimmerschriften ausgeziertes oberes Stübchen führte, das, wovon er ein großer Liebhaber war, eine schöne Aussicht gewährte und für sie bis zur Hochzeit bestimmt sein sollte.
Da auch noch die Chanoinesse nebst dem deutschen Arzt und wahrscheinlich der Hauptmann von Appenzell mit seinem Töchterchen erwartet wurde, so mußte der Platz zu Rate gehalten werden und man wollte deswegen für Gustav ein Bett in dem geräumigen Zimmer, das Simmenthal innehatte aufschlagen, allein er bedankte sich dessen und bestand zu einigem Befremden darauf, bei dem Prediger zu wohnen, der seine alte Wohnung auch willig mit ihm teilte.
Jedermann suchte sich nun Zeit und Raum so bequem als möglich zu machen, und nichts hörte der Oberst lieber, als wenn man sich vornahm, diesen kurzen Aufenthalt in dem lieblichen Rheintal in fröhlicher Eintracht, wie ein tägliches Fest zuzubringen. – Wo ist, sagte er gleich morgenden Tages beim Frühmahle auf der Zinne des Schlosses: wo ist das Glück des Lebens? Wer es mit Mühe sucht, der findet es nicht, man muß es schon als gefunden annehmen, was kann uns hindern, meine Lieben, dies zu tun, solange wir noch hier sind, die Gelegenheit zu ergreifen und in teilnehmender Freundschaft uns sorgenlosem Lebensgenusse hinzugeben nach dem Maße der Weisheit, die in uns ist? Laßt uns wenigstens den Versuch machen!
Den jungen Leuten war der Versuch recht, die beiden Freundinnen küßten sich und rückten gemütlich näher gegen Gustav hin, der Prediger und seine Verlobte hatten keine Aufforderung nötig, und der Professor stand lächelnd auf und stopfte sich eine Pfeife um, wie er sagte, mit dem seligen Leben den Anfang zu machen.
Aber schon gestern abend hatte man Simmenthal vermißt, jedoch, da man seine Launen kannte, keiner Besorgnis Platz gegeben. Jetzt fehlte er beim Mittagessen wieder, das brachte schon eine Zögerung in des Obersten Freudenplan, denn er hatte viel auf seinen humoristischen Frohsinn gezählt und mochte ihn gern jederzeit um sich haben. Als er aber auch des Abends nicht zu sehen war, fing man an es unbegreiflich zu finden und die Munterkeit litt darunter.
Nun erinnerte sich die besorgte Schweizerin in der Nacht der Worte, die Simmenthal vor seiner Entfernung zu ihr gesprochen, das machte sie unruhig, sie eilte des Morgens auf sein Zimmer und fand da folgende Verse an die Türe geheftet:
Trost Suchst du Freiheit, suchst du Friede,
Werde nicht des Suchens müde;
Endlich hast du doch die Freude,
Kommt der Tod, zu finden beide!
Erschrocken lief sie damit zu dem Obersten, dem die Sache auch nicht recht gefiel. Der Teufel hol' alle diese eigenen Köpfe, immer bringen sie Störung! rief er im ersten Unmut und hielt dann Rat mit den Freunden, was zu tun wäre?
Warten, bis er wieder kommt, sagte der alte Professor. – Das dünkte die Schweizerin hart, sie fing an zu weinen.
Der Prediger hingegen, mit dem Simmenthal kürzlich über den willkürlichen Ausgang aus dem Leben gestritten hatte, sah die Sache bedenklicher an und gab, durch Gebärden mehr noch als durch Worte, zu verstehen, daß man für die Folgen allzufreier Grundsätze nie Gewähr leisten könne. – Das dünkte die Schweizerin bedenklich, sie fing an zu jammern. Der Oberst tröstete sie und verwies dem Prediger seine Ängstlichkeit, indem man sich ja Gründe genug für das Leben, aber keine für den Tod bei Simmenthal denken könne.
Gustav war bemüht den Eindruck zu beobachten, den dies Ereignis auf Clotilden mache, sie sagte aber gar nichts, nur ihre Miene drückte Besorgnis aus. Diese zu heben, und weil er Simmenthals Weise schon kannte, äußerte er sich, sein plötzliches Verschwinden möge wohl nur die Folge einer Grille sein, die ihm in den Kopf gestiegen, wahrscheinlich werde er bald wiederkommen oder schreiben, wenn es indes die Gesellschaft beruhigen könne, so sei er bereit, auf Erkundigung auszugehen. Dies Anerbieten wurde mit Dank aufgenommen, infolgedessen ließ der Oberst sein Pferd satteln und nachdem man in Erfahrung gebracht hatte, daß Simmenthal auf der Appenzellerstraße gesehen worden, schlug Gustav auch diesen Weg ein.
Die Chanoinesse, die während der warmen, ihrem Nervengebäude so wohltätigen Jahreszeit berühmte Männer und Gegenden in der Schweiz aufgesucht hatte und nunmehr den deutschen Arzt, als ihren erprobten Reisefreund, beständig mit sich führte, ließ nun auch ihre nahe Ankunft auf Grünenstein wissen. Das war dem Obersten nicht unlieb, denn bei aller Verschiedenheit der Denkart behagte ihm doch ihr Weltton, ihr Verstand und ihr tätiges Wissen. Auch der Arzt war ihm sehr willkommen, er ehrte seine Kunst, wenn er ihm nur nicht wieder von seiner Wissenschaft sprach; zwar hatte er sich seitdem über dessen Naturphilosophie in nähere Kenntnis zu setzen gesucht, doch deutlich konnte ihm die Lehre bisher niemand machen: Mein Scharfsinn reicht nicht hin, sprach er, soviel seh' ich wohl, es ist die alte Natur in ein neues mystisches Gewand verhüllt, aber mich deucht immer, man bete nunmehr die Hülle statt der Göttin an.
Den Kommenden wurde Platz im Schloß bereitet, wo man sie jetzt täglich erwartete. So geschah es an einem der ersten Tage, als man sich eben zu Tische setzen wollte, daß eine Kutsche in den Hof rollte: Das ist die Chanoinesse, hieß es. Der Prediger eilte hinab, die Gäste zu empfangen und trat bald darauf mit einem schaubaren, etwas altväterisch geschmückten Frauenzimmer in den Saal. Suschen ging ihr sogleich entgegen, und der Professor trat drei Schritte zurück, es war die Frau Amtsrätin, des Predigers Tante.
Sie wurde wie billig zu Tische geladen und fing dann sogleich, wahrscheinlich um sich durch Rede in Achtung zu setzen, ein Weites und ein Breites von sich und ihrer Reisegeschichte zu sprechen an, und als sie endlich damit bis nach Grünenstein gekommen, äußerte sie sich, da sie in der Pfarrwohnung erfahren, daß ein junger Herr, der zur Gesellschaft gehöre, ihren Platz daselbst eingenommen habe, so möchte sie ihn nicht vertreiben, hingegen den gnädigen Herrn ersuchen, ihr unterweilen ein Plätzchen im Schloß einzuräumen.
Die mag ich nicht! dachte der Oberst sichtbar, sagte es aber doch nicht völlig heraus, weil er sich Suschens erbarmte, die ihn kläglich ansah.
