Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Morgens gegen vier Uhr. Im Wirtshaus sind die Fenster erleuchtet, ein grau-fahler Morgenschein durch den Torweg, der sich ganz allmählich im Laufe des Vorgangs zu einer dunklen Röte entwickelt, die sich dann, ebenso allmählich, in helles Tageslicht auflöst. Unter dem Torweg, auf der Erde, sitzt Beibst (etwa sechzigjährig) und dengelt seine Sense. Wie der Vorhang aufgeht, sieht man kaum mehr als seine Silhouette, die gegen den grauen Morgenhimmel absticht, vernimmt aber das eintönige, ununterbrochene, regelmäßige Aufschlagen des Dengelhammers auf den Dengelamboß. Dieses Geräusch bleibt während einiger Minuten allein hörbar, hierauf die feierliche Morgenstille unterbrochen durch das Geschrei aus dem Wirtshaus abziehender Gäste. Die Wirtshaustür fliegt krachend ins Schloß. Die Lichter in den Fenstern verlöschen. Hundebellen fern, Hähne krähen laut durcheinander. Auf dem Gange vom Wirtshaus her wird eine dunkle Gestalt bemerklich; dieselbe bewegt sich in Zickzacklinien dem Hofe zu; es ist der Bauer Krause, welcher wie immer als letzter Gast das Wirtshaus verlassen hat.
Bauer Krause ist gegen den Gartenzaun getaumelt, klammert sich mit den Händen daran fest und brüllt mit einer etwas näselnden, betrunkenen Stimme nach dem Wirtshaus zurück. 's Gaartla iis mei-ne! ... d'r Kratsch'm iis mei-ne ... du Gostwertlops! Dohie hä! Er macht sich, nachdem er noch einiges Unverständliche gemurmelt und gemurrt hat, vom Zaune los und stürzt in den Hof, wo er glücklich den Sterzen eines Pfluges zu fassen bekommt. 's Gittla iis mei-ne. Er quasselt halb singend. Trink ... ei ... Briederla, trink ... ei ... iederla, Branntw...wwein ... 'acht Kurasche. Dohie hä, – laut brüllend – bien iich nee a hibscher Moan? ... Hoa iich nee a hibsch Weibla dohie hä? ... Hoa iich nee a poar hibsche Madel?
Helene kommt hastig aus dem Hause. Man sieht, sie hat an Kleidern nur umgenommen, soviel in aller Eile ihr möglich gewesen war. Papa! ... lieber Papa!! so komm doch schon. Sie faßt ihn unterm Arm, versucht ihn zu stützen und ins Haus zu ziehen. K-omm doch ... nur ... sch-nell ins Haus, komm doch n-ur sch-nell! Ach!
Bauer Krause hat sich aufgerichtet, versucht gerade zu stehen, bringt mit einiger Mühe und unter Zuhilfenahme beider Hände einen ledernen, strotzenden Geldbeutel aus der Tasche seiner Hose. In dem ein wenig helleren Morgenlichte erkennt man die sehr schäbige Bekleidung des etwa fünfzigjährigen Mannes, die um nichts besser ist als die des allergeringsten Landarbeiters. Er ist im bloßen Kopf, sein graues, spärliches Haar ungekämmt und struppig. Das schmutzige Hemd steht bis auf den Nabel herab weit offen; an einem einzigen gestickten Hosenträger hängt die ehemals gelbe, jetzt schmutzig glänzende, an den Knöcheln zugebundene Lederhose; die nackten Füße stecken in einem Paar gestickter Schlafschuhe, deren Stickerei noch sehr neu zu sein scheint. Jacke und Weste trägt der Bauer nicht, die Hemdärmel sind nicht zugeknöpft. Nachdem er den Geldbeutel glücklich herausgebracht hat, setzt er ihn mit der rechten mehrmals auf die Handfläche der linken Hand, so daß das Geld darin laut klimpert und klingt, dabei fixiert er seine Tochter mit laszivem Blicke. Dohie hä! 's Gald iis mei-neee! hä? Mechst a poar Toalerla?
