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Zur Zeit, da sich alle diese Ereignisse zutrugen, lebte in Jersey City, der weniger geräuschvollen Vorstadt New-Yorks, ein anständiger, ruhiger junger Mann, der den bescheidenen Namen Robert Johnson führte. Wenn ich sage, er lebte da, so ist das mehr eine Redensart, denn er war nur nachts und morgens beim Frühstück dort zu finden. Seine übrige Zeit verbrachte er im Mittelpunkt der Großstadt, auf der andern Seite des Flusses.
Der junge Mr. Johnson war ein Mann von angenehmem Aeußern und freundlichen Umgangsformen, etwa mittelgroß, schlank, wohlgebaut und lebhaft, mit klugem Ausdruck und ein Bild der Gesundheit. Eine blühende Gesichtsfarbe, klare graue Augen und besonders der Schnitt seines braunen Backenbarts deuteten auf europäischen Ursprung, dazu kam noch sein Accent und seine Mundart, die ihn als echten Cockney Londoner Kind. kennzeichneten. Auch suchte Mr. Johnson die Thatsache durchaus nicht zu verhehlen, daß er ein geborener Engländer, ein Londoner Stadtkind sei.
Sein Aufenthalt in dem fremden Lande war noch nicht von langer Dauer. Kaum sechs bis acht Monate vor Anfang dieser Geschichte hatte er sich in England eingeschifft, weil, wie er selbst angab, dort bei dem Druck der stets wachsenden Konkurrenz keine Aussicht auf gedeihliches Vorwärtskommen zu erwarten sei. Er war thatkräftig, voll Unternehmungsgeist und spürte wenig Lust, sein Leben als Kommis am Schreibpult zu verbringen mit einer jährlichen Gehaltsaufbesserung von 10 Pfd. Sterl. So hatte er sich denn von allen verwandtschaftlichen und geschäftlichen Banden losgemacht und war mit einer geringen Geldsumme in der Tasche und dem festen Entschluß, sein Glück zu machen, in dem Hafen von New-York gelandet.
Außer dem Geld und dem Entschluß hatte er aber noch etwas von größerem praktischem Wert mitgebracht, nämlich gute Kenntnisse in der Gravierkunst, – das heißt, nicht in den höheren Zweigen derselben, sondern in ihrer bescheidenen Anwendung, die sich im täglichen Leben von allgemeinem Nutzen erweist. Ein geübter Graveur ist immer gesucht und nach wenigen Wochen fand Robert Johnson schon eine Anstellung in einer Aktiendruckerei und Gravieranstalt in New-York. Hier that er sich bald durch Begabung und Geschicklichkeit in seinem Fach hervor und wurde mit der Oberaufsicht bei Ausführung großer Bestellungen betraut, wodurch er gelegentlich mit den Direktoren der Gesellschaft in Berührung kam, unter denen Oberst Hugo Desmond, ein reicher New-Yorker (an dessen Namen der Leser sich vielleicht erinnert Siehe Seite 33.) der erste war. Zwischen Oberst Desmond und Robert Johnson entstand bald unvermerkt eine Art freundschaftlicher Wertschätzung, wie sie Vorgesetzte und Untergebene für einander hegen; ihr Gespräch erging sich zuweilen auch über Gegenstände, die nicht gerade zur Geschäftsroutine gehörten. Da Oberst Desmond früher in London gelebt hatte, so gewährte es ihm Vergnügen, Johnson über die Veränderungen zu befragen, die sich seit seinem Weggang in der Welthauptstadt zugetragen hatten und besonders auch die daselbst herrschenden politischen Zeitverhältnisse zu besprechen. Johnson schien hierin ebenso wohl bewandert wie in andern Dingen, dabei bekundete er eine selbständige Denkart, die mit den in England verbreiteten politischen Dogmen einigermaßen in Widerspruch stand. Dies erregte des Obersten Aufmerksamkeit und schien ihm nicht zu mißfallen. Die Uebereinstimmung ihrer Ansichten in betreff der damals noch in ihren ersten Anfängen befindlichen irischen Bewegung war besonders bemerkenswert; ja, Johnson schien in dieser Richtung sogar noch weiter gehen zu wollen, als der Oberst selbst; er trat zuweilen mit Anschauungen hervor, welche an Stärke die bekannten Grundsätze der Landliga noch übertrafen. »Ich kenne England,« sagte er einmal, »wo sein Interesse auf dem Spiele steht, läßt es sich weder durch Rücksichten der Moral, noch durch Vernunftgründe beeinflussen. Gewalt ist das einzige Mittel, das zum Ziele führen kann! Man mag gegen die Fenier sagen, was man will, aber sie werden doch in einem Jahr mehr ausrichten, als zehnjährige Debatten und politischer Widerstand im Hause der Gemeinen.« –
»Sie führen seltsame Reden für einen Engländer,« bemerkte der Oberst lächelnd.