Das wird sich schon machen lassen, fiel Clotilde freundlich ein.
Weiter erzählte die Tante, sie habe, da sie wisse, daß die beiden Fräulein Verse machen, eine junge Base als Gesellschafterin mitgenommen, die eine große Liebhaberin der Dichtkunst und Verfasserin einer Reisebeschreibung sei, die im vorjährigen Taschenkalender gedruckt erschienen.
Gedruckt! – Das flößte doch den Freundinnen, die es noch nicht so weit gebracht hatten, Respekt ein.
Sie sei jetzt gekommen, fuhr die Frau Amtsrätin fort, dem Prediger bei den Anstalten zur Hochzeit und den Einrichtungen des neuen Pfarrhauses beizustehen, und nachher werde es wohl der jungen Frau recht sein, wenn sie auch im Anfange der Haushaltung eine sichere Hilfe an ihr habe, weil dieses Geschäft angehenden Eheleuten gar zu mühsam und ungewohnt vorkomme.
Junge Leute müssen sich selbst helfen, sagte der alte Professor, der Suschens Bestürzung und des Predigers Verlegenheit bemerkte, Mißgriff und Irrtum helfen ihnen, wenn sie dabei nur den guten Willen behalten, sicherer zur Klugheit, als fortdauernde fremde Leitung.
Besonders ungebetene, äußerte der Oberst halblaut.
Hätte ich sie doch nie kommen lassen! seufzte still der Prediger.
Nun war es aber an den Alten; die Sprecherei der Tante hatte ihren Zweck völlig verfehlt. Wer auf eigenen Füßen stehen will, muß dem Gängelband entsagen, wer in die Ehe tritt, soll wissen, was darin zu tun ist, sagte der Oberst, und dazu hilft nur die eigene Erfahrung. Der Mann muß erwerben und die Frau mit dem Erworbenen sparsam haushalten, das ist die ganze Kunst. Sind sie vernünftig und eins, so lernen es die Eheleute von selbst, und sind sie schwach, so verlassen sie sich auf den Beistand und werden nachlässig und auf Nebensachen bedacht. Und seien sie auch wie sie wollen, so taugen zwei Herrinnen nicht lange in einem Hauswesen, es gibt zuletzt immer Händel.
Das wissen auch unsere Bürgersleute recht gut, tat der Professor hinzu. Es ist ein seltener Fall, daß eine Sohnsfrau lange mit der Schwiegermutter hause.
Seht doch einmal wieder die Kundigen! rief die Schweizerin, um dem Gespräche, das die Tante allzusichtlich von ihrem angenommenen Ton herabstimmte, eine andere Wendung zu geben. Seht einmal, man sollte denken, die Herren hätten ein langes Leben in der Ehe zugebracht!
Weder ein langes noch ein langweiliges, versetzte der Oberst und stand auf. Wissen Sie aber nicht, meine Teure, daß der Zuschauer oft das Stück besser beurteilt als der Schauspieler?
Er ging in den Garten, wo man den Kaffee trinken wollte. Wir sind hart gegen die Frau Amtsrätin gewesen, sagte er da zu seinem Freunde.
Sie mußte, antwortete dieser, auf den Weg der Selbsterkenntnis geführt werden, damit sie das neue Paar nicht plage, wer hätte es aber in diesem Falle tun können, als wir? Und was anderes hätte hier geholfen, als ein derbes Wort zur rechten Zeit, gleich anfangs, ehe die Anmaßung noch Platz gewonnen.
Es tut mir gleichwohl leid, daß es unter meinem Dache geschehen, erwiderte der Oberst. – Aber, mein Himmel! was wird aus unserem geträumten Götterleben, aus unserem seligen Nichtstun werden, wenn das so fortgeht? Erst verlieren wir den trefflichen Simmenthal und kriegen dann diese gemeine Frau auf den Hals und sind noch in den ersten Tagen der zwei Monate, die eine günstige Schickung uns gewähren sollte!
Das soll uns nicht stören, antwortete der Professor: Herr von Simmenthal kann wieder kommen und die Tante mag gehen. Übrigens ist es nichts Neues, daß dergleichen Anstalten zu glücklichen Tagen nicht gelingen, auch wenn man alle äußerlichen Mittel dazu bei der Hand hat und selbst nichts anderes will, als unschuldiges Wohlleben, wer wäre sonst glücklicher als die Reichen? Ein Leben herrlich und in Freuden, daran scheint der Himmel kein großes Wohlgefallen zu haben; auch wenn er es etwa einem beschert, so kommt der gewöhnlich unvermerkt und ungesucht dazu, für eine Zeit lang, meist nach vorhergegangenen Entbehrungen und mag sich wohl hüten, es nicht als Zweck des Daseins aufzustellen.
Das will ich auch nicht, ich will kein Schlaraffenleben, sagte der Oberst etwas empfindlich. Ich suche nur in heiterer Unterhaltung mit frohgesinnten Freunden über den Strom der Zeit sanft hinzugleiten, ist das etwas Böses? Das weiß ich wohl, daß man das Glück nicht mit Geld und Gut zu einer Festung machen kann, der kein Feind etwas anhebt; aber einen Waffenstillstand mit der Widerwärtigkeit, nur für zwei Monate, hätte ich doch erhältlich geglaubt.
Glaubt man, versetzte der Professor, sich auch vor dem Feinde von außen bewahrt, so erhebt sich oft Meuterei von innen, und ist der Mensch vor sich selbst nicht sicher, wer wird ihm den Frieden von andern verbürgen?
Wohlan, rief der Oberst, kann man nicht auf Monate zählen ...
Nicht auf Wochen, unterbrach ihn der Professor.
So laßt uns in den Tag hinein leben, fröhlich, harmlos und ohne vorgreifende Pläne, wie der Vogel auf dem Zweige, das soll mir niemand wehren!
Da halte ich mit in Freud und Leid, sagte jener, es ist das einzige wahre Leben. Hat so jeder Tag seine Plage, so hat auch jeder seine Lust, und aus diesen Tagen werden dann schnell Wochen und Monate, wo am Ende eine größere Summe der Freude sich ergibt als des Leides, weil das Böse in gesunder Erinnerung weniger haftet als das Gute.
Es sei so! erwiderte der Oberst. Und was die Sonne des Tages bringt, das stellen wir abends in das Mondenlicht der Betrachtung, denn erst durch sie erhalten die Ereignisse ihre Bedeutung und der Mensch seinen Standpunkt über die Ereignisse, sie ist ein wohltätiger Spiegel des Lebens, sofern wir ihn nicht selbst durch giftigen Hauch trüben. – Wenn wir erst nur Simmenthal wieder hätten, fuhr er fort, er hat eine eigene Brille, mit der er in die Welt schaut, die sich gerade jetzt zu unserem Lebensversuche schicken würde.
Der Professor lächelte, Lebensversuche in unseren Jahren! Gut, daß es niemand hört; sind wir nicht alte Kinder?