Helene. Ach, gr-oßer Gott! Sie versucht mehrmals vergebens, ihn mitzuziehen. Bei einem dieser Versuche umarmt er sie mit der Plumpheit eines Gorillas und macht einige unzüchtige Griffe. Helene stößt unterdrückte Hilfeschreie aus. Gl-eich läßt du l-os! Laß l-os! bitte, Papa, ach! Sie weint, schreit dann plötzlich in äußerster Angst, Abscheu und Wut. Tier, Schwein! Sie stößt ihn von sich. Der Bauer fällt langhin auf die Erde. Beibst kommt von seinem Platz unter dem Torweg herbeigehinkt. Helene und Beibst machen sich daran, den Bauer aufzuheben.
Bauer Krause lallt. T-rink, mei Bri'erla, tr...
Der Bauer wird aufgehoben und stürzt, Beibst und Helene mit sich reißend, in das Haus. Einen Augenblick bleibt die Bühne leer. Im Hause hört man Lärm, Türenschlagen. In einem Fenster wird Licht, hierauf Beibst wieder aus dem Hause. Er reißt an seiner Lederhose ein Schwefelholz an, um die kurze Pfeife, welche ihm fast nie aus dem Munde kommt, damit in Brand zu stecken. Als er damit noch beschäftigt ist, schleicht Kahl aus der Haustüre. Er ist in Strümpfen, hat sein Jackett über dem linken Arm hängen und trägt mit der linken Hand seine Schlafschuhe. Mit der rechten hält er seinen Hut, mit dem Munde seinen Hemdkragen. Etwa bis in die Mitte des Hofes gelangt, wendet er sich und sieht das Gesicht des Beibst auf sich gerichtet. Einen Augenblick scheint er unschlüssig, dann bringt er Hut und Hemdkragen in der Linken unter, greift in die Hosentasche und geht auf Beibst zu, dem er etwas in die Hand drückt.
Kahl. Do hot'r an Toaler ... oaber halt't Eure Gusche! Er geht eiligst über den Hof und steigt über den Stachetenzaun rechts. Ab.
Beibst hat mittels eines neuen Streichholzes seine Pfeife angezündet, hinkt bis unter den Torweg, läßt sich nieder und nimmt seine Dengelarbeit von neuem auf. Wieder eine Zeitlang nichts als das eintönige Aufschlagen des Dengelhammers und das Ächzen des alten Mannes, von kurzen Flüchen unterbrochen, wenn ihm etwas bei seiner Arbeit nicht nach Wunsch geht. Es ist um ein beträchtliches heller geworden.
Loth tritt aus der Haustür, steht still, dehnt sich, tut mehrere tiefe Atemzüge. H! ... h! ... Morgenluft! Er geht langsam nach dem Hintergrunde zu bis unter den Torweg. Zu Beibst. Guten Morgen! Schon so früh wach?
Beibst, mißtrauisch aufschielend, unfreundlich. Murja! Kleine Pause, hierauf Beibst, ohne Loths Anwesenheit weiter zu beachten, gleichsam im Zwiegespräch mit seiner Sense, die er mehrmals aufgebracht hin - und herreißt. Krummes Oos! na, werd's glei?! Ekch! Himmeldunnerschlag ja! Er dengelt weiter.
Loth hat sich zwischen die Sterzen eines Exstirpators niedergelassen. Es gibt wohl Heuernte heut?
Beibst, grob. De Äsel giehn eis Hä itzunder.
Loth. Nun, Ihr dengelt doch aber die Sense ...?
Beibst, zur Sense. Ekch! tumme Dare.
Kleine Pause, hierauf
Loth. Wollt Ihr mir nicht sagen, wozu Ihr die Sense scharf macht, wenn doch nicht Heuernte ist?
Beibst. Na – braucht ma ernt keene Sahnse zum Futtermacha?
Loth. Ach so! Futter soll also geschnitten werden.
Beibst. Woas d'n suste?
Loth. Wird das alle Morgen geschnitten?
Beibst. Na! – sool's Viech derhingern?
Loth. Ihr müßt schon 'n bißchen Nachsicht mit mir haben! ich bin eben ein Städter; da kann man nicht alles so genau wissen von der Landwirtschaft.
Beibst. Die Staadter glee – ekch! – de Staadter, die wissa doo glee oal's besser wie de Mensche vum Lande, hä?
Loth. Das trifft bei mir nicht zu. – Könnt Ihr mir nicht vielleicht erklären, was das für ein Instrument ist? Ich hab's wohl schon mal wo gesehen, aber der Name ...
