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Der gleiche Platz wie im vorhergehenden Akt. Der Kasten mit dem Picknick-Inhalt steht verlassen und unberührt. Die Sonne nähert sich dem Horizont. Es ist nachmittags gegen fünf Uhr.
Sabine, Ludowike und Adelheid kommen von verschiedenen Seiten.
Sabine. Ihr auch nicht? Ich habe sie nicht entdeckt.
Adelheid. Vielleicht ist sie schon längst wieder unten im Hause.
Ludowike. Ich komme eben von unten her. Onkel Gustav patrouilliert fortwährend ums Haus, und ich kann euch versichern, dort ist sie auch nicht.
Adelheid. Am Ende ist sie nach Naumburg zu Tante Emilie hinübergerannt, um Ewald und Tante zu begütigen.
Ludowike. Daß sie das nicht getan hat, dafür bürge ich euch. Denn als Ewald zuletzt sich gegen sie wandte und die letzte lieblose Äußerung tat, da sah ich ihr an . . . das tut sie nun nicht.
Sabine. Agathen ist eben nicht zu trauen. Wenn sie nur nicht etwas anderes, noch Törichteres tut.
Adelheid. Wir wollen jetzt noch einmal gemeinsam hinauf durch den Hohlweg gehn und mal oben durchs obere Pförtchen hinausgucken.
Sabine. Wißt ihr denn, daß Großmama heute ein übriges tut und obendrein noch die Naumburger Stadtkapelle für ein Abendständchen zur Feier des Tages herüberbestellt hat?
Adelheid. Wie wunderlich es so manchmal kommt: ganz anders trotz aller schönsten Aussichten.
Ludowike. Die Kapellentür ist ja verschlossen.
Sabine. Was?
Ludowike. Am Ende sitzt Agathe dadrin. Ich will mich mal leise, leise hinaufschleichen. (Sie tut es und horcht an der Kapellentür. Danach kommt sie einige Stufen wieder herunter und flüstert den Wartenden zu:) Schwestern, es muß jemand drin sein, glaub' ich. Ich habe ein Seidenkleid rascheln gehört.
Sabine. Ja, Kinder, da wollen wir kurzen Prozeß machen! (Sie ersteigt energisch das Treppchen, pocht an die Kapellentür und ruft:) Agathe! Agathe! Du sollst bitte aufmachen! –
Adelheid. Weshalb soll sie denn plötzlich dadrinnen sein?
Sabine. Die Tür ist doch sonst nicht verschlossen, Kind! – Agathe, Agathe, so mach doch auf! Du brauchst uns doch nicht so unnütz beängstigen.
Adelheid. Ich glaube nicht, daß sie drin ist, Sabine.
Ludowike. Ich hab' eben durch ein Astloch gesehen. Sie sitzt drin. Sie sitzt in der linken Ecke. Ganz in den Winkel hineingequetscht.
Sabine (laut, mit gemachter Entschlossenheit). Lauf, Lux, hole den Onkel herauf! Er soll am besten den Gärtner gleich mitbringen. Die Tür muß erbrochen werden, sofort! (Es wird von innen an die Tür gepocht.) Ist jemand hier drin?
Agathens Stimme. Ich bin's.
Sabine. Ach, du.
Agathens Stimme. Bitte tut mir die Liebe und laßt mich in Ruh'.
Sabine. Ja, gewiß! Aber willst du nicht erst mal aufschließen?
Agathens Stimme. Jetzt nicht, Sabine, entschieden nicht.
Sabine. Und ich verlange es ganz entschieden.
Agathens Stimme. Seid ihr alle da?
Sabine. Lux, Adelheid und ich.
Agathens Stimme. Lux und Adelheid sollen weggehen.
Ludowike. Pfui, Agathe, wie häßlich du gegen mich bist! Und ich liebe dich so und bewundere dich so.
Adelheid (zieht Ludowike mit sich). Komm, was soll sie mit deiner Bewunderung anfangen! (Sie und Ludowike ab.)
Sabine (nachdem sie durch heftiges Winken die Schwestern hat forttreiben helfen). Agathe, öffne! wir sind jetzt allein.
