Gerhart Hauptmann
Die Jungfern vom Bischofsberg
Gerhart Hauptmann

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Zweiter Akt

Ein sehr hohes Zimmer, dessen ebenfalls hohe Fenster linker Hand mit schweren roten Damastbehängen versehen sind. Ebenso eine Glastür zwischen den Fenstern, die auf eine Terrasse hinausführt. Eine Tür in der Hinterwand, eine andere in der Wand rechts. Die Tapete des Zimmers ist ebenfalls dunkelrot. Die Decke bemalter und vergoldeter Stuck. Rechts über dem Sofa in schweren Goldrahmen die lebensgroßen Ölbildnisse des verstorbenen Ehepaars Ruschewey. Das Sofa, der große ovale Tisch, der Schreibsekretär, die Lehnsessel, das Nähtischchen an einem der Fenster, der Flügel, auch der mit blühenden Pflanzen bestellte Blumentisch sind aus Mahagoniholz im Rokokogeschmack. Der Fußboden ist von einem ebenfalls dunkelroten Teppich vollkommen bedeckt. Die Polster der Möbel haben grüne Plüschüberzüge. Die Ecke des Zimmers zwischen den beiden Türen zeigt in hohem Aufbau einen wunderlichen Kamin aus dem siebzehnten Jahrhundert mit steifem Figurenwerk.

Es ist wiederum Vormittag. Die Sonne scheint zu den Fenstern herein. Chinesische Vasen, Nippes, Bronzen stehen umher und schwere vergoldete Girandolen auf Marmorsäulen. Ein Kronleuchter mit Glasprismen.

Agathe und Ludowike sitzen unweit voneinander am Tisch, diese lesend, jene mit einer Stickerei beschäftigt.

Agathe. Was liest du denn?

Ludowike (lachend). Otto ist eigentlich gar nicht so dumm. Er macht zu Adelheids Polterabend ein Schattentheater, und da hat er hier ein Szenarium aufgesetzt, das sehr lustig ist! – Was stößt du denn immer solche herzbrechende Seufzer aus?

Agathe. Ich?

Ludowike. Merkst du das gar nicht?

Agathe. Ich habe heute nacht wieder von Papa geträumt.

Ludowike. Gut oder schlimm?

Agathe. Weder eins noch das andere: Sonderbar! Er stieg oben im Weinberg um die alten Gemäuer herum. Ich wußte, daß er gestorben war, und du kannst dir denken, wie mir das Herz pochte. Ich sagte: Papa! und lief auf ihn zu. Aber als ich die Arme um ihn schlang, oder schlingen wollte, vermochte ich's nicht! Immer fühlte ich einen peinvollen Widerstand! Ich konnte und konnte Papa nicht umarmen. Und als ich mit einer unaussprechlichen Bitterkeit davon abstand und, glaub' ich, entsetzt zu ihm aufblickte – ich glaube, entsetzt und fragend zugleich –, da hörte ich, wie er die Worte sagte: Agathe, du hast ein verzweifeltes Herz.

Ludowike. Ich träume immer nur lieb von Papa.

Agathe. Wenn ich es Adelheid nicht zuliebe täte, so würde ich ihre Hochzeitsfestivitäten lieber umgehen. Ich passe nicht unter heitere Menschen.

Ludowike. Aber liebe Agathe, wie kommt denn das?

Agathe (hastig). Bitte, Lux, sei still! Ich hab' Schritte gehört.

Ludowike. Oh, ich hab' eine Wut! eine Wut, sag' ich dir.

Agathe. Nein, doch nicht! Ich habe mich doch wohl getäuscht. Oder es ist der Gärtner gewesen.

Ludowike. Hoffentlich nicht der Bock im Ziergarten!

Agathe. Was meinst du?

Ludowike. Oh, nur eine Redensart! Ach, liebste Agathe, ich hab' dich so lieb! Ich habe dich immer so vergöttert! Du warst immer die Allerschönste von uns! Otto sagt, du wärst eine wirkliche Schönheit! Und was haben wir manchmal zusammen gelacht und uns über alle Welt lustig gemacht! Und jetzt bist du wie eine Wachsfigur: lachst nicht, sprichst kaum, träumst schlecht und bist mißmutig. So freue dich doch! Amüsiere dich doch! Wir freun uns doch alle und sind lustig.