Wir sollen es sein! war die Antwort. Wir müssen streben und proben, solange wir leben, sobald der Mensch sein Hauptgut der Untätigkeit weiht, wird er unnütz und bankbrüchig vor der Zeit, das heißt, vor dem Tode, wo wir freilich alle so zum Vorschein kommen werden.
Leider! sagte der Professor. Aber dann doch, fügte er nach einer Pause hinzu, in die Hände eines Gläubigers fallen, der mitleidig ist und sich gern auf Vergleich einläßt, weil er selbst unser Unvermögen auf sich genommen.
Wir enden wieder einmal ernsthaft, was wir scherzend begonnen, sprach lächelnd der Oberst. – Und die beiden Alten verloren sich im Schatten der Bäume.
Clotildens Angelegenheit war es nun, den Oheim von der Frau Amtsrätin zu befreien; dazu war kein anderes Mittel, als ihr Gustavs Wohnung bei dem Prediger einzuräumen und ihn dagegen im Schloß unterzubringen. Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall, wer wollte nicht lieber den Jüngling in der Nähe haben, als jene Frau? Sie selbst schien so etwas zu empfinden, denn sie war zu allem sehr bereitwillig.
Das Fräulein begab sich demnach mit Suschen in des Predigers Wohnhaus um den ihr angelegentlichen Austausch zu beschleunigen, sie wollte sogar selbst Hand ans Werk legen, damit es desto geschwinder gehe. Allein, die rührenden Erinnerungen, die in ihr erwachten, als sie sich so mitten unter den Sachen des Abwesenden befand, waren zu mächtig, sie warf sich auf einen Stuhl und ließ Suschen machen.
Kaum aber hatte diese angefangen, so trat Gustav selbst herein, der von seiner Entdeckungsreise zurückkam und sich nur geschwind umkleiden wollte, um Bericht von seinen Verrichtungen im Schloß abzulegen.
Welch eine beglückende Erscheinung, Clotilden auf seinem Zimmer zu finden! – Sie aber, die seine Rückkehr noch gar nicht vermutet hatte, setzte der Zufall in eine ungewöhnliche Verlegenheit, denn was sollte er von ihr denken? Mußte es nicht eine unwürdige Neugier erscheinen oder sonst ein Mangel an Betragen, da er ihren Beweggrund nicht kennen konnte? – Suschen erklärte ihm zwar alles, er hörte aber gar nicht darauf, sondern freute sich nur der Erscheinung. Das Fräulein selbst wollte sich entschuldigen. Was gehen mich die Beweggründe Clotildens an, unterbrach er sie, sie können nie unedel sein! Ihre Gegenwart ist alles, was ich jetzt zu fassen vermag.
Clotilde war zu sehr überrascht, vor ihr das blühende Gesicht des Geliebten und in ihr das Gefühl, einen unvorsichtigen Schritt getan zu haben. Ihre Knie wankten, sein Arm hielt sie.
Sammeln Sie sich einen Augenblick, gnädiges Fräulein, sagte Suschen und verließ das Zimmer. Clotilde wollte ihr folgen.
Ich bin verlassen, wenn Sie gehen! rief Gustav. – Sie vermochte es nicht.
Unbeschreiblich waren nun die Momente der Liebenden in dem schnellen Annähern und Erfassen der ehemaligen Verhältnisse. Welche süße Wonne stets bewahrter Treue, welch ein lautes und geheimes Wohlgefallen an gewonnener Bildung, welche Erinnerungen nach so langer Zeit, nach so langer Trennung! Augenblicke und Jahre, ein Dasein außer der Zeit und über der Welt.
Suschen war inzwischen mit der Tante und der jungen Base, die nachgekommen waren, um Besitz von Gustavs Zimmer zu nehmen, nach dem neuen Pfarrhause hingegangen, ihnen die Herrlichkeiten ihres künftigen Wohnsitzes zu weisen, sie war höchst vergnügt, dem Anscheine nach einzig über diese Unterhaltung, im Grund aber mehr noch über jene, die sie jetzt den beiden Liebenden, denen sie so treu anhing, verschafft hatte. – Allein bei ihrer Zurückkunft fand sie noch alles im vorigen Stande, das Zimmer nicht ausgeräumt, Gustav noch im Reisegewand und doch war es hohe Zeit zur Wiederkehr ins Schloß, weil daselbst Gesellschaft erwartet wurde und der Oheim sehr pünktlich war. Sie zog das Fräulein mit sich und ermahnte Gustav, sein Zimmer zu leeren und schleunigst nachzukommen.
Die Schnellfüßigen waren bald in Grünenstein, wo der Oberst vor der Tür im Schatten saß, und schon von weitem Ungeduld über ihr langes Ausbleiben zeigte. Entschuldigt euch nur nicht mit euren Entschuldigungen, rief er, als sie näher kamen, ich weiß sie schon lange! Wie kommt es doch, wandte er sich zum Prediger, daß die Weiber kein Maß der Zeit ... Aber Suschen fiel behende mit der Nachricht ein, daß Gustav bald nachkommen werde.
Hat er Kunde von Simmenthal? rief nun der Oberst.
Da stockte aber die Antwort. Suschen in der Beglaubigung, das Fräulein werde es wissen, schwieg und das Fräulein schwieg auch, weil sie nichts wußte, denn zwischen ihr und Gustav war von Simmenthal gar nicht die Rede gewesen, beim ersten Blick und Wort der Liebe war aller Gram des Mißtrauens aus Gustavs Herzen verschwunden, beide hatten ihn und die übrige Welt vergessen.
Die Gesellschaft deutete das Schweigen auf schlimme Botschaft und der Schweizerin kamen Tränen in die Augen. – Er hat uns nichts gesagt, hob endlich Suschen an, aber soviel kann ich versichern, daß auf seinem Gesichte mehr Zufriedenheit als Unmut zu lesen war, wahrscheinlich will er den guten Bericht selbst bringen.
Der Oberst schüttelte den Kopf. – Ehe man aber weiteren Mutmaßungen Raum geben konnte, sah man den Berichterstatter wirklich kommen, worauf sich Clotilde entfernte und Gustav folgendes erzählte:
In Gais habe er bald in Erfahrung gebracht, daß ein Fußgänger, dessen Beschreibung ganz auf Simmenthal paßte, daselbst übernachtet und mit Tagesanbruch den Weg nach St. Gallen eingeschlagen habe; demzufolge sei er denselben Abend noch dorthin geritten, wo er aber aller Nachfrage ungeachtet nichts habe ausfindig machen können. Des Landes unkundig habe er angestanden, wohin er sich nun wenden sollte; zum Glück sei ihm der Bankier des gnädigen Herrn eingefallen, bei dem er sich Rat holen könnte. Dieser habe ihn nach Herisau gewiesen und ihm des folgenden Tags seinen Sohn dahin zum Begleit gegeben. Als aber auch da nichts von dem Freunde zu vernehmen gewesen, haben sie schließen müssen, er sei noch nicht aus dem Lande Appenzell herausgekommen und werde sich wohl im Gebirge aufhalten, weswegen sie sich nach dem Hauptflecken begeben, wo man ihm sogleich sagen konnte, daß ein Reisender, Simmenthals Beschreibung entsprechend, vorgestern angekommen, sogleich auf die benachbarten Höhen gestiegen und mit dem Vorhaben zurückgekommen sei, auch die Schneegebirge zu besuchen; allein ein Fremder, der unterdessen angelangt, müsse ihn davon abwendig gemacht haben. Anfänglich habe es geschienen, als wenn er mit dem Fremden Verdruß hätte, wovon aber die Wirtsleute, weil nur französisch gesprochen wurde, nichts verstanden, jedoch als ein von Simmenthal gekannter Hauptmann aus dem Flecken dazugekommen, sei alles wieder ruhig geworden und früh am folgenden Tag haben die beiden Fremden und der Hauptmann mit ihnen friedlich den nächsten Weg zu Pferde nach dem Rheintal genommen. – Nach diesem, endigte Gustav, habe er kein weiteres Nachforschen mehr für nötig erachtet, in der Meinung, Simmenthal werde vor ihm wieder in Grünenstein sein.