Agathens Stimme. Schwörst du mir das?
Sabine. Jawohl. Hörst du, ich schwöre. (Der Schlüssel wird langsam im Schloß herumgedreht, und Agathe, bleich und verweint, erscheint in der Tür.) Aber Mädel, du bist ja wie ausgewunden.
Agathe. Was gibt's denn? Was willst du?
Sabine. Eigentlich nichts. Ich wollte mich eigentlich nur versichern, wo du bist und ob du verständig bist.
Agathe (sehr verweint). Ich weiß gar nicht . . . Ihr ewig mit eurem »verständig«! – Kümmert euch doch, bitte, gar nicht um mich: ich werde den Weg schon alleine finden.
Sabine. Es fragt sich nur, was für ein Weg das ist.
Agathe. Laßt mich! Laßt mich! Ich bitte dich. Sei so gut, beste Sabine, laß mich für mich sorgen. Ich falle keinem Menschen zur Last! Und es geht niemand was an, welchen Weg ich mir aussuche – Mama nach, die auch früh erlöst worden ist.
Sabine. Das kannst du dir alles morgen ausdenken! Komm! Denn morgen ist auch noch ein Tag. Da gibt's wieder frischen Sonnenschein . . .
Agathe. Und Druck und Beklemmung und neue Schmerzen! – Ihr Kinder, ich begreif euch nicht, wie ihr bloß an diesem allen so hängt! Was erwartet ihr denn, was hofft ihr denn? – Die Mühle mahlt einen Tag wie den anderen! Der Tischler sägt, der Bäcker bäckt! Es ist alles so öde! so endlos langweilig! Und ewige Marter, die sinnlos ist.
Sabine. Du marterst dich selber, beste Agathe.
Agathe. Adelheidens Hochzeit mach' ich nicht mit.
Sabine. Dann wirst du zu Tante Emilie gehen?
Agathe. – Nie und nimmermehr gehe ich zu Tante Emilie.
Sabine. Wo willst du denn sonst hin?
Agathe. Frage mich nicht! (Aufwallend.) Ich bin froh, daß es so gekommen ist! Ich bin froh, daß die Menschen sich mir gezeigt haben! Wie sie ohne Maske eigentlich sind! Es ist recht so: ich habe sie nun erkannt! Ich hasse sie alle! Ich hasse sie beide.
Sabine. Meine liebe Agathe, du hast es gewollt! Eigentlich kannst du dich nun darüber nicht wundern.
Agathe. Ich sage dir ja, ich wundere mich nicht. Der eine lügt, und der andere lügt! Und eigentlich hat mich keiner notwendig! Sie können beide ohne mich sein.
Sabine. Ja, die Welt hat unzählige Möglichkeiten.
Agathe. Und Treue und Liebe braucht sie nicht! Was weißt du, wie ich mich zergrübelt habe. Wie habe ich mein Gewissen zermartert! Ich habe bald so, bald so gedacht, um nur ja unbedingt nichts Falsches zu tun! Und nun stehe ich da und bin gänzlich verlassen! – Ich beschwöre dich, daß du niemandem sagst, auch den Schwestern kein Wort, was ich eben geschwatzt habe! Ich kenne mich heute selber nicht! Ich hab' mich verloren und muß mich suchen, und dazu muß ich für mich ganz alleine sein.
Sabine. Agathe, ich habe Sorge um dich.
Agathe. Du brauchst keine Sorge haben, Sabine. Denn eigentlich, wie die Dinge jetzt stehn, so kann ich mich eher zur Klarheit durchringen, zur völligen Unabhängigkeit!
Sabine. Schön, das wäre ja sozusagen mein Fall. Aber komm jetzt mit mir, ich bitte dich.
Agathe. Und ich bitte dich, laß mich allein, Sabine. Ich schwöre dir . . .
Sabine (mit Handschlag). Also du schwörst es mir.
Agathe. Ich schwöre dir, daß ich mich durchkämpfen will und daß ich Torheiten nicht unternehme.