»Ich betrachte mich jetzt als Amerikaner,« entgegnete Robert Johnson; »zudem ist meine Mutter eine geborene Irländerin.«
Der Oberst schüttelte noch immer lächelnd den Kopf. »Das Feniertum ist ausgestorben,« sagte er, »und konstitutionelle Maßregeln sind stets die sichersten.«
»Nicht um Sicherheit handelt es sich hier, sondern um Freiheit,« gab der junge Mann zurück. »Ich kenne kein Land, das mit rein konstitutionellen Mitteln das Joch der Unterdrücker abgeschüttelt hat. Amerika gewiß nicht!«
»Amerika ist ein Weltteil, und Irland eine Insel; dreitausend Meilen trennen England von ersterem – von letzterem kaum fünfzig. Das läßt sich nicht vergleichen. Vom abstrakten Standpunkt aus mögen sie recht haben. Ich bin selbst Irländer und liebe England wahrlich nicht – aber die Hoffnungen der Fenier werden sich nie erfüllen. Wer irgend sein eigenes Glück und Wohlergehen in Betracht zieht, wird sich nicht zu ihrer Partei gesellen!«
»Ich liebe Frieden und Behaglichkeit so gut wie einer,« rief Robert Johnson und warf mit der ihm eigenen Bewegung den Kopf in den Nacken, »aber, ich habe nur für mich selbst zu sorgen und wenn man mich aufforderte, in den Fenierbund einzutreten, würde ich große Neigung dazu verspüren.«
»Dann hoffe ich,« entgegnete der Oberst, die Hand freundlich auf des Jünglings Schulter legend, »daß Sie – im Interesse unseres Geschäfts – keine derartige Aufforderung erhalten! Wie dem auch sei, Ihr mutiger Sinn gefällt mir; vielleicht sprechen wir ein andermal weiter darüber.«
Wenn Johnson bei seinen Vorgesetzten in Gunst stand, so war er bei den Leuten in Jersey City nicht weniger beliebt. Er hatte sich in dem oberen Teil der Stadt in einem Privathaus eingemietet, wo er dem Rauch und Schmutz der am Fluß gelegenen, dichter bevölkerten Stadtgegend entrückt war. Das Haus stand in der Friedensallee, einer breiten, schönen, mit schattigen Bäumen besetzten Straße, die zu den Hügeln hinaufführte, und lag etwas abseits vom Wege. Johnson bewohnte zwei Zimmer im ersten Stock, ein Wohnzimmer, das nach der Allee hinausging und ein Schlafzimmer mit der Aussicht auf den Hintergarten. Da ihn seine Arbeit im Geschäft oft bis zur späten Nachtstunde in Anspruch nahm, so hatte er sich einen Hausschlüssel geben lassen und konnte nun kommen und gehen nach Belieben. Durch sein tadelloses Benehmen rechtfertigte der Mieter das Vertrauen, das seine Wirtin hiernach in ihn setzte, vollkommen. Es ließ sich nicht das geringste gegen ihn sagen, außer eben, daß er zuweilen spät nach Hause kam, was sich nicht ändern ließ und nur für ihn selber unbequem war. Daneben besaß er auch sehr positive Vorzüge. Immer fröhlich und guter Laune hatte er für jeden ein freundliches Wort und wußte sich durch seine Geschicklichkeit im ganzen Hause nützlich zu machen. War ein Stuhl zerbrochen, Johnson konnte ihn leimen; tröpfelte die Wasserleitung, so lötete er die schwache Stelle zu; schloß eine Thüre nicht gut, er brachte sie in Ordnung; hatten die Kinder Magenschmerzen, so half seine Arzenei. Den Apfelbaum im Garten verstand er kunstgerecht zu beschneiden, kurz, er erwies sich bei jeder Gelegenheit brauchbar und bereit, allen gefällig zu sein. Obendrein zahlte er auch noch eine anständige Miete und zwar mit der größten Pünktlichkeit. Noch war er kein Vierteljahr im Hause, als ihn seine Wirtin, Frau Pond, schon als ganz zur Familie gehörig betrachtete; sie zählte schon längst ihre silbernen Löffel nicht mehr und ließ ihn, ohne zu murren, so viele Tassen Thee trinken, als er wollte.