Diese Nachricht beruhigte die Gesellschaft, da sie sich jetzt überzeugte, es sei bloß ein seltsamer Einfall und kein gewaltsamer Entschluß, was Simmenthal zu dieser plötzlichen Entfernung bewogen.
Niemand war froher als die Schweizerin, sie lachte nun selbst ihrer Besorgnisse, hüpfte und sprang, als wenn der liebe Vetter für immer geborgen wäre und Clotilde, die sich auch wieder genähert hatte, nahm an ihrer Freude Anteil.
Gottlob! sprach der seelsorgende Prediger, und Gott sei Dank! hallte es andächtig von der Braut zurück.
Mir ist lieb, daß der Hauptmann dabei ist, bemerkte der Professor. – Mir auch, sagte der Oberst: Aber warum ist er noch nicht da?
Tags darauf langte nun auch die Chanoinesse an, aber sie kam allein und als nach dem deutschen Arzt gefragt wurde, gab sie mit anscheinender Gleichgültigkeit zur Antwort, er halte sich in der Nähe von Feldkirch auf, wo er einen Kranken pflege, der ihm von einem Freunde empfohlen worden. Man hätte das gut sein lassen, allein ihre Kammerjungfer hatte sich nicht enthalten können, dem Bernermädchen Clotildens in der ersten Stunde der Bekanntschaft, um sich bei ihr in Vertrauen zu setzen, ins Ohr zu sagen, daß der Arzt einen Engländer besorge, der von einem Berner Offizier im Duell verwundet worden.
Damit war das Feuer im Dach, wie hätte das Bernermädchen gleichgültig sein können? Sie trug den Druck des Geheimnisses zeigbar auf der Miene so lange, bis das Fräulein sie um die Ursache fragte. Kaum hatte diese den Umstand vernommen, erhielt zwar das Mädchen strengen Befehl, nichts vor der Schweizerin merken zu lassen, sie aber beeilte sich, für ihre Unruhe in Gustavs männlichem Mute Trost zu suchen; selbst beunruhigt fand dieser für gut, sich mit dem Professor zu besprechen und beide kamen überein, daß Gustav sich unverzüglich in das nahe Feldkirch begebe um zu sehen, was an der Sache wäre; mittlerweile sollte alles geheim gehalten, der Oberst nicht vor der Zeit beunruhigt und selbst die Chanoinesse nicht darüber befragt werden, um sie nicht unnötigerweise gegen ihre Jungfer zu reizen.
Allein, wenn in einem Hause fünf Personen, worunter drei vom mitteilsamen Geschlechte, ein Geheimnis mit sich herumtragen, so ist kaum zu vermeiden, daß es nicht auf irgendeine Weise verlaute. So oft der Oberst von seinem lieben Simmenthal sprach und sich wunderte, wo er bleibe, erhielt er nur halbe Antwort, das Bernermädchen, von der Schweizerin über ihre düstere Miene zur Rede gestellt, schwieg bedenklich und die scharfsichtige Chanoinesse merkte bald, daß man ihr aus ihrem eigenen Geheimnis ein Geheimnis mache; kurz, es kam, noch ehe ein Tag um war heraus, daß sich Simmenthal mit einem Engländer geschlagen habe, der nun unter den Händen des deutschen Arztes in Feldkirch liege.
Die Bestürzung war jetzt allgemein, und Gustav wollte sogleich mit einmütiger Zustimmung sich an den Ort hinbegeben, als er folgendes Schreiben von Simmenthal erhielt:
Konstanz, im August
Der Mensch hat oftmals Ahnungen und spricht sie aus, ohne sich ihrer bewußt zu sein, so ging es mir, als ich Dich so unvermutet in Rorschach erblickte und vernahm, daß Du nach Grünenstein zieltest. Wie eine Wolke, die, vor die Sonne tretend, mich in Schatten stellte, kamst Du mir vor, ich achtete aber nicht darauf. Laß Dich nicht gelüsten, rief ich zwar im Scherze, doch konnte ich eine unbestimmte mißtönige Empfindung in Deiner sonst so einklingenden Gegenwart nicht loswerden und wußte nicht warum. In Grünenstein aber wurde es mir nur zu bald klar, ein guter oder ein böser Geist muß mir die Augen geöffnet haben. Was niemand merkte, sah ich mit Gewißheit schon in der ersten Begegnung, ja vorher in ihrem Erblassen, als sie des Kommenden Namen hörte. Du, Du bist der Auserwählte Clotildens und ich, der ich Hoffnung hatte, dem der Oheim so günstig und sie nicht abgeneigt schien, fand mich plötzlich hintangesetzt, unbeachtet –, vernichtet möcht ich sagen, wenn ich es nicht einem Manne zur Schande rechnete, dies Wort, und wär's auch in der schmerzlichen Empfindung getäuschter Liebe, von sich selbst zu brauchen. Wie hätte ich aber zusehen, wie es ertragen können, wenn ihr seelenvoller Blick in Freud und Leid immer auf Dich abgleitet, nur Dich sieht und denkt, wie ich ach! so deutlich und mit all der Schmerzlichkeit wahrnahm, als wenn ich Euch schon monatelang beobachtet hätte.
Ein schneller Entschluß war da der beste, ich mußte fort, fort auf lange Zeit. Hättest Du allein geliebt, hätte ich nicht auch ihre tiefe Leidenschaft gesehen, so wäre ich geblieben und würde es mit Dir aufgenommen haben, allein sie liebt Dich und nur Dich, und diese Liebe, die ihrige, ist es, die ich nicht stören wollte, kann man nicht glücklich, so soll man doch gut sein! – Sie ist Dein, das sah ich, sie gehört Dir; nimm sie, Du Glückseliger! Vielleicht verdienst Du sie besser als ich, Du warst immer ein rühmlicher Junge und ich will Dein Freund bleiben, wenn Du gleich die Blume meiner Hoffnung gepflückt hast. Wirklich glaube ich Dir schon einen Freundschaftsdienst erwiesen zu haben, höre nur:
Mit schwerem Herzen kam ich nach Appenzell, in mich gekehrt und die Welt verachtend. Mein Vorhaben war, den hohen Säntis zu besteigen, um auf dessen höchster Höhe, hinabschauend auf die Nichtigkeit des menschlichen Treibens, mein Gemüt zu erleichtern und mich reinigend zu nähern der Erhabenheit ursprünglicher Einfalt, die uns mit ihrem Frieden in diesen himmelsluftigen Regionen immer ahnungsvoll anspricht. Allein, ich sollte erst noch Krieg haben, ehe ich zum Frieden käme.