Beide Schwestern küssen sich zur Besiegelung des Versprechens und gehen gemeinsam ab. Nachdem sie verschwunden sind, steigt Grünwald auf den Platz herunter. Er schleicht gegen den Mauerrand vor und bewaffnet das Auge mit seinem Krimstecher. Dem abwechselnd Hindurchspähenden und sich Duckenden merkt man an, daß er die Vorgänge im Hause unten und um das Haus sehnlichst zu ergründen wünscht. Nichts ahnend, das Taschentuch vor dem Munde, kommt Agathe wieder. Sofort hört Grünwald den Schritt, erschrickt und wendet sich um. Beide erkennen einander und stehen wie angewurzelt.
Grünwald. Ich wage kaum, meinen Augen zu trauen.
Agathe (krampfhaft, hilflos). Gehen Sie! Gehen Sie! Lassen Sie mich!
Grünwald. – Nein! In diesem Augenblick darf ich es nicht. Ich sehe Ihnen an, Fräulein Agathe, daß man Sie jetzt nicht allein lassen darf.
Agathe. Im Gegenteil. Gehen Sie! Lassen Sie mich!
Grünwald. Verlangen Sie das nicht, liebste Agathe. Es geht – alles andere beiseitegelassen! ein seltsamer Zufall fügt es so! – gegen meine Pflicht, in diesem Moment! und ich handle nicht übel und unverantwortlich.
Agathe. Gehen Sie! Gehen Sie! Lassen Sie mich!
Grünwald. Ich bitte Sie, mich wenigstens anzuhören: ich beanspruche nichts! ich erwarte nichts! Ich habe mich vollständig abgefunden! Und ich befreie Sie auch sofort von meiner lästigen Gegenwart, doch erst rufen wir eine Ihrer Schwestern.
Agathe. Nein, nein! um des Himmels willen nicht.
Grünwald. Nun, dann werden Sie mich so lange erdulden, Agathe, bis ich weiß, daß Sie wieder in Sicherheit sind und in liebevollen Geschwisterhänden.
Agathe. Auf Erden gibt's solche Hände nicht.
Grünwald. Aber leider, der Himmel bleibt uns verschlossen; und ins Irdische fallen wir immer zurück, solange wir leben und atmen! – O Gott! O Gott! mir ist selber auf einmal so zumut, daß Berg und Tal um mich zu wanken anfangen. Andere in solcher Verfassung stützen zu wollen ist vielleicht wirklich Verwegenheit.
Agathe. Wohin haben Sie mich gebracht, Herr Grünwald, in welchen schrecklichen Zustand hinein!
Grünwald (stürzt vor ihr nieder und faßt ihre Hände). Ja, das hab' ich, und deshalb verfluche ich mich! Verflucht will ich sein! Verflucht! Verflucht! bis ich den letzten Seufzer ausröcheln werde! Schlage mich! Hier! Hier! mir ins Gesicht! Ich kann ja nicht leben ohne dich! Ich kann ja nicht leben, ich kann ja nicht sterben! Erlöse mich doch! Zertritt mich doch!
Agathe (entsetzt, erschüttert). Herr Grünwald, nein! nein! nein! Stehen Sie auf.
Grünwald. Hebe mich auf, denn ich kann nicht aufstehen. (Mit einem tränenerstickten Jauchzen zieht er sie halb herab, halb hebt er sich zu ihr auf – und hängt mit einem langen Kuß plötzlich an ihrem Munde fest.) Agathe!
Agathe (unter Küssen). So lange . . . so lange . . .!
Grünwald. Endlich . . .! endlich! Ach, ich habe mich so gesehnt, so gesehnt nach dir! Meine Seele ist um dies Haus hier geirrt! . . . Oh, ich war so krank! . . . oh, ich war so gebrochen! . . . oh, du hast eine solche furchtbare Macht ausgeübt. Oh, hättest du nur das durchgemacht: auf dem Schiff: eine Möwe flog hinter uns her. Ich dachte, das ist ihre treue Seele. Sie wandert mit mir über Land und Meer. Oh, ich habe dein Bildchen angebetet. Ich habe es zu meinem Gotte gemacht. Ich lebte ja nur von meinem Gott. Hier, hier auf der Brust trage ich deinen Handschuh. Ich stand mit ihm auf, ging mit ihm zu Bett! Ich konnte kein Weib sehen! ich haßte sie alle. Sie widerten mich wie freche, höhnische Fratzen an, um mir deinen Verlust tausendfach qualvoll zu machen. Oh, hättest du so etwas je gefühlt.