Agathe. Das wundert mich gar nicht; ich leider nicht! – Oder manchmal wundert es mich sogar! – Nämlich die Freude, die Festlichkeit . . . da kriege ich immer ein banges Gefühl! eine Angst mitunter bis zu Herzschmerzen.

Ludowike. Hast du das mal deinem Arzte gesagt?

Agathe. Ach, laßt mich doch mit den Ärzten in Frieden! Alles vermeiden, was einem schmeckt. Eisen und literweise Milch schlucken.

Ludowike. Kulmbacher Bier trinken müßtest du!

Agathe (halb belustigt, lacht, fährt dann fort). Ob Großmama schon aus den Federn ist?

Ludowike. Sie hat schon vor dreiviertel Stunden gefrühstückt. Ich sag' dir: die alte Dame reist! Zwölf mächtige Koffer sind angekommen.

Durch die Terrassentür kommt, genauso wie im ersten Akt gekleidet, Nast, in sehr aufgeräumter Stimmung.

Nast. Vielschöne Frauen, seid mir gegrüßt! – Von was reden denn junge Mädchen so eifrig?

Agathe. Wir sprachen eben von Großmama.

Nast. Hat sie wirklich die weite Reise gemacht?

Agathe. Sie ist gestern abend angekommen.

Nast. Da kann Adelheid und ihr Bräutigam von Glück sagen! Das erst gibt ihrem Bunde ein Relief. Euer Onkel wäre dazu kaum hinreichend. (Ludowike erhebt sich, um zu gehen.) Bleib nur; vertreibe ich dich wieder, Kind? Gestern abend hab' ich sie nämlich vertrieben. Sie übte nämlich auf ihrer Geige oben im Weinberg in der kleinen Borkenkapelle, und da ist doch der alte Turm in der Nähe und das alte, zerfallne Wasserloch mit dem unterirdischen Gang. Nun hat mich ein alter Studienfreund besucht, der Kunsthistoriker Ostermann: ein Mann von vorzüglicher Erudition; dem hab' ich, da er doch Fachmann ist, eure höchst interessanten Ruinen einmal gezeigt. Und dabei sind wir beiden Gelehrten im Feuer der Forschung wohl etwas zu laut geworden, so daß sich die Geigenfee ein wenig indigniert, wie mir schien, aus ihrem Borkenhäuschen verzog.

Ludowike. Überhaupt, es ist schrecklich jetzt hier im Haus: Wo man hinkommt, fühlt man sich überflüssig. (Ab.)

Nast (nach herzlichem Lachen). Ostermann ist noch Junggeselle. Und ich kann dir die Versicherung geben, er hat sich für die Erscheinung der flüchtig vorüberhuschenden Lux außerordentlich interessiert. – – – Übrigens erledigen wir das Nächstliegende! Liebes Mädchen: die Sache ist beigelegt! Und du brauchst dich künftig nicht mehr beunruhigen. (Agathe blickt tiefer auf ihre Stickerei.) Ich habe kurzen Prozeß gemacht. Natürlich ohne die Form zu verletzen. Ich habe den Stier bei den Hörnern gepackt! Das heißt, gleich gestern, als ich von dir den Auftrag empfing und nach dem Essen nach Naumburg zurückkehrte, da hab' ich ganz einfach die beiden Herren, Dr. Grünwald und Dr. Kozakiewicz, in ihrem Gasthause aufgesucht. Ich muß sagen, sie waren verständig und einsichtig und machten den Eindruck von Gentlemen, die die Situation vollständig zu würdigen wußten. Wir schieden herzlich und ganz konform.

Agathe (ohne aufzublicken). Was hast du denn nun den Herren gesagt?

Nast. Das gab natürlich der Augenblick. An das einzelne kann ich mich nicht so ganz erinnern. Daß euer Vater gestorben ist, wußten sie schon. Ich sagte, es sei augenblicklich großer Trubel im Haus und es hätten sich viele Umstände sozusagen auf eine entscheidende Weise geändert. Ich legte natürlich auf das »entscheidend« besonderes Gewicht, und es tat auch wohl die entsprechende Wirkung. Ich ließ, natürlich sehr taktvoll, einfließen, daß unter obwaltender Konstellation eine Wiederbegegnung sehr peinlich sein müßte und jedenfalls zu vermeiden sei.

Agathe. Nun, und was haben sie denn geantwortet?