Als ich des Morgens nach meiner Flucht in Appenzell ankam, sah ich den Kamor so schön vor mir liegen, daß ich dem Wunsche nach seiner grünen Höhe, oder vielmehr der geheimen Lockung, auf das glückliche Grünenstein noch einmal hinabzuschauen, nicht widerstehen konnte.
Mit zerrissenem Herzen kam ich abends in den Flecken zurück und siehe da, die erste Person, die ich im Wirtshause antraf, war der junge Engländer, den Du in Rorschach niedergeworfen. Er erkannte mich sogleich und kam auf mich zu: Mein Landsmann, sagte er ziemlich barsch, hat seine Ehrensache mit Ihnen beendigt, ich aber nicht mit Ihrem Gefährten. Ich suche ihn auf und habe erfahren, daß er hier in der Nähe ist. Sie müssen es wissen.
Was wollen Sie von ihm?
Er muß sich mit mir schlagen.
Das sollst du wohl bleiben lassen! dachte ich, denn zuerst, wie immer, lag mir Grünenstein im Sinne: Was würde das für Auftritte geben, wenn der Mensch dorthin käme? diese Angst muß ich Clotilden ersparen! – Ich suchte ihm das Vorhaben mit guten Worten auszureden und da er nicht hören wollte und darauf bestand, Deinen Aufenthalt zu wissen, gab ich ihm geringschätzige Antwort und schlug ihm endlich die Art der Aussöhnung vor, die ich mit seinem Landsmanne getroffen, daß er sich für einen Narren erkläre und ich dann in Deinem Namen Bedauern über das Vorgefallene äußern wolle.
Es konnte nicht fehlen, das mußte ihn aufbringen, die edle Reue, womit jener die Ungezogenheit gutgemacht hatte, lag nicht in seinem wilden Sinn. Er gab mir böse Worte, die ich kräftig erwiderte, so daß er nunmehr Genugtuung von mir forderte und das war es auch, was ich haben wollte. Schlagen mußte ich mich für Dich, um der Ruhe des Fräuleins willen, auf daß sie sehe, wie ich sie geliebt habe.
Der Engländer war eilfertig und da es noch lichter Tag war, ließ er sogleich von dem Bedienten ein Besteck bringen, worin zwei Pistolen lagen, von denen er mir eine anbot. Sie seien gut und schon geladen, sagte er.
Ich nahm eine heraus; sie waren schön gearbeitet, ich lobte sie. Haben Sie das Gewehr schon versucht, sagte ich, so will ich es auch prüfen, und da wir am Fenster standen, wies ich ihm die Windfahne auf einem benachbarten Hause: Wenn ich diese treffe, so ist es bewährt. – Auf den Schuß drehte sich das Fähnlein rasselnd herum.
Verdammt! mitten durch! rief er, faßte sich aber gleich und fing an die Pistole wieder zu laden. – Das ist unnötig, sagte ich, ich schlage mich nie auf Pistolen.
Indessen waren einige Nachbarn zugelaufen und in unser Zimmer getreten, um zu sehen, was der Schuß zu bedeuten habe. – Sehen Sie meine Herren, rief ich ihnen entgegen, diese schönen Pistolen, die dem Engländer da gehören, wir haben eine probiert. Die freundliche Anrede gefiel ihnen und die glänzende Gerätschaft zerstreute ihren Ernst.
Schieß auch, ist geladen, sagte der Engländer in gebrochenem Deutsch, indem er das Gewehr vor sie hinrückte. Aber keiner wollte es wagen, die Appenzeller sind vorsichtig, sie geben sich nicht gern ohne Not mit geladenem Feuergewehr ab, ja das Anerbieten machte, daß sie desto eher wieder abzogen. Nur verlangte der Eigentümer noch eine Entschädigung für seine Windfahne, aber die andern lachten ihn aus, du solltest dem Herrn gerade noch danken, rief einer, das Fähnlein war schon seit zwanzig Jahren eingerostet, nun hat er's wieder in Bewegung gebracht.
Aber wie schlagen wir uns denn? hob der Engländer sogleich wieder an, als die Leute weg waren, von den Pistolen sagte er nichts mehr.
Wie Sie wollen, antwortete ich: Die Appenzeller haben jeder seinen Degen oder sein Schwert, ich will dafür sorgen. – Mir fiel der Hauptmann ein, der Freund des Obersten, zu dem ging ich und machte ihn mit mir und dem Notwendigen in Kürze bekannt. Natürlich war dem wackeren Mann, da ich ihm nicht alles sagen durfte, das Vorhaben nicht ganz recht, er kehrte mit mir ins Wirtshaus zurück und wollte Frieden stiften. Allein das ging nicht, der Engländer fand sich zu sehr beleidigt und wollte ein Abenteuer haben, und ich suchte die Beleidigung nicht zu mildern, denn es war bei mir beschlossen, daß er sich mit Dir nicht schlagen sollte. Entweder, dachte ich, nehme ich ihm die Lust dazu, oder er verwundet mich und muß dann die Gegend meiden, so hat Clotilde Ruhe.
Es war nicht Großmut, Ihr tätet mir zuviel Ehre an, wenn Ihr eine Tugend daraus machtet; ich bin auch kein Haudegen, wie Du weißt, wenn schon Euer Professor mich für so etwas halten mag. Es war nicht Gesinnung, sondern Stimmung: Leben und Tod war mir gleichgültig.
Des folgenden Tages
Gestern bin ich so umständlich gewesen wie ein Grandison und schäme mich jetzt beinahe, da ich die Erzählung überlese. Lege es nicht übel aus, Lieber, es war ein trüber Tag und ich bin so allein, meine Wunde ... doch davon weißt Du ja noch nichts, höre nur geduldig weiter, ich will es heute kürzer machen.
Als der Hauptmann sah, daß keine Versöhnung zu bewirken wäre, bestand er darauf, wir sollten über den Rhein gehen, unser Vorhaben auszuführen, denn hier im Lande könnte es ohne großes Aufsehen und nachteilige Folgen nicht geschehen. Die Abrede wurde auf Feldkirch genommen, wohin uns den folgenden Morgen der Hauptmann, vorgeblich um der Nähe willen, im Grund aber um Euch ferne zu bleiben, durch abgelegene Wege führte, so daß wir oft kaum mit den Pferden durchkommen konnten.
Sobald wir über den Rhein waren, sprengte der Engländer, der seine eigenen Pferde hatte, mit dem Bedienten voraus, unsere Appenzeller Rosse gingen ihm zu langsam. Das war mir lieb, denn so mit seinem Feinde zu reisen, ist eine eigene Sache, der Zorn geht, je weiter man kommt, auseinander wie Rauch in den Lüften, man hat zuletzt Mühe, die Glut der Feindschaft nur noch glimmend zu erhalten. Geister des Friedens schienen uns leise zu umschweben, ich mußte ihnen mit Gewalt die Brust verschließen.