Lieschen Pond, die Tochter der Wirtin, ein hübsches siebzehnjähriges Mädchen mit treuherzigen Augen, fröhlich und unbefangen, war (ganz im Geheimen, wie sie dachte,) überzeugt, daß es in der weiten Welt keinen schöneren Mann gäbe, als Robert Johnson, und ihre Mutter (die that, als wisse sie das Geheimnis nicht) ließ sie ganz ruhig bei dem Glauben. – Der Anfang von Mr. Johnsons amerikanischer Laufbahn war entschieden vom Glück begünstigt.
Obgleich der junge Mann, wie er sagte, ganz auf sich selbst gestellt war, und trotzdem er weniger für sein Geburtsland schwärmte, als für das freie Amerika und das unterdrückte Irland, so erhielt er doch jede Woche eine ziemliche Anzahl Briefe, welche den Poststempel London trugen. Fräulein Lieschen betrachtete wohl gelegentlich die Außenseite dieser Briefe und es freute ihre Mädchenseele, daß keine der Adressen von weiblicher Hand herzurühren schien. Johnson sagte, sie kämen von Leuten, mit denen er in der alten Welt in geschäftlicher Verbindung gestanden. Ob er die Zuschriften alle regelmäßig beantwortete, ließ sich nicht feststellen; er trug seine Briefe immer selbst auf die Post, Namen und Adressen seiner Korrespondenten blieben daher unbekannt. War er auch stets offen und freimütig im Umgang, so verstand er doch vortrefflich, sich jede unbequeme Neugier unter schicklichem Vorwand vom Leibe zu halten. Besondere Geheimnisse schien er zwar nicht zu haben, aber wenn er über irgend einen Gegenstand nicht sprechen wollte, so war es unmöglich, ihn dazu zu bringen – bei aller Gutmütigkeit und Leichtlebigkeit that er es eben einfach nicht.
Lieschen Pond war nicht nur hübsch und gefühlvoll, sondern auch eine sehr gebildete junge Dame, da sie nicht nur den gewöhnlichen Schulunterricht genossen hatte, sondern auch viel natürliche Begabung und großen Fleiß besaß. Sie war in der Geographie bewandert und konnte die Grenzen aller Länder auf dem Globus bestimmen, aber auch ein Kleid so geschmackvoll garnieren, wie eine Schneiderin von Profession; sie verstand quadratische Gleichungen auszurechnen und einen Eierkuchen zu backen, der auf der Zunge zerging. Wem es nicht genügte, von ihr das Datum der Schlacht bei Marathon oder des Friedens von Utrecht zu erfahren, dem sang sie » The Sands of Dee« vor, daß ihm die Thränen in die Augen traten. Sie konnte französisch sprechen, noch dazu mit ganz leidlichem Accent, aber wenn einer krank war und lebensmüde, den pflegte sie mit einem Zartgefühl, einer Geduld, daß ihm das Leiden zum Genuß wurde. Auf das alles und noch manches andere verstand sich Lieschen Pond. Ich will nicht behaupten, daß ihresgleichen in Jersey City, oder an anderen Orten der Welt besonders häufig zu finden ist, aber von Zeit zu Zeit kommen solche Mädchen doch vor und dann kann der junge unverheiratete Mann von Glück sagen, der mit ihr zusammentrifft und Eindruck auf sie macht.