Nast. Ganz korrekt, wie es sich von selbst versteht. Sie wären eigentlich nur gekommen, um die herrlichen Skulpturen in unserem Dom zu sehen. Übrigens scheint er ein fleißiger Anthropologe zu sein. Es hingen allerhand Tafeln herum. Ich sah einen wirklichen Negerschädel und eine Art Pithekanthropus; und ich hätte ihm auch beinah die Erlaubnis erteilt, weil er ziemlichen Wert darauf legte und mein Kopf ihn zu interessieren schien, einige Maße von mir zu nehmen. – Nun aber, Agathe, muß ich insonderheit eine Bekundung deines Vertrauens beanspruchen. Weshalb hat dich das Wiedererscheinen des Dr. Grünwald so sichtlich bewegt? und was hast du für einen Grund, ihn zu fürchten?

Agathe. Ich fürchte niemand als mich, lieber Ewald.

Nast. Diese Antwort, Liebste, ist etwas dunkel. Könntest du nicht etwas deutlicher sein?

Agathe. Es ist in mir leider alles recht undeutlich.

Nast. Was ich von dir verlange, Agathe, ist weiter nichts, als wozu mein Verhältnis zu dir mich berechtigt. Du sollst ohne Geheimnis vor mir sein.

Agathe (schüttelt leise den Kopf). Das geht nicht! Das kann ich nicht, bester Ewald.

Nast. Du willst mir also nicht sagen, Agathe, was es mit dieser Angelegenheit aus dem Seebad für eine Bewandtnis hat? Glaubst du, ich wußte nicht, daß sie über mir schwebte? Glaubst du, sie war mir ganz unbekannt?

Agathe. Nein, nein, dafür sorgte wohl Tante Emilie.

Nast. Tante Emilie war durchaus diskret. Also willst du wirklich nicht offen sein?

Agathe (zieht ein Briefchen hervor, das sie an der Brust getragen hat). Meinetwegen kann ich dir diesen Brief geben. Es steht aber auch nichts weiter darin. Lies ihn. Es ist ja am Ende ganz gleichgültig.

Nast (bevor er liest). Halt, da fällt mir noch etwas ein, liebes Kind. Ich sage es nur der Ordnung wegen. Wenn du mal mit Sabine sprichst, ich habe für sie zwei Mark an den Briefträger ausgelegt. Wenn es übrigens vergessen wird, schadet es nichts! Er liest. Die alten Phrasen! Der übliche Phrasenheld! In den Absichten nicht sehr undurchsichtig.

Agathe (steht auf und wird über und über rot). Nein, Ewald . . . laß . . . das ertrage ich nicht. (Sie geht ab.)

Nast. Agathe, was habe ich denn wieder gemacht! (Allein.) Überall diese gottverdammte lächerliche Empfindlichkeit! (Er geht mehrmals erregt auf und ab. Herr Ruschewey führt Dr. Grünwald und Dr. Kozakiewicz herein.)

Ruschewey. Bitte, meine Herren, wollen Sie hier eintreten.

Die Herren sind augenscheinlich in einem heiteren Gespräch begriffen gewesen und betreten das Zimmer lachend, wobei die fröhliche Laune des Dr. Grünwald ein wenig erzwungen scheint. Sowohl Dr. Kozakiewicz als er sind tadellos gekleidet: Zylinder, Gehröcke. Grünwald: schlank, nervig, braungebrannt, blondes Schnurrbärtchen. Kozakiewicz: Deutschpole. Er trägt eine Brille mit runden Gläsern. Der vorherrschende Ausdruck seines Gesichtes ist eine feine Ironie.

Kozakiewicz (lebhaft, mit nur leichtem polnischen Akzent). Es ist erstaunlich, welche frappante Ähnlichkeit Herr Ruschewey mit seinem verstorbenen Bruder hat.

Ruschewey. Da ist ja Ewald. Ich möchte vorstellen . . .

Kozakiewicz. Im Lachen, in jeder Gebärde, im Wort.

Ruschewey. Also: Oberlehrer Dr. Nast. – Dr. Grünwald! Dr. Kozakiewicz! Alte Freunde von meinem verstorbenen Bruder Bertold Ruschewey.

Nast, aufs äußerste perplex, macht eine steife und kalte Verbeugung, wobei er sein Befremden, ja seine Entrüstung nicht verbergen kann. Grünwald verbeugt sich sehr ernst und sieht ihm mit einem ruhigen und entschlossenen Blick ins Auge. Um den Mund des Deutschpolen zuckt es während der stummen Begrüßung von unterdrückter Lustigkeit.