Beibst. Doasjenigte, uf dan Se sitza?! Woas ma su soat Extrabater nennt ma doas.
Loth. Richtig, ein Exstirpator; wird der hier auch gebraucht?
Beibst. Leeder Gootts, nee. – A läßt a verludern ... a ganza Acker, reen verludern läßt a'n, d'r Pauer. A Oarmes mecht' a Fleckla hoann – ei insa Bärta wächst kee Getreide –, oaber nee, lieberscht läßt a'n verludern! – Nischt tit wachsa, ock blußig Seide und Quecka.
Loth. Ja, die kriegt man schon damit heraus. Ich weiß, bei den Ikariern hatte man auch solche Exstirpatoren, um das urbar gemachte Land vollends zu reinigen.
Beibst. Wu sein denn die I ... wie Se glei soan: I ...
Loth. Die Ikarier? In Amerika.
Beibst. Doo gibbt's au schunn asu 'ne Dinger?
Loth. Ja freilich.
Beibst. Woas iis denn doas fer a Vulk: die I ... I ...
Loth. Die Ikarier? – es ist gar kein besonderes Volk; es sind Leute aus allen Nationen, die sich zusammengetan haben; sie besitzen in Amerika ein hübsches Stück Land, das sie gemeinsam bewirtschaften; alle Arbeit und allen Verdienst teilen sie gleichmäßig. Keiner ist arm, es gibt keine Armen unter ihnen.
Beibst, dessen Gesichtsausdruck ein wenig freundlicher geworden war, nimmt bei den letzten Worten Loths wieder das alte mißtrauisch-feindselige Gepräge an; ohne Loth weiter zu beachten, hat er sich neuerdings wieder ganz seiner Arbeit zugewendet, und zwar mit den Eingangsworten. Oast vu enner Sahnse!
Loth, immer noch sitzend, betrachtet den Alten zuerst mit einem ruhigen Lächeln und blickt dann hinaus in den erwachenden Morgen. Durch den Torweg erblickt man weitgedehnte Kleefelder und Wiesenflächen; zwischendurch schlängelt sich ein Bach, dessen Lauf durch Erlen und Weiden verraten wird. Am Horizonte ein einzelner Bergkegel. Allerorten haben die Lerchen eingesetzt, und ihr ununterbrochenes Getriller schallt bald näher, bald ferner her bis in den Gutshof herein. Jetzt erhebt sich Loth mit den Worten. Man muß spazierengehn, der Morgen ist zu prächtig. Er geht durch den Torweg hinaus. – Man hört das Klappen von Holzpantinen. Jemand kommt sehr schnell über die Bodentreppe des Stallgebäudes herunter: es ist Guste.
Guste, eine ziemlich dicke Magd: bloßes Mieder, nackte Arme und Waden, die bloßen Füße in Holzpantinen. Sie trägt eine brennende Laterne. Guda Murja, Voater Beibst.
Beibst brummt.
Guste blickt, die Augen mit der Hand beschattend, durch das Tor Loth nach. Woas iis denn doas fer enner?
Beibst, verärgert. Dar koan Battelleute zum Noarrn hoann ... dar leugt egelganz wie a Forr ... vu dan luuß der de Hucke vuul liega. Beibst steht auf. Macht enk de Roawer zerecht, Madel.
Guste, welche dabei war, ihre Waden am Brunnen abzuwaschen, ist damit fertig und sagt, bevor sie im Innern des Kuhstalls verschwindet. Glei, glei! Voater Beibst.
Loth kommt zurück, gibt Beibst Geld. Da ist 'ne Kleinigkeit. Geld kann man immer brauchen.
Beibst, auftauend, wie umgewandelt, mit aufrichtiger Gutmütigkeit. Ju, ju! do han Se au recht ... na do dank' ich au vielmools. – Se sein wull d'r Besuch zum Schwiegersuhne? Auf einmal sehr gesprächig. Wissa Se: wenn Se und Se wulln da nausgiehn auf a Barch zu, wissa Se, do haaln Se siich links, wissa Se, zängst nunder links, rechts gibt's Risse. Mei Suhn meente, 's käm' dodervoone, meent' a, weil se zu schlecht verzimmern täteh, meent' a, de Barchmoanne, 's soatzt zu wing Luhn, meent' a, und do gieht's ock asu: woas hust de, woas koanst de, ei a Gruba, verstiehn Se. – Sahn Se! – doo! – immer links, rechts gibt's Lecher. Vurigtes Johr erscht iis a Putterweib wie se ging und stoand iis se eis Ardreich versunka, iich wiß nee amool wie-viel Kloaftern tief. Kee Mensch wußte, wuhie – wie gesoat, links, immer links, doo giehn Se sicher.
