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Das Fest der Brautweihe hatte sich um ein Jahr verzögert, da die Einigkeit über Beteiligung oder Ausschließung von Mannland nicht herbeizuführen war. Andre Ursachen waren hinzugekommen. Endlich hatte die Egli-Partei, welche Philomela Schwab mit dem Namen deckte, das ursprüngliche Festprogramm durchgesetzt. Danach durften nur Phaon, Bihari Lâl und die zwölf göttlichen Lichtbringer am Feste teilnehmen, weil ihre Einbeziehung in die Lebensökonomie des Mütterstaats unumgänglich war.
Die Feierlichkeiten im Tempelbezirk waren als eine Art mystische Hochzeit geplant. Dreihundert mannbare junge Mädchen sollten im Tempel Mukalindas dargestellt werden. Sie erschienen, von den Müttern und allen jüngeren Generationen bis herab zu den achtjährigen geleitet, in einer unsäglich lieblichen Prozession am Eingang des Tempelbezirks. Eine Woge von Liebreiz, eine Woge von Jugend, eine Woge von wahrhaft himmlischer Schönheit schien hier zu branden. Die hohe Laurence, umgeben von ihrem Staat, der ehrwürdigen Mutter Präsidentin, der ehrwürdigen Mutter Rodberte, Lolo Smith und mehreren andern, war tief gerührt und ergriffen davon.
Hundert blumenbekränzte Karren mit speichenlosen Rädern, klassisch-primitiven Aussehens, wurden teils von Zeburindern, teils von Emus, großen straußenartigen Vögeln, teils von Mädchen unter zehn Jahren gezogen. Sie bewegten sich, jeder ein Weib, eine Himmelserscheinung tragend, durch das Tor des Tempelbezirks. Sie wurden in feierlicher Ordnung von etwa tausend palmenschwingenden Mädchen geleitet: sie sangen ein der Bona Dea geltendes Lied, dessen einzelne Zeilen, auf Gruppen verteilt, auf liturgische Art hin und her gingen.
Niemand hätte in diesen Frauen die Geretteten des Schiffbruchs wiedererkannt. Der Zuwachs an Jahren war nur in dem Zuwachs an Schönheit und weiblichen Reizen festzustellen. Es ist ganz gleichgültig, welche von den einstigen Schiffbrüchigen auf dem ersten Karren stand. Erstens trug keine von ihnen den alten Namen, und dann, wie gesagt, waren neue Menschen aus ihnen geworden. Wer konnte die in blonder Fülle des Fleisches schwer und süß versonnen thronende heilige Mutter sein, deren rotes Haar ihr wie ein Mantel bis zur Ferse fiel und die den Säugling an die Brust drückte? Eine so freie, in heidnischer Fülle schwellende Madonna war freilich wohl kaum von irgendeinem Maler unternommen worden. Es war eine Aphrodite, die auf dem zweiten Karren stand, und so fort. Die keusche Nacktheit aller dieser seltsam sinnlichen Nonnen war nahezu vollständig.
Nachdem nun all dies drängende Leben, diese Fülle köstlichster Menschenblumen, welche die Fremdheit und Seltsamkeit des Himmelsstrichs, verbunden mit dem Charakter der schönen und alten Rassen Europas, zum Ausdruck brachten, im Innern des Tempelbezirks war, wurde ihnen zuerst Freiheit, sich umherzutummeln, gewährt, und man wird sich von der Freude, der Heiterkeit, dem Übermut, der Schönheit, die sich sogleich auf allen Wegen und Stegen entfaltete, nicht leicht einen übertriebenen Begriff machen. Die Luft hier oben war von jener unsäglichen, belebenden Süße und paradiesischen Lebendigkeit, wie man sie in Europa etwa an einem Ort wie Amalfi im April genießt, wo man mitunter fürchten zu müssen glaubt, sich im wonnigsten Dasein aufzulösen. Alle diese unschuldsvollen Bakchantinnen, denen eine Welt von Lebensfreude aus den Augen brach, hatten, ob diese nun braun oder blau, schwarz oder grau waren, ob ihr Haar rotbraun, goldgelb, safranfarben oder blauschwarz unter Palmenwedeln flatterte, seltsamerweise einen verwandtschaftlichen Zug. Niemand, der sie gesehen hätte, würde an ihrer göttlichen Abkunft gezweifelt haben.
In ihren Bewegungen lag natürliche Anmut und Kraft, keine Künstelei, obgleich die edle Laurence Versuche, den griechischen Tanz wieder aufleben zu lassen, in Mütterland gefördert hatte und auch der Erfolg solcher Bestrebungen zum Ausdruck kam. Aus Kunst war gleichsam eine zweite, höhere Natur hervorgegangen.
Dem Treiben der schönen Kinder auf Kieswegen und Rasenplätzen sah Phaon, selbst ungesehen, mit tiefbewegter Seele, wo er nur konnte, zu.
Wie geradezu hoffnungslos sind wir doch, dachte er bei sich selbst, in die allersinnlosesten, allerköstlichsten Wunder hineingeboren. Wir sehen Wirkungen, sehen Folgen, die in ihrer berauschenden Formenfülle und Lebensfülle irgend einmal durch uns hervorgerufen sind, und es darf uns doch nicht einfallen, uns selbst als ihren Schöpfer zu fühlen. Vielleicht sind wir ein notwendiges, trotzdem aber bleiben wir ein winziges, ein verdienstloses Glied, das zu dem erzeugten Reichtum und seiner ewigen göttlichen Wesensart in keinem Verhältnis steht. Wer, der nicht ein Gott ist, wollte sich anmaßen, diesen Garten Eden mit allen seinen bestrickenden, durch Liebreiz betörenden, durch Schönheit fast schmerzlich Auge und Seele versehrenden Huris geschaffen zu haben. Habe ich denn überhaupt gestern gelebt? Und wie soll ich mich, wenn ich nicht ein Gott bin, davon überzeugen, daß diese und jene kleine Begebenheit, dieser und jener kleine Rausch und Genuß, der spurlos vergangen ist, wirklich und nicht nur geträumt war? Dieses alles aber ist da, es lacht, tollt, jauchzt, springt um mich, blendet mich mit einer fast wahnsinnig machenden Daseinskraft – oder ist es auch wieder nur Phantasmagorie? Es ist das eine, es hat diese Daseinskraft, und es ist auch wieder nur Phantasmagorie. Wie vereinige ich diese beiden Wahrheiten? Sie haben jedenfalls eines gemeinsam, daß sie beide vergänglich sind. Und wie bitter schade, schloß Phaon seinen Gedankengang, daß, Wirklichkeit oder Phantasmagorie, dieses Schauspiel nicht von allen nach der Schönheit hungernden und dürstenden Menschen genossen wird.
Um die elfte Stunde gegen Mittag wurde unter Vorantritt Rukminîs die Prozession zur Höhle der Bona Dea angetreten, und es muß gesagt werden, der wundervolle Kometenschweif ließ das Haupt und den Kern des Himmelskörpers erst in seinem vollen Lichte aufglänzen. Rukminî, das wurde allen heiligen Müttern klar, konnte keine menschliche Mutter, geschweige einen menschlichen Vater haben. Die Zeremonien in der Höhle nahmen ihren Verlauf, worauf der Zug, der, tanzend, singend, Schellentrommeln schwingend, nun einem gemäßigten Bakchantenzug nicht unähnlich sah, sich zum Tempel hinanbewegte. Ein Flammenmeer von Mädchenhaar schien über ihm aufzulodern.
