Gerhart Hauptmann
Die Insel der großen Mutter
Gerhart Hauptmann

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Ja, als die Sache allgemein bekannt wurde, entwickelte sich ein Freudenrausch, der den Frauenrat überraschte und erst wahrhaft belehrte, welche gewaltige Bedeutung dem Ereignis beizumessen war. Noch nicht zehn Minuten nämlich, nachdem Anni Prächtel ihre Ansprache mit dem bekannten Knalleffekt geschlossen hatte, wurde das Rathaus von mindestens vierzig Damen gestürmt, die wissen wollten, was an dem wilden Märchen, das in der Stadt von Mund zu Mund fliege, Wahres sei. Und diese Frauen, als ihnen die wirkliche Wahrheit unzweideutig eröffnet wurde, gerieten sofort in eine ähnliche Raserei, aber diesmal vor Freude, nicht vor Schmerz, wie sie die Kolonie bei Ritas Begräbnis ergriffen hatte. Man hüpfte, kreischte, schlug in die Hände. Man faßte einander und wirbelte sich in Kreisen herum. Man suchte fliegenden Haares das Freie, weil das Rathaus sogleich zu eng wurde. Man rannte schreiend, lachend, jubelnd umher, und viele kullerten auf der Erde. Der ganze Ausbruch gipfelte schließlich in einem Reigentanz, der einen seltsam tollen, dabei doch feierlichen Charakter hatte, darin man auch die Bewegungen bekannter internationaler Tänze sah. Auch diesmal gab es neben den sozusagen tanzenden Derwischen gleichsam heulende Derwische, das waren jene Kolonistinnen, bei denen das empfundene Glück sich in Weinkrämpfe umsetzte.

»Da hätten wir ja wieder einen großartigen Kladderadatsch«, sagte mit bissigem Lachen die Malerin, die mit Rodberte Kalb und Miß Laurence im Rathaus allein geblieben war. »Aber freilich, ich habe an dem heutigen Tage weit mehr Spaß«, fuhr sie fort, »als an dem ersten bei Ritas Begräbnis. Sehen Sie doch, liebe Laurence«, und sie wies durch ein Fenster ins Freie, »ist das nicht förmlich ein gottloser Anblick? Tanzen die Weiber nicht wie um einen unsichtbaren Götzen, irgendein heidnisches Ärgernis herum, als ob wir im Jahre zweitausend vor Christus lebten?

Übrigens muß ich auch sonst bekennen«, ergänzte sie, »ich bin neuerlich über mein Zeitalter öfters im unklaren. Meine historischen Begriffe aus den Zeiten der weiland europäischen Hochkultur verlieren täglich mehr an Realität, und so auch meine höchsteigene große Vergangenheit. Ich kann daran glauben, wenn ich will, aber ich kann sie mir nicht beweisen. Wir haben ja überhaupt kein Mittel, uns selbst und andere zu überzeugen, daß ein Ereignis von gestern wirklich geschehen und nicht nur ein erträumtes ist.

Um nun aber auf besagten Hammel zurückzukommen«, unterbrach sie sich, »Sie werden mir zugeben, daß die Partei der nüchternen Intelligenz oder besser der gesunden Vernunft durch den heutigen Vorfall nicht gerade gestärkt werden wird.«

»Präsidentin«, sagte darauf Miß Laurence, »ich bin damit von Herzen zufrieden.« Sie fuhr fort, zu längerer Rede ausholend: »Der Ursprung Gottes, der Ursprung der Welt, der Ursprung der Menschheit, der Ursprung des einzelnen Menschen, Ihr und mein Ursprung ist in mystisches Dunkel gehüllt. Beweisen Sie mir das Gegenteil, falls Sie es können, wenn ich behaupte: nicht nur der Ursprung des Lebens überhaupt, sondern das ganze Leben ist das Mysterium. Wir schwimmen darin nicht anders als die Fische im Meer herum. Wenn nun auch der Fisch mit praktischen Instinkten lebenerhaltender Art ausgestattet ist, die ihn zum rücksichtslos selbstsüchtigen Futterjäger machen und ihn befähigen, ihm bekömmliche andere Lebewesen zu unterscheiden und zu überlisten, so bleibt er doch auf das salzige Element des Wassers, bleibt auf das große Mysterium Meer angewiesen. Er wird geboren, er lebt, er stirbt, so viele praktische Erfolge er seinem gesunden Fischverstande auch sonst mit Genugtuung zuschreiben mag, in diesem Mysterium. Ich weiß nicht, ob Fische sich dessen bewußt werden. Jedenfalls ist der höhere Zustand, sich dessen bewußt zu sein. Sie werden sagen, ich neige zu erbaulichen Predigten, ich möge sie auf die Sonntage aufsparen. Ja und nein. Ich meine, selbst Sie, so geistig fortgeschritten Sie sind, und damit die ganze Kolonie können Nutzen von meinen Erwägungen haben. Einen höheren Zustand nenne ich den, wo das zeitlich und räumlich Beschränkte wohl besteht, aber das zeitlich und räumlich Unbegrenzte dem darin eingeschlossenen Sinn trotzdem nicht verschlossen, sondern durchaus weit geöffnet ist.

Ein noch so geliebtes, noch so behütetes Kind – das bin ich in meiner Jugend gewesen – hat nichtsdestoweniger, sei es mitten in London oder Berlin, ja mitten in lauter Gesellschaft, nicht selten ein Gefühl der Verlassenheit. Dieses Gefühl bringt die wahre Lage des Menschen und, wenn es sich auf die Menschheit erstreckt, die wahre Lage der Menschheit zum Ausdruck. Unser spezielles Geschick der Verbannung verstärkt dies Gefühl. Unsere Lage ist aber durch unser Geschick nur deutlicher sichtbar, wesentlich keine andere geworden. Sie bleibt eine zeitlich und räumlich begrenzte Gefangenschaft. Nur das stärkere Bewußtsein davon verstärkt wieder das Drängen ins Ewige, ins Unendliche, ins grenzenlose, freie Mysterium.