Ein Schuß fällt, Beibst, wie elektrisiert, hinkt einige Schritt ins Freie.
Loth. Wer schießt denn da schon so frühe?
Beibst. Na, war denn suste? – d'r Junge, dar meschante Junge.
Loth. Welcher Junge denn?
Beibst. Na, Kahl Willem – d'r Nupperschsuhn ... Na woart ock blußig due! Ich hoa's gesahn, a schißt meiner Gitte de Lärcha.
Beibst. Doaß 's Goot erbarm', ja. Droht mit der Faust nach dem Felde. Na woart du! woart du! ...
Loth. Was habt Ihr denn mit dem Bein gemacht?
Beibst. Iich?
Loth. Ja.
Beibst. 's iis asu neikumma.
Loth. Habt Ihr Schmerzen?
Beibst, nach dem Bein greifend. 's zerrt asu, 's zerrt infamt.
Loth. Habt Ihr keinen Arzt?
Beibst. Wissa Se – de Dukter, doas sein Oaffa, enner wie d'r andere! – Blußig inse Dukter, doas iis a tichter Moan.
Loth. Hat er Ihnen was genützt?
Beibst. Na – verlecht a klee wing wull au oam Ende. A hoot mersch Been geknet't: sahn Se, asu geknutscht un gehackt un ... oaber nee!! derwegen nich! – A iis ... na kurz un gutt, a hoot mit'n oarma Mensche a Mitleed: – A keeft'n de Med'zin, und a verlangt nischt. A kimmt zu jeder Zeet ...
Loth. Sie müssen sich das doch aber irgendwo zugezogen haben?! Haben Sie immer so gehinkt?
Beibst. Nich die Oahnung!
Loth. Dann verstehe ich nicht recht, es muß doch eine Ursache ...
Beibst. Weeß iich's? Er droht wieder mit der Faust. Woart ock due! woart ock mit dem Geknackse.
Kahl erscheint innerhalb seines Gartens. Er trägt in der Rechten eine Flinte am Lauf, seine linke Hand ist geschlossen. Ruft herüber. Guten Morjen ooch, Herr Dukter!
Loth geht quer durch den Hof auf ihn zu. Inzwischen hat Guste sowie eine andere Magd mit Namen Liese je eine Radwer zurechtgemacht, worauf Harke und Dunggabel liegen. Damit fahren sie durch den Torweg hinaus aufs Feld, an Beibst vorüber, der nach einigen grimmigen Blicken und verstohlenen Zornesgesten zu Kahl hinüber seine Sense schultert und ihnen nachhumpelt. Beibst und die Mägde ab.
Loth, zu Kahl. Guten Morgen!
Kahl. Wulln S' amol was Hibsches sahn? Er streckt den Arm mit der geschlossenen Hand über den Zaun.
Loth, nähergehend. Was haben Sie denn da?
Kahl. Roota Se! Er öffnet gleich darauf seine Hand.
Loth. Waas?! – es ist also wirklich wahr: Sie schießen Lerchen! Nun für diesen Unfug, Sie nichtsnutziger Bursche, verdienten Sie geohrfeigt zu werden, verstehen Sie mich?! Er kehrt ihm den Rücken zu und geht quer durch den Hof zurück, Beibst und den Mägden nach. Ab.
Kahl starrt Loth einige Augenblicke dumm verblüfft nach, dann ballt er die Faust verstohlen, sagt Dukterluder!, wendet sich und verschwindet rechts. – Während einiger Augenblicke bleibt der Hof leer.