In der Vorhalle, dem Prytaneion, des Mukalindatempels, die durch das Meisterwerk Dagmar-Diodatas herrlich geschmückt und gegen das Allerheiligste abgeschlossen war, wurden, geführt von Bihari Lâl, die zwölf göttlichen Lichtbringer in höchsteigner Person dem selig erwartungsvollen Volke der bräutlichen Jungfrauen gegenübergestellt. Es war dies ein für die heiligen Mütter fast überwältigend großer Augenblick. Hier aber hatte man sich zu gestehen, daß, wie Rukminî die Mädchen, Bihari Lâl an Schönheit die zwölf Lichtbringer weit hinter sich ließ. Eine Stille erwartungsvollen Harrens trat ein, die nur durch das nach Möglichkeit gebändigte Schluchzen der Mütter und durch das Knistern des ewigen Feuers auf dem Altar unterbrochen wurde. Nicht nur die Präsidentin interessierte sich lebhaft für das Kreuzfeuer von Blicken, das, wie man erwartete, sich nun zwischen den Bräuten und den Lichtbringern anheben sollte. In dieser Beziehung war man enttäuscht. Durchaus zurückhaltend waren die Jünglinge. Man konnte auf den Gedanken kommen – und die Präsidentin kam auch darauf –, es stecke dahinter irgendeine Durchtriebenheit. Die Präsidentin, mit andern Personen von Rang auf einer erhöhten Estrade thronend, flüsterte, zu Rodberten gewandt: »Ein Achtgroschenstück, gute Rodberte, wenn es mir nachgewiesen werden kann, daß ein einziger dieser Feuergokler auch nur einen einzigen Blick auf sein freundliches Gegenüber zu richten sich bemüßigt fühlt.«
Sie wurde durch den Eintritt der götternahen Laurence im Priesterornat aus dem Allerheiligsten unterbrochen.
Man kann nicht sagen, daß die Zeremonie im Mukalindatempel ganz und durchaus harmonisch verlief, weil von der orthodoxen Partei gegen alle Einwendungen, selbst Laurencens, Philomela Schwab als zweite Rednerin durchgesetzt worden war.
Die Rede der edlen Laurence war merkwürdig und hatte, in Kürze gefaßt, diesen Gedankengang:
Am Anfang der Dinge stehen zwei Kräfte. Eine Kraft gibt es nicht. Um sich als Kraft zu erweisen, braucht die eine Kraft eine zweite Kraft. Gott aber ist eine Kraft, und so kann er nicht allmächtig sein. Aber er ist der Besieger der andern Kraft. Und so ist er der Allkünstler, der Allbändiger. Zu den gebändigten Mächten gehört das Feuer. Aber es ist nur gebändigt, solange die Hand des Bändigers auf ihm ruht, und nur ein Teil des Feuers ist gebändigt. Das Feuer ist innerhalb aller Dinge und trotzdem ganz außerhalb. Unsre Welt, wir selbst stehen, aufs höchste gefährdet, zwischen diesem Innerhalb und Außerhalb. Aber Gott, der Bändiger, hat diese Allmacht in die Ketten der Materie geschmiedet, und dies ist der Prometheus-Sage wahrer Sinn. Die Götter des Olympos würden sich nicht besonders aufgeregt haben, wenn er nur ein wenig Feuer und die Kunst, es zu versklaven, den Menschen gebracht hätte. Nein, Prometheus war das Feuer selbst, vor dem, Helios inbegriffen, alle Götter zitterten. – Der Gedanke an die Existenz der Feuerwelt ist ein unbegreiflich großer und nicht nur furchtbarer. Das Feuer könnte vielleicht ein und alles sein, alles aus sich hervorbringen, alles in sich zurückziehen, seelische Dinge, größte Dinge, letzte Dinge, alle Dinge.
Und wie der Pastor Stellen aus der Bibel liest, las sie aus einem Buch:
»Vermittels des Feuers können wir unsre Hand an die festen Dinge legen, sie teilen, pulverisieren, schmelzen, läutern, zu immer feinerem und unfühlbarem Gewebe auseinandertreiben, indem wir ihre unsichtbaren Moleküle oder Imponderabilien zu Wolken, Nebel, Gas verbrennen: aus Fühlbarem zu Hörbarem, aus Hörbarem zu Sichtbarem, aus Sichtbarem zu Riechbarem, aus Riechbarem zu Nichts, zu wirklichem Nichts, nicht einmal zum Letzten, blauem Himmel. Das sind die mächtigen Wirkungen des Feuers, des Schmelztiegels, in den wir alle Welten werfen können, und wir werden finden, daß sie in ihrer letzten Evolution noch nicht einmal rauchen.«
Und Laurence wies auf die Altarflamme hin. Sie verglich die Hitze darin einer Pflanze und die Flamme einer frohlockenden Blüte. Aber, sagte sie, alle Sprache sei schließlich unzulänglich, um das Mysterium der Flamme auch nur einigermaßen zu begreifen. »Seht diese Flamme an, himmlische Kinder, Himmelstöchter! Warum sollte ich euch nicht so bezeichnen dürfen, da man euch selbst im weltumspannenden Finstermannland unbeanstandet Kinder der Erde, Töchter der Erde würde benennen dürfen. Im Grunde sind Erde und Himmel eins, ein großes Mysterium, und nur ausgemachte Flachköpfe können dem Irrtum verfallen, seine irdische Hälfte sei weniger erhaben, weniger mysteriös. Diese Flamme, dies heilige Feuer, was außer euch ist, ist also auch in euch wiedergeboren, ebensowohl seine Glut als sein Licht, und ihr geht einer seiner köstlichsten Emanationen entgegen, wo euch der Wesenskern des Seins, der Sinn des Seins, die Sinnlichkeit des Seins, die Sinnlichkeit des Sinnes wie eine glühende, strahlende Blüte sich aufschließen wird.«
Auf ähnliche Weise sprach sie fort, bis die Rednerkanzel Philomela Schwab überantwortet wurde.
Es ist schwer zu sagen, ob die Mädchen oder auch nur eine unter ihnen den Ausführungen der obersten Priesterin Verständnis entgegenbrachten. Äußerlich sah es nicht so aus.
Sie horchten dagegen lebhaft auf, als die heilige Mutter Philomela Schwab eine andre Tonart zur Geltung brachte, die wiederum den Beweis lieferte, daß Politik in der Kirche den denkbar übelsten Mißklang gibt und die widerlichsten Gerüche verbreitet.
Philomela Schwab variierte in ihrer Ansprache bis zur neuerlichen Ermüdung das Thema Mannland und seine Ausschließung von dem heutigen Fest. Es war diesem gleichsam zu Tode gehetzten Thema eine neue Seite nicht abzugewinnen. Aber die Rednerin ließ sich nicht einschüchtern. Was man in Mannland gesehen habe, sei vielfach nur brotlose Spielerei, und jedenfalls laufe es nicht auf die Erhöhung des göttlichen Inseldaseins hinaus, sondern suche den Rahmen zu sprengen. Man werde Mannland in dieser Beziehung ganz gewiß freie Hand lassen, denn es sei ja nur zum Vorteil für Mütterland, wenn eine möglichst große Zahl von männlichen Wesen, durch ihren kühnen Unternehmungsgeist in die Welt hinausgetrieben, anderwärts ihr Glück suchten. Daß gefährliche Elemente, die vor dem Umsturz aller Verhältnisse nicht zurückschreckten, vorhanden seien, habe ja der Leiter und Beschützer von Mannland selbst zugestanden. Der Mann sei eben kein staatserhaltendes Element, sondern ein staatszerstörendes. Für die Herrschaft der Frau, die Herrschaft der Mutter, kurz, für Mütterland, berge die Nachbarschaft immer noch jederzeit die schwerste Gefahr. Doch werde man wissen, ihr zu begegnen.