Darum finde ich es natürlich, wenn die theosophischen Strömungen, Rosenkreuzereien, Somnambulismus und andere ähnliche Bestrebungen in der Kolonie zunehmen. Im schlimmsten Fall sind es Illusionen, die Wege ins Freie, unterbrochene Verbindungen mit geliebten Wesen vortäuschen. Und solche Täuschungen brauchen wir wie das tägliche Brot. Aber es werden auch wirklich Wege ins Freie gefunden. Wir beklagen uns über die vielen spiritistischen und hypnotischen Medien. Sind wir im Grunde nicht alle Medien, und kann man es jemandem verdenken, wenn er sich auch nur einbildet, ein Instrument der Offenbarungen göttlicher Weisheit zu sein? Das Leben ist ein Gefühl, sofern es ins Bewußtsein tritt. Es variiert nicht nur von der Pein bis zur höchsten Glückseligkeit, sondern vom Orgelpunkt bis zur breitesten, unendlich polyphonen Symphonie.

Die Begründer Roms sind angeblich von einer Wölfin gefunden, gesäugt und so am Leben erhalten worden. Ich begrüße von Herzen das Mysterium, unter dem Babettens Sohn ins Leben getreten ist. Der Mythos umgibt ihn von Anfang an und braucht sich seiner nicht erst zu bemächtigen. Mir liegt nichts daran, einen Wunderglauben, wenn er fruchtbar ist und unseren Tendenzen zum Dasein Schwung verleiht, zu entkräften. Gelänge das und träte an Stelle des Wunders nichts weiter als ein kleiner Skandal, so wäre ein wesentlicher Antrieb zum Höheren, den unser Staat so nötig braucht, zunichte geworden. Halten wir an dem Wunder fest, so betrachten wir uns als Auserwählte und können uns ohne Mühe in den Gedanken einleben, wir seien die begnadeten Mütter eines zum Höchsten berufenen Volks, ja vielleicht des Erlöservolkes der ganzen Erde.«

»Ihr Optimismus trifft wie immer im großen und ganzen das Rechte, Miß Hobbema«, sagte die Malerin. »Ich bin sogar so durchdrungen davon, daß ich mit Ihnen und Rodberte im Sinne eines Komplotts zur Erhaltung von unschätzbaren Illusionen ein Triumvirat zu bilden entschlossen bin. Mädchen, geben wir uns die Hand, diesen fruchtbaren Schwindel in jeder Beziehung zu fördern. Ich sehe voraus, man wird ihn im weiten Sinne benötigen, weil sich Dinge ereignen werden, die, wenn man sie nicht ins Schöne und Erhabene hinauf steigert, unfehlbar ins Gemeine hinabsinken müssen. Wir begründen dafür einen neuen Mythos, an dem wir die ganze Kolonie mitarbeiten lassen. Paradox gesagt, wir spannen über unser Eiland eine unsichtbare gewaltige Kuppel, auf die wir unsre schönen und erhabenen Lügen, die soi-disant-Bilder, soi-disant-Spiegelbilder unsrer irdischen Schicksale in glänzenden Sternengemälden, erhabenen Mosaiken projizieren und symbolisieren. Wir werden dadurch zu einer neuen Religion, zu einer neuen Heiligkeit, zu einer neuen Wissenschaft und Kunst, einer neuen Kultur und, last not least, zu einem Nationalgott gekommen sein.«

Sie schloß:

»Helfen Sie mir diese Kuppel bauen, liebe Rodberte, liebe Laurence, und wir alle drei werden dereinst selber als Sternbilder in ihr flammen.«

»Ich muß zwar ja, aber ich möchte nein sagen.« – Damit legte Laurence ihre Hand auf die beiden anderen bereits verbundenen. Gewissermaßen feierlich und doch mit einem Augurenlächeln hatten die Präsidentin und Rodberte Kalb ihre Hände ineinandergelegt. – »Es tut mir leid«, sagte Laurence, »daß ich von Schwindel und Lüge sprechen höre, wo an Schönheit und Wahrheit zu glauben mir Bedürfnis ist.«

»Ach, liebe Laurence«, begütigte sie Rodberte Kalb, »wenn wir nur in der Sache einig sind.«

»Ja, wenn wir nur in der Sache einig sind«, wiederholte die Malerin. »Und die Tragfähigkeit unsrer Kuppel wird darauf beruhen, daß wir nach außen hin jedenfalls den Grundsatz des Code Napoléon aufs strengste festhalten: ›La recherche de la paternité est interdite.‹«

 

»Nun gut, meine Damen«, so fing die Präsidentin nach einigem Stillschweigen wieder an, währenddessen Papageien- und Weibergekreisch vermischt hereinhallte, »nun gut, meine Damen, aber wie denken Sie sich in bezug auf den Haupt- und Zentralpunkt das Weitere? – Ich meine, sind Sie der Ansicht, daß in Hinsicht auf ihn auch fernerhin alles dem unbekannten Gott überlassen bleiben soll, oder halten Sie es für wichtig, daß wenigstens wir drei Parzen uns kein X für ein U machen, statt des göttlichen einen ganz natürlichen Akt voraussetzen und diesen als weise Frauen unter Regie nahmen? Denn es wäre jedenfalls der natürliche Akt, auf dem wir unsre Zukunft aufbauen müßten. Mit der Wiederholung eines göttlichen Gnadenakts würde ja auch frühestens alle dreitausend Jahre zu rechnen sein. Das wäre ja praktisch ohne Bedeutung.«

»Ja, um Gottes und Christi willen, das ist ja unmöglich!« rief Miß Laurence. – »Was ist unmöglich?« fragte die Präsidentin. »Was soll in Gottes Namen noch unmöglich sein, wenn das Unmögliche möglich geworden ist?« – »Präsidentin, Sie werden mich nie davon überzeugen! Nie und nimmer werden Sie das!« – Anni Prächtel dagegen: »Sie meinen, von dem natürlichen Akt. Wie sonderbar, Sie glauben dafür an den andern, der ja doch nur als ein Symbol lebensfähig ist und den Naturgesetzen durchaus widerspricht.« – »Aber Er! kann es unmöglich sein! Dann muß sich ein andres männliches Wesen auf der Insel verborgen halten.«

 

Phaon stand nun im ersten Drittel des fünfzehnten Lebensjahrs. Als Jüngling genommen, glich er noch vollkommen einem Knaben, als Knabe genommen dagegen, erschien er bereits jünglingshaft. Phaon war schön, wie Rodberte richtig bemerkt hatte. Sein Vater hatte, als er ihm den Namen eines Lieblings der Aphrodite gab, zum mindesten einen Liebling der Götter vorgeahnt. Phaon, das reine Kind der Liebe, hatte bereits seine freudig-ernsten Götteraugen aufgeschlagen, als seine Eltern Hochzeit hielten. Er verdankte sein Dasein nicht der Erlaubnis eines Beamten oder Geistlichen, sondern dem höchsten Eros selbst, der sich in zwei begnadeten Menschenkindern mit Allmacht zum heiligen Schöpfungswerk verkörpert hatte.