Agathe. Ach, ich hab' es gefühlt.
Grünwald. Niemals, Liebste, nimmer! Denn ich war nichts mehr! nichts, nichts ohne dich! Und diese Schwäche wollt' ich bekämpfen! Ich schämte mich! Ich verachtete mich! Zwanzigmal bahrt' ich dich in mir auf, als schöne Tote in weißen Gewändern! Ich begrub dich mit Blumen, weinte dir Tränen nach, und plötzlich standst du wiederum da, triumphierend als Kaiserin, und blicktest mich an, und ich konnte nichts denken, als dich zu besitzen! An meine Arbeit nicht, an meine Forschungen nicht! Feig war ich, mir grauste vor dem Tod! Denn ich weiß, ich hätte nicht Ruhe gefunden ohne dich . . . ohne dich! auch im Grabe nicht! auch nicht auf dem untersten Grunde des Meeres.
Agathe. Und ich habe dich so gehaßt, so gehaßt! (Neue Umarmungen und Küsse.)
Grünwald (wie aus einer Betäubung aufwachend). Wo bin ich denn eigentlich hin verschlagen? Ist denn alles wirklich wahr? Bist du das wirklich, die ich hier festhalte? Keine Mauer, kein Ozean zwischen uns? Und du duldest alles und läßt es geschehen? Ist das wirklich wahr? Phantasiere ich nicht? Hat mir wirklich der Himmel das aufbewahrt, daß ich sein Geschöpf in den Armen halte, wo ich eben noch ewig verstoßen schien? Oh, Liebste, das ist solch eine Last von Glück! Verzeih mir: mich widert's, wenn Männer weinen! doch ich weine! Mir schwindelt; ich fasse es nicht!
Agathe. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist: doch wenn du mich magst, so schlimm, wie ich bin: so häßlich, so böse, so widerwärtig . . .
Grünwald. . . . Ist das wirklich die zarte und sanfte Hand, die so furchtbar tyrannisch festhalten kann? Die tötet und wieder zum Leben erweckt? Das Haar? im Nacken der holde Flaum? Das liebe und wilde und trotzige Herz, das ich liebe, liebe, so wie es schlägt in seiner göttlichen, bebenden Wohnung: – mir zuschlägt . . . treu! . . . mir klopft aus der Brust! – . . . an meinem . . . mit meinem . . . so süß lebendig . . . mir zu! . . . dem meinen, das zu ihm strebt! – O tiefe, schmerzliche Bangigkeit! O Angst! O du Angst des höchsten Besitzes! – Ewig! ewig! – O Ewigkeit! (Glühendes Vergessen überkommt beide unter heißem Küssen.)
Agathe. Schritte! Geliebter Freund, steh auf.
Grünwald. – Ich lebe! Ich lebe! Ich habe gelebt. Und nun lach' ich des Teufels und jeder Hölle. (Laut.) Wer da? Herein, wenn's kein Schneider ist! – Niemand! – Besser für uns und ihn, als wenn's jemand wär'! Ich bin aufgelegt zum Ohrenabreißen. – – Oh, du lieber heiliger Herrgott von Prag, das hast du wahrhaftig manierlich gemacht.
Agathe (steckt das Haar zurück, zupft das Kleid zurecht und tritt mit scheuer Zärtlichkeit zu Grünwald, seine Hand nehmend und seine Schulter leise streichelnd). Wenn es dir recht ist, lieber Franz, dann gehen wir nun sofort hinunter zu Großmama und machen allen sogleich die Mitteilung.
Grünwald. Hast du es nun so eilig, Herz?
Agathe. Ja, sie sollen es nun alle wissen: sofort! Ich mag nun nicht mehr in Heimlichkeiten und unklare Sachen verwickelt sein. Und du sollst mich auch anders kennenlernen.