Eines Tages erwähnte Oberst Desmond zufällig, daß seine Frau eine Gesellschafterin suche. Robert Johnson, der es hörte, dachte sogleich an Lieschen Pond. Sie schien ihm für die Stelle wie geschaffen; er erzählte daher dem Obersten von ihr und pries ihre Vorzüge, wie es ihm das Herz eingab und er es vor seinem Gewissen verantworten konnte. Der Oberst lieh ihm ein williges Ohr, überlegte sich die Sache und sagte Mr. Johnson, er werde mit seiner Frau über Miß Pond sprechen, das Fräulein thäte am Besten, sich Mrs. Desmond persönlich vorzustellen, damit diese ihren Entschluß fassen könne. Johnson ging bereitwillig auf den Vorschlag ein; als er Lieschen die Sache auseinandersetzte, schreckte sie zwar anfangs vor dem Gedanken zurück, sich so plötzlich in die große Welt hinauszuwagen, wie sie es nannte, aber Robert wußte sie durch seine Gründe so zu überzeugen, daß sie für ihre Person nichts mehr gegen seinen Plan einzuwenden hatte. Nachdem auch ihre Mutter ihre Einwilligung gegeben, wurde der Besuch bei Mrs. Desmond gemacht, und das Ende davon war, daß Lieschen Pond eine Woche später in Oberst Desmonds Haus einzog, zu allgemeiner Befriedigung. Von da ab verbrachte Robert Johnson seine Abende weit häufiger in New-York, als es ihm seine geschäftlichen Obliegenheiten zur Pflicht machten.
Oberst Desmond bewohnte ein großes Eckhaus in einer der vornehmsten Straßen. Schon die prachtvolle Eingangspforte und Vorhalle kennzeichneten es als Besitztum eines New-Yorkers Millionärs. Lieschen fand bei Erfüllung ihrer verschiedenartigen Pflichten Gelegenheit, alle ihre Talente zu üben und anzuwenden, behielt jedoch daneben genügende Zeit zu freier Verfügung.
Mrs. Desmond zeigte sich nachsichtig und rücksichtsvoll und faßte bald eine herzliche Zuneigung zu der jungen Gesellschafterin, die sich ihr auf jede Weise nützlich zu machen suchte. So fühlte sich denn Lieschen, sobald nur das erste Heimweh überwunden war, höchst glücklich in ihrer neuen Umgebung und blickte mit aufrichtiger Bewunderung zu ihrer neuen Herrin empor. Wie schon erwähnt, war Mrs. Desmond eine geborene Französin, noch auffallend schön und stets mit dem feinsten Geschmack gekleidet. Zu dem fesselnden Reiz ihres ganzen Wesens gesellte sich eine große Gutmütigkeit; sie war die liebenswürdigste Wirtin und schwärmte mit wahrer Leidenschaft für Musik. Sie selbst besaß eine herrliche Stimme und treffliche Methode – eine Primadonna hätte sich derselben nicht zu schämen brauchen. Ihre größte Freude war, die besten Opern und Konzerte zu besuchen – New-York kann es ja in musikalischer Hinsicht fast mit jeder Stadt Europas aufnehmen! – Sie erschien da stets in Lieschens Begleitung und das junge Mädchen erhielt hierdurch eine Gelegenheit, Urteil und Geschmack zu bilden, wie sie sonst nur Personen geboten wird, die wenigstens 50 000 Dollars jährliches Einkommen haben. Da überdies die Unterhaltung zwischen ihr und ihrer Herrin meist in französischer Sprache geführt wurde, so war Lieschen auf dem besten Wege, ein wahrer Ausbund von Bildung zu werden.
Oberst Desmond war zwar eine ernste und schweigsame, doch keine unfreundliche Natur; offenbar hegte er aufrichtige Bewunderung für seine schöne Frau und gewährte ihr jeden Wunsch. Dennoch schien es Lieschen bisweilen, als ob sie nicht sein volles Vertrauen besäße. Fragte sie ihn nach seinen Geschäften, so speiste er sie oft mit Redensarten ab, auch las er die zahlreichen Briefe, die er morgens beim Frühstück erhielt, oft schweigend und mit finsterer Miene, ohne etwas über deren Inhalt zu erwähnen. Jede Woche ging er ein- bis zweimal abends aus und kehrte erst in der Frühe des nächsten Morgens zurück. Lieschen hörte ihn dann wohl zu seiner Frau sagen, er sei in der ›Loge‹ gewesen und Mrs. Desmond äußerte, ihr Mann stehe an der Spitze verschiedener Verbindungen, »aber,« fügte sie seufzend hinzu, »von solchen Dingen teilen die Männer uns Frauen ja nichts mit!« – Kurz, eine gewisse Schranke schien zwischen den Eheleuten zu bestehen, aber ob dieselbe auf einem häuslichen Mißverständnis beruhe oder von nicht persönlichen Ursachen herrühre, war Lieschen außer stande zu entscheiden.