Die Konstellation war glücklich, unter der Phaon ins Leben trat. Sonne und Venus herrschten vornehmlich in seinem Horoskop: jene stand im Mittag eines Hochsommertags, als der Schoß seiner Mutter von ihm erlöst wurde. Der Königsstern im Löwen war der Sonne verhältnismäßig nahe. Der Astrolog sah keine Störungen durch Geviert- oder Gegenschein. Es mußte sich später zeigen, welche Zuverlässigkeit den glänzenden Aspekten innewohnte, die er aus dem Sonnenstande gewann. Immerhin konnte man Phaon schon jetzt als ein schönes, vernunftbeseeltes Licht, ein Phos noëron, das sich von dem herrlichen Phos noëron der Neuplatoniker losgelöst hatte, ansprechen. Sein gesamtes Horoskop war übrigens in einer Handtasche Ritas aufgefunden und dem der Präsidentin unterstellten Archiv der Kolonie einverleibt worden.

Miß Laurence Hobbema nahm ihn als Helios, wie sie in Gegenwart der Präsidentin und Rodbertens in schöner Begeisterung gesagt hatte. Er war ihr der Sohn Hyperions, den hesperische Nymphen unterrichten und für seinen heiligen Beruf vorbereiten. Sie war neben Miß War seine hauptsächlichste Lehrerin. Wenn auch die Verquickung des Hesperiden und Helios-Mythos mit Île des Dames nur ihrem Bedürfnis entsprungen war, die insulare Notlage poetisch zu verklären, so ging doch, was Phaon betraf, ihre Meinung wirklich dahin, daß er zu Großem berufen sei. Sie war überzeugt, mochte auch vielleicht keine der Frauen die Welt der Kultur je wiedersehen, er würde doch jedenfalls, seiner hohen Bestimmung gemäß, dorthin zurückkehren. Welche frohe Botschaft, welches neue Wort oder neue Heil er indessen der Menschheit bringen werde, hätte sie einstweilen nicht zu sagen vermocht.

Miß War, die vollkommen Mutterstelle bei Phaon vertrat, war zu diesem Amt durch ein Plebiszit der Kolonie einhellig ernannt worden. Die Präsidentin, Frau Rosenbaum, Rodberte Kalb, Laurence Hobbema und die Ärztin bildeten den Erziehungsrat. Es ward beschlossen, dem unersättlichen Bildungshunger des Pfleglings und Lieblings der Kolonie auf jede nur mögliche Weise zu genügen, ihn selbst aber zu behüten wie eben eine unersetzliche Kostbarkeit.

 

Miß Wars Aufgabe war durchaus nicht leicht. Es ist schon an sich sehr undankbar, eine geliebte Mutter ersetzen zu müssen, da es, wenn es nicht mit dem äußersten Zartgefühl geschieht, meist von der Waise als ein versuchter Raub an der Toten mit bitterem Ingrimm empfunden wird. Aber Miß War besaß dies Zartgefühl. Trotzdem mußte sie, sooft sie eine Maßnahme zu seinem Wohle gegen Phaons Willen bei ihm durchsetzen wollte, die weit einsichtsvollere Mutter immer wieder vorrücken lassen. Schwerer noch fiel ins Gewicht der Mangel des Vaters, wie überhaupt der Mangel an Männern und jeder männlichen Autorität in der Kolonie. An eine solche konnte somit nie appelliert werden. Damit fehlte das letzte und beste Machtmittel. Phaons steigende Körperkraft und heller Verstand entwuchsen ja doch sehr bald allen übrigen. Enger und enger wurde denn auch die Einflußsphäre von Miß War. Besonders dort, wo die brave Person mit List oder gütlicher Überredung nicht durchdringen konnte und zu Befehl und Strafpredigt greifen mußte.

Ihre erziehlichen Pflichten bestanden in einem materiellen und einem moralischen Teil, Hälften, die allerdings nie rein voneinander getrennt werden konnten. Mit äußerster Strenge hielt sie darauf, daß Phaon sich die Pflege eines perfekten Gentleman zuteil werden ließ. Sie verstand darunter die Pflege des Haars, die Pflege der Haut, die Pflege der Nägel und der Zähne. Unabwendbar waren die täglichen Kämpfe dieserhalb. Nicht, daß Phaon gegen Körperkultur etwa Abneigung empfunden hätte, nein, er hatte dafür sogar eine Vorliebe, nur drängte ihn heftige Ungeduld mit jedem Morgen dem Leben zu und der ungebundenen Bewegung im Freien. Die Umgangsformen des Knaben und werdenden Jünglings waren von angeborener Liebenswürdigkeit. So hatte Miß War damit wenig Umstände. Ihm innewohnendes Anstandsgefühl enthob sie ebensowohl der Pflicht, Phaon über die Art seines Essens und Trinkens Vorhaltungen zu machen.

Sie hielt mit eigensinniger Monotonie bei ihrem Pflegling auf Pünktlichkeit, womit sie dem moralischen Teil ihrer Aufgabe gerecht werden wollte. Den Wildfang jedoch auf die Stundenzeiger seines eigenen Glashütter Chronometers festzulegen, war ein Unternehmen von größter Schwierigkeit. Er schien an das zeitlose Dasein der Götter gewöhnt und nur mit unendlicher Mühe für das Stückwerk der Stunden einzufangen. Und nun, zum schwersten Leidwesen von Miß War: dem Gedanken der Arbeit war Phaon durchaus nicht zugänglich. Niemals würde ein Pflug durch irgendeinen Acker der Welt gezogen worden sein, hätte man auf die Zähmung und Gewöhnung dieses Wildfohlens der unendlichen Grassteppe warten müssen. Was er tat und ergriff, tat Phaon als Spiel. Es mußte scheinen, als sei die Handlung aus freier Wahl hervorgegangen, ihr Vollbringen mußte ebenso ungezwungen, vor allem genußreich sein. Nie gelang es, wer immer und wie oft man es auch versuchte, den Knaben an eine Arbeit, die ihm als solche galt, festzubinden. Er befreite sich jedesmal unmerklich, dem Gaukler gleich, der jeder noch so kunstreich geknüpften Fessel ohne alle Mühe entschlüpft.