Grünwald. Nein, Liebste, nur immer so, wie du bist. Laß die dort unten sich öden und langweilen. Die Sonne geht unter! Der Mond steigt herauf, und ich gebe dich jetzt nicht los, mein Lieb! – Wollen wir gleich miteinander davonreisen?
Agathe. Wohin du befiehlst und im Augenblick!
Grünwald. Ohne Abschied von Onkel und Schwestern?
Agathe. Du bist alles in allem. Was lasse ich zurück? Ich lebe ja nur noch von deinem Anblick.
Grünwald. So stark, so entschlossen mit einemmal?
Agathe. Weder stark noch entschlossen: nur dich! nur dich!
Grünwald (nach tiefem Küssen, immer heißer und heimlicher, indem er Agathe gegen die Kapelle hin mit sich zieht). Wie stark auf einmal der Thymian duftet!
Agathe. Der Thymian und das Heidekraut.
Grünwald. O köstliche, süße, berauschende Würze! Sieh mal, wie eine glühende Räucherschale der Mond! Betäubende, köstliche Dämpfe wirbeln herauf! Sieh mal, wie unten die Saale fließt. Schlängelnder Nebel wie Opferdampf! Und die alte gespenstische Stadt und der Dom. Du Nixe! Du Mondfrau! Du Saaleweibchen! es ist alles ringsum nur ein Opfer für dich. Und ich bin dir auf Leben und Tod verfallen. (Sie verschwinden im Innern der Kapelle. Otto und Ludowike springen lautlos, angezündete Papierlampions schwingend, auf den Platz.)
Ludowike. Gleich wird Großmamas Ständchen unten anfangen.
Otto. Wo werden sie eigentlich aufgestellt?
Ludowike. Unten vor der Terrasse natürlich. Auf der Terrasse sitzt Großmama und spielt mit dem Konsistorialrat Tarock.
Otto. Was haben sie denn für ein Programm?
Ludowike. Tänze, Salonmusik, leichtere Sachen! Was anderes mag Großmama doch nicht. Die Welt kommt ihr hier sehr verödet vor. Sie will sich Nizza und Baden-Baden vortäuschen.
Mit gedämpften Klängen setzt die Musik eines Orchesters unten ein und geht in einen nicht zu trivialen Walzer über.
Otto. Lux, hier steht ja der Kasten noch.
Ludowike. Ein sehr segensreicher Kasten ist das! Agathe hat bloß nicht Verstand genug, um den Segen des Kastens zu begreifen.
Otto (tanzend, das Lampion in der einen Hand und einen Apfel in der andern schwingend). Jawohl, unser Kasten ist segensreich: teils dieserhalb und teils innerhalb!
Ludowike. Ei, prächtige, herrliche Goldreinetten! (Sie tanzt in Distanz von Otto, doch als Partnerin, in der einen Hand ebenfalls ein Lampion, in der andern den Apfel, von dem sie abbeißt.) Uns ist alles egal: wir sind vergnügt.
Otto. Uns ist alles Wurst.
Ludowike. Uns ist alles piepe, Jacke wie Hose.
Otto. Schnuppe und schnurz.
Ludowike. Sieh mal, ich bin eine Fledermaus.
Otto. Juhuh, juhuh, ich bin eine Eule.
Ludowike. Eine Hexe!
Otto. Ich bin der Hexerich!
Jemand ruft leise »Bravo!« und klatscht in die Hände. Die mit grotesken Bewegungen Tanzenden halten verdutzt inne. Nun tritt Kozakiewicz in den Lichtschein der Lampions.
Kozakiewicz. Ich störe den nächtlichen Zaubertanz. Erweist mir die Gnade, ihr holden Glühwürmer, und nehmt mich als stummen, bescheidenen Gast in euren magischen Zirkel auf.
Ludowike. Herr Doktor, Sie sind nicht nach Hause gegangen?
Kozakiewicz. Jawohl, doch ich fand den Entlaufenen nicht!
Ludowike. Aber sprechen Sie doch nicht so in Moll, Doktor. Das geht einem ja durch Mark und Bein.