Helene, aus der Haustür tretend, helles Sommerkleid, großer Gartenhut. Sie blickt sich rings um, tut dann einige Schritte auf den Torweg zu, steht still und späht hinaus. Hierauf schlendert sie rechts durch den Hof und biegt in den Weg ein, welcher nach dem Wirtshaus führt. Große Pakete von allerhand Tee hängen zum Trocknen über dem Zaune: daran riecht sie im Vorübergehen. Sie biegt auch Zweige von den Obstbäumen und betrachtet die sehr niedrig hängenden rotwangigen Äpfel. Als sie bemerkt, daß Loth vom Wirtshaus her ihr entgegenkommt, bemächtigt sich ihrer eine noch stärkere Unruhe, so daß sie sich schließlich umwendet und vor Loth her in den Hof zurückgeht. Hier bemerkt sie, daß der Taubenschlag noch geschlossen ist, und begibt sich dorthin durch das kleine Zaunpförtchen des Obstgartens. Noch damit beschäftigt, die Leine, welche, vom Winde getrieben, irgendwo festgehakt ist, herunterzuziehen, wird sie von Loth, der inzwischen herangekommen ist, angeredet.
Loth. Guten Morgen, Fräulein!
Helene. Guten Morgen! – Der Wind hat die Schnur hinaufgejagt.
Loth. Erlauben Sie! Geht ebenfalls durch das Pförtchen, bringt die Schnur herunter und zieht den Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.
Helene. Ich danke sehr.
Loth ist durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber außerhalb des Zaunes und an diesen gelehnt stehen. Helene innerhalb desselben. Nach einer kleinen Pause. Pflegen Sie immer so früh aufzusein, Fräulein?
Helene. Das eben – wollte ich Sie auch fragen.
Loth. Ich –? nein! Die erste Nacht in einem fremden Hause passiert es mir jedoch gewöhnlich.
Helene. Wie ... kommt das?
Loth. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, es hat keinen Zweck.
Helene. Ach, wieso denn nicht?
Loth. Wenigstens keinen ersichtlichen, praktischen Zweck.
Helene. Also wenn Sie irgend etwas tun oder denken, muß es einem praktischen Zweck dienen?
Loth. Ganz recht! Übrigens ...
Helene. Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.
Loth. Was, Fräulein?
Helene. Genau das meinte die Stiefmutter, als sie mir vorgestern den »Werther« aus der Hand riß.
Loth. Das ist ein dummes Buch.
Helene. Sagen Sie das nicht!
Loth. Das sage ich noch mal, Fräulein. Es ist ein Buch für Schwächlinge.
Helene. Das – kann wohl möglich sein.
Loth. Wie kommen Sie gerade auf dieses Buch? Ist es Ihnen denn verständlich?
Helene. Ich hoffe, ich ... zum Teil ganz gewiß. Es beruhigt so, darin zu lesen. Nach einer Pause. Wenn's ein dummes Buch ist, wie Sie sagen, könnten Sie mir etwas Besseres empfehlen?
Loth. Le... lesen Sie ... na! ... kennen Sie den »Kampf um Rom« von Dahn?
Helene. Nein! Das Buch werde ich mir aber nun kaufen. Dient es einem praktischen Zweck?
Loth. Einem vernünftigen Zweck überhaupt. Es malt die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich.
Helene, mit Überzeugung. Das ist schön. Kleine Pause, dann. Vielleicht geben Sie mir Auskunft; man redet so viel von Zola und Ibsen in den Zeitungen: sind das große Dichter?
Loth. Es sind gar keine Dichter, sondern notwendige Übel, Fräulein. Ich bin ehrlich durstig und verlange von der Dichtkunst einen klaren, erfrischenden Trunk. – Ich bin nicht krank. Was Zola und Ibsen bieten, ist Medizin.
Helene, gleichsam unwillkürlich. Ach, dann wäre es doch vielleicht für mich etwas.
Loth, bisher teilweise, jetzt ausschließlich in den Anblick des tauigen Obstgartens vertieft. Es ist prächtig hier. Sehen Sie, wie die Sonne über der Bergkuppe herauskommt. – Viel Äpfel gibt es in Ihrem Garten: eine schöne Ernte.
Helene. Dreiviertel davon wird auch dies Jahr wieder gestohlen werden. Die Armut hierherum ist zu groß.
Loth. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich das Land liebe! Leider wächst mein Weizen zum größten Teile in der Stadt. Aber nun will ich's mal durchgenießen, das Landleben. Unsereiner hat so'n bißchen Sonne und Frische mehr nötig als sonst jemand.