»Ihr!« Damit wandte sie sich an das Dutzend göttlicher Lichtbringer. Sie betonte mit großer Kraft diese Anrede. – »Ihr seid einer großen Gnade teilhaftig geworden, die ihr, so hoffen die heiligen Mütter, gewiß zu würdigen wißt. Trotzdem ihr eigentlich uns ganz fremde, gänzlich anders geartete Wesen seid, so haben wir euch in Gnaden aus dem Stande der Erniedrigung zu uns emporgehoben. Wir haben euch jedenfalls insoweit emporgehoben, als es überhaupt möglich ist. Haltet euch aber gegenwärtig, es ist nur bis zu einem gewissen Grade möglich! Und wie gesagt, soweit es möglich wurde, vergeßt das nie, war es nur durch uns Mütter möglich. Haltet euch aber noch mehr gegenwärtig: daß ihr nämlich ganz und gar, vom Scheitel bis zur Sohle, unsre Geschöpfe seid. Ihr seid vom Scheitel bis zur Sohle, mit Haut und Haar, mit äußeren Gliedmaßen, samt euren fünf Sinnen, sowie mit euren inneren Teilen, Herz, Lunge, Niere, Milz, Leber, Gallenblase, Dickdarm, Dünndarm, Wirbelsäule, Rückenmark, Nervensystem, grauer und weißer Hirnsubstanz, Kleinhirn und Großhirn, ganz und gar unser Werk. Wir haben euch in uns selber ausgebildet. Wir haben euch ausgetragen, verfertigt, gemacht, bis zum Fingernagel auf eurem kleinen Finger hergestellt. Hätten wir euch nicht so zusammengebaut, so zusammengeschustert, euch Leben von unserm Leben gegeben, eure Adern mit unserm Blut gefüllt, so wäret ihr heute eine Quarkspitze. Seid dessen, ihr Lichtbringer, eingedenk! Laßt es euch aber nie einfallen, anders zu uns als zu euren Erschafferinnen, in Demut, in Unterwürfigkeit, emporzublicken! Sonst seid gewiß: wir schleudern euch in euer Nichts zurück.«
»Um Gottes willen, was ist denn los?« sagte die Prächtel zu ihrer Umgebung. »Hier hat wohl jemand Appetit auf die Zwangsjacke?«
Programmgemäß wurde nun der von Bihari Lâl gedichtete Hymnus auf Mukalinda angestimmt. In einem Kanon wurden fast immer nur die Worte wiederholt und durcheinandergesungen: »Mukalinda, o Mukalinda, mein Vater, mein Vater.« Aber jedenfalls war der schlechte Eindruck, den Philomelas Rede gemacht hatte, am Schluß des Gesanges so weit hinweggespült, daß die götternahe Laurence zur heiligen Schlußhandlung schreiten konnte.
Indem die oberste Priesterin nacheinander beide Hände jedem der gebeugten blühenden Jünglingsscheitel auflegte, erklärte sie sich von dem Gotte autorisiert, jeden derselben für seinen Sohn zu erklären, was bei Bihari Lâl selbstverständlich war. Und so waren denn die zwölf Lichtbringer als die zwölf Söhne Mukalindas anerkannt und im wesentlichen das Fest beendet.
Es folgten nun Monate, die für die Kolonie auf Île des Dames nichts Außergewöhnliches mit sich brachten. Die Tage in Mütterland verliefen selig und gleichförmig. Die orthodoxe Partei war zufrieden mit sich und wiegte sich in dem Gedanken, die schwächlichen Nachgiebigkeiten der Tempelregierung in der Mannlandfrage überwunden und die strenge, matriarchale Richtlinie innegehalten und durchgesetzt zu haben. Nach wie vor übten die neugeweihten Bräute des Himmels und der Erde mit den ungeweihten, noch heranwachsenden Tänze und Spiele aller Art, nachdem sie die wenigen Pflichtstunden in dem oder jenem Beruf erledigt hatten. Selbst die Arbeit war spielerisch, da man um Nahrung und Notdurft sich wenig Sorgen zu machen und nur die Früchte zu pflücken hatte, welche Bäume und Sträucher reichlich hervorbrachten.
Eines Tages saßen die beiden heiligen Mütter Egli und Schwab beieinander. Ihr Gespräch beherrschte eine allgemeine Unzufriedenheit. Die Staatsmaschine von Île des Dames war in Unordnung geraten. Irgend etwas hatte eine Zeitlang bedrohlich geklappert, und nun war sozusagen die Panne da.
Von Mannland war ein Gerücht herübergelangt, man feire dort mit großem Aufwand an Spiel, Tanz und Gesang das Fest der Geburt Bihari Lâls. Ohne Zweifel geschah dies zum Hohn, war wohl auch als eine Art Rache gedacht für den Ausschluß vom Fest der Brautweihe.
»Vielleicht war es unrichtig«, sagte die Doktorin übelgelaunt, »unsre zwölf Musterknaben, wie du es getan hast, gute Schwab, im Tempel und in Gegenwart unsrer Mädchen herunterzukanzeln.«
»Ich habe das eigentlich nur«, sagte Mutter Schwab, »auf dein Anraten getan.«
»Ich habe dir das nicht angeraten. Ich habe nur ganz im allgemeinen gesagt, man solle beizeiten etwas dazu tun, die Bäume nicht in den Himmel wachsen zu lassen.« – »Welche Bäume?« fragte die Schwab. – »Ich meine natürlich die Bäume, die wir schließlich gezwungen sind nach Mütterland zu verpflanzen, wenn wir mit einem Fortschritt, einer Zukunft, einem Wachstum rechnen wollen. Der Knacks, den unsre gute Sache bekommen hat, ist unmittelbar nach deiner übereilten Ansprache, deutlich spürbar, eingetreten. Unsre Lage ist auf eine geradezu beschämende Weise lächerlich.«
»Nun, zum Kuckuck«, rief heftig die Schwab, »warum tut denn die allweise, allwissende, allvermögende, hohe, höhere, höchste Laurence nichts in der Sache?«
»Ganz einfach, weil sie durch dein heftiges Auftreten verstimmt worden ist. Es gibt mir jedesmal einen Stich, wenn ich diesem alten Geier, der Prächtel, oder diesem Kommabazillus, der Kalb, begegnen muß. Sie können das Lachen nicht verbeißen. Warum sterben denn diese höchst überflüssigen, höchst nutzlosen Frauenzimmer nicht? Sie waren von Anfang an doch nur Schädlinge. In diesen frivolen alten Jungfern hat doch niemals ein ernster, tüchtiger, nützlicher Gedanke das Licht der Welt erblickt. Hast du mal mit Babette gesprochen?«
»Babette sagt, Mukalinda sei beleidigt worden. Natürlich, der Unsinn ist offenbar, trotzdem hat er wie eine Bombe eingeschlagen. Es wird bei uns nichts andres mehr diskutiert, als wie man Herrn Mukalinda versöhne.«
Die Egli rief: »Ich werde einmal zu Phaon gehen und ihm ganz gehörig die Meinung sagen.«
»Du wirst ihn kaum finden«, sagte die Schwab. »Er hat sich mit den Zwölf und Bihari Lâl Gott weiß wohin, ins Unsichtbare zurückgezogen.«
Was war nun eigentlich vor sich gegangen?
Schon im letzten Jahr, während der Kämpfe mit Mannland in Sachen der Festbeteiligung, war die Geburtenziffer in Mütterland zurückgegangen. Seit zwei Monaten war Zuwachs gänzlich ausgeblieben. Auch waren Erscheinungen, die darauf hingedeutet hätten, daß dieser Zustand ein vorübergehender sein würde, nicht eingetreten. Auch im Menschlichen gibt es Saat und Ernte, wie jeder weiß. Es ist dies allerdings eine Wahrheit, die man nur selten berühren und aussprechen darf, weil man dabei ein Tabu durchbrechen muß. Hier aber muß es durchbrochen werden, weil eine Menschengemeinschaft sich in der tödlichen Lage sah, Saat und Ernte entbehren zu müssen.
Babette hatte die Erklärung abgegeben, die zeugende und lebendig machende Kraft sei beleidigt worden. Und in der Tat gab es Gründe dafür.
Alle jüngst geweihten Novizen des Mukalindakults waren natürlich mit den herrschenden Ritualen vertraut gemacht und nach und nach zum Tempelschlaf befohlen worden. Die entzückenden, heiteren, ebenso unschuldsvollen als anspruchslosen Kinder hatten denn auch die entzückendsten Träume gehabt und wurden nicht müde, davon zu erzählen. Das war aber alles, was sie von ihrem Ausflug heimbrachten. Man hörte ihr einfältiges Geplauder darüber kaum noch an.