Johnson sah Lieschen öfters; ihre Mutter billigte es, daß sie mit Erlaubnis ihrer Herrin kleine Ausflüge mit ihm unternahm. Sie gingen zusammen ins Theater, fuhren nach Cony Island, oder im Dampfboot den Hudson hinauf und mit der Eisenbahn zurück. Sie berichtete ihm ausführlich über ihr neues Leben und er schien nie müde, ihr zuzuhören. Erwähnte sie zufällig des Obersten Thun und Treiben oder eine seiner Aeußerungen, so horchte er mit besonderer Aufmerksamkeit und fragte sie bis ins kleinste aus, so daß sie sich oft darüber wunderte. Zuweilen forderte er sie auch auf, acht zu geben, ob sich nicht dieses oder jenes in dem Haushalt zutrüge, oder gewisse Fragen an ihre Herrin zu stellen und sich die Antworten zu merken. Einige dieser Aufträge waren garnicht nach Lieschens Geschmack, aber wenn sie unschlüssig schien, hatte Robert stets einen Grund bei der Hand, der ihre Zweifel beseitigte.
»Die menschliche Natur,« pflegte er zu sagen, »ist ein wunderliches Ding; sie zu beobachten, ist immer von Nutzen!« – So übte denn Lieschen um Roberts willen ihre Beobachtungskunst und gab auf mancherlei acht, was ihr sonst sicherlich entgangen wäre.
Der Herbst verging; das Danksagungsfest war vorüber, und Weihnachten kam heran. Der erste Feiertag fiel dies Jahr auf einen Dienstag. Am folgenden Freitag Nachmittag rief Oberst Desmond gerade vor Schluß des Geschäfts Johnson zu sich und übergab ihm einen versiegelten Brief. – »Ich wollte Sie bitten, Johnson,« sagte er, »nach meinem Hause zu gehen und Mrs. Desmond dies Billet zu bringen. Ich komme heute erst spät abends heim und es ist von Wichtigkeit, daß meine Frau die Botschaft erhält. – Es wird Ihnen doch nicht unbequem sein?« fügte er lächelnd hinzu, denn die Ergebenheit, welche der junge Mann für Lieschen Pond an den Tag legte, war dem Obersten und seiner Frau kein Geheimnis.
»Die Gelegenheit ist mir höchst willkommen,« gestand Robert offenherzig.
»Schön, je früher Sie hinkommen, desto besser!« entgegnete der Oberst.
Johnson setzte die Pelzmütze auf, zog den Ueberrock an und begab sich auf den Weg, den Brief in der Tasche.
Vom Parkplatz ab benutzte er die Stadtbahn, stieg jedoch nicht in der 33. Straße aus, wie man hätte denken sollen, sondern fuhr weiter bis zur 8. Straße, dort ging er noch einige Häuser weiter und stieg zu einer Barbierstube hinab, die in einem Souterrain lag. Der Eigentümer, ein vierschrötiger Mann, mit schwarzen Augen und Haaren, rasierte eben einen Kunden. Er nickte dem neuen Ankömmling zu und sagte: »Wie geht es dem Kranken?« –
»Besser,« gab Johnson zurück. »Bringe ein Rezept.«
»Offen?« fragte der andere.
»Nein!« –
»Der Meißel ist drinnen,« sagte der Schwarze und schliff das Rasiermesser.