Er hatte sich indessen in Feldkirch mit tüchtigen Säbeln versehen und wollte nun sogleich ans Werk gehen, allein der Hauptmann litt das nicht; wenn kein Friede zu erhalten sei, sagte er, so müsse wenigstens das Gefecht in Ordnung geführt werden, er sorgte ihm für einen Sekundanten, der ein kaiserlicher Offizier von seiner Bekanntschaft war.
Nach Tische fuhren wir hinaus und stellten uns in ein Gebüsch am Rhein. Mein Gegner hieb nicht übel um sich und da ich nur darauf bedacht war, ihm eins in den Arm beizubringen, damit er eine Zeitlang das Fechten verlerne, so traf er mich unterdessen in den Schenkel. Das machte mich meine Schonung vergessen und ehe noch die Sekundanten ein Wort sagen konnten, hieb ich ihn über Gesicht und Brust, daß er stürzte.
Ein Wundarzt, der in die Nähe bestellt worden war, eilte ihm zu Hilfe, der Hauptmann blieb bei ihm. Mich führte der Offizier nach Feldkirch zurück, wo ich eilends verbunden und mit einer Postchaise in langsamem Zuge nach Hohenems, und Tages darauf nach Lindau gebracht wurde. Hier ließ ich meine Wunden erst gehörig behandeln und mich dann zu Wasser hierher bringen.
Was aus dem Engländer geworden, weiß ich nicht, tot kann er nicht sein, aber seinen Teil hat er für geraume Zeit. Ich will hier die Nachricht von seinem Befinden abwarten, die mir der Hauptmann zu geben versprochen. Er dauert mich, ich wollte, es wäre anders, wie aber, weiß ich selbst nicht; die Tat reut mich nicht, aber sie tut mir leid. – Mußte ich jedoch nicht so handeln? Die ungeregelte Willkür dieser Tollköpfe ist schon an sich unerträglich, sie achten außerhalb ihres Landes sich alles erlaubt, weil sie alles gering schätzen, wie er denn selbst bei der Herausforderung, der Geschichte in Rorschach gedenkend, mir den Vorwurf machte, die Schweizer wissen nur den Prügel, aber nicht die edleren Waffen zu führen. War es nicht erforderlich, ihn eines Besseren zu belehren und noch dringender, ihn an größerem Unheil zu hindern, wovon er nicht abstehen wollte? Ja, meine Pflicht war es, zu verhüten, daß er Verwirrung in eine glückliche Familie, und Jammer über ein herrliches Mädchen brächte, für welches mein Blut vergossen zu haben, mich jetzt beruhigt.
Mir ist aber, ich höre Euren philosophischen Professor sagen, niemand sei befugt, ohne Beruf sich anders als mit Worten und Werken des Friedens in fremde Händel einzulassen, selbst nicht unter dem Vorwande Unglück zu verhüten, eine solche blutige Einmischung sei ein Eingriff in die Rechte des Schicksals, das den in sein Spiel verworrenen Personen schon eigene Mittel zur Aushilfe zu bereiten wisse, soweit es nötig sei. Ich könnte antworten, daß ich mich sehr berufen gefühlt habe, oder fragen: welches die Grenzen des Berufs seien? Aber meine Antwort würde ihm nicht genügen und die seinige würde ihm schwer fallen, und so mag er lieber recht haben, denn am Ende bin ich auch seiner Meinung und büße jetzt ja für meine Einmischung durch einen Hieb im Schenkel. Ich hätte mir aber noch mehr gefallen lassen, um meinen Zweck zu erreichen.
Die Wunde ist jedoch ohne Folgen, nur wird sie mich noch einige Tage hier festhalten. Komm indessen nicht mich zu besuchen, oder gar mir zu danken, oder was noch schlimmer wäre, mich zu bedauern! Ich vermag Dich in Deinem Glücke nicht zu sehen und zu danken hast Du mir nichts; was ich tat, habe ich für das Fräulein getan, ohne sie hättest Du Dich meinetwegen Deiner Haut selber wehren und mit allen Narren Großbritanniens herumfetzen mögen.
Was ich nun anfangen werde, darum seid unbekümmert. Ich gehe wieder zum Regimente, von dem ich mich Clotilden zu gefallen loszumachen versuchte und bleibe nun ausschließlich in der kriegerischen Laufbahn. Ich habe doch kein Glück bei den Weibern, höchstens vorübergehendes; ich erscheine ihnen launisch, weil ich meinen eigenen Gang gehe, den ich nicht lassen kann; sie fürchten das, vielleicht mit Recht, denn es entspricht nicht der scheinbaren Unterwürfigkeit, die sie von ihren Anbetern verlangen, weil sie meinen, das sei Liebe. – Soviel ist gewiß, daß ich, nachdem mir mein andächtiger Versuch auf Clotilde und damit auf das Glück des häuslichen Lebens mißlungen, nunmehr weiß, wenn auch noch nicht was ich zu tun habe, doch wenigstens was ich lassen soll.
Und somit lebe wohl, glücklicher Gustav, nenne mich Deinen und Clotildens Freund, denn ich habe eine Flut gehemmt, die in die Gefilde Eurer Seligkeit einzubrechen drohte. Ihr wirst Du alles sagen, meine Cousine besänftige, sie wird übel auf mich zu sprechen sein und vielleicht, nach Art mehrerer ihres Geschlechts, etwas von ihrem Unmut auf Dich fallen lassen, wenn sie erfährt, welchen Anteil Du an der Geschichte hast. Den guten Obersten grüße und siehe zu, wie Du Dich mit ihm zurechtfindest, das Fräulein und Suschen vermögen viel über ihn, wenn er es schon nicht glaubt. – Edle Menschen! unvergeßliches Grünenstein!
Gustavs Verlegenheit war jetzt nicht gering, man wußte, daß ein Brief von Simmenthal gekommen und die Freunde alle glaubten sich zu der Erwartung berechtigt, dessen Inhalt zu erfahren; wie hätte er aber entsprechen können? Er erzählte von den Händeln was ihm gut dünkte, aber eben, weil er aus einem Teil des Briefs ein Geheimnis machte, stellte man ihm nur halben Glauben zu und da man nicht den ganzen Verlauf kannte, so wurde gerade das Unratsame beschlossen. Der Oberst drang darauf, daß er nach Feldkirch gehen sollte, um, wo immer möglich, den Verwundeten zu besserer Pflege nach Grünenstein zu bringen, die andern fanden das menschlich gedacht. Nur Clotilde, allein von allem unterrichtet, war um die Hinreise Gustavs bange und suchte ihr Hindernisse in den Weg zu legen, wußte aber nicht wie als zur rechten Stunde der Hauptmann von Appenzell in Grünenstein anlangte.
Dieser berichtete, daß der Engländer auf sein Verlangen nicht nach Feldkirch, sondern in das benachbarte Dorf Sennwald gebracht worden sei, wo nun der deutsche Arzt, den er durch ein glückliches Ungefähr in Feldkirch angetroffen, aus Gefälligkeit dessen Pflege übernommen habe. Der Arzt versichere, daß die Wunde zwar sehr groß, aber nicht tief und somit auch nicht gefährlich sei, nur bedürfe der Verwundete der Ruhe und müsse durch keinen Besuch, am wenigsten von der Bekanntschaft von Rorschach her, gestört und aufgereizt werden.