Helene, seufzend. Mehr nötig als ... inwiefern?
Loth. Weil man in einem harten Kampfe steht, dessen Ende man nicht erleben kann.
Helene. Stehen wir anderen nicht in einem solchen Kampfe?
Loth. Nein.
Helene. Aber – in einem Kampfe – stehen wir doch auch?!
Loth. Natürlicherweise! Aber der kann enden.
Helene. Kann – da haben Sie recht! – und wieso kann der nicht endigen – der, den Sie kämpfen, Herr Loth?
Loth. Ihr Kampf, das kann nur ein Kampf sein um persönliches Wohlergehen. Der einzelne kann dies, soweit menschenmöglich, erreichen. Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich glücklich sein, so müßten es erst alle anderen Menschen um mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit noch Armut, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen. Ich könnte mich sozusagen nur als letzter an die Tafel setzen.
Helene, mit Überzeugung. Dann sind Sie ja ein sehr, sehr guter Mensch!
Loth, ein wenig betreten. Verdienst ist weiter nicht dabei, Fräulein, ich bin so veranlagt. Ich muß übrigens sagen, daß mir der Kampf im Interesse des Fortschritts doch große Befriedigung gewährt. Eine Art Glück, die ich weit höher anschlage als die, mit der sich der gemeine Egoist zufriedengibt.
Helene. Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen, die so veranlagt sind. – Es muß ein Glück sein, mit solcher Veranlagung geboren zu sein.
Loth. Geboren wird man wohl auch nicht damit. Man kommt dazu durch die Verkehrtheit unserer Verhältnisse, scheint mir; – nur muß man für das Verkehrte einen Sinn haben: das ist es! Hat man den und leidet man so bewußt unter den verkehrten Verhältnissen, dann wird man mit Notwendigkeit zu dem, was ich bin.
Helene. Wenn ich Sie nur besser ... welche Verhältnisse nennen Sie zum Beispiel verkehrt?
Loth. Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Überflusse leben darf. – Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Krieg zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun, mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden. Dies sind einige unter Millionen, müssen Sie bedenken. Es kostet Mühe, sich durch alle diese Verkehrtheiten hindurchzuringen; man muß früh anfangen.
Helene. Wie sind Sie denn nur so auf alles dies gekommen? Es ist so einfach, und doch kommt man nicht darauf.
Loth. Ich mag wohl durch meinen Entwickelungsgang darauf gekommen sein, durch Gespräche mit Freunden, durch Lektüre, durch eigenes Denken. Hinter die erste Verkehrtheit kam ich als kleiner Junge. Ich log mal sehr stark und bekam dafür die schrecklichsten Prügel von meinem Vater; kurz darauf fuhr ich mit ihm auf der Eisenbahn, und da merkte ich, daß mein Vater auch log und es für ganz selbstverständlich hielt, zu lügen; ich war damals fünf Jahre, und mein Vater sagte dem Schaffner, ich sei noch nicht vier, der freien Fahrt halber, welche Kinder unter vier Jahren genießen. Dann sagte der Lehrer auch mal: Sei fleißig, halt dich brav, dann wird es dir auch unfehlbar gutgehen im Leben. Der Mann lehrte uns eine Verkehrtheit, dahinter kam ich sehr bald. Mein Vater war brav, ehrlich, durch und durch bieder, und ein Schuft, der noch jetzt als reicher Mann lebt, betrog ihn um seine paar tausend Taler. Bei ebendiesem Schuft, der eine große Seifenfabrik besaß, mußte mein Vater sogar, durch die Not getrieben, in Stellung treten.
Helene. Unsereins wagt es gar nicht – wagt es gar nicht, so etwas für verkehrt anzusehen, höchstens ganz im stillen empfindet man es. Man empfindet es oft sogar, und dann – wird einem ganz verzweifelt zumut.
Loth. Ich erinnere mich einer Verkehrtheit, die mir ganz besonders klar als solche vor Augen trat. Bis dahin glaubte ich: der Mord werde unter allen Umständen als ein Verbrechen bestraft; danach wurde mir jedoch klar, daß nur die milderen Formen des Mordes ungesetzlich sind.
Helene. Wie wäre das wohl ...