Kozakiewicz. Sprach ich in Moll? Das wüßte ich nicht! Nun, die Gnadenfrist nähert sich ihrem Ende, und der Kompaß zeigt hinaus in die kahle, rauhe, banale, triviale und keineswegs ideale Welt.
Ludowike. Man tanzt, wenn man melancholisch ist.
Kozakiewicz. Man muß an den Todesreigen. Die Menschen haben noch lange nicht den richtigen Begriff ihrer Unwichtigkeit. Das Leben der meisten Menschen ist doch nur ein Schwälen, kein Brennen. Manche wollen das Schwälen zur Flamme treiben: Humboldt schlief nur fünf Stunden durchschnittlich. Kinder sind dionysisch, Erwachsene meistens nicht.
Ludowike. Doktor, Sie werden die Tonart nicht los. Sie waren doch immer so lustig bis jetzt. Was geht uns die Torheit der anderen an. Seien wir froh, daß wir so vernünftig sind. Sie sind nicht Herr Grünwald; Sie können doch lachen!
Kozakiewicz. Gewiß. »Wer tut dir denn etwas?« sagte die Köchin und schuppte den Karpfen! Weisheit schützt vor Torheit nicht! Der Mondschein erregt! Vergeben Sie mir, und lassen Sie mich in den Mondschein meine verwirrten Reden hineinschwatzen.
Ludowike. Wissen Sie, was ich geträumt habe? Wir fuhren auf Schlitten: Grünwald, Agathe und ich. Grünwalds Schlitten zog ein weißer Hund, Agathen zog eine weiße Bärin. Eine schöne weiße Füchsin mich, an deren buschiger Rute ich mich festhielt . . .
Kozakiewicz. Wo war denn ich?
Ludowike. Das weiß ich nicht.
Kozakiewicz. Und wo ging die Reise hin, ohne mich?
Ludowike. Otto rannte voraus und lockte die Bestien.
Kozakiewicz. Schelme haben süß Fleisch, nicht wahr!? – (Zu Otto hinüber, der mit dem Lampion auf der Mauer balanciert.) Tanzen Sie, springen Sie, junger Mann! Der Abend hat eine andere Philosophie, als der Morgen hat. Si sa come si incomincia e non come si finisce. Hüpfen Sie! Leuchten Sie! Locken Sie uns! Führen Sie uns nach der seligen Insel!
Ludowike (nachdenklich). Werden Sie wirklich reisen, Herr Doktor?
Kozakiewicz. Aber ja!
Ludowike. Wohin?
Kozakiewicz. Auf den Mond.
Ludowike. Das wäre ja gar nicht weit von hier! Dahin würde ich gern auch einmal ein Billett nehmen.
Kozakiewicz. Kommen Sie mit mir nach dem Mond.
Ludowike. Brr! Nein. Ich will doch lieber nicht. Er ist ja bloß eine öde Schlacke!
Kozakiewicz. Spielen Sie Geige, und alles grünt! Lachen Sie, und die Knospen springen!
Ludowike. Ach, Sie wollen mit mir wohl eine Tournee machen?
Kozakiewicz. Von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Otto. Und was macht inzwischen die Bibliothek? Wo Sie noch so viele Schätze zu heben gedachten.
Kozakiewicz. Nun, ich hebe die Schätze eben nicht! Es wird mir eben nicht anders ergehen, als es dem armen Schlucker soeben ergangen ist, dem der Hort aus dem Brunnen in nichts zerging und der obendrein zum Gespötte wurde. Hören Sie die Zikaden! wie schön!
Otto. Der Schatz des Schulmeisters ist nicht zergangen; er hat ihn bloß nicht zu heben gewußt! Hier sind eins, zwei, drei – vier, fünf Flaschen Champagner. (Nimmt eine nach der andern heraus.) Becherchen! – Pfropfenzieher dabei! Ritsch! – Ratsch! (Der Pfropfen fliegt heraus.) Hätte das Monstrum von einem Schatzgräber, statt gekränkt zu tun und abzuziehn, mit beiden Händen hineingegriffen, so wäre er jetzt ein großer Mann.
Alle drei halten gefüllte Becher in den Händen.
Ludowike. Wir trinken auf Ihren armen Freund.