Der Oberst fluchte über die Händelsucht Simmenthals, die ihm einen neuen Strich durch seine Rechnung auf einen ungestörten Lebensgenuß gemacht, und die Schweizerin war auch nicht wohl auf ihren Vetter zu sprechen, er hatte ihr, wie sie meinte, einen so schönen Plan auf sein eigenes Glück vereitelt. Der Mensch denkt, Gott lenkt, sagte der alte Professor und rauchte unter der Linde seine Pfeife, wenn es ihm zu Hause zu laut wurde. Vorzüglich wirkte der frohe Gleichmut des Hauptmanns und sein genügsamer Sinn, musterhafter als alle Vernunftgründe zur Ertragung dessen, was nicht mehr abgewandt werden konnte.
Der Hauptmann wollte jetzt nach Konstanz zu Simmenthal gehen, blieb aber einige Tage bei den Freunden, denn die Gesellschaft behagte ihm und was auffallend war, der schlichte Mann fand Geschmack an der feinsinnigen Chanoinesse und sie, die sich auf alles verstand, sprach lobpreisend von seiner altschweizerischen Mannhaftigkeit, die mit einer so seltenen Unschuld des Lebens verbunden wäre. Ein Mann, sagte sie einmal, als von ihm die Rede war, ein Mann, der ist wie er sein soll, muß die Eigenschaft des Löwen und der Jungfrau in sich vereinigen. Ein Ausspruch, der die Gesellschaft lebhaft anregte, den Frauen gefiel er, aber der Oberst, der eben nicht viel von Jungfräulichkeit in sich fühlte, zuckte die Achseln und der Professor, solchen weiblichen Aussprüchen über Männer abhold, äußerte trocken: Aus Löwe und Jungfrau haben die Alten den Sphinx gebildet, welche widerartige Bemerkung hingegen der Chanoinesse mißfiel, um so viel mehr, da Suschen, die alles was löblich war und wohl lautete, auf ihren Bräutigam anwandte und, wie es oft geht, ein fremdes Wort mit dem andern verwechselte, denselben umarmend ihren Phönix nannte, worüber der Oberst unmäßig lachte, und so den Ernst der Rednerin noch mehr entweihte.
Übrigens gab dies annähernde Verhältnis zwischen dem Hauptmann und der gelehrten Dame den beiden Alten viel zu schaffen. Gott weiß, sagte nachher der eine, wie eine solche Annäherung zwei so verschiedener Personen statthaben kann? Ist doch der Hauptmann allem fremd, was nicht aus seiner eigensten Natur hervorgeht, und unsere Freundin hat so viel von außen angenommen! – Jeder Mensch hat etwas zu suchen, das ihm abgeht, war die Antwort: findet oder fühlt er das an einem andern, so wird er dadurch angezogen und getrieben es sich anzugleichen, und so entstehen oft die unbegreiflichsten Hinneigungen zweier Ende. – Es kann eine Wahlverwandtschaft sein, bemerkte Gustav, die beiden alten Herren kannten aber das neue Wort nicht, und da sie jetzt nicht in der Stimmung waren, sich von dem Jünglinge belehren zu lassen, so schwiegen sie und der Gegenstand blieb unerörtert.
Die Gesellschaft begleitete den Hauptmann bis Rheineck, wo gerade Jahrmarkt war und ein großer Zusammenfluß von allerlei Volk aus dem Rheintal, Thurgau, Appenzell und Schwaben. Das gefiel dem Obersten sehr; er war bald am Fenster, bald auf der Straße, setzte sich im Wirtshause bald zu dem, bald zu diesem und tat sich was darauf zu gut, die verschiedenen Landsleute aus ihrem Benehmen unterscheiden zu können. Den Geist des Volks, behauptete er, müsse man da kennenlernen, wo es Meister sei, bei Gelagen, Feuersbrünsten, Kirchweihen, Jahrmärkten und dergleichen, nicht in der Kirche, nicht vor der Obrigkeit, überhaupt da nicht, wo man sich anders stellt als man denkt. Nicht einmal an Landsgemeinden, tat der Professor hinzu, denn da ist jeder nur der Vertreter einer Meinung, die er oft selbst nicht versteht, eher noch am Abend eines solchen festlichen Tages, wo nächst dem Gefühle der Freiheit auch der Wein die Herzen aufschließt.
Ein Teil der Freunde, die an der Menschenforschung des Obersten weniger Anteil nahmen, war vor das Städtchen hinausgezogen, um sich in der schönen Gegend umzusehen. Da geschah es, als sie in einer engen Gasse waren, die zu einer weitaussehenden Anhöhe führte, daß plötzlich ein ängstliches Geschrei erscholl, man solle sich retten, fliehen ums Himmel willen! Alles lief, wer noch Zeit hatte, sprang über die Zäune, ohne recht zu wissen, was es gälte. Ein gewaltiger Stier kam brummend daher gerannt; Clotilde und die Schweizerin, die mit Gustav schon zu weit vorgerückt waren, konnten nicht mehr entrinnen, nichts blieb diesem übrig, als sich vor die Frauen hin und dem Tier entgegen zu stellen, was konnte er aber mit seinem Stöckchen ausrichten! Er wurde niedergeworfen, doch der Stier rannte weiter und die Freundinnen, die sich in die Hecken gedrückt hatten, waren der Gefahr entronnen. Der Beschützer aber lag am Boden, zwar hatte er sich durch eine behende Wendung einer gefährlichen Verwundung, doch nicht einem gewaltsamen Sturze entziehen können. Indes erholte er sich bald wieder und fühlte keinen Schmerz, als er die Geliebte gerettet sah und achtete wenig auf das Blut, das ihm übers Gesicht rann, denn die zarten Hände seiner Begleiterinnen wuschen ihn und das Tuch, welches ihm Clotilde über die Stirne band, ging ihm für den edelsten Balsam.
Darüber war viel Volk zusammengelaufen, und das dienstfertige Gerücht hatte bald den Obersten aufgefunden um ihn mit der Nachricht zu erschrecken, daß ein Stier, der auf dem Markte gekauft nach dem Appenzellerland abgeführt werden sollte, sich losgemacht und im Zurücklaufen unter die Spazierenden Unglück gebracht habe, so daß der junge Herr für tot aufgehoben worden sei. – Ehe sich aber noch der arme Hiob, wie der Oberst sich jetzt in der ersten Betroffenheit nannte, in weitere Klagen ergießen konnte, traten schon die Verunglückten, die sich beeilt hatten, dem Gerüchte zuvorzukommen, freudig ins Zimmer: Es ist weiter nichts als ein Loch im Kopf, rief der Verwundete. – Und aller Schrecken verwandelte sich in Freude und Frohlocken, der arme Hiob fühlte sich wieder reich und hatte seine Lust an dem wackeren Gustav, der sich so für die Freundinnen hingegeben. Er mußte sich bei Tische zwischen sie hinsetzen, und sie sollten ihn als ihren Retter bedienen, denn eine leichte Verstauchung, die er erst jetzt empfand, machte ihm den Gebrauch des Armes schwer; sie ließen es auch an treuer Bedienung nicht ermangeln und der drohende Vorfall, der so schonend vorübergegangen, gab allen Herzen Heiterkeit, mehr als wenn ein unbedingtes Glück ihnen zuteil geworden wäre. Man bedauerte nur die Abwesenheit der Chanoinesse, die auch ihren gehaltreichen Beitrag zu diesem Freudenmahle hätte liefern können.