Loth. Mein Vater war Siedemeister, wir wohnten dicht an der Fabrik, unsere Fenster gingen auf den Fabrikhof. Da sah ich auch noch manches außerdem: Es war ein Arbeiter, der fünf Jahr in der Fabrik gearbeitet hatte. Er fing an, stark zu husten und abzumagern ... ich weiß, wie uns mein Vater bei Tisch erzählte: Burmeister – so hieß der Arbeiter – bekommt die Lungenschwindsucht, wenn er noch länger bei der Seifenfabrikation bleibt. Der Doktor hat es ihm gesagt. – Der Mann hatte acht Kinder, und ausgemergelt, wie er war, konnte er nirgends mehr Arbeit finden. Er mußte also in der Seifenfabrik bleiben, und der Prinzipal tat sich viel darauf zugute, daß er ihn beibehielt. Er kam sich unbedingt äußerst human vor. – Eines Nachmittags, im August, es war eine furchtbare Hitze, da quälte er sich mit einer Karre Kalk über den Fabrikhof. – Ich sah gerade aus dem Fenster, da merke ich, wie er stillsteht – wieder stillsteht, und schließlich schlägt er lang auf die Steine. – Ich lief hinzu. – mein Vater kam, andere Arbeiter kamen, aber er röchelte nur noch, und sein ganzer Mund war voll Blut. Ich half ihn ins Haus tragen. Ein Haufe kalkiger, nach allerhand Chemikalien stinkender Lumpen war er; bevor wir ihn im Hause hatten, war er schon gestorben.
Helene. Ach, schrecklich ist das!
Loth. Kaum acht Tage später zogen wir seine Frau aus dem Fluß, in den die verbrauchte Lauge unserer Fabrik abfloß. – Ja, Fräulein! wenn man dies alles kennt, wie ich es jetzt kenne – glauben Sie mir! –, dann läßt es einem keine Ruhe mehr. Ein einfaches Stückchen Seife, bei dem sich in der Welt sonst niemand etwas denkt, ja, ein paar reingewaschene, gepflegte Hände schon können einen in die bitterste Laune versetzen.
Helene. Ich hab' auch mal so was gesehen. Hu! schrecklich war das, schrecklich!
Loth. Was?
Helene. Der Sohn von einem Arbeitsmann wurde halbtot hier hereingetragen. Es ist nun ... drei Jahre vielleicht ist es her.
Loth. War er verunglückt?
Helene. Ja, drüben im Bärenstollen.
Helene. Ja, die meisten jungen Leute hierherum gehen auf die Grube. – Ein zweiter Sohn desselben Vaters war auch Schlepper und ist auch verunglückt.
Loth. Beide tot?
Helene. Beide tot ... Einmal riß etwas an der Fahrkunst, das andere Mal waren es schlagende Wetter. – Der alte Beibst hat aber noch einen dritten Sohn, der fährt auch seit Ostern ein.
Loth. Was Sie sagen! – hat er nichts dawider?
Helene. Gar nichts, nein! Er ist nur jetzt noch weit mürrischer als früher. Haben Sie ihn nicht schon gesehen?
Loth. Wieso ich?
Helene. Er saß ja heut früh nebenan, unter der Durchfahrt.
Loth. Ach! – wie? ... Er arbeitet hier im Hofe?
Helene. Schon seit Jahren.
Loth. Er hinkt?
Helene. Ziemlich stark sogar.
Loth. Soosoo – was ist ihm denn da passiert, mit dem Bein?
Helene. Das ist 'ne heikle Geschichte. Sie kennen doch den Herrn Kahl? ... da muß ich Ihnen aber ganz nahe kommen. Sein Vater, müssen Sie wissen, war genau so ein Jagdnarr wie er. Er schoß hinter den Handwerksburschen her, die auf den Hof kamen, wenn auch nur in die Luft, um ihnen Schrecken einzujagen. Er war auch sehr jähzornig, wissen Sie; wenn er getrunken hatte, erst recht. Nu hat wohl der Beibst mal gemuckscht – er muckscht gern, wissen Sie –, und da hat der Bauer die Flinte zu packen gekriegt und ihm eine Ladung gegeben. Beibst, wissen Sie, war nämlich früher beim Nachbar Kahl für Kutscher.
Loth. Frevel über Frevel, wohin man hört.
Helene, immer unsicherer und erregter. Ich hab' auch schon manchmal so bei mir gedacht ... sie haben mir alle mitunter schon so furchtbar leid getan –: der alte Beibst und ... Wenn die Bauern so roh und dumm sind wie der – wie der Streckmann, der – läßt seine Knechte hungern und füttert die Hunde mit Konditorzeug. Hier bin ich wie dumm, seit ich aus der Pension zurück bin ... Ich hab' auch mein Päckchen! – aber ich rede ja wohl Unsinn – es interessiert Sie ja gar nicht – Sie lachen mich im stillen bloß aus.
Loth. Aber Fräulein, wie können Sie nur ... weshalb sollte ich Sie denn ...
Helene. Nun, etwa nicht? Sie denken doch: die ist auch nicht besser wie die anderen hier.
Loth. Ich denke von niemand schlecht, Fräulein!
Helene. Das machen Sie mir nicht weis ... nein, nein!
Loth. Aber Fräulein! wann hätte ich Ihnen Veranlassung ...
Helene, nahe am Weinen. Ach, reden Sie doch nicht! Sie verachten uns, verlassen Sie sich drauf: – Sie müssen uns ja doch verachten, – weinerlich – den Schwager mit, mich mit. Mich vor allen Dingen, und dazu, da-zu haben Sie wahr ... wahrhaftig auch Grund. Sie wendet Loth schnell den Rücken und geht, ihrer Bewegung nicht mehr Herr, durch den Obstgarten nach dem Hintergrunde zu ab. Loth tritt durch das Pförtchen und folgt ihr langsam.
Frau Krause, in überladener Morgentoilette, puterrot im Gesicht, aus der Haustür, schreit. Doas Loaster vu Froovulk! Marie! Ma–rie!! unter menn Dache? Weg muuß doas Froovulk! Sie rennt über den Hof und verschwindet in der Stalltür. Frau Spiller, mit Häkelarbeit, erscheint in der Haustür. Im Stalle hört man Schimpfen und Heulen. Frau Krause, die heulende Magd vor sich hertreibend, aus dem Stall. Du Hurenfroovulk du! – die Magd heult stärker – uuf der Stelle naus! Sich deine sieba Sacha z'samma und dann naus!
Helene, mit roten Augen, kommt durch den Torweg, bemerkt die Szene und steht abwartend still.
Die Magd entdeckt Frau Spiller, wirft Schemel und Milchgelte weg und geht wütend auf sie zu. Doas biin iich Ihn schuldig! Doas war iich Ihn eitränka!! Sie rennt schluchzend davon, die Bodentreppe hinauf. Ab.
Helene, zu Frau Krause tretend. Was hat sie denn gemacht?
Frau Krause, grob. Gieht's diich oan, Goans?
Helene, heftig, fast weinend. Ja, mich geht's an.
Frau Spiller, schnell hinzutretend. Mein gnädiges Fräulein, so etwas ist nicht für das Ohr eines jungen Mädchens wie ...
Frau Krause. Worum ock nee goar, Spillern! die iis au nee vu Marzepane. Mit'n Grußknecht zusoammagelahn hot se ei en Bette. Do wißt de's.
Helene, in befehlendem Tone. Die Magd wird aber doch bleiben.
Frau Krause. Weibsstück!
Helene. Gut! dann will ich dem Vater erzählen, daß du mit Kahl Wilhelm die Nächte ebenso verbringst.
Frau Krause schlägt ihr eine Maulschelle. Do hust an Denkzettel!
Helene, todbleich, aber noch fester. Die Magd bleibt aber doch, sonst ... sonst bring' ich's herum! Mit Kahl Wilhelm, du! Dein Vetter ... mein Bräutjam ... Ich bring's herum.
Frau Krause, mit wankender Fassung. Wer koan doas soan?
Helene. Ich! Denn ich hab' ihn heut morgen aus deinem Schlafzimmer ... Schnell ab ins Haus.
Frau Krause, taumelnd, nahe einer Ohnmacht. Frau Spiller mit Riechfläschchen zu ihr.
Frau Spiller. Gnädige Frau, gnädige Frau!
Frau Krause. Sp...illern, die Moad sss...sool dooblein.