Aus dem Laden gelangte Johnson durch eine Hinterthür in einen dunklen Gang, an dessen Ende eine zweite Thür in ein kleines Zimmer führte, welches sein Licht aus einem innern Hof durch ein am Boden befindliches Fenster erhielt. Johnson zündete die Gasbrenner an, die über einem Tisch in der Wand befestigt waren. Das Zimmer bot nun einen eigentümlichen Anblick. Neben dem Schreibzeug auf dem Tisch lag ein Haufen Formulare zu Telegrammen, ein Adreßbuch von New-York und eines von London. Eine große Karte von England, ein Kalender, verschiedene Fahrtenpläne und ein Büchergestell mit einer Anzahl juristisch aussehender Bücher in kalbsledernem Einband schmückten die Wände. Das Feuer brannte in dem kleinen Ofen, der in einer Zimmerecke stand und der darauf befindliche Kessel begann zu sieden. Drei oder vier starke Stühle, ein großer Koffer in der Ecke und ein verschlossener Schrank in der andern, bildeten das übrige Mobiliar.
Johnson, der hier ganz zu Hause zu sein schien, schob einen Stuhl vor den Ofen und nahm darauf Platz. Dann zog er des Obersten Billet aus der Tasche und hielt es so, daß der Dampf, welcher dem Kessel entströmte, das Siegel des Couverts erweichen mußte. Nach wenigen Minuten klebte der Siegellack nicht mehr und aus dem geöffneten Couvert zog Johnson den Brief des Obersten hervor, den er mit Eifer las. Er war nicht lang, und als der junge Mann geendet, flog ein Schatten der Enttäuschung über sein Gesicht.
In diesem Augenblick ging die Thür auf und der schwarze Barbier trat ein.
»Nun, haben Sie diesmal etwas entdeckt?« fragte er leise.
»Das ist schwer zu sagen,« entgegnete Johnson; »wenn nicht mehr darin ist, als es den Anschein hat, konnte ich die Mühe sparen. Sehen Sie einmal selbst!«
Während er so sprach, reichte er dem Schwarzen den Brief hin, den dieser las und dann nachdenklich das Kinn in die Hand stützte.
»Es sieht zwar ganz unverfänglich aus,« meinte er endlich, »doch weiß ich nicht, warum er so darauf besteht, daß sie es ihm selbst bringt? weshalb vertraut er Ihnen nicht das Ding an, das höchstens zehn Dollars wert ist?« –
»Ich wäre ganz sicher, daß sich dahinter eine Sache von Wichtigkeit verbirgt,« meinte Johnson; »doch ist zweierlei zu bedenken: Erstens hatte er keine Ahnung, daß ich den Brief öffnen würde, sonst hätte er ihn mir nicht gegeben, und ferner kennt sie seine Geheimnisse nicht. Hierüber bin ich ganz sicher unterrichtet.«
»Er glaubt, daß Sie seine Ansichten teilen, nicht wahr?« fragte der Schwarze.
»So sicher, daß er mich in den Bund aufnehmen würde, wenn ich es verlangte.«
»Hat er heute Nacht etwas Besonderes vor?« fragte der andere nach einer Pause.
»Ich habe Grund anzunehmen, daß eine Versammlung stattfinden wird.«
»Es scheint mir kaum ratsam, heute Nacht etwas Entscheidendes zu unternehmen!« sagte der Schwarze nach einigem Nachdenken. »Aber suchen Sie auf jeden Fall zu erfahren, ob sie ihm das Ding hinbringt oder sonst etwas. Bringt sie es ihm, so müssen Sie es im Auge behalten, bis sich die eine oder andere Gelegenheit findet, es zu untersuchen. Das Mädchen hat wohl Bedenken?«
»Ja, aber mir ist's doch lieber, daß sie da ist als irgend ein Schuft. Sie ist sehr aufmerksam und ich kann mich auf alles verlassen, was sie sagt.«
»Schon gut, – aber die Sache dauert bereits eine ganze Weile! Sie sollten endlich einmal etwas Bestimmtes herbeischaffen!«
»Wenn hieraus etwas zu machen ist, so vergeht keine Woche mehr, bis ich etwas Bestimmtes weiß.«
»Hoffentlich! Doch nun ist's Zeit, daß Sie gehen. Ich muß nach dem Laden zurück.«
Der Schwarze verließ das Gemach; Johnson schloß das Couvert wieder mit flüssigem Leim, der sich in einer Flasche auf dem Tisch befand. Niemand hätte ahnen können, daß der Brief geöffnet worden war. Dann begab er sich aus dem Zimmer in die Barbierstube, kehrte nach der Station in der 8. Straße zurück und stand bald vor Oberst Desmonds Haus.
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