Kozakiewicz. Und gedenken dabei seines armen Freundes, der – das Leben ist immer ein Augenblick! – in diesem Augenblicke noch sehr glücklich ist! Die Zukunft? Wer A sagt, muß auch B sagen. Es bleibt am Ende keinem erspart. (Sie stoßen an.) Also seien wir lustig zwischen A und B! – Und im Grund: die Verschiedenheit der Geschlechter, wenn sie manchmal das Leben auch bitter macht, hat im Grunde doch auch alle Himmel erzeugt. Es ist alles aus dieser Zweiheit gewachsen, was die Erde in ihren Tiefen und Höhen bewegt und beglückt. Sie hält den Bergmann in seiner Grube, den Aeronauten im Luftschiff fest und macht – diese kleine Zäsur im All! –, daß unendliche, unerschöpfliche Fülle von Reizen auf die armen Zerschiedenen niederfällt.
Otto. Ich werde mal eine Rede halten, später, ordentlich mal von der Leber weg, und mal sagen, wie alles werden muß! Mal allen gründlich die Wahrheit geigen.
Kozakiewicz. Halten Sie uns diese Rede sofort!
Otto (angeheitert, immer dazwischen trinkend). Ich sage so viel: 'n Berg muß'n Berg sein! 'n Baum muß'n Baum sein! 'n Kamel muß'n Kamel sein! 'n Mensch muß'n Mensch sein!
Kozakiewicz. Erbarmen Sie sich! Doch zum Schlusse haben Sie etwas gesagt, was eine tiefe, sehr tiefe Deutung ermöglicht: Der Mensch! Wir sind lange noch nicht – der Mensch, mein Bester!
Sabine kommt ebenfalls mit einem Lampion.
Sabine. Was ist denn das für ein Gelage hier?
Ludowike. Wir führen Krieg gegen das Gift der Migräne, das vom Monde tröpfelt!
Sabine. Und da unten, wo Onkel den Strohmann macht, ist etwas, wovor ich geflohen bin: nämlich entsetzlichste Langeweile.
Otto (am offenen Kasten). Was Hochmut und Arroganz verschmäht, das können wir doch nicht verkommen lassen.
Sabine. Kinder, ihr seht wie Maikäfer aus – oder Leuchtkäfer, wollte ich eigentlich sagen.
Otto. Ich komme mir mehr wie ein Maikäfer vor: Ich möchte den ganzen Bleichsellerie auffressen!
Kozakiewicz (mit Sabine anstoßend). Oh, wären doch nur diese tausende unübersteigliche Schranken der Liebe nicht. Der Wein, die Traube verflüchtigt die Schranken.
Adelheid und Reinhold kommen.
Adelheid. Ist Agathe hier?
Sabine. Ich glaube, Agathe liegt schon zu Bett. Ich habe sie wenigstens durch die Tür mit dem Mädchen reden gehört: sie solle ihr gleich das Bett aufmachen.
Adelheid. Da ist ihr am wohlsten, sicherlich!
Otto. Oh, Ewald, was hast du von dieser Kiste gewußt? Lachs, Hummer, frischer Bärenschinken! Rebhuhn! gebackner Kolibri!
Ludowike (tänzelnd und trällernd).
Kleiner Vogel Kolibri,
führe uns nach Bimini . . .
Kozakiewicz (mit graziösem Hinweis auf Ludowike weiterzitierend).
Fliege du voran, wir folgen
in bewimpelten Pirogen.
Reinhold. Ich schlage vor, die märchenhafte Gelegenheit beim Schopfe zu fassen und in freier Luft nach der netten Musik Ihren Nationaltanz, Herr Doktor, zu tanzen: eine Polonäse. Macht ihr mit? (Zustimmung.) Das ehrpußliche Brautpaar wird voranschreiten.
Otto (der als letzter mit Sabine antritt). Weil selbst der glücklichste Mensch eine Auffrischung nötig hat.
In diesem Augenblick schlägt das kleine Glöcklein der Kapelle einige Male leise an. Alle stehen verdutzt.
Adelheid. Kinder, ich laufe fort, es geht um!
Ludowike. Hat nun der Winzer recht oder nicht: daß das Glöckchen um Mitternacht manchmal läutet!?
Reinhold. Wer soll denn hier umgehn, Kinderchen?
Otto. Na, vielleicht der Herr Vetter Ewald Nast!
Ludowike. Lauf doch mal, hol doch mal Onkel herauf!
Reinhold. Vielleicht ist es der Mäuse- und Rattenvergifter!
Sie nähern sich, einigermaßen furchtsam, dem dunklen Kapelleneingang.
Kozakiewicz (entnimmt, gleichgültig lächelnd, seinem Etui eine Zigarette und steckt sie in Brand). Oh, eine Milliarde für einen Geist!
Ludowike (hinter Reinhold, an ihn angeklammert, dicht vor der Tür). Komm, komm zurück, es schwebt jemand raus! (Sie reißt Reinhold zurück, alle fliehen die Kapellentreppe herunter.)
Adelheid (plötzlich, nachdem sich wieder alle gesammelt hatten). Hu, mir hängt eine Fledermaus im Haar!
Otto. Jetzt steht jemand vor der Türe!
Sabine. Zwei!
Reinhold. Leutchen, benehmt euch nicht lächerlich!
Otto. Ach was, ich muß mal dem Spuk ins Gesicht leuchten.
Er steigt mutig auf die Plattform, wo Grünwald und Agathe im Dunkel unkenntlich und außerdem ein wenig vermummt stehen, und leuchtet ihnen ins Gesicht. Alle blicken, wirklich stumm vor Staunen, die beiden eine lange Weile, wie wirkliche Geister, an.
Kozakiewicz (als erster das Schweigen brechend). Mein Junge, du hast mehr Glück als Verstand!
Grünwald. Ja, freilich, wenn ich dich nicht gehabt hätte!
Alle brechen in ein befreiendes Gelächter aus, umringen lachend und weinend das herabsteigende Paar; Umarmungen und Küsse werden unter den Mädchen in der Begeisterung und freudigen Überraschung getauscht. Grünwald und Reinhold umarmen und küssen sich ebenfalls.
Grünwald. Oh, wen habe ich denn da erwischt!
Reinhold. Reinhold Kranz!
Grünwald. Sehr angenehm. Grünwald! (Zu Kozakiewicz.) Sie hat die Glocke geläutet, mein Junge.
Kozakiewicz (drückt Grünwald die Hand). Schön, Camerado, und auch etwas wehmütig! – Weißt du noch, wie wir den Dom betraten, und du sahst die hohen Gestalten darin, die hier in einem gewissen Betracht quasi serapiontisch lebendig sind, da sagtest du, die Gestalten, der Dom, alles sei bunt und farbig gewesen, farbig und bunt wie ein Kolibri, und nun sei alles so blaß und so ausgeblichen, wie ein Leben ohne Liebe nur ist. Nun? Auf einmal ist alles farbig geworden.
Ludowike. Was sollen wir tun? Ihren Arm, Herr Doktor: wir setzen die Polonäse fort.
Kozakiewicz. Oh, mit welchem Entzücken tue ich das!
Die Paare wandern hintereinander im Kreise.
Ludowike. Was wird Großmama bloß für Augen machen, wenn sie uns jetzt so ankommen sieht.
Sabine. Alles wird nun bald entschwunden sein. Von den Bäumen ist schon das Laub fast herunter, und verödet steht unser Bischofsberg. Dann ist er nur noch ein Märchen, sonst nichts.
Ludowike. Das Märchen ist doch das Beste, Sabine!
Kozakiewicz. So laßt uns den Reigen weitertanzen ins Blaue, ins Dunkle, ins Weite hinein, ins Ungewisse der Himmel und Meere.
Zur leisen Musik schreiten sie paarweise im Tanzschritt um den Platz und singen dazu:
Kleiner Vogel Kolibri,
führe uns nach Bimini;
fliege du voran, wir folgen
in bewimpelten Pirogen.
Auf der Insel Bimini
blüht die ew'ge Frühlingswonne,
und die goldnen Lerchen jauchzen
im Azur ihr Tirili.