 

Miß War erkannte und bekämpfte nach Kräften diese gefährliche Fähigkeit. Aber der Begriff des Ernstes und der Pflicht war nun einmal in Phaons Gemüt nicht hineinzuhämmern. Freilich, es war nicht wenig, was er auch so mit Lust ergriff und spielend seinem Wesen zu eigen machte, zum Beispiel sämtliche Sprachen der Kolonie, in denen er sich leicht und mühelos ausdrückte. Auch kannte er die ganze vorhandene Literatur, soweit sie nicht langweilig war oder ihm vorenthalten wurde.

Der werdende Jüngling besaß Humor. Sein großes Talent zur Imitation ermöglichte ihm, Männer aller Nationen, Volksklassen und Berufe, die er während der Reise beobachtet hatte, auf eine höchst überraschende Weise in Bewegung und Stimmklang darzustellen. Er hatte ihnen ihre Lieblingsthemen, Lieblingserzählungen, Lieblingsredensarten und Lieblingsschwächen abgelauscht. Immer wieder machte er sich und den Damen des erzwungenen Amazonenstaats, die Sinn dafür zeigten, das Vergnügen, sich mit diesem Talent zu produzieren, was, verbunden mit seiner unverwüstlichen Lebensfreudigkeit, immer aufs neue bewirkte, daß die gute Laune auf Île des Dames nicht ganz abhanden kam. Auch in dieser Beziehung jedoch legte Miß War, wo sie irgend konnte, dem »Sonnenwagen Phaons« (eine beliebte Phrase Miß Hobbemas!) den Hemmschuh an. »Du bist kein Bajazzo«, sagte sie, »kein Clown, kein Hanswurst, kein Allerweltsspaßmacher.«

Hinter Phaons eigentliches Wesen zu kommen war nicht leicht. Der Knabe, sorglos, offen, mitteilsam, zeigte zwar niemals Neigung zur Hinterhältigkeit, aber es traten von Zeit zu Zeit bei ihm Zustände ein, die mit seiner sonstigen Art und Weise zu sein und zu handeln nicht übereinkamen. Perioden der Abseitigkeit und schweigsamen Einsamkeit schlossen sich an solche der lauten Marktläufigkeit. Und so wenig Miß War, die den Zögling gern auf der goldenen Mittelstraße festgehalten hätte, das zweite Extrem billigte, kam sie doch dagegen noch weniger auf. Sie mußte sich damit abfinden, Phaon erst Tage, dann eine Woche hindurch, mitunter darüber in seiner Bambushütte am Fleuve des Dames ungeschoren zu lassen, da ein Versuch zum Gegenteil den Flüchtling einmal zu weiterer Flucht in das unbekannte Innere des Eilands bewog, wo er längere Zeit unauffindbar blieb.

Um die Ankunftszeit des kleinen Insularwunders, des ersten Eingeborenen von Île des Dames, war Phaon nirgend aufzufinden: nicht bei Miß War, nicht bei der schönen Laurence, wo er fast jeden zweiten, dritten Tag sich stundenlang mit der nun schon mehr als zwei Jahre alten, drollig-lieblichen Diodata beschäftigte. Als später deren Pflegemutter den Knaben aus irgendeinem Grunde zu sehen und zu sprechen begehrte, seine Bambushütte und seine sonstigen Schlupfwinkel aufsuchte, war er auch dort nicht aufzutreiben. Es war nicht durchaus der Gedanke, Phaon um jeden Preis zu treffen, was Laurence am nächsten Tage bergaufwärts trieb.

Ihr Schritt schien dafür allzu nachdenklich. Das edle Geschöpf, dessen Seelenadel und innere Würde sich in jeder Bewegung und in der Haltung des ganzen Körpers ausdrückten, befand sich im Zustand tiefster Versonnenheit. Von Zeit zu Zeit schüttelte die stolze Dame ihr stolzes, durch den natürlichen Schmuck ihres reichen, dunklen, wohlgeflochtenen Haares gekröntes Haupt, als ob sie einen Gedanken abwiese, der sich ihr immer aufs neue aufdrängte. Wiederum aber von Zeit zu Zeit stieß die göttliche Frau einen tiefen Seufzer aus.

Keine der Insulanerinnen durchlebte das Schicksal, das sie betroffen hatte, so tief und allseitig wie sie. Keine vermochte ihm andrerseits eine solche Festigkeit des Charakters entgegenzusetzen. Das will sagen, ihr Denk- und Empfindungsvermögen ging wahrscheinlich über das der anderen Frauen weit hinaus, so daß sie dadurch tiefer in das Rätsel der Welt geführt und die Besonderheit ihrer Lage in Glück und Gram, Lust und Schmerz, Genuß und Entbehrung, Hoffnung und Furcht mehr als die andern auskosten mußte, daß sie aber diesem Beruf moralisch gewachsen war. Als sie noch in England lebte und in den europäischen Zentren mit den besten Geistern in Berührung kam, war es ihr nicht gelungen, das zu finden, was den unbestimmten Drang ihres Wesens beruhigen konnte. Nicht in den Kreisen der Musik noch der Literatur noch der Wissenschaft. Immer tiefer geriet sie in einen Zustand, dem sie gerade hatte entrinnen wollen, den der Vereinsamung. Nun versuchte sie es auf andere Weise und mit besserem Erfolg, sich von ihm zu befreien. Mehrere Jahre lebte sie, die glänzende Weltdame, in einer selbstgewählten Wald- und Landeinsamkeit. Sie bewohnte ein Häuschen, das außerhalb jeder Ortschaft gelegen war, und beschäftigte sich mit Gartenbau, soweit sie sich nicht dem Studium religiöser und philosophischer Fragen widmete. In diesen Jahren, wo sie während langer Monate keinen Menschen sprach, genoß sie ein Glück, das dem in Thoreaus »Walden« überaus ähnlich war. Aber wie dieser fand sie sich eines Tages wiederum in den Strudel des Lebens hineingezogen.

So war sie in gewisser Beziehung für ein Leben der Verbannung vorbereitet. Auch eine Lebensaufgabe war nun in unumgänglicher Weise da, die sie im Bereich der Kultur vergeblich gesucht hatte. Und so hatte Laurence Hobbema eigentlich nie wie hier ihren Wert gefühlt.

Danach hatte sie diese Reise um die Erde angetreten aus demselben Grunde, der sie zuerst in die Welt, alsdann in die Einsamkeit und abermals in die Welt getrieben hatte: Wunsch und Hoffnung, das zu erleben, wodurch das Dasein überhaupt erst seinen Sinn, seine Rechtfertigung und seinen Wert bekam. Statt dessen war der Schiffbruch eingetreten. Schon während der Katastrophe fühlte Miß Laurence Hobbema, daß diese Reise keine beliebige, sondern eine ihr bestimmte gewesen und sich nun etwas von der großen und dunklen Erwartung ihrer Seele verwirklicht hatte. Jedenfalls war der leise Spleen, den sie bis dahin noch immer in sich wachsen fühlte, mit einem Schlage vernichtet worden und mit den internationalen Festsälen des »Kormoran« ins Meer gesunken. Die folternde Langeweile, die sich inmitten des notdürftig lackierten, entweder seichten oder brutalen Genießertums und seiner blöden Einförmigkeit ihrer bemächtigt hatte, war mit einemmal dahin, so daß ihr der Schiffbruch selbst während eigener höchster Lebensgefahr eine Notwendigkeit, eine Erlösung bedeutete. Sie war ihrer in dieser Beziehung gewiß, denn sie hatte eine ruhige und befreite Empfindung gehabt, als sie, in keiner Weise Errettung suchend oder für möglich erachtend, dem unentrinnbaren Tode ins Auge sah.

Der Ausgang, den das Abenteuer mit der Landung auf Île des Dames genommen hatte, bedeutete für Laurence nun wirklich und wahrhaftig die große Verjüngung und Erneuerung. Sie, die widerwillig von dem großen trüben Strome der Zivilisation mitgerissen war, wußte sich nun endlich herausgehoben und abgesondert. Sie sah sich auf eigene Füße gestellt, bekam ein Bewußtsein ihrer selbst und freute sich ihres wachsenden Wertes, den sie sich mit Bezug auf die Kolonie und mit Bezug auf sich selbst und ihre immer reicher sich entfaltende, gleichsam blühende Geistigkeit zubilligen durfte. Mit ruhiger Freude, ja mit Entzücken nahm sie wahr, wie sie mehr und mehr ein Teil der Natur, des sie umgebenden Paradieses wurde, wie Kräfte und neue Organe sich in ihr bildeten, wie jeder ihrer Sinne, Gesicht, Gehör, Geruch, Getast, Gefühl, sich erweiterte und verfeinerte und wie das Bewußtsein immer mehr einem überglücklichen Hausvater ähnlich ward, der den Reichtum kaum verarbeiten und unterbringen kann, den seine allzeit eifrigen Knechte, die Sinne, ihm zutragen. Sie sagte oft, wenn sie ihren gegenwärtigen Zustand mit dem von einst verglich, wie ein Jünger Buddhas zum Meister, halblaut zu sich: »Vortrefflich, o Herr, vortrefflich, o Herr! Gleichwie etwa, o Herr, als ob man Umgestürztes aufstellte oder Verdecktes enthüllte oder Verirrten den Weg zeigte oder Licht in die Finsternis brächte.« – Laurence hatte diesen und jenen Wunsch nach Dingen, hauptsächlich Büchern, aus dem Reich der verlassenen Zivilisation, aber sich selbst dahin zurückzuwünschen, würde ihr ebensowenig eingefallen sein wie einem Knaben der Wunsch nach einer Zelle in einem Alten-Männer-Asyl oder einem Durstigen, der eben in vollen Zügen kristallreines Wasser aus einem Gebirgsquell trinkt, der Gedanke und Wunsch, aus einer laulichen Pfütze zu schlürfen. Um ihretwillen brauchte kein Schiff zu landen. Geschah es doch, so war sie entschlossen, Île des Dames trotzdem als dauernden Wohnsitz zu behalten.

 

Zweifellos litt die schöne Laurence heute bei sich an einer kleinen Unstimmigkeit. Denn außer daß sie zuweilen seufzte, zuweilen den Kopf schüttelte, stand sie mitunter lange still und wechselte überdies mehrmals die Richtung. Im Grunde ihres Wesens lag trotzdem eine hohe Freudigkeit und Festlichkeit, der Begnadung wegen, die Île des Dames durch die Geburt eines Knaben auf so unerklärliche Weise zuteil geworden war. So oder so, mochte man unbefleckte Empfängnis oder natürliche Zeugung annehmen, die Geburt eines Menschen war für Laurence das höchste Mysterium, das selbst durch ein Wunder nicht in den Schatten gestellt werden konnte. Und Erinnerungen aus eigener Kindheit, Tauffestlichkeiten, Familiengastmahle nach der Geburt jüngerer Geschwister, kamen hinzu, um die herrliche Insel von einem warmen Glanz sonntäglichen Lichtes umstrahlt erscheinen zu lassen. Übrigens stand die Taufe des kleinen insularen Erstgeborenen durch Laurence in der Kirche Notre-Dame bevor, dem man den Namen Bihari Lâl bestimmt hatte. So kam es, daß überdies ein weihevolles Vorgefühl, eine große und frohe, dabei tiefreligiöse Empfindung durch die priesterliche Jungfrau auf die Haine, Wälder, Küsten, Täler und Spitzen des Eilands übertragen wurde. Es schien Laurence geradezu mit seinem rauchenden Bergkegel ein gewaltiger Opferaltar zu sein.

Der Zufall wollte, daß ihr nach einigen Stunden versonnenen Schlenderns Phaon heiter abwärts wandernd entgegenkam. Als er einige Augenblicke in ihrem Gesichtsfeld war, gestand sie sich mit einem gewissen Befremden, hinwiederum aber auch mit einer gewissen Beruhigung, daß man ihn noch durchaus als Knaben ansprechen mußte. Daran konnte der abwechselnd tiefe und hohe Stimmklang auch nichts ändern, der ihr natürlich nicht entging, als sie der junge Stradmann mit fröhlichen Rufen und Winken begrüßte. Er teilte ihr mit, daß er allerlei Neues auf seiner Streife entdeckt habe, vor allem einen gleichsam verzauberten See, der tief in Wäldern verborgen sei, und an diesem See einen großen Vogel von so märchenhafter Farbenpracht, daß man es nicht beschreiben könne. Dieser Vogel habe sich ganz gewiß, so sagte er, von den glückseligen Inseln hierher gerettet. Denn solche müßte es, einzig und allein nach diesem Vogel zu urteilen, einst gegeben haben, und sie müßten untergegangen sein. Miß Laurence sagte: »Mein Junge, was brauchst du glückselige Inseln?« – Lachend gab er zurück, er fühle sich allerdings vollständig wohl in seiner Haut. Aber nicht nur der Vogel mit dem unbeschreiblich buntfarbigen Gefieder, sondern auch eine eigene Empfindung sei ihm Beweis für ganz andere unerhörte mögliche Wonnen, hoffentlich nicht nur in einer unwiederbringlichen Vergangenheit.

 

Es war eine Eigentümlichkeit des werdenden Jünglings, das Unerwartete ohne jede Überraschung wie etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und so hielt er sich auch jetzt bei dem Wieso und Wozu der plötzlichen Begegnung nicht auf, sondern kam sogleich auf Dinge zu sprechen, über die Miß Laurence und er sich beim letzten Zusammensein unterhalten hatten. »Hallo!« sagte Laurence nach einiger Zeit, »du warst seit acht Tagen nicht bei mir. Es hat sich inzwischen etwas ereignet, wovon ich allerdings annehme, daß es dir auch schon zu Ohren gekommen ist. Du hast einen Spielkameraden erhalten.« – Er war verdutzt. – Da versuchte sie es und kam dem gelockten Burschen mit Adebar. Ob er nicht gar beobachtet habe, daß ein oder mehrere Störche die Insel umkreist und sich dann auf ihr niedergelassen hätten. – »Störche?« Er lachte laut heraus. Trotzdem sah er sie prüfend an, mit großem Blick und, wie Laurence meinte, unsicher fragend, ja mißtrauisch. – »Nun, Phaon«, rief sie, »es ist nicht anders, ein neuer Bürger von Île des Dames ist angekommen. Freund Adebar ist gelandet und hat, in einem winzig kleinen Paket, einen winzig kleinen Knaben gebracht!« – Sie fuhr fort, wie um schnell ihrer ganzen Aufgabe entledigt zu sein: »Und denke, er hat das Paket mit dem kleinen Kinde Babette Lindemann durch den Schornstein geworfen.«

 

Diese Mythologie fiel nun sehr aus dem Rahmen der meist so hochgestimmten Seele der Miß; aber sie konnte eben auch, besonders im Umgang mit Phaon, nicht selten kindlich unbefangen lustig sein. Auch neckte sie ihren Zögling gern, mitunter nur, um ihn selbst und dadurch sich selbst zu belustigen und sich an dem Widerpart seines unversieglichen Übermuts und vornehmlich an seinem Gelächter zu erquicken. Heute mochte mit dem Kinderfibelbericht noch eine andere Absicht verbunden sein, da sie mit ihren großen dunklen Kuhaugen merkbar die Wirkung verfolgte, die ihre Worte in Phaon hervorbrachten. Diese stellte Miß Laurence zufrieden. Das Stutzen des Knaben, das folgende überlegene Auflachen, hernach das selbsttätige Ausbauen und Ins- Absurde-Steigern der Storchlegende belehrte sie zwar, daß dieses Märchen von Phaon überwunden sei, aber die nun folgenden, reichlich unbestimmten Ansätze ließen sie kaum im Zweifel über die Vagheit jener Begriffe, die er etwa an Stelle des Kindermärchens zu setzen hatte. Er fand auch die Ankunft des Knaben natürlich, und so schien er auch über das Zustandekommen des Lebens im Mutterleib und dessen notwendige Voraussetzungen durchaus im Dunkeln zu sein. Sonach gab es auch keinen Weg, ihm die hohe Erregung der Kolonie begreiflich zu machen oder gar ihn hineinzuziehen. Er verließ vielmehr bald diesen Gegenstand und kam auf andere, die ihn selbst beschäftigten.

Diese Wendung benützte Laurence, um von Mukalinda zu sprechen. – »Wer ist Mukalinda?« fragte der Knabe. Er wußte es nicht. Miß Laurence wollte wissen, ob er wirklich von Mukalinda noch nie gehört habe, und stellte sich sehr verwundert deshalb. Sie wäre der Meinung gewesen, sie habe von Mukalinda in den Stunden, wo sie und Phaon gemeinsam mit der Weisheit der Inder sich beschäftigt hätten, selbst zuweilen erzählt, und sie habe geradezu fragen wollen, ob er nicht auf den Schlangenkönig Mukalinda mit den sieben Ringen irgendwo, vielleicht am See des Paradiesvogels, gestoßen wäre.

Das sei er wohl, rief Phaon eifrig, und fing nun an, in übermütiger, vollkommen unbefangener Art auf die Fiktion eines Schlangenkönigs einzugehen. Mit Phantasie und Erfindungskraft und heiter ironischer Übertreibung schilderte er, wie und wo er Mukalinda getroffen, wie er von ihm empfangen worden sei, wie der Gott aussehe und sich bewege, daß er nur von Erde lebe und sich vorgesetzt habe, nach und nach alle fünf Erdteile zu verschlucken. Er behauptete schließlich, gesagt zu haben: »Sie werden einen furchtbaren Durst bekommen, Majestät.« Aber nein, Mukalinda meinte, er habe hauptsächlich Landhunger. Übrigens wäre ja auch das Meer . . . und so fort.

Die schöne Miß war aufrichtig froh, daß sie so vollkommen resultatlos auf den Strauch geschlagen hatte.

 

Gegen Ende August wurde Bihari Lâl getauft. Am fünfzehnten September wurde Deborah, die schöne Jüdin, durch Fräulein Doktor Egli von einem gesunden kleinen Mädchen entbunden. Im Oktober geschah dasselbe Alma, der Mulattin. Sie gebar ein vollkommen weißes männliches Kind. Dann trat eine längere Pause ein, bis im Dezember Rosita, die märchenhaft schöne Drahtseiltänzerin, den Bürgern der Kolonie einen Knaben beisteuerte. Von nun an griff die rätselhafte Schöpferkraft auf die meisten der Damen der Kolonie über, so daß am Ende als Feigenbäume, die keine Frucht brachten, nur noch Anni Prächtel, Frau Rosenbaum, Miß Tyson Page, Miß War, Miß Laurence Hobbema, Fräulein Doktor Egli und einige andere vereinsamt dastanden. – »Wir müssen uns sagen«, erklärte die Präsidentin, »wir sind weder berufen noch auserwählt, sondern vielmehr reif, ausgerottet und ins Feuer geworfen zu werden.«

Da Babette Lindemann zu Beginn des zweiten Jahres nach Bihari Lâl schon wieder, und zwar ein Mädchen geboren hatte, später Deborah sogar Zwillinge und endlich ebenso, und ohne die Reihenfolge zu verwirren, Alma sowie Rosita je ihren zweiten Buben, so konnte am Ende des zweiten Jahres nach Bihari Lâls Geburt das neue Eden einen Zuwachs von mehr als zweihundert Seelen in seinen Geburtsregistern aufweisen, die durch Rodberte Kalb ordnungsgemäß geführt wurden.

»La recherche de la paternité est interdite.« Dieser Grundsatz wurde noch immer aufrechterhalten. Und ob nun Mukalinda oder wer immer auch sonst von Göttern oder Heroen im Spiele war, es würde nicht leicht gewesen sein, sie aufzufinden und nun gar in einer so heiklen Sache zu überführen. Man kann sich denken, welche Veränderung besonders mit Ville des Dames vorgegangen war, ein Name, der nun schon lange nicht mehr so wie bei Gründung der Ansiedlung zu Recht bestand. Es waren seltsamerweise mehr Mädchen als Knaben geboren worden, aber es quäkten und purzelten auch bereits viele Knaben zwischen den Bambushütten herum. Ville des Dames hatte ehemals die Signatur einer Siedlung von Schiffbrüchigen. Die führenden Damen hatten im Grunde nichts weiter zu tun, als darauf zu denken, wie die Hoffnung, der Glauben, der Mut der Kolonisten aufrechtzuerhalten, die Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung, ja der Wahnsinn von ihnen fernzuhalten sei. Dieses Ressort der Regierung war bedeutend entlastet worden. Jetzt lag vielmehr über Île des Dames der Geist einer ortsansässigen stillen Vergnüglichkeit. Man sah nicht mehr wie früher arme Verbannte und Heimwehkranke mit zusammengebissenen Zähnen und nassen Augen stundenlang vor sich hinstarren, sondern überall war eine frische, gesunde Tätigkeit. Verrichtete man das Unumgängliche früher meist mit Verdrossenheit, so schien man jetzt Vergnügen daran zu finden. Reizbares Schweigen, heftiges Streiten und die Neigung, bei jeder Gelegenheit sogleich zu weinen, hatten einer verhaltenen Lustigkeit Platz gemacht, die sich in schalkhaften Zurufen, ja nicht selten in Heiterkeitsausbrüchen äußerte: solche verbreiteten sich mitunter über ganz Ville des Dames.

Als das seltsame Mannatröpfeln eine ähnliche Dauerhaftigkeit und Regelmäßigkeit angenommen hatte, wie sie den Phasen des Mondes, der Drehung der Erde um ihre Achse mit der Wiederkehr von Dunkel und Licht eigen ist, ließ man allmählich davon ab, über das Wunder sich noch zu verwundern. Die Malerin war mit ihrem Vorschlag, dem Mysterium auf den Grund zu gehen und es gleichsam unter Beaufsichtigung zu nehmen, nicht durchgedrungen. Besonders weil die einzige natürliche Denkbarkeit sie in eine Richtung geführt hatte, die nach den vorsichtigen Untersuchungen durch Miß Laurence, Rodberte Kalb und Fräulein Doktor Egli völlig ausschaltete. Den Ausschlag in dieser Beziehung gab Miß War. Als man ihr nämlich andeutete, daß man, allerdings ohne jeden wirklichen Anhalt, eine auf Phaon Stradmann zielende Möglichkeit habe ins Auge fassen müssen, bevor man sich zur Annahme eines übernatürlichen Ursprungs des Kindersegens von Île des Dames endgültig entschließe, wurde die Dame fuchsteufelswild, und nachdem sie alle, deren Gesinnung schmutzig und erbärmlich genug sei, um ihnen eine so unverschämte und niedrige Vermutung zu ermöglichen, mit den ärgsten und bissigsten Beinamen belegt hatte, verbürgte sie sich mit heiligen Eiden für Phaons Unverdorbenheit.

Aber dies war ihr nicht genug. Sie nahm ihren Zögling unter vier Augen ins Gebet. Und allerdings das Punctum saliens wie die Katze den heißen Brei umgehend, hatte sie sich für ihr Verhör ein raffiniertes System der Einkreisung ausgedacht, das sie ohne alle Schonung zur Anwendung brachte. Mit seiner Hilfe war der Knabe wirklich dermaßen auf Herz und Nieren geprüft worden, daß am Ende jeder, auch der versteckteste Winkel seiner Seele sein Geheimnis herausgeben mußte, wobei sich denn Phaons völlige Unwissenheit und Unschuld klar und unwiderleglich erwies.

Unmöglich konnte ein Naturkind gleich Phaon, wenn es etwas verbarg, ohne sich auch nur durch ein halbes Wort, einen Blick, eine Miene zu verraten, Miß Wars Verhör zwei Stunden und länger hindurch aushalten. Sie begann mit treuherzig schlichter Vertraulichkeit und suchte durch harmlose Zwischenfragen, während die Erzählungslust des Knaben im Gange war, ihn aufs Eis zu locken. Vergeblich aber harrte sie auf den Augenblick, wo er aus dem Konzept kommen, sich verwirren, sich verraten, kurz, gleiten und sich aufs Eis setzen würde. Nein, was sollte er ihr verraten, wo tatsächlich nichts zu verraten war.

Um nun noch an Phaons Unschuld zu zweifeln, hätte man müssen störrischer als ein Maultier sein. Und in der Tat, es gab niemand mehr, der sie bezweifelte. Nicht einmal die im Beginn der andren Umstände und überhaupt immer so realistisch gesinnte Präsidentin und Malerin. Sie hatte vielmehr zur Tilgung des allerletzten Restes von Verdacht beigetragen. Da nämlich Phaon sie oft aus freien Stücken besuchen kam, weil sie die einzige war, wie er sagte, mit der man einmal richtig deutsch reden könne, so hatte auch sie ihn auf ihre Art genau sondiert und festgestellt, daß er im wirklichen und symbolischen Sinne, also im doppelten Sinne, tatsächlich ein Waisenknabe war.

So waren die Akten in dieser Sache geschlossen, und zwar zum Segen von Île des Dames: man wußte nun eben ganz genau, mit was man es nicht zu tun hatte. Wie man von einem großen Sterben reden kann, das als Epidemie einen Weltteil verheert, so war hier ein großes Lebendigwerden festzustellen. Es hatte die Kolonie überschlichen und sie mit einer ganz unerhörten, wundervollen Erfahrung beglückt. Und wie im Gefolge einer Pest Jammer und Wehklagen ist, so konnte im Gefolge dieses wundervollen Werdeprozesses nur Freude und lauter Jubel ausbrechen.

Die dauernde Wirkung der großen übernatürlichen Tatsache, vom Kindersegen an sich abgesehen, äußerte sich im einzelnen sehr vielfältig, im ganzen jedoch durch eine neue und höhere Mentalität. Wie hätte man auch unter der Beschattung dieses erhabenen Wunders von sich noch als von einer verbannten, verlassenen, verlorenen und verstoßenen Schar sprechen, sich als solche empfinden sollen. Es wäre widernatürlich gewesen und überdies undankbar, hätte man sich nicht als eine Schar Auserwählter betrachtet und wäre man nicht stolz und glückselig gewesen, eines so unerhörten Gnadenbeweises von den unbekannten Mächten des Himmels gewürdigt worden zu sein.

Schon lange vor Ablauf des zweiten Jahres nach Bihari Lâls Geburt war der Gedanke der übernatürlichen Zeugung in seinem beglückenden und erhebenden Wert erkannt und zum unantastbaren, weil alleinseligmachenden Dogma erhoben worden. So war es recht, denn der Geist und das Aufblühen von Ville des Dames sprachen unwiderleglich für seine Richtigkeit. Übrigens würde man es auch dann geglaubt und nicht im geringsten bezweifelt haben, wenn man diese und jene der Insulanerinnen in flagranti mit einem Manne ertappt hätte. Das Dogma hatte sich durchgesetzt, und es blieb vergeblich, daran zu rütteln.

War man ein auserwähltes Volk – und niemand durfte daran noch zweifeln –, so hatte man Grund genug, für den Schiffbruch dankbar zu sein, weil er nur eine Brücke war, um den heiligen Boden von Île des Dames zu erreichen. Jede einzelne Auserwählte hatte überdies ein Recht, in hohem Grade mit sich zufrieden zu sein und große Stücke auf sich zu halten. Freilich nur die, deren quäkende oder am Gängelband torkelnde Sprößlinge lebendiges Zeugnis für ihre Beschattung durch das Wunder ablegten. Die, in denen eine Schöpferkraft nicht zum Ausdruck kam, hatten es gar nicht leicht, sich trotzdem bei einiger Geltung zu erhalten. Sie versuchten und erreichten es aber zum Teil, indem sie das Dogma nun doppelt hochhielten und dem herrschenden Geiste besonders schmeichelten.

Wovon am meisten gesprochen wurde und was den Stolz der Weiber am meisten kitzelte, ja zum Triumph steigerte, das war vielleicht nicht so sehr eine wahrscheinliche Zeusgeburt als die unumstößlich erwiesene Tatsache, daß man ohne Mann Mutter zu werden fähig war. Und in der Tat, mit diesem Erweise war der Mann entthront, und es hatte die Frau die alleinige Herrschaft der Welt angetreten.

Das verlassene Reich der Zivilisation war auf die im großen ganzen dort schon völlig nutzlose Überzahl von Männern zugeschnitten, es war eine Männerzivilisation! König, Ritter, Bürger, Bauer, Handwerker und Tagelöhner waren es, die sich als ihre Pfeiler und Vertreter aufspielten. Das Weib wurde dabei nicht einmal genannt. Es galt als minderwertiges Anhängsel. Dies würde für immer nicht anders geworden sein, wenn nicht die Stunde gekommen wäre, wo man sich ganz ohne Männer behelfen konnte. Die Weltwende war nun eingetreten, auf dem heiligen Boden von Île des Dames. Welchem Unfug wurde damit ein Ende gemacht, wieviel Unrecht und Widersinn ward damit abgeschafft! Der Mann war früher der Mensch gewesen. Mann und Mensch waren synonym. Heut wollte man aber den sehen, der seine Augen dagegen verschließen könnte, daß Mensch und Weib dasselbe sei und es außer dem Weibe einen Menschen nicht gäbe.

 

Diese grundlegende Wandlung im Gemeingeist der Kolonie mußte natürlich Phaons Stellung in ihr durchaus zu seinem Nachteil verändern. Er bemerkte sehr bald, daß er nicht nur durch die Menge der kleinen Kinder aus dem Mittelpunkt des Interesses verdrängt worden sein konnte: man würde ihn sonst zwar mit weniger Anteilnahme bedacht, aber doch nicht geflissentlich gemieden und schnöde behandelt haben, wie jetzt geschah, sooft er die Kolonie betrat. Den wahren Grund eines solchen Betragens zu erraten, hinderten ihn jedoch seine Jugend und seine heitere Arglosigkeit.

Er hatte seine Stellung als Vollmensch eingebüßt. Dies widerfuhr ihm ganz mit Recht in natürlicher Folge des neuen Geistes, der nun einmal herrschend geworden war. Aber als der einzige erwachsene Halbmensch auf der Insel trug er nicht nur einen ihm angemessenen Teil der öffentlichen Geringschätzung, sondern die ganze Last der Verachtung, die sich auf Millionen und aber Millionen Männerschultern, wie billig, verteilen sollte. Dieser Zustand veranlaßte ihn, dem Zentrum von Île des Dames mehr und mehr und endlich fast ganz fernzubleiben.

Damit ergab sich etwas von selbst, was Miß War nach ihren Erziehungsgrundsätzen mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln hätte erzwingen müssen.

Diese pflichtgetreue Person konnte nämlich durch das rätselhafte Naturereignis nicht im geringsten von ihrem Ziel der Erziehung Phaons zu einem in jeder Beziehung tadellosen Gentleman abgelenkt werden. Und in der jetzigen, wie sie wußte, gefährlichsten Phase seiner Entwicklung war ihre größte Sorge darauf gerichtet, die im Menschen und auch im Halbmenschen schlummernde und nach dem Erwachen dominierende Leidenschaft solange wie irgend möglich im Zustand der Unbewußtheit zu erhalten. Diese Unbewußtheit, die einen Jüngling zum unbefangensten Kameraden und Spielgenossen junger Mädchen macht, diese Reinheit und kindliche Unschuld war des nun schon ziemlich herangewachsenen jungen Europäers, war Phaons allbestrickender Reiz. Es war dieser Schatz, dieser Pfirsichflaum, dieser Abglanz des Zustandes vor dem Sündenfall, den man wie seinen eigenen Augapfel vor noch so geringer Verletzung behüten mußte: denn eine solche genügte schon, um diese Blüte zugrunde zu richten. Ähnlich dachten Rodberte Kalb und Laurence. Alle drei Damen begrüßten es sehr, als ihr Zögling aus freien Stücken den Boden von Ville des Dames zu meiden begann.

»Was sollte der Junge jetzt hier lernen«, fragte Rodberte Kalb, »wo sich die Weiber vollständig unter sich fühlen? Schon vorher, aber nun erst recht, seit sