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Die steinerne Front des Hauptpolizeiamts von New-York geht nach einer Straße hinaus, die Backsteinseite nach einer anderen. Im Mittelpunkt desselben befindet sich ein viereckiges Zimmer, das sein Licht von dem innern Hof empfängt, den das große Gebäude umgiebt.
Die Einrichtung dieses Zimmers ist fast luxuriös zu nennen. Auf dem dicken dunkelfarbigen Teppich gleitet der Fuß geräuschlos dahin; bei der Machart der Stühle ist weniger auf Prunk als auf äußerste Bequemlichkeit gesehen; die starken Tische, die mit grünem Tuch überzogen sind, haben eine gefällige Form. Kurz, die Nettigkeit und Gemütlichkeit des Gemachs würde angenehm auffallen, wären nur die mächtigen Glaskästen an den Wänden nicht da.
Solcher Kästen giebt es drei; sie reichen vom Boden bis zur Decke hinauf und zeigen dem Eintretenden eine Sammlung der seltsamsten und unzusammenhängendsten Gegenstände. Hier liegen verschiedene Instrumente, die wie stählerne Brechstangen aussehen, dort eine Anzahl Sägen und Kurbeln; daneben hängt ein Bündel Metallknöpfe an merkwürdig verschlungenen Stricken an einem Haken herab und an einer andern Stelle sind Waffen aller Art zu sehen, die zu feindseligem, heimtückischem Gebrauch bestimmt scheinen, vom Dolch des Malayen und dem gefürchteten Messer des Matrosen bis zum Revolver neuester Konstruktion.
Am reichhaltigsten ist die Sammlung an Feuerwaffen: Pistolen, Revolver, Flinten und Büchsen. Es giebt fünf-, sechs-, zehn- und zwölfläufige darunter, auch kurze dicke Dinger von bösartigem Aussehen. – Von den Kartenspielen, die dort aufbewahrt werden, hat jedes seine eigene Geschichte, auch finden sich seltsame schwarze Kappen vor, die über Rahmen gezogen und mit Inschriften versehen sind, des Inhalts, daß der und der an dem und dem Datum in der Kappe gehängt worden. Jeder Gegenstand in dieser grausigen Sammlung trägt seinen Zettel, der ihn mit irgend einem denkwürdigen Verbrechen in Zusammenhang bringt. Dies ist das Verbrecher-Museum von New-York – die große Ausstellung der Künste und Fabrikate der Spitzbubenzunft. Die fluchwürdigen Andenken an die Feinde der Menschheit werden hier aufbewahrt zu dauernder Erinnerung daran, daß das menschliche Geschlecht noch immer das Kainszeichen an der Stirne trägt.
Zur Ergänzung dieser Werkzeuge der Gewaltthätigkeit und Verworfenheit hängen an den Wänden die Bilder der berüchtigtsten Missethäter selbst. Sie zeigen uns Gesichter der verschiedensten Art, die keineswegs alle der landläufigen Vorstellung von Verbrecherphysiognomien entsprechen. Zwar kommt in manchen die rohe, gewaltthätige Gemütsart zum Ausdruck, andere sind verwegen, finster, gefühllos oder von Leidenschaft entstellt, noch andere schlau und verschlagen, gemein oder grausam – viele aber tragen anziehende, ja edle Züge, in denen geistige Begabung zu lesen ist. Wenn sämtlichen Spitzbuben ihre Schurkerei auf dem Gesicht geschrieben stände, wäre auch kaum das Bedürfnis einer Verbrecher-Gallerie vorhanden. Die Bosheit unter der Miene der Redlichkeit ist es, welche die Zivilisation bedroht.
In diesem Gemach – dem Privatbureau der New-Yorker Geheimpolizei – saß am Vormittag des 30. Dezember ein wohlgekleideter, starkgebauter Mann von noch nicht vierzig Jahren. Seine angenehmen Gesichtszüge zeigten eine seltsame Mischung von Offenheit und Undurchdringlichkeit. Für gewöhnlich trug sein Wesen einen zerstreuten Anstrich, unter welchem sich jedoch eine Beobachtungsgabe von außerordentlicher Schärfe und Genauigkeit verbarg. Nach seiner ruhigen Art, seiner verbindlichen Redeweise zu urteilen, hätte man ihn für einen wohlhabenden Geschäftsmann halten können, der irgend eines der zahlreichen Aemter bekleidete, die im Kaufmannsstande zu versehen sind. Statt dessen nahm er einen der wichtigsten, verantwortlichsten Posten ein, welche die Stadt zu vergeben hat, den des Chefs der New-Yorker Geheimpolizei. Der Mann, der hier über einen Haufen Schriftstücke gebeugt am Schreibtisch saß, war Inspektor Byrnes in eigener Person. –
»Herein!« rief er mit voller kräftiger Stimme, als er das Klopfen an der Thüre vernahm; diese öffnete sich und Schleppfuß trat ein.
»Schon wieder da?« fragte der Inspektor und lehnte sich in den Stuhl zurück. »Nun, und was haben Sie über die Sache in der 26. Straße herausgebracht?« –
»Entweder viel – oder nichts!« entgegnete Schleppfuß mit so leiser Stimme, daß es nicht wie die Antwort auf eine Frage klang, sondern weit eher wie ein Selbstgespräch.
»Viel oder nichts!« wiederholte der Inspektor; »was soll das heißen? Das klingt ja ganz rätselhaft.«
»Ich sage viel,« versetzte der andere, »weil der Mord von höchst ungewöhnlichen Umständen begleitet ist, – und nichts – weil so gut wie gar keine Spur vorhanden ist, die zu einem Aufschluß verhelfen könnte.« –
»Welches sind die ungewöhnlichen Umstände?«
»Vor allem, daß Haniers Lebensgeschichte so ganz alltäglich ist und gar keinen Anhalt bietet. So weit ersichtlich, hat der Mann nie einen Feind gehabt, ist offen und ehrlich gewesen in all seinem Thun und Treiben. Für seine Ermordung liegt auch nicht der geringste Beweggrund vor. Fast könnte man glauben, er habe sich selbst umgebracht.«
»Was wissen Sie von seiner Lebensgeschichte?«
Schleppfuß nahm Platz und erzählte dem Inspektor, was ihm Frau Hanier soeben über ihren Mann mitgeteilt. – Louis Hanier stammte aus Frankreich; er war 1842 zu Vendreuil in der Picardie geboren, einem kleinen Dorf in den Ardennen, wo sein Vater den Flachsbau betrieb. Louis erhielt die seinem Stande angemessene Erziehung und wuchs zu einem hübschen, gesunden und stämmigen Knaben heran. Seine einzige Schwester Marie war drei oder vier Jahre jünger als er und galt für ein besonders schönes und kluges Mädchen.
Von 21 Jahren war Louis ein großer schwarzhaariger Bursche mit angenehmen Manieren und besaß mehr Weltkenntnis als andere junge Leute seines Alters, die auf dem Lande aufgewachsen sind. Der Wandertrieb, welcher dem kräftigen Jüngling selten Ruhe läßt, hatte sich seiner bemächtigt; er war schon in Belgien gewesen und hatte das nordöstliche Frankreich bereist. Auf diesen Reisen war er in die Geheimnisse der Liqueurfabrikation eingeweiht worden, die damals noch ausschließlich in den Niederlanden betrieben wurde und hatte sich eine gründliche Kenntnis dieses Industriezweiges angeeignet. Bei dem ungeheuren Verbrauch an Liqueuren in Frankreich hoffte er seine Erfahrungen daheim trefflich verwerten zu können.
Allein er besaß nur geringe Geldmittel und es waren mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden, ehe er soviel beisammen hatte, um ein eigenes Geschäft zu gründen. Nach Ablauf von zwei Jahren war jedoch seine Liqueurfabrik in der Rue Allair-Chartre Nr. 30 zu Paris schon in vollem Betriebe. – Mittlerweile hatte sich bei seiner Schwester Marie eine wundervolle Singstimme entwickelt; einige Musikfreunde nahmen sich ihrer an und bewirkten ihre Aufnahme in das Pariser Conservatoire, wo sie den Unterricht der besten Lehrer genoß. Vier oder fünf Jahre lang widmete sie sich ihren Studien mit großem Eifer und ihr öffentliches Auftreten war von glänzendem Erfolg begleitet, Ihre Zukunft war nunmehr gesichert. Sie nahm ein Engagement in London an, wo sie, wie Frau Hanier glaubte, von einem wohlhabenden Herrn aus guter Familie einen Heiratsantrag erhalten und daraufhin die Bühne mit ihren blendenden Triumphen gegen das behagliche und angenehme Leben eines englischen Hausstandes vertauscht hatte.
Louis' Geschick war zwar nicht so glänzend, aber zuerst auch vom Glück begünstigt. Bald nach dem Weggang seiner Schwester heiratete er die blühende Tochter eines Pariser Fabrikanten. Die Mitgift, die sie ihm einbrachte, leistete ihm bei seinem Geschäft die besten Dienste. Seine Frau war ihm in jeder Beziehung die treueste und willigste Gehilfin. Das Paar sah der Zukunft vertrauensvoll entgegen; es rechnete zuversichtlich darauf, seine Umstände stetig zu verbessern und für die Kinder nach besten Kräften zu sorgen. Um neue Verbindungen anzuknüpfen, zog Hanier nach Brüssel und von da ab begann sein Unstern. Verschiedene kleine Verluste folgten rasch aufeinander, jeder zwar geringfügig an sich, mit den andern zusammengenommen aber doch drückend. Nach zwei Jahren gab Hanier den Kampf auf; sein Geld war größtenteils verloren und er beschloß sein Glück in den Vereinigten Staaten zu versuchen. Er verkaufte den Rest seines Geschäfts so gut er konnte, schiffte sich in Havre ein und landete nach zehntägiger Ueberfahrt in Castle Garden. – Die Schwierigkeiten, welche jeder arme Ausländer, der weder Sitten noch Sprache des neuen Landes kennt, durchzumachen hat, blieben ihm nicht erspart. Für geistige Getränke fehlte es zwar nicht an Absatz in New-York, aber die Fabrikation selbst war kostspielig und er besaß weder Geld noch Kredit. Nach manchem vergeblichem Versuch sich selbstständig niederzulassen, sah er sich endlich genötigt zu dem letzten Hilfsmittel zu greifen und in den Häusern der Reichen eine Anstellung zu suchen, bei welcher ihm seine Kenntnisse wenigstens teilweise zu statten kamen. Er ließ unter Angabe seines Namens und seiner Wohnung ein Gesuch um die Stelle eines Kellermeisters und Tafeldeckers in die Zeitung rücken. Schon Tags darauf wurde er in ein Privathaus der fünften Avenue bestellt und kehrte von seinem Gang dahin in bester Laune zurück. Er habe, so erzählte er seiner Frau, eine Stelle in einer reichen Familie Namens Desmond erhalten. Der Hausherr, Irländer von Geburt, jedoch amerikanischer Bürger, hatte am Kriege teilgenommen, war Mitglied bedeutender politischer Verbindungen der Stadt und lebte jetzt von seinen Renten. Ueber seine Frau, eine Französin, äußerte sich Hanier in geheimnisvollen Andeutungen, daß sie ihm nicht ganz unbekannt sei, da sie bei der musikalischen Ausbildung seiner Schwester beteiligt gewesen. Sie hatte sich, als sie den Namen in der Zeitung gelesen, seiner erinnert und nach ihm geschickt. Ein hoher Lohn war ihm zugesichert und für die Seinigen eine Wohnung in der Nähe von Oberst Desmonds Haus gemietet worden.
Nun kehrte das Glück wieder bei der Familie Hanier ein. Lebten sie auch nicht im Wohlstand wie in jener früheren Zeit, so brauchten sie doch keine Schulden zu machen und konnten alljährlich ein bescheidenes Sümmchen zurücklegen. Louis erfüllte seine Obliegenheiten mit Freuden und war besonders seiner Herrin treu ergeben; sie erwies ihm manche Gunst, manche Freundlichkeit und gab ihm alljährlich zu Weihnachten ein schönes Geschenk. Ihr Leben verfloß ruhig und gleichförmig, es hätte immer so fortgehen können. Da trat aber eine Veränderung ein und zwar ganz plötzlich. Ob Louis von seinem Brodherrn entlassen wurde oder selbst freiwillig die Stelle aufgab, wußte seine Frau nicht mit Bestimmtheit zu versichern. Wahrscheinlich kam es zu einem Wortwechsel zwischen ihm und dem Obersten, der etwas launischer Gemütsart war, worauf dann die Trennung erfolgte. Was aber auch der Grund des Vorgangs gewesen sein mochte – er schlug zum Besten aus. Mit dem Geld, welches Louis erspart hatte und einer Summe, die ihm Mrs. Desmond beim Abschied einhändigte, mietete er das kleine alte Haus in der 26. Straße, das er seit dieser Zeit bewohnte. Viele französische Familien hatten sich in diesem Stadtteil niedergelassen und wandten dem ehrenwerten Landsmann ihre Kundschaft zu. Er richtete den Laden ein und versah ihn mit den Wein- und Liqueursorten, die seinen Kunden am meisten zusagten. Im Keller betrieb er seine Liqueurfabrikation in kleinem Maßstab. So brachte er mit Fleiß und Mäßigkeit sein Geschäft im Lauf einiger Jahre zu gedeihlichem Aufschwung. Seine Frau half ihm getreulich und sorgte für die sechs Kinder; daneben nahmen sie einige achtbare französische Arbeiter als Kostgänger an. Die Weinstube stand in trefflichem Rufe. Hanier hatte es sich stets zur Pflicht gemacht, gemeine und liederliche Leute soviel wie möglich fern zu halten; wüste Trunkenbolde duldete er nie in seinem Lokal. Ueber dieses und ihn selbst hatte die Polizei nur Gutes zu berichten. Sie wurde dort höchstens gebraucht, wenn es galt, den Besitzer gegen etwaige Betrügereien in Schutz zu nehmen, die sich leichtfertige Burschen aus der Nachbarschaft mit ihm erlaubten, weil sie meinten, einem Franzosen dürfe man jeden Possen spielen.
»Und das ist gerade die Sorte,« fiel hier der Inspektor ein, »der man am ersten den Mord zutrauen kann. Sie haben einen Groll auf Hanier geworfen, weil er sie nicht freihalten wollte, und sich zusammengerottet, um es ihm einzutränken.«
»Aber um so geringfügiger Ursache willen wird doch selten ein Mord verübt,« bemerkte Schleppfuß.
»Sie brauchen ja nicht in mörderischer Absicht gekommen zu sein; aber wenn so ein junges leichtsinniges Pack in angetrunkenem Zustand Unfug treiben will und Waffen zur Hand hat, ist ein Unglück da, ehe man sichs versieht! – Aber nun weiter in Ihrem Bericht!« –
»Ein Umstand scheint für Ihre Annahme zu sprechen,« fuhr der andere fort. Gestern Abend gegen 9 Uhr sind drei Taugenichtse in den Laden gekommen und haben die Kasse bestehlen wollen. Hanier hat sie fortgejagt. Sollten sie zurückgekommen sein und ihm den Garaus gemacht haben?«
»Würde Frau Hanier sie wiedererkennen?«
»Nein, sie war nicht zugegen; nur zwei französische Kostgänger haben die Kerle gesehen und das Signalement ist nach ihrer Beschreibung weitertelegraphiert worden.«
»Vielleicht kann das zu etwas führen.« –
»Ist Ihnen sonst nichts aufgefallen?«
»Nicht daß ich wüßte! Nur während ich draußen stand und die Menge vor dem Hause beobachtete, sah ich einen Mann und eine Frau – oder vielmehr einen Herrn und eine Dame auf der Straße stillestehen und das Haus mit gespanntem Interesse betrachten. Die Frau besonders schien dabei ziemlich aufgeregt. Sie gingen aber weiter, ehe ich in ihre Nähe kommen und etwas hören konnte.«
»Wie sahen die beiden aus?« fragte der Inspektor.
»Sie waren so eingemummt, daß ich wenig von ihnen zu sehen bekam. Der Mann hatte buschige Augenbrauen, sein Bart war schon etwas grau, seine Gestalt gerade und hochgewachsen; die Frau war etwa 20 Jahre jünger, blühend und hübsch von Gesicht. Ich würde die Leute wohl wiedererkennen.«
Der Inspektor stützte das Kinn in die Hand und blickte einen Augenblick sinnend nach dem Schreibzeug auf dem Tisch. Dann richtete er sich auf und fragte: »Was für Spuren waren in der Weinstube zu finden?« –
»Kaum nennenswerte. Die Thür war aufgesprengt, Schloß und Krampen abgerissen – was nicht auf Einbrecher schließen läßt. Natürlich war die Geldschublade leer. Merkwürdig ist nur, wie alles umhergeworfen und zertrümmert ist; man sollte meinen, es hätten dort ein paar Tollhäusler herumgewirtschaftet, oder aus dem Käfig entsprungene Affen! Es ist gar kein Sinn und Verstand darin. Nach dem Gelde brauchten sie nicht zu suchen, es lag ihnen dicht vor die Nase. Entweder wollten sie nur Unfug treiben, oder sich an Hanier rächen. – Es ist aber doch geradezu verwunderlich, daß sie ihm erst den Laden zertrümmert haben, um ihm eine Tücke anzuthun, und ihn hinterher umgebracht! Gerade als ob man jemand den Bart scheert, ehe man ihm den Hals abschneidet. Zudem ist der Mord mit Vorbedacht verübt worden. Sie hätten sich unbehelligt aus dem Staube machen können – statt dessen lockten sie den Mann gewissermaßen herbei und schossen ihn tot. – Es ist ein Vexierrätsel, das ich nicht herausbringen kann: Wer das Geld stehlen wollte, hätte den Laden nicht verwüstet; wer den Laden verwüsten wollte, hätte den Besitzer nicht ermordet. – Entweder lag bei der Sache gar kein Grund vor – was nicht wahrscheinlich ist – oder ein viel tieferer Grund, als es für jetzt den Anschein hat.«
»Wieso?« fragte der Inspektor, als der andere hier eine Pause machte.
»Könnten nicht Personen höheren Ranges vorhanden sein, denen daran gelegen wäre, Hanier aus der Welt zu schaffen? Er war Mitglied einiger französischer Gesellschaften, die zwar anscheinend durchaus nicht den Charakter eines Geheimbundes tragen, aber wer weiß ...? Vielleicht ist er den Häuptern dieser Verbindungen lästig gewesen und sie haben Befehl erteilt, sich seiner zu entledigen. Um keinen Argwohn zu erregen, ist das dann auf so unbegreifliche und abenteuerliche Weise ins Werk gesetzt worden. – Sieht das nicht wie eine Art Erklärung aus?« –
»Hm! Und glauben Sie, daß Frau Hanier um solche sozialistische Neigungen ihres Mannes weiß?«
»Ich bin fast sicher, daß Hanier – wenn sich die Sache nämlich überhaupt so verhält, wie ich angenommen – ihr nicht das geringste davon mitgeteilt hat.«
»Aber Sie glauben, daß der Herr und die Dame, die Sie erwähnten, etwas damit zu schaffen haben?«
»Das will ich nicht behaupten, doch darf man in einem Fall, wie der vorliegende, nichts außer acht lassen.«
»Wohl wahr, aber die Einbildungskraft spielt uns leicht auch einen Streich. In unserem Geschäft ist nichts so nützlich, als trockene Thatsachen und gesunder Menschenverstand. Beweggründe darf man nicht immer suchen, weil viele im Drang des Augenblicks ohne Vorbedacht und Ueberlegung handeln. Wollten wir annehmen, daß alles stets regelrecht nach Zweck und Absicht geschieht, wir gerieten leicht auf Irrwege! – Aber weiter – was fanden Sie in der Weinstube? Teilen Sie mir alles genau mit!« –
Schleppfuß begann von Anfang an. Er beschrieb die Lage des Hauses, dieses selbst von außen und von innen, auch den Schauplatz des Mordes bis ins kleinste. Er wiederholte alle Reden, die er gehört, und berichtete nicht nur über das, was klar am Tage lag, sondern auch manche Einzelheit, die an sich unbedeutend, doch in Verbindung mit andern Thatsachen ins Gewicht fallen konnte. Der Mann war offenbar kein Neuling in seinem Beruf. Nichts schien ihm zu entgehen. Als er geendet, nickte der Inspektor beifällig.
»Ihr Bericht ist sehr eingehend,« sagte er, »scheint mir aber durchaus nicht der Annahme zu widersprechen, daß es die That einiger leichtfertigen Individuen war, die mit Diebstahl und Raub anfingen und mit Blutvergießen endeten. Sie sagen, daß die steckbriefliche Verfolgung der drei Burschen, die am Abend die Weinstube betraten, bereits im Gange ist?«
»Ja, nur waren es meiner Ansicht nach vier.«
»Wieso das?« –
»Sie haben sich allem Anschein nach Zeit genommen zu trinken, während sie im Laden rumorten – ich fand vier gebrauchte Schnapsgläser auf dem Tisch. Hanier hatte als ordentlicher Mann gewiß alle Gläser weggestellt, ehe er den Laden schloß.«
»Vielleicht haben sie einen vierten Gefährten mitgebracht und der Branntweinrausch wird wohl bei der ganzen Sache mit im Spiele gewesen sein.«
Schleppfuß war anderer Meinung. Das Geheimnisvolle an der Sache hatte großen Reiz für ihn, dem er sich ungern entzog.
»Wenn es am Ende doch nur ein Mann gewesen wäre,« warf er ein. »Gesehen worden ist nur einer oder vielmehr nur ein Schatten. Er kann ja die vier Gläser hingestellt haben, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu bringen.«
Der Inspektor strich sich lächelnd den Bart. »Wenn Louis Hanier auch ein Franzose war,« sagte er, »hier handelt es sich nicht um einen französischen Roman. Man darf keine natürliche Erklärung verwerfen, bis man sich überzeugt hat, daß sie unrichtig ist, dann erst darf man zu verwickelteren Annahmen schreiten. – Ich denke mir den Sachverhalt ungefähr so: Die Burschen haben den ganzen Abend ihr Unwesen getrieben. Das Geld ist ihnen ausgegangen, sie brauchen mehr. Sie kommen auf den Gedanken, den Franzosen auszuplündern, der sie vor einigen Stunden hinausgejagt. Werkzeuge haben sie nicht bei der Hand; sie sprengen die Thüre, nehmen das Geld, fangen an zu trinken. Der Branntwein steigt ihnen in den Kopf, sie prahlen mit ihren Schurkenstreichen, sie verwüsten und zertrümmern alles. – Plötzlich entsteht oben Lärm – der Franzose kommt! Der Weg der Flucht steht ihnen offen, aber sollen sie vor einem lumpigen Ausländer Reißaus nehmen? Der genossene Branntwein raubt ihnen die Besinnung. Sie wollen ihm erst noch eins auswischen! Und so geschieht es. Louis Hanier war zwar ein Ehrenmann, aber doch hat ihm sein eigener Branntwein das Leben gekostet.«
Obgleich Schleppfuß auf diese einleuchtende Schlußfolgerung wenig zu erwidern hatte, erklärte er sich noch nicht für überwunden. »Wenn sie so sinnlos betrunken waren,« meinte er, »so wundert mich nur, daß sie Verstand genug hatten, sich aus dem Staube zu machen, ohne eine verräterische Spur zu hinterlassen. Wir haben keinerlei Anhalt, um ihre Fährte zu verfolgen.«
»Warum nicht gar!« rief der Inspektor. »Mir ist wenigstens noch nie ein Verbrechen vorgekommen, bei dem nicht irgend ein verdächtiges Anzeichen zurückgeblieben wäre. Nur sind wir nicht immer scharfsinnig genug, es zu bemerken. Das soll kein Tadel für Sie sein,« fuhr er fort, als der andere beschämt zu Boden sah. – »Sie haben Ihre Sache gut gemacht – sehr gut. – Sie werden jedoch zugeben, daß der Mord nicht ganz ohne Werkzeug verübt worden sein kann.«
»Ja, aber sie haben den Revolver mitgenommen.«
»Dafür aber etwas anderes dagelassen.«
Schleppfuß sah fragend auf: »Und das wäre?«
»Die Kugel.«
– »Die Kugel? – Ja, aber –«
»Nun, wo ist sie?«
»In des Toten Brust vermutlich.«
»Das erste ist also, in ihren Besitz zu kommen.«
»Und Sie meinen –«
»Durch die Kugel müssen wir zur Pistole gelangen können.«
Als Schleppfuß schon den Mund zu einer Erwiderung öffnete, wurde er durch ein Klopfen an der Thür unterbrochen. Ein Beamter brachte ein Telegramm und legte es auf den Tisch.
Der Inspektor öffnete das Couvert. Beim Lesen der Depesche zog er die Augenbrauen in die Höhe und stieß einen leisen Pfiff aus.
»Das geht schnell,« sagte er, »sie meinen sie schon zu haben.«
Er reichte Schleppfuß das Telegramm hin, das dieser begierig ergriff. Er las wie folgt:
»John H. Brady 23 Jahr, Geburtsort Vereinigte Staaten, James Doyle 30 Jahr, Geburtsort Vereinigte Staaten, Michael Crogan 23 Jahr, Geburtsort Vereinigte Staaten, festgenommen unter Verdacht des Hanier-Mordes. John H. Brady wiedererkannt.«
»So hatten Sie doch recht,« sagte Schleppfuß seufzend.
»Allem Anschein nach,« lächelte der Inspektor, »und die geheimnisvolle Angelegenheit wäre somit sehr schnell und leicht erledigt. Ein derartiger Erfolg ist jedoch ungewöhnlich; es kann sich immer noch herausstellen, daß ein Irrtum obwaltet.«
Schleppfuß hätte fast gerufen: »Hoffentlich!« Er bezwang sich jedoch rechtzeitig. »Es wird wohl zweckmäßig sein, wenn ich noch einen Rundgang mache,« sagte er.
Der Inspektor nickte zustimmend, worauf der andere seinen Hut ergriff und hinausschlürfte.
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