Es war überhaupt im Tempelbezirk der Bona Dea merkwürdig still geworden. Beinahe möchte man sagen, wenn es nicht so absurd klänge, die Götter schienen von den Menschen verlassen zu sein. Jedenfalls fand man die edle Laurence dort seit einigen Wochen nicht mehr. Lolo Smith, Rukminî und die stille Dagmar-Diodata waren noch da, außer ihnen aber nur untergeordnete Dienerinnen der höheren Macht.
Dem Gerücht zufolge hatte sich die edle Laurence noch tiefer in die Einsamkeit der Insel und ihrer Seele zurückgezogen. Es gab einen Pfad, nicht allzu gefährlich, wenn er gefunden war, aber schwer zu finden und leicht zu verfehlen, der zu Laurencens neuer Einsiedelei hinabführte. Man sagte, regelmäßig werde die Einsiedlerin dort nur von der praktisch gärtnerischen Mucci Smith besucht und mit vegetabilischen Nahrungsmitteln versehen. Sie mußte barfuß oder in Bastschuhen das Steilufer bis zu Laurencens Höhle hinabklettern. In diese Höhle blickte das Tagesgestirn im Aufgehen schon hinein und erhellte sie noch im Untergehen. Auf einer Terrasse, die söllerartig über der Brandung hing, erhob sich eine schlanke, herrliche Kokospalme in den Raum. Ein natürliches Becken im Schieferton wurde jahraus, jahrein aus einer Ritze des Felsens mit dem frischesten, klarsten Wasser gespeist.
Nur Phaon, Dagmar-Diodata, Rukminî und Lolo Smith wußten außer Mucci noch von diesem Aufenthalt. Für die andern war die schöne Laurence spurlos verschwunden. So konnte man auch von ihr nichts erwarten, wenn die Versöhnung Mukalindas in Frage kam.
Abermals waren drei, vier und fünf Monate über die Insel dahingegangen. Das Eiland prangte nach wie vor in paradiesischer Herrlichkeit. Aber wenn auch kein Wölkchen an diesem glücklichen Himmel stand und, gemäß dem Mikroklima des Eilandes, nur selig erfrischende und Leben erweckende Regenschauer über es hingingen, machte sich doch bei den Insulanern ein Druck geltend, als ob ein Wolkenschatten über ihm läge.
Man hatte über das Défilé des Dames bereits die dritte Abordnung von Müttern gesandt. Die Mannländer waren von allen zugänglichen Plätzen in ein gewisses Gebirgsgebiet zurückgewichen, wo sie die Reiterin Iphis entdeckte. Selbst das Kapitol mit dem Denkmal der denkenden Hand war verlassen worden und bot sich bei Ankunft der Kommission in verödetem Zustand dar. Man hatte wohlweislich die Mütter Egli und Schwab bei dieser Kommission nicht bemüht. Trotzdem hatte sie keinen Erfolg zu verzeichnen. Sie bekam, von Iphis bis an die Verschanzungen, kann man wohl sagen, des Männervolkes geführt, weder Phaon, Bihari Lâl noch einen der Zwölf auch nur zu Gesicht.
Dagegen wurde ihnen Bianor entgegengesandt.
Mit diesem hatten sie nun zu verhandeln.
Was gab es eigentlich zu verhandeln? Dieser grimmige und schreckliche Mensch, der sich mit einer rücksichtslosen und höhnischen Dialektik breitmachte, scheuchte das eigentliche Anliegen der heiligen Mütter, wie der Löwe das Kaninchen, in den unzugänglichen Bau ihrer Seelen zurück. Und so mußten sie unverrichteter Sache heimkehren.
In Mütterland herrschte ein Zustand der Bangnis, der Angst, der Ratlosigkeit, den man sich freilich nicht in ganzem Umfang eingestand. Es stellten sich seelische Depressionen ein, wie man sie nur in den ersten Zeiten nach dem Schiffbruch gekannt hatte. Noch traten gewisse Nervenkrisen nicht im ganzen Umfang von damals auf, aber sie waren da und nicht abzuleugnen. Der Gedanke der Flaschenpost wurde wieder hervorgeholt, weil man sich schmerzlich in die große Kulturgemeinschaft zurücksehnte. Der kleinen Seeschwalbe, Sterna stolida, die man in einigen Exemplaren gefangen hatte, band man Halsbänder mit zusammengerollten Briefchen um, die von dem Schiffbruch, von der Rettung und von der Verlassenheit der Geretteten erzählten und den künftigen Leser beschworen, Schiffe zur Befreiung der Verschollenen auszusenden. Es ist nur natürlich, wenn sich der Seelendruck der Mütter auf die eingeborenen Töchter des Himmels übertrug. Auch sie fühlten ja überdies, daß irgendein Nichtvorhandenes irgendwie in Erscheinung treten müsse, wenn die Wand weichen sollte, welche Schritt und Aussicht in die Zukunft verschloß. Eines Tages hatte sich dann plötzlich das Grauen in furchtbarer Majestät aufgerichtet. Nur dann überwindet der gewöhnliche Mensch das Grauen, wenn er in das volle Leben der Menschengemeinschaft eingeordnet ist. Gleichviel, ob er sich dessen bewußt wird oder nicht. Er muß sich einbilden können, daß es immer Menschen gegeben habe, daß sie nicht nur im Augenblicke sind, sondern sich auch fortpflanzen, daß sie morgen und übermorgen, daß sie in tausend Jahren sein werden. Er muß, kurz gesagt, ein durchblutetes, lebendiges Glied am scheinbar unsterblichen Körper der Menschheit sein. Dann aber tritt das Grauen ein, wenn das an einem Aste ahnungslos weiter wachsende Blatt, wenn die sich erschließende Blüte daran irgendwie spürt, daß sie nur noch in einem Scheinwachstum, einem Scheinblühen begriffen ist, weil man den Ast vom Stamme lostrennte. Wir wissen nicht, inwieweit Blüten und Blätter fühlend sind. Hier aber, in Mütterland, lebte zuerst ein verwandtes Gefühl, aus dem sich plötzlich das Grauen aufrichtete. Wenn auch tagaus, tagein noch immer Mütterland von Gesang und Gelächter erklang, dem alten Gesang und dem alten Gelächter, wonach man gewisse Gebiete »Gefilde des Gelächters« genannt hatte, so bannte man doch nicht mehr eine immer wiederkehrende furchtbare Vision, man bannte das Riesenskelett des Todes nicht, das seinen Fuß auf die Insel gesetzt hatte.
So war eines Tages eine allgemeine Psychose, eine sinnlose Raserei zum Ausbruch gekommen. Das Weibervolk rannte unaufhaltsam mit fliegenden Haaren die Höhen des Mont des Dames hinan, um in den Tempelbezirk, den Tempel der Bona Dea, den Tempel Mukalindas, einzubrechen. Man wollte bitten, man wollte flehen, aber die Bittenden, Flehenden hatte, bevor sie es dachten, Verzweiflung erfaßt, und diese war endlich, bevor das Bitten, das Flehen einsetzte, in eine unsägliche Wut übergegangen. Man drang nicht erst in den Tempel der Bona Dea ein, man zog vor den Mukalindatempel, wo man mit drohenden Fäusten und Worten Mukalinda zur Hilfe aufforderte. Vergeblich suchten Mutter Lolo und Mucci einzugreifen. Sie forderten auf zur Besonnenheit. Dagmar-Diodata schritt, mit weinender Liebe bittend, zur Ruhe gemahnend, unter der besinnungslos tobenden Menge herum. Sie tat es vergebens. Mit einem allgemeinen und gellenden Schrei des Wahnsinns ward in den Tempel eingebrochen, der Teppich der Lichtbringer ward in tausend Fetzen zerrissen, der Altar Mukalindas umgestürzt. Kaum zehn Minuten waren vergangen, als das ganze Gebäude in Flammen aufloderte.