Alles was einen Jahrmarkt verherrlichen hilft, mußte nach dem Willen des Obersten vorgelassen werden, Musikanten, mechanische Kunststücke, und Juden, die taschenspielten; wenn Blinde und Lahme gekommen wären, er hätte sie in diesem frohen Übergang vom Schrecken zur Freude bewirtet. Zuletzt ließ sich gar noch ein Zigeunerweib um Zutritt melden, die den hohen Herrschaften wahrsagen wollte. Dies fand denn doch Bedenken, indes war man nun einmal in guter Stimmung und auf die Äußerung des Hauptmanns, daß er schon merkwürdige Dinge von diesem Weib gehört habe, hieß man sie kommen. Da trat ein gebücktes Mütterchen herein, in ein altes seidenes Kleid gehüllt, an dem die Lappen herunterhingen; aus ihrem verschrumpften gelben Gesichte starrte eine rote Nase, die Augen mit einer grünen Brille bedeckt, die an den Seiten mit schwarzem Tuche verklebt war und unter einer weiten Haube, deren lumpige Spitzen über die Stirne fielen, sträubten sich einige Büschel grauer Haare hervor. Bettelhaft erschien sie, doch nicht unreinlich, man sah, daß sie das Beste ihrer Garderobe auf dem Leibe trug, selbst weiße Handschuhe hatte sie angezogen, aber die Risse deckten ihre lederfarbene Haut nur kärglich.
Mit hohlem Tone wandte sie sich zuerst an den Professor und frug in gebrochenem Deutsch, ob er sich lieber das Vergangene oder das Künftige wolle sagen lassen? Keines von beiden, war die trockene Antwort. Sie verneigte sich komisch. – Gefälliger war der Oberst, der ihr lachend die Hand hinhielt und verlangte, daß sie ihm erst aus der Vergangenheit erzähle um zu sehen, ob sie die Zukunft wisse; allein es fiel ihm doch auf, als sie ihm so manches aus seinem Leben anzudeuten wußte. Als sie aber seine schwache Seite berührte und von seiner Gesundheit sprach, geriet er in sichtbare Verlegenheit, noch mehr als sie hohe Berge zu erblicken vorgab, wo er hinüber müsse –, da wollte er nichts weiter hören und hieß sie das Maul halten, indem er nur die Vergangenheit und nicht die Zukunft zu wissen verlangt habe.
Sind Bräute hier ... eins ... zwei ... tönte sie jetzt langsam, wie mit einer Geisterstimme und tat erst, als wenn sie sich Clotilden nähern wollte, wandte sich aber stracks zu Suschen. Allein Suschen ward bange vor dem Spuk, wahrscheinlich weil sie fand, eine Braut müsse sich die Zukunft nicht trüben lassen und in der Vergangenheit gebe es doch auch mancherlei, das nicht jedem zu wissen nötig sei, zudem hielt es ihr Bräutigam für die Verlobte eines Predigers unanständig, sich wahrsagen zu lassen und verbat sich's ernstlich.
Nun denn, Alte, rief Gustav um der etwas ernst gewordenen Stimmung wieder Munterkeit zu geben, so magst du mir sagen, was sonst niemand wissen will! Er wies ihr seine Hand.
Gutes ist dir in die Hand geschrieben, mein Kind, des Bösen wenig, sprach sie. – Des lachte Gustav, das ist zu allgemein, Weib, das kann jeder sagen!
Glaubst du, ich wisse nichts? fuhr sie ihn kreischend an – dann wieder gelassen: Unglück ist an dir vorübergegangen, einer hat's abgewandt ... Nicht ist mir das Geheimnis deiner Gedanken verborgen, aber muß schweigen ... Hier noch eine Widersache ... Au weh! ... halte fest, kommt Lust und Freude ... es geht ein guter Stern auf, ja ich seh' ihn, er ist nahe. – Damit ergriff sie die Hand des Fräuleins, betrachtete sie eine Weile schweigend, küßte sie dann mit Anstand und legte sie in die Hand Gustavs. Letzteres ging aber sehr schnell und nur wenigen bemerkt zu, ebenso schnell zog die hocherrötende Clotilde ihre Hand zurück und Gustav lachte jetzt nicht mehr.
Gleich darauf trat die Alte in die Mitte des Zimmers, bückte sich mit kreuzweis auf die Brust gelegten Armen zum Abschied und wartete auf ihren Lohn. Es herrschte ein unwillkürliches Schweigen.
Der Oberst warf ihr einen Taler hin: Geh, Hexe! rief er, du kannst mehr als Brot essen. – Im Grunde war ihm die Erscheinung nichts Neues, er hatte schon mehr dergleichen gesehen, und da er sich wieder von der unangenehmen Berührung seiner Persönlichkeit erholt hatte, scherzte er darüber und erzählte ähnliches aus seiner Erfahrung und der Professor aus Büchern, so daß sie jetzt insgesamt bald wundergläubig vom Tisch aufstanden, vieles, wie es der gute Ton mit sich bringt, verlachend, was sie heimlich glaubten.
Der Hauptmann, der weniger als man erwarten dürfen zu diesem Auftritte gesagt hatte, drang nun mehr auf den Abschied und verließ die Freunde mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen; es wurden ihm viele gute Wünsche für Simmenthal mitgegeben. Auch die Gesellschaft begann die Rückkehr, von den heutigen Ereignissen geistig ermuntert, wie wohl man ganz andere Erwartungen mitgebracht hatte, so daß der Professor auch hier sein altes Sprichwort gelten machen konnte.
Die beiden Alten fuhren allein, der Prediger aber setzte sich auf das Pferd Gustavs und überließ diesem, der wegen des Kopfverbandes nicht reiten konnte, den Platz im Wagen bei den Frauen. Groß war nun auch bei ihnen die Sorge um ihren Beschützer, der sich zwar über nichts beklagte, aber doch die Schmerzen, die ihm das Stoßen der Fahrt verursachte, nicht ganz verbergen konnte. Ein schöner junger Mann mit einer Wunde ist ohnehin ein Gegenstand der Rührung für das zarte Geschlecht, und wenn es nun gar im Dienste desselben geschehen, daß er sein Blut vergossen, wie sollten nicht die Dankbaren um die zärtlichste Pflege besorgt sein? Dies machten sich auch die drei Schönen so sehr zur Angelegenheit, daß Tobias dem Obersten, der ihn unterwegs nach dem Befinden Gustavs zu fragen geschickt hatte, die Versicherung zurückbrachte, es wäre unnötig, sich weiter um den jungen Herrn zu erkundigen, denn die Engel dieneten ihm.