Nast (mit Betonung). Ich bin erstaunt, meine Herren, Sie hier zu sehen.

Ruschewey. Die Herren kennen sich also, wie's scheint!

Nast. Nein. Das heißt . . . ich habe wohl nur sehr flüchtig das Vergnügen gehabt.

Kozakiewicz. Sie waren mit einem Herrn im Dom. Einem unverkennbaren deutschen Professor. Wir stiegen gerade den Lettner hinauf.

Nast. Gewiß, ja!

Kozakiewicz. Ich zähle die Plastiken drüben im Dom zu den allerbewunderungswürdigsten Sachen. Etwas reiner Gedachtes habe ich nie gesehen, auch im hochgelobten Italien nicht. Es ist unbegreiflich, muß man sagen, daß die Deutschen zu diesen Resten einer fast griechisch-heiteren Kultur nicht wie zu einem Jungbrunnen wallfahrten! Und, was besonders auffällig ist, daß nicht einmal Goethe, soviel mir bekannt ist, dieses ihm doch so nahe Wunder vollkommenster Schönheit gekannt und gewürdigt hat.

Nast. Ich vermag eine Meinung dazu nicht zu äußern.

Kozakiewicz. Wenn man von ungefähr aus dem Bannkreise dieses hohen Chors in das städtische Leben rings um den Dom zurückgelangt, so fühlt man . . . man fühlt eine Art Bestürzung: so leer, so nichtssagend ist alles ringsum. Gleichsam wie zu einer unrettbaren Reizlosigkeit verwünscht und verflucht.

Nast. Hier müßte ich Ihnen widersprechen, läge nicht jede Absicht und Neigung, in dieses Gespräch einzugreifen, mir fern.

Ruschewey. Für mich, meine Herren, sind die Puppen im Dom, ich möchte fast sagen: lebendige Menschen. So haben wir täglich mit ihnen gelebt. Unser Vater hatte viel Phantasie! Er war am Dom Organist, wie Sie wissen. Er behauptete immer, er habe fast nie der Gemeinde, sondern stets den Damen und Herren aus Sandstein im hohen Chor seine Fugen vorgespielt.

Kozakiewicz. Das ist entzückend und mir sehr begreiflich. Ich kann von mir sagen: ich wünschte, ich hätte in jenen Zeiten gelebt, wo die Künstler jene zierlichen violetten romanischen Säulchen auf ihre Schäfte setzten, um die Wendeltreppe herum, die auf den Lettner geht. Die Art, wie der runde Säulenfuß auf seinen quadratischen Sockel gesetzt ist, das ist von delikatestem Reiz.

Ruschewey. Jawohl, ja! Das kann heute keiner mehr. Bruder Bertold – Sie wollten vorhin eine Ähnlichkeit zwischen dem Bruder und mir ausfindig machen! Nun, er war ein ganz anderer Kerl! – Bruder Bertold hat ähnlich gedacht wie mein Vater. Er kam sich um sechshundert Jahre zirka als zu spät auf die Welt gekommen vor. Und es war seine heimliche fixe Idee, etwas von dem Geist jener Zeit, für sich selbst wenigstens und im kleinen Kreis, sozusagen wieder lebendig zu machen.

Kozakiewicz. Und das ist ihm gelungen, wie mir scheint.

Ruschewey. Es ging, wie's im Leben meistens geht. Jawohl, ja! Es wird dies und jenes verwirklicht, mancher ganz unerfüllbar scheinende Wunsch wird realisiert – so der Kauf dieses alten Besitztums durch Bertold! –, und es ist doch wieder auch nicht das Erstrebte, wenigstens keinesfalls so ganz.

Kozakiewicz. Sehnsucht bleibt Sehnsucht, wie mir vorkommt, und Wirklichkeit bleibt stets etwas anderes.

Ruschewey. Nun, Bertold hatte tatsächlich allerdings eine glückliche Hand. Was er als Kaufmann anfing, das geriet ihm und brachte ihm Ehre und Geld. Heiter genießend blieb sein Geist bis zuletzt und förmlich geneigt zum Kultus der Freude.

Kozakiewicz. So recht genußfroh im edlen Sinne habe ich mir das häusliche Leben des unvergeßlichen Mannes auch immer vorgestellt.

Ruschewey. Verdrossenheit schien ihm ein Verbrechen.

Nast. Verzeihen Sie, Onkel: ich befinde mich da mit Ihrer Auffassung etwas im Widerspruch. Onkel Bertold hatte doch kaum das exzentrische Wesen des Organisten geerbt. Seine Natur war doch praktisch gerichtet.

Ruschewey. Zwei Seelen lebten in Bertolds Brust! Aber du verstehst von der Sache ja nichts.

Nast. Meinen Sie? Ich glaube, Sie irren sich, Onkel. Was ich einzig verhindern wollte, ist dies: daß den Herren von dem Geist dieses Hauses – der ja vorläufig noch ein Geist der Trauer um seinen Begründer ist! – eine nicht ganz klare Idee vermittelt wird.

Ruschewey. – – Nun, bitte, vermittle, mein lieber Ewald.

Nast. Bewahre! Ich kann dem Herrn Vormund nicht vorgreifen.

Ruschewey. Greife du ruhig dem Vormund vor! Er wird sich seinerseits auch nicht genieren, eventuell dem Vorgreifen vorzugreifen.

Nast. Sogar Wortspiele, Onkel Ruschewey.

Sabine kommt, lebhaft und anscheinend sehr erfreut, durch die Tür der Hinterwand mit einem Schlüsselbund am Gürtel. Sie geht sofort auf Grünwald zu und streckt ihm die Hand hin.

Sabine. Ich traue ja meinen Augen nicht! . . . Besuch . . . Es ist Besuch gekommen, sagt eben mein kleiner Schwager Otto zu mir! . . . Wer soll aber auch an so etwas denken? Man denkt doch an Zeichen und Wunder nicht.

Grünwald (sehr bewegt und bleich). Wir kommen wohl äußerst ungelegen?

Sabine (anscheinend völlig harmlos). Aber wieso? Im allergeringsten nicht. Wann sind Sie eigentlich angekommen? Wo wohnen Sie? Wo kommen Sie her?

Grünwald. Ich komme von weit her, gnädigstes Fräulein, sozusagen aus Südamerika, und jetzt wohnen wir beide im Roß in Naumburg, mein alter Freund Kozakiewicz und ich.

Sabine. Sie wohnen im Roß, ach, das ist ja sehr merkwürdig. Und wo haben denn Sie, Herr Doktor, gesteckt, seitdem wir Sie auf der Brücke in Munkmarsch zuletzt mit dem Taschentuch winken sahen?

Kozakiewicz. Oh, gnädigstes Fräulein, ich danke sehr! Leider in keiner sehr guten Haut.

Sabine (lachend). Noch immer der alte. Ist das eine Antwort?

Kozakiewicz. Es ist leider die Wahrheit, weiter nichts. Sehen Sie meinen Freund Grünwald an, er sieht aus wie Südamerika: so bestätigt mein Aussehen, was ich gesagt habe.

Sabine. Ja wirklich, Herr Grünwald sieht prächtig aus. Braun wie ein alter Römer aus Bronze.

Ruschewey. Wenn Sie in Südamerika waren, Herr Doktor, haben Sie da nicht beiläufig etwas von dem alten Goldschatz der Inkas gehört?

Sabine (lachend). Aber Onkelchen, sei doch nicht immer so habgierig.

Grünwald. Nein. Und ich selber habe nach andersgearteten Schätzen gesucht. Aber leider war ich auch darin nicht glücklich.

Sabine. O weh, meine Herren, was heißt denn das? Das klingt ja alles recht melancholisch! Schade, schade, daß unser Papa nicht mehr lebt. Er würde sofort eine Stärkung verordnen. Übrigens, Onkel, du kennst vielleicht das Rezept.

Ruschewey. Ganz gewiß. Und der Augenblick findet sich. Dazu kommen Sie ganz zur rechten Zeit, denn am heutigen Morgen beginnt unsere Weinlese. (Mehrere Pistolenschüsse werden aus dem Garten hörbar.) Horchen Sie nur, es fängt schon an.

Sabine. Otto hat schon vor einer Stunde die zehn oder zwölf alten Reiterpistolen aus Papas Waffensammlung in das Weinberghäuschen geschafft.

Nast (erregt und halblaut zu Sabine). Ich bin aber doch sehr bestürzt, Sabine, auf diese Art geht es wirklich nicht.

Sabine (halblaut). Wieso?

Nast. Auf diese Art müßt ihr anstoßen: wo das Trauerjahr noch nicht vorüber ist.

Sabine zuckt die Achseln.

Kozakiewicz. Oh, wie mir das leid tut! Ich bin gerührt! Ich bin von dem Knall sehr gerührt, Fräulein Sabine! Ich weiß nicht, weshalb es mich so ergreift. Aber doch: ich muß Ihres Herrn Vaters gedenken. Diese Weinlese hat er so sehr geliebt; zur Weinlese hat er uns eingeladen. Nun, wir sind hier, und er ist nicht mehr.

Ruschewey. Ja, man fühlt sich manchmal ganz unberechtigt. Man lebt, man genießt das Sonnenlicht, man trinkt Bertolds Wein, man liebt Bertolds Kinder. (Er gibt treuherzig einem der Herren seine rechte, dem andern die linke Hand.) Meine Herren, es hätte ihn herzlich gefreut.

Sabine. Kommen Sie, meine Herren, ich zeig' Ihnen was, ich glaube, es wird Ihnen Freude machen. Eine Stelle in Papas Tagebuch, wo er Ihrer beider sehr dankbar gedacht hat. (Sie bedeutet Grünwald und Kozakiewicz, ihr nachzufolgen, und geht, von beiden gefolgt, durch dieselbe Tür hinaus, durch die sie gekommen ist. Ruschewey nimmt seine Pfeife heraus und stopft sie. Nast geht in steigender Erregung auf und ab.)

Nast (mit einem Buch, stehenbleibend). Ich muß gestehen, ich bin verblüfft!

Ruschewey (leicht erschrocken). Hm. Du erschreckst einen ja, guter Ewald.

Nast. Und das, Onkel . . . Sie, Onkel, dulden das?

Ruschewey. Ja, wer hat denn schon wieder'n Beinchen gebrochen?

Nast. Mein Wort gilt in diesem Hause nicht. Meine unausgesetzten Bemühungen um das Wohl der Mädchen und um ihr Ansehen werden in diesem Hause nicht anerkannt. Ich kann raten und vorbeugen, wie ich will, und doch macht man Torheiten über Torheiten.

Ruschewey. Du, trink eine Flasche Selterwasser!

Nast. So, Onkel, kommen Sie mir nicht aus. Sie mögen mir einfach die Frage beantworten: wieso diese Herren . . . mit welchem Recht . . . wie es ihnen möglich geworden ist, diese Schwelle doch noch zu überschreiten! Was gegen den Anstand, gegen die Sitte, gegen jedwede Schicklichkeit und entgegen der Meinung der Mädchen ist.

Ruschewey. Du, sieh mich mal an! Seh' ich wirklich so aus, Ewald? Sag mal, für wie alt hältst du mich? – Ich will dir durchaus nicht zu nahe treten: Deine Tüchtigkeit . . . was weiß ich! dein Fleiß! dein Betragen! dein ganzes berufliches Leben meinethalben sei musterhaft – aber solche Zicken mußt du nicht machen. Diese Herren, die du gesehen hast, betrachte gefälligst als meine Gäste, denn sie kommen auf meine Veranlassung.

Nast. Und wie Agathe es aufnimmt, fragen Sie nicht?

Ruschewey. Nein. Denn sie ist noch nicht majorenn, und ich habe in diesem Fall auch meine Ansichten. (Er hat seine Pfeife angezündet und geht durch die Verandatür hinaus.)

Nast (allein). So, so! (Unwillkürlich halblaut.) Nun, so weiß man doch, wie oder wenn! – Ich hatte mich allerdings täuschen lassen! – Nein, nein, Tante Emilie, du hast recht! Mit dem Onkel ist nicht zu rechnen dabei! – Nun, wenn schon! – Du hast wirklich recht gehabt, Tante Emilie! Wenn ich dir nur . . . tatsächlich, Tante Emilie! mag sein, Tante Emilie, warte nur ab! (Nast hat sich so niedergelassen, und zwar schräg am Tisch, daß er den Rücken der Terrassentür zukehrt. Unruhig flüsternd, trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte oder seiner Gewohnheit gemäß auf dem eignen schon etwas gelichteten Scheitel. Unbemerkt tritt nun der Vagabund wiederum ein, der im ersten Akt bereits erschienen ist. Sein Wesen ist gegen früher etwas verändert, und zwar in eine drollige Affektation gesteigert. Eingetreten, nimmt er, zwei Finger oben zwischen die Westenknöpfe gesteckt, eine ihm würdig erscheinende Haltung ein und blickt schräg gegen die Decke. Als ihn der Oberlehrer eine Weile unbemerkt läßt, hüstelt er, ohne seine Pose zu verändern, worauf Nast, heftig erschrocken, sich nach ihm umwendet.) Mensch . . . was heißt das? . . . Was wollen Sie hier? . . . Machen Sie schleunigst, daß Sie hinauskommen! – Verstehen Sie mich, Mensch . . . oder sind Sie taub? – Nun, dann werden Sie andere auf den Trab bringen! (Er geht nach der Klingel. Der Vagabund macht eine tiefe Verbeugung mit Kratzfuß vor Nast und nimmt sogleich die alte Stellung unbeweglich wieder ein.) Mein Lieber, jetzt erkenne ich Sie erst. Sie machten vorgestern Naumburg unsicher. Da hatten Sie sich etwas ausgedacht, um ängstlichen Leuten Geld abzuschwindeln; Sie sagten, Sie wären Scharfrichterknecht. Auf mich machte das keinen Eindruck, mein Freund; und Sie kommen auch hier nicht an den Rechten. (Der Vagabund macht wiederum eine tiefe Verbeugung und nimmt die alte Stellung ein.) Ja, guter Mann, ich habe nicht Zeit. Für Scharfrichter ist hier keine Verwendung; oder was ist sonst Ihr Beruf? – Ich gebe grundsätzlich keinen Pfennig! (Der Vagabund rührt sich nicht.) Nun reißt mir doch, aber die Geduld. Kerl, ich lasse Sie augenblicklich ins Loch stecken. Ich . . .

Der Vagabund (mit überraschender Plötzlichkeit, sehr lebhaft, sehr kordial). Nee, sehn Se, mir wolln bei der Stange bleiben! Mir wollen amal erst bei der Stange bleiben! – Immer eens nach'm andern! Nee! Nee! Nee! Die Sachen sein wichtig, bester Herr.

Nast (verdutzt, aufmerksam). Was heißt denn das? Hat Sie jemand geschickt?

Der Vagabund (wie vorher). Das werd sich schon finden, wer mich schickt. Die Sach'n sein wichtig, bester Herr! – Ich bin ein Mann für mich selber, sehn Se. Mich schickt kee Mensch! Ich lass' mich nich schicken! Ich lass' mich zu keenem Keenige schicken!

Nast. Wie heißen Sie, und wer sind Sie denn?

Der Vagabund (mit Grandezza). Ich bin ein Mann, der das Leben versteht!

Nast. . . . Sie sind nicht ohne Humor, mein Freund, aber ich habe genug von der Sorte.

Der Vagabund (warnend). Schicken Sie mich nicht fort, Herr Professor!

Nast. Woher wissen Sie, daß ich Professor bin?

Der Vagabund. Woher ich das weeß? Das muß a Mensch wissen.

Nast. Vorläufig leuchtet mir das nicht ein.

Der Vagabund. Weil ich . . . nu heern Se genau, was ich sage! – Weil ich . . . ich spreche de reenste Wahrheet – weil ich und ich . . . de Leute wissen's! – ich weeß uff a Punkt . . . 's Geheimnis weeß ich!!!

Nast (glaubt plötzlich, wie man ihm anmerkt, einem Irrsinnigen gegenüberzustehen und sieht sich nach Hilfe um). Das gebe ich natürlich zu, ganz gewiß. Aber ich bin weiter kein Freund von Geheimnissen.

Der Vagabund. Was hab'n Sie gesagt überm Brunnenloch?

Nast. Über einem Brunnenloch soll ich etwas gesagt haben?

Der Vagabund. Was ich weeß, das weeß ich! ich hab's gehört! – Ich bin in a Bergen drinne gewest. Ich hab' ooch a eiserna Hund gehört. A hat gebellt, und ich hab' gebellt. Mir han beede gebellt. Denn, sehn Se, ich kann Ihna bellen wie a Hund.

Nast. Auch darauf, mein Bester, kann ich verzichten.

Der Vagabund. Uff das vielleicht – uff das aber nich. (Er hat ein Stück von einem Rosenkranz aus der Tasche genommen, an dem ein romanisches kleines Kruzifix aus Elfenbein sich befindet, und hält es Nast hin.)

Nast (interessiert, ohne hinter dem Stuhle hervorzukommen). Was ist das? – Was haben Sie denn da?

Der Vagabund. Das is nich gestohln! Das is gefunden! – Was wett'n, wo das gefunden is?

Nast. Zeigen Sie mir das Ding mal her!

Der Vagabund. Halt. Immer sachte! Bloß nich einsacken.

Nast. Her damit; machen Sie keine Faxen! Einer Ihresgleichen bin ich nicht. (Er nimmt und hält das Kreuz betrachtend in der Hand.) Das ist alte, gediegene Elfenbeinarbeit. Wie sind Sie dazu gekommen, Mann?

Der Vagabund. 's geht alles mit richtigen Dingen zu, und mit'm Teifel hab' ich nischte. Ich kann's, und da kann ich's! 's is weiter nischt! Ich sprech' a Gebetl, ich dreh' mich rum, ich spucke zwee-, dreimal in die Hand, ich mach' a Teigl, da tret' ich druff, und eens, zwee, drei! da find' ich was.

Nast (sieht bald den Vagabunden, bald das Kruzifix in der Hand verdutzt, kopfschüttelnd und nachdenklich an). Das werden Sie mir allerdings mal vormachen. – Einstweilen habe ich mein Kalkül. – Es liegt durchaus im Bereich der Wahrscheinlichkeit, daß etwas Derartiges wie dies Stück auf dem Grund und Boden unserer Besitzung zutage kommt.

Der Vagabund. Jawoll, das stimmt, Herr Kommerzienrat!

Nast. Und was wollen Sie also haben dafür?

Der Vagabund. Nischte, das Kreuzl verkoof ich nich.

Nast. So?! Und das wäre Ihr fester Entschluß? Das ändert die Sache allerdings. Sie sind, glaub' ich, vom Gärtner vorübergehend, soviel ich gehört habe, eingestellt. Sie sollen wohl Mäuse und Ratten wegfangen?

Der Vagabund. Ich bin auch gegen die Reblaus sehr gutt.

Nast. Nun, wenn sich das wirklich so verhält und Sie, wer weiß wo, hier herumkriechen: im Weinberg, in Kellern, auf Oberböden, so drängt sich, und zwar ohne große Sagazität, die Vermutung auf, daß entweder dies Stück bereits zum Besitzstand dieses Hauses gehört oder doch auf dem Grundstück gefunden ist, und das Eigentumsrecht gehört dem Besitzer. Ich will aber nicht rigoros verfahren, und so frage ich Sie zum andern Male: wollen Sie dieses Kreuzchen verkaufen?

Der Vagabund. Verschenken: ja! Verkaufen nich.

Nast. Was? Soll ich von Ihnen etwas geschenkt nehmen?

Der Vagabund. Sie kenn mir ja auch was schenken dafür.

Nast. Gut! Also machen wir einen Vertrag. Also hören Sie zu, verstehen Sie mich: Sie führen mich zu der Stelle hin, und zwar ehrlich, wo Sie die Sache entdeckt haben. Ich . . .

Der Vagabund. Das is in dem alten Brunnenloch.

Nast. In der alten Zisterne oben am Berg?

Der Vagabund. Bei dem Mäuseturme, in der alten Zisterne, ich hab's Ihn'n ja schon vorhin gesagt.

Nast. Ach, nun geht mir ein Seifensieder auf. Sie haben uns wahrscheinlich gestern belauscht, meine Wenigkeit und den andern Professor. Die Zisterne, jawohl! und den Turm, jawohl! den haben wir in Untersuchung gezogen und die ganze verwahrloste Herrlichkeit. Und ich sagte: mit Spürsinn und Verstand ließe sich dort mancher hübsche Fund machen.

der Vagabund. Jawull! das warsch! Und Sie han o recht. Dadruff nähm' ich Ihn'n 's Abendmahl, Herr Professor.

Nast. Hier sind drei Mark.

Der Vagabund. Sechse täten's auch.

Nast. Hier sind fünf, doch verlang' ich von Ihnen Stillschweigen! – Verstehen Sie mich? – Haben Sie gehört? – Ferner kommen Sie morgen nachmittag um sechs, und da wollen wir beide, wir beide allein, noch mal in die alten Ruinen hinaufsteigen. Wir treffen uns unten am Gärtnerhaus. – Sind Sie einverstanden? – Verstehen Sie mich? – Herrgott, Mensch, können Sie denn nicht antworten?

Der Vagabund. Sehn Se nu, daß ich schweigen kann?!

Nast. Also abgemacht, machen Sie, daß Sie fortkommen!


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