Hinter den Felsbastionen Mannlands, wohin sich das Männervolk zurückgezogen hatte, erblickte man, als es Nacht wurde, im Wasser des Golfe des Dames gespiegelt, den Feuerschein des Tempelbezirks. Über diesem selbst aber stand er wie eine Gloriole. Man wußte zunächst nicht, was man aus dieser Erscheinung machen sollte. Etwas Ähnliches hatte man nie gesehen, da bisher die Insel von größern Schadenfeuern verschont geblieben war. Erst als das Feuer vom Mukalindatempel, der außerhalb des Gesichtskreises lag, auf Laurencens Wohnhaus übersprang, konnte man deutlich die Flammen erkennen und bezweifelte nun nicht mehr, es müsse ein Unglück geschehen sein.
Bald danach ging das Gerücht herum, der Mukalindatempel sei in Asche gelegt worden. Zum Staunen Phaons, der mit Bihari Lâl und den zwölf Lichtbringern die Regierung von Mannland in Händen hielt, wurde diese Nachricht von dem größten Teil des Lagers mit geradezu indianischem Jubel aufgenommen. Phaon hatte denn doch nicht angenommen, daß die Wühlereien des sogenannten Empörers schon bis dahin gediehen seien.
Auf Phaons Entschließung in dem Mutter- und Mannlandkonflikt hatte allerdings das Dasein des Empörers und seiner wachsenden Macht schon eingewirkt. Der Gedanke der Auslese der neuen zwölf zeugenden Götter, die man Mukalinda beigesellt hatte, schien ihm im Sinne des Matriarchats und einer Steigerung der Eigenschaften künftiger Generationen richtig zu sein. Bereit, ihn zu stützen, hatte er auch bei dem Männervolk in diesem Sinne nach Kräften gewirkt, die Lösung der hier dadurch in Aussicht stehenden ungeheuren Schwierigkeiten einer künftigen Stunde vorbehaltend. Leider hatte das Ungeschick der fanatischen Philomela Schwab die zwölf Lichtbringer selbst aufs äußerste aufgebracht, so daß sie, gewissermaßen übereilt, ihren eigenen Vorteil geradezu hintansetzend, ins allgemeine Lager der Geschlechtsgenossen übergingen. Sie erfuhren hier wenig Dank.
Der frenetische Taumel, den die Vernichtung des Mukalindatempels ausgelöst hatte, traf Phaon auf eine vielfältig widerspruchsvolle Art. Das Weberschiffchen seines Denkens verband allerdings ein so fremdartiges Fädenmaterial, daß ihm die Absurdität des Daseins daran klarwerden mußte. Dies geschah noch mehr, als sich gleich darauf die Freude über Mukalindas Untergang seltsamerweise mit einer Empörung gegen ihn selbst verband. Und natürlich auch gegen die Lichtbringer, während Bihari Lâl zunächst nicht davon betroffen ward.
Von dem Empörer aufgeregt, drangen die Mukalindasöhne bis zu Phaons Zelte vor, das man wie alle andern aus Palmstroh flüchtig errichtet hatte: Phaon solle sein Gebot aufheben, wonach das Betreten von Mütterland den Mannländern nicht gestattet war. Phaon selber solle sie dahin anführen.
»Ich werde euch keineswegs zur Vernichtung unsrer geheiligten Satzungen das Signal geben. Die Grundpfeiler unsres Staates müssen unversehrt bleiben, was immer auch von der andern Seite verfehlt worden ist. Und ich werde euch auch niemals zur Gewalt das Signal geben. Denn Gewalt, die dem Manne so nahe liegt, ist sein schlechtestes Teil. Ich wünsche nicht, daß in euch das Schlechte, sondern daß euer Gutes entwickelt werde. Das Gute aber ist euer Geist. Ihr werdet sagen: Wir wollen auch handeln. Gewalttat ist aber kein manneswürdiges Handeln, sage ich euch, überhaupt kein menschenwürdiges Handeln. Gewalttat ist ein tierisches Handeln. Oder es ist das tote Handeln der toten Natur. Durch Gewalttat wird das Handeln der heiligen Hand entweiht. Ich gebe zu, das Symbol der heiligen Hand hat auch seine furchtbaren Seiten, aber seine überwiegende Wirkung ist wunderbar und segensreich. Eine im Zerstören und im Aufbauen gleich mächtige Kraft wird in tausendfältige, lebendige, Gutes wirkende Formen umgebildet, bis daß sie in ihren letzten Höhen und Verfeinerungen zum Ausdruck ewiger, göttlicher Schönheit wird. Nochmals also sei es gesagt: als noch so viele Gewalttat und wieder Gewalttat geschehen war, hatte trotzdem das menschliche Handeln noch nicht angefangen.
Und was wollt ihr in eurem heiligen Geburtsland, in dem heiligen Land eurer Mütter tun? Eure Mütter beleidigen und entehren? Eure Mütter in Schmach und Schande stürzen, eure Hand gegen sie erheben, oder was?
Ich, der ich bisher eure Schritte geleitet habe, werde es fürs erste auch weiter tun. Ich werde Mittel und Wege finden, wenn die Zeit gekommen ist, euch jede Genugtuung zu schaffen, die ihr verdient, und euch mit den heiligen Müttern aussöhnen.«
Der Empörer Bianor rief: »Du hast gesprochen. Wir wußten es, was du sprechen würdest, bevor du noch deinen Mund geöffnet. Denke, daß du gesprochen hast und daß deine Worte weder wie Papageien noch Paradiesvögel noch wie Flamingos oder Adler aus deinem Munde geflogen sind, höchstens wie Papageien, Paradiesvögel und Adler mit gebrochenen Flügeln. Sie liegen am Boden und rühren sich nicht. Deine Worte sind wie tot. Wir sind dahintergekommen, daß deine Worte Lügner und Verräter gewesen sind, solange sie noch lebendig waren. Du hast dich mit unsern Feinden verbündet. Man hat uns in Niedrigkeit und Erbärmlichkeit hinabgedrückt, und du gabst es zu. Du hast es mit den Feindinnen unsres Geschlechtes gehalten, weil sie dich gekauft haben. Du hast uns gelehrt, wie wir unsre Kräfte vergeuden sollen, damit wir sie nicht anwenden. Unser ganzes Tun und Treiben war unfruchtbar. Du hast uns zum Unfruchtbaren verdammt und verbannt, damit wir nicht sollten in dein Gehege kommen, weder in dein Gehege noch in das deiner zwölf Lichtbringer. Meinst du, wir hätten nicht gesehen, wie Zeburinder sich begatten? Der Mensch ist auch nur ein solches Tier. Es gibt weibliche Tiere und männliche Tiere, und die männlichen sind für die weiblichen da, wie die weiblichen für die männlichen. Aber die weiblichen habt ihr zu Göttern gemacht, uns aber zu unreinen Tieren und noch unter das Tier herabgedrückt.
Mag sein, daß Mukalinda unser Vater ist. Dann aber ist er ein schlechter Vater, nicht seinen Töchtern, jedoch seinen Söhnen. Wohl uns, sein Tempel ist niedergebrannt. Seine Söhne werden ihn nicht wieder aufbauen. Ein Sohn ist, was sein Vater ist, oder aber die Zeugungsfähigkeit eines Gottes ist weniger stark als die eines Tiers. Diesen Mukalinda bekämpfen wir, Gott gegen Gott, vermöge unsrer Göttlichkeit. Was bedürfen wir eures Lichtes, ihr Lichtbringer? In uns selber brennt ja das göttliche Licht. Auch von dir, unserm Meister in vielen Künsten und Pflegevater, erhielt ich wenigstens längst kein Licht. Im Gegenteil, du stehst mir im Licht. Deine Meinungen nenne ich weibische. Ich habe in meiner Absonderung, meiner Stille darüber nachgedacht. Der Zweck der Zeugung, der Zweck der Geburt ist nicht das Weib. Der Mann allein ist der Zweck der Geburt. Das ist meine Wahrheit, für die ich einstehe. Das Banner, welches ich auf dem Schutte des Tempelbezirks der Bona Dea und Mukalindas aufpflanzen will, trägt, aus Feuer gewirkt, die Inschrift: Mann! Es ist nicht wahr, daß Gewalt des Mannes unwürdig ist. Wo die Gewalt ist, da ist die Gewalt. Wie kann die Gewalt nicht sein, wo sie ist? Ist das Schicksal denn nicht Gewalt? Der feuerspeiende Mont des Dames, hast du uns gelehrt, habe diese Insel über den Ozean emporgehoben. Hat er es durch Überredung getan? Nicht einmal beim Feste der Brautweihe wollten die heiligen Mütter uns zulassen, als ob Mukalinda durch uns entehrt würde. Nun wollen wir sie darüber belehren, wer wir sind. Wir fürchten uns weder vor Menschen noch Göttern. Die alte versumpfte, verdumpfte Zeit ist nicht mehr. Die neue, die unsre ist angebrochen. Was sind wir im Grunde doch für ein elendes, vergessenes, winziges Häufchen Menschheit heut. Unsre Pauken, unsre Stimmen hört man kaum. Sie werden, wie die von Ameisen, von der großen, grabesstillen Natur um uns verschlungen. Wir wollen unsre Triebe befreien und alle Täler und Höhen bevölkern. Und, Vater Phaon, ich bin es, der sich auf der Leiter der Generationen bis in den höchsten Himmel fortpflanzen will. Das Brausen der Stimmen meiner Völker wird die Brandung des Ozeans um unsre Küste übertäuben, der Rauch ihrer Schornsteine die Feueresse des Mont des Dames einem winzigen Herdfeuer gleichmachen. Über den Mont des Dames, über die Insel aber, über den Ozean und alle Weltteile werde ich König sein.«
»Seit wann besteht denn die Welt, mein lieber Sohn?« fragte Phaon.
Bianor sagte: »Seit ich zum Bewußtsein meiner selbst geboren bin.«
»Nicht seit länger? So lange nur?«
»Keinen Augenblick länger«, rief der Empörer.
»So weißt du nur wenig von der Welt.«
»Ich weiß nur von einer, von meiner Welt«, rief der andre.
»Vor deiner Zeit, meinst du also, mein Sohn, sei alle Welt von geistiger Nacht, verkehrtem Wollen und bösem Vollbringen erfüllt gewesen?«
»Ja«, sagte Bianor, »das meine ich.«
»Aber du bist noch sehr jung, guter Sohn.«
»Siebzehn Jahre lebte ich«, rief der Empörer, »deren erstes – denke, was dies bedeutet! – mir das Leben gegeben hat. Was aber ist nicht alles allein in diesem ersten Jahre durch alle meine Sinne Neues in mich eingedrungen. Nimm die Erfahrung von siebzehn vollen Jahren an, und bestreite mir, daß sie ein unbegreiflich Ungeheures bedeutet, das zu vermehren kaum möglich ist.«
»Und doch bin ich dir, was Erfahrung betrifft, weit voraus, mein Sohn.«
»Deine Erfahrung hilft mir zu nichts. Erfahrungen, die man nicht selbst erfuhr, sind keine.«
»Nun«, sagte Phaon, »tut, was ihr müßt.«
Mit den Bränden im Tempelbezirk und ihrem Echo in Mannland hatte, in beiden Hälften fast gleichzeitig, die Anarchie auf Île des Dames eingesetzt, deren Beginn, von einem höhern Gesichtspunkte aus, allerdings mit dem ersten Wetterleuchten einer Periode von Frühlingsgewittern zu vergleichen war. Wenn Mutter Egli naturgemäß diese Revolte und ihre Folgen tragisch nahm, das bucklige Fräulein Auguste mehr als sonst ihren Thomas a Kempis las, verloren die beiden einander würdigen Seelenfreundinnen Rodberte und Anni nichts von ihrer gleichmütig-zynischen Heiterkeit. »Weiß Gott, nun hätte ich Lust zu leben«, sagte vielmehr die Malerin. »Vor zwanzig Jahren würde ich unbedenklich meinen alten Adam für gänzlich ertötet ausgegeben haben. Nun könnte ich, wenn ich Lust hätte, aus allerlei verrückten Träumen auf sein wiedererwachendes Dasein schließen. Aber reden wir lieber nicht davon. Denn schließlich könnten die Ochsen scheu werden, wenn zwei alte Vogelscheuchen zu schwatzen anfangen.«
Rodberte sagte, sie habe eigentlich immer nur eine Vogelscheuche auf einmal auf einem Felde gesehen, und es wäre vielleicht überhaupt ganz gut, wenn man bei solchen Vergleichen womöglich bei einem Objekte bliebe, bei dem man des Zutreffens eines so gewagten Vergleiches vollständig sicher sei.
Nie hatten Empörer, hatten Eroberer leichteres Spiel gehabt als die von Bianor geführten Mannländer. Sie wurden bereits von mänadisch begeisterten Mädchen auf dem Engpaß und Isthmus zwischen dem Golfe des Dames und dem offnen Meer begrüßt. Es war nun freilich ein andrer Zug, der sich von da an entwickelte, als jener, den der Tempelbezirk jüngst noch gesehen hatte. Wie ein Sturmwind kam er, Mädchen und Knaben vermengt, durch die Nacht gerast, von zahllosen wildgeschwungenen Fackeln umlodert, in düster leuchtenden Qualm gehüllt. Da sah man Sprünge, hörte Schreie ungebändigter Trunkenheit. Bei weitem wilder noch als im Blut der Empörer gärte, schien es, in den abtrünnigen Himmelstöchtern die Wut gegen Mütterland. Im Morgengrauen wurden die ersten der Siedlungen stampfend, jauchzend, ja tobend erreicht, wo sich alsbald alle Mädchen anschlossen. Der Tanz, das Geschrei, das Vorwärtsdrängen und ‑treiben war ansteckend. Es sog unaufhaltsam alles, was jung war, in seinen Wirbel hinein, es in der eigenen Unaufhaltsamkeit zu vergewaltigen. Bald wußte der einzelne, ausgenommen Bianor, nicht mehr, was mit ihm und was aus ihm geworden war. Bianor selber erschrak über die unheimliche Macht, welche er entfesselt hatte. Aber es war nicht daran zu denken, sie aufzuhalten, und auch er ward einem Rollstein gleich im Bette eines Sturzbachs bei Überschwemmung fortgerissen.
Die heiligen Mütter traten, starr vor Staunen und schreckensbleich, aus ihren Anwesen. Sie rangen die Hände, sie flehten, sie riefen sogar ihren Söhnen mütterlich zärtliche Worte zu, aber das Toben und Vorwärtsdrängen wollte nicht nachlassen. Es nahm in entsetzlicher Weise zu. Es war ersichtlich, die Tänzer, die Springer, die jauchzenden, schreienden, wirbelnden Körper konnten nicht mehr bei Sinnen sein. Und wenn man die Redensart »Du bist wie von einer Tarantel gestochen« oft, ohne etwas dabei zu denken, gebraucht hatte, so konnte man jetzt nichts andres denken, als daß dieser maßlos entfesselte Schwarm von einem giftigen Insekt oder giftigen Reptil durch Biß oder Stich in diesen Zustand versetzt worden sei.
Alles, was Lärm machen konnte, hatten die Mädchen, die Jünglinge aufgegriffen, griffen die Kinder bis herunter zum Kleinsten auf. Schellentrommel, Triangel, Pansflöte rasselten, quäkten, klingelten durcheinander. Wo aber, wollte man schon von den Jünglingen absehen, blieb bei den Mädchen die Wohlerzogenheit? Handlungen grenzenloser Obszönität, soweit solche in Tanz und wilder Bewegung möglich sind, wurden von ihnen, gleichsam in blinder Schamlosigkeit, ausgeübt. Sie hatten im Anfang die Mütter empört, bis Mitleid und Angst die Entrüstung verscheuchte, weil, unter die dämonische Macht eines entfesselten Triebes gebeugt, diese Schar über sich keine Macht mehr besaß.
Bald ließ sie die Siedlungen wiederum hinter sich, weshalb die noch bei Vernunft gebliebenen Mütter erleichtert aufatmeten. Schon gingen unter dem Hauch des glühenden Sturms hier und da Häuser und Magazine in Rauch und Flammen auf. Auch hatte eine beträchtliche Anzahl der heiligen Mütter der Macht des um sich greifenden Wahnsinns selbst nicht zu widerstehen vermocht. Ja, als das wilde Frühlingswetter schon aus den bewohnten Bezirken war und gegen den Mont des Dames hinanraste, wurde überraschenderweise zwischen den stillgewordenen Häusergruppen hie und da noch eine der Mütter plötzlich gleichsam von Tobsucht gepackt und in fliegendem Lauf den bakchischen Schwärmen nachgerissen.
Noch an diesem Morgen ward im verlassenen Tempelbezirk durch Bianor das Mannlandbanner aufgepflanzt: ein Fetzen Tuch mit der Inschrift »Mann!«.
Allein das Unwesen wälzte sich weiter. Es gab da überhaupt kein Halten mehr. Phaon, der ungesehen den Tempelbezirk erreicht hatte, sah es weiter den Mont des Dames hinantoben. Würde man ihn entdeckt haben, es wäre ihm möglicherweise wie Pentheus ergangen, der von Mänaden zerrissen wurde.
Phaons Weg jedoch führte ihn alsbald über einen nur ihm bekannten Abstieg an einen sonst vom Land aus unzugänglichen kleinen Hafen hinunter, wo ein besonders gut gebautes Segelboot vor Anker lag. Es war mit Proviant, Wasser und allem versehen, was zu einer monatelangen Fahrt nötig war. Dagmar-Diodata war damit beschäftigt, die Gegenstände in praktischer Weise zu verstauen, den verfügbaren Raum auf beste Art auszunützen. Sie begrüßte Phaon mit freudigem Ernst, und dieser nahm an der Arbeit teil.
Lange watete nun das Paar vom Strand zum Schiff und von diesem zurück zum Strand, wobei wenig Worte gewechselt wurden. Am Abend machten sie sich auf dem vulkanischen Sande ein Feuer.
Hier unten begegneten sich in den folgenden Wochen Phaon und Diodata Tag für Tag, ohne daß je ihr Versteck entdeckt wurde. Gewiß, es war eine Flucht geplant, aber noch schien Phaon der rechte Augenblick für sie nicht gekommen zu sein.
Der Golfe des Dames, das heißt vornehmlich die köstlichen Ufer, wurde während der nächsten Wochen zum Tummelplatz jenes Gottes, der früher als alle andern war. Mondhelle Nächte werden von ihm, man weiß es, den Tagen vorgezogen. Es war, als habe er gleichsam ein Netz ausgelegt und sowohl die Sturmtrupps von Mannland als das bakchische Mädchengeschwirm, so Jäger als Wild, darin gefangen. Über der Bucht und ihren Ufern hing Nacht für Nacht, unterm Mond verbreitet, der schwüle und berauschende Dämmer seines Mysteriums. Man konnte girrende, trillernde, sehnsüchtig jubelnde Weibesstimmen vernehmen und herrlich quellende Stimmen aus männlichen Kehlen, die sich im Taumel der Freude, im unsagbaren Glück des Schönheitsrausches hervordrängten. Plätschern von Rudern wurde gehört, und die von unten beleuchtete Rauchpinie des Mont des Dames schien nur um ihrer Spiegelung in der glatten Fläche des salzigen Binnensees und seiner Verherrlichung willen da zu sein.
Selbst Phaon unterlag seiner Anziehung. Da er den Abschied mit aller Süße und Schwere in sich trug, wollte er gern noch ein letztes Mal ungesehen das Leben belauschen, das er geschaffen hatte. Er schlich, einem Jäger ähnlich, im Mondesschatten der Bäume und Büsche umher, sich verbergend, sooft er Stimmen und Schritte hörte. Wie es dem starken und ernsten Mann in edleren Augenblicken des Lebens oft geschah, so waren in seiner Brust auch jetzt Freude und Schmerz untrennbar vereinigt. Aber beides stärker als je zuvor.
Was war es aber, was ihn erschütterte? Er war es selbst. Es war sein eignes unbegreiflich reiches Mysterium. Von den Palmen und Eukalyptushainen herab drang der Ruf eines Muschelhorns. Es war sein Atem, welcher der Muschel den Ton abgelockt hatte. Eine tiefe männliche Stimme lachte. Der Laut kam von einem Feuerchen her, das auf einer Landzunge knisterte. Es ist mein Lachen, dachte Phaon, das sich von meinem Lachen losgerissen hat, um ein eignes Leben zu leben. Oder ist es nicht mein Lachen? und dann wäre ich überhaupt nicht mein. Dann wäre überhaupt nichts mein an mir. Dann wäre ein nichtiges Ich in mir aufgeblitzt, um ein Etwas zu nehmen und weiterzugeben und zu erkennen: es ist nicht mein. Hier und da verstreut brannten Liebesfeuer. Sie leuchteten mehr oder weniger großen nächtlichen Lustlagern. Da stand der Empörer im Schein eines solchen, gelehnt an einen Brotfruchtbaum, und ließ sich von blumenbekränzten Mädchen umtanzen. Da sagte Phaon halblaut: »Du Narr«, nicht anders, als wenn man sich selbst in sich selbst bei einem dummen Gedanken abfertigt. Gleich darauf aber schritt er durch den Lichtschein und durch die Tanzenden zu ihm hin, und der Empörer weinte ihm lange am Herzen. Kaum wußte Bianor, als Phaon schnell, wie er gekommen, verschwunden war, ob er nur einer Gemütstäuschung erlegen war oder den Vorgang wirklich erlebt hatte.
Das neu errichtete Mannlandbanner betrachtete Phaon lange und nachdenklich. Es bedeutet, sagte er zu sich selbst, in unsrer Wirklichkeit, dieser Wirklichkeit herzlich wenig. Als Symbol bedeutet es viel. Was vor sich gegangen ist und eben noch vor sich geht, ist einer der ewig wiederkehrenden Akte der Natur, womit sie von Zeit zu Zeit alles Künstliche von sich abschüttelt. Schließlich ist diese ganze Insel aus dem oberflächlichen Spieltrieb des Menschen hervorgegangen. Oder sollte der Spieltrieb, so heiter und oberflächlich, so schnellfertig und hinfällig seine Erzeugnisse auch scheinen mögen, nicht so oberflächlich sein? Tief und flach sind ja schließlich nur Worte, womit wir, wenn wir sie auf seelische Dinge anwenden, etwas weder Tiefes noch Flaches bezeichnen. Jedenfalls können wir für das Flache auch das Wort »Freude« einsetzen, für das Tiefe das Wörtchen »Leid«. Das letzte Leid ist der Kunst nicht zugänglich, weil sie noch in ihren tiefsten Tiefen Freude ist. Keine Kunst also ohne Oberflächlichkeit, keine Kunst ohne Freude. Entweder die Himmel, die seligen Welten der Zukunft, werden von göttlich spielenden Kindern bewohnt, oder es lohnt nicht, sie zu bewohnen. Nach einem Himmel, in dem allwissende Greise mit wackelnden Köpfen herumsitzen, in dem ich selbst ein solcher Greis wäre, sehne ich mich jedenfalls nicht.
Alle diese jungen, rasenden Paare, was taten sie mehr, als in blinder Sicherheit dem köstlichsten Oberflächengenusse zudrängen, der ihnen die äußerstmögliche Tiefe der Lust erschließt? Hier haben wir, vielleicht zum erstenmal in unsrer Lebensphantasmagorie, eine Wirklichkeit, obgleich alle diese Tänzer, Springer und seligen Jäger der Lust von phantastischen Wolken, ein jeder von seinem besondern Traum, umgeben sind. Außerdem ist ein jeder allein, will ein jeder die eigne selige Insel erreichen. Ich trenne mich schwer von Île des Dames, dachte Phaon. Aber was soll ich tun? Ich kann auf andre Weise die Geister, die ich rief, nicht loswerden. In die Ecke, Besen, Besen! Hier würde meine verehrte, liebe Prächtel sagen: Oh, bitte sehr! – Wenn es möglich wäre, äußere Wirklichkeit zu empfinden, was nicht möglich ist – man kann nur stärker und schwächer empfinden –, so würde es mir unmöglich sein, mich von meinen Geschöpfen loszureißen, ob es nun gelungene oder mißlungene Kinder sind. Es wird mir auch so noch schwer genug. Und auch von den Müttern mich loszureißen, die ich ihnen gegeben habe, ist für das fühlende Herz eine Aufgabe. Aber ich hüte mich wohl, ihnen einzeln wiederum zu begegnen.
In unserm ewigen Frühling ist dieser augenblickliche Vorgang trotzdem eine Art Frühlingssturm. Und, Bianor, was bist du denn eigentlich, du mein lieber, ungezügelter, zügelloser Sohn? Als wir seinerzeit Bianor den Namen gaben, sagte die hochgelehrte Rodberte, er könne etwas wie »Zeugende Urmacht des Stoffes« bedeuten.
Um diese Stunde ertönte der Golfe des Dames von einer unsäglich süß-melodischen, schmerzlich-heiter-harmonischen, unvollendbaren Sinfonie. Es ist nicht bekannt, wie weit sie gehört wurde. Jedenfalls war die edle Anachoretin Laurence, die schweigend im Mondschein vor ihrer Höhle saß, von ihrer Musik berührt und ganz von ihr eingeschlossen. Seufzend hob sie das schwere Haupt, um fernhin zu horchen. Nun habe ich es doch endlich so weit gebracht, dachte sie, der außerirdischen, überirdischen Klänge teilhaftig zu sein. Sollten sie von den Planeten herabfallen? Sollten sie etwa vom Merkur, dem sonnennahsten aller Planeten, herabfallen? Und trete ich etwa, während ich diese Harmonien vernehme, schon meine Reise dahin an?
Man sagt, Merkur wende der Sonne immer die gleiche Seite zu. Die andre sei in ewiger Nacht unter Gebirgen von Eis begraben. Aber ein und der andre Forscher glaubt, zwischen ewiger Wüstenglut und furchtbarer Helligkeit auf der einen, ewiger Nacht und Eis auf der andern Seite sei eine breite, ewig heitre Zone, von den Schmelzwassern der Nacht durchrauscht, grünend, blühend bis zum Rande der ewigen Wüste hin und in ewigen Tag getaucht.
Käme die Musik von dort herab, so würde ich auf eine ähnliche Weise, wie Forscher im Spektroskop das Vorhandensein von diesem und jenem Gase feststellen, aus ihr herauslesen, daß auch auf der seligen Lebenszone Merkurs der Schmerz keine unbekannte Größe ist. Und ist es mir nicht eigentlich schon als Kind klargeworden, daß Lust und Schmerz nur die zwei Seiten ein und derselben Sache sind? Und dennoch will ich noch immer die Lust, trotzdem ich damit auch den Schmerz wollen muß.
Oder stammt vielleicht die Musik vom Uranus, wo das geheimnisvolle Jupitergas zu finden ist? Es handelt sich um einen der sonnenfernsten Planeten. Vielleicht ist er ein einziger, ungeheurer, schwebender, grauer Ozean. Vier Monde umkreisen ihn in seltsamen Bahnen. Immanuel Kant, der dem Ursprung des Seins näher als andre stand, scheint einen Wink erhalten zu haben, daß, trotz seiner Sonnenferne, dieser Planet möglicherweise höhere Lebensformen als andre beherberge. Ein Leben, aus feineren und beweglicheren Stoffelementen zusammengesetzt. – Und die edle, müde, todbereite Laurence konnte sich nicht enthalten, zu erwägen, ob nicht der Schmerz und das Wehklagen um Verlorenes, ob nicht das salzige Tränenwasser in dieser Dämmerwelt zu Hause sei. Ob nicht etwa auf ihm, dieser Wasseröde, über der die Sonne nur als kleiner Stern glänzte, das Schmerzbewußtsein des Alls gewissermaßen als Geist Gottes über den Wassern heimisch sei, eines Gottes, der den ganzen Verzweiflungsschmerz im Unendlichen über irgendeinen unersetzlichen Verlust in sich erlebe.
Nein, diese Musik war zuversichtlich und hoffnungsvoll. Es konnte viel eher die Musik eines von Eis und Nacht befreiten Paradiesesstromes sein, der wußte, daß er immer und ewig ein Eden bewässern würde.
Phaon war am Morgen nach der Meditation am Mannlandbanner nicht am Golfe des Dames, sondern am Paradiesvogelsee aufgewacht. Er bemerkte, daß nicht weit von ihm Dagmar-Diodata in Blumen saß und versonnenerweise Kränze daraus bildete. Eben hob nahe bei ihr, durch die Nüstern schnaubend, das Einhorn sein Haupt, und Gräser hingen von seinem malmenden Maule.
Nie, wann immer auch Phaon sich hier oben fand, wußte er, wie er die Höhe erreicht hatte. Eben – er kämpfte noch mit der Schlaftrunkenheit – stieg über der Kimme des Ozeans die Sonne herauf. Er sprang auf. Es hatte ihm wie Befehl, das zu tun, im Ohr geklungen.
Und er ging dorthin, wo er zuerst die einsame Frau hatte schreiten sehen, die seine Mutter war. Und sie kam, wiederum selig-still, die Allee herauf.
Jählings aber, er hatte sie noch eben betrachtet, fuhr Phaon nach dem Rücken herum. Er erblickte Laurence, welche die Linke auf seine Schulter gelegt hatte. Aber schon war die Erscheinung verschwunden.
Um ebendieselbe Stunde war Mucci Smith in ihren Bastschuhen vom Tempelbezirk aus die Felswände hinabgeklettert, um der edlen Einsiedlerin Laurence die Tagesration zuzutragen. Sie fand die Priesterin der Großen Mutter aufrecht sitzend, vom ersten düsteren Licht der kommenden Sonne bestrahlt. Als Mucci Smith, sie wußte es nicht, warum, einen leisen Schauer empfunden hatte und danach näher trat, kam es ihr vor, die edle Frau sei, den Rücken gegen den Felsen des Höhlentores gelehnt, eingeschlafen. Sie war ganz nackt. Aber ihr aufgelöstes, noch immer dunkles Haar floß mantelgleich über ihren Oberkörper herab und sammelte sich wie Flut auf der Erde.
Es ist kein Schlaf, dachte Mucci blitzartig. Mit furchtbar-unergründlich offenen Augen starrte Laurence in die Sonne hinein.
Auf einmal wußte es Mucci, was sie zu tun hatte. Der Körper der Toten war noch warm. Mucci drückte ihr weinend mit zärtlichen Fingern die Augen zu.
Und wiederum wußte Phaon nicht, wie er in das segelnde Boot geraten war, das nachts im offnen Meer mit ihm und Diodata schaukelte. Er grüßte das Feuer vom Mont des Dames. Trennungsschmerz durchschnitt seine Brust. Wie furchtbar, sagte er zu sich selbst, daß wir gerade von unsern allerliebsten Geschöpfen auf ewig getrennt bleiben. Die Qual dieser Einsicht ist so groß und wird durch jeden Versuch, diese Trennung aufzuheben, so furchtbar gesteigert, daß uns, um sie zu lindern, nur Flucht übrigbleibt.
Als Phaon dies dachte, fühlte er um Brust und Ohr einen süßen und weichen Hauch, der den Namen Rukminî formte. Im nächsten Augenblick aber erblickte er eine Zebureiterin, die mit wildem Schrei an der Stelle des verlassenen Hafenverstecks ihr bäumendes Tier in die Fluten zu treiben versuchte.
Da griff er das Steuer mit festerer Hand, und Böen der Freiheit schwellten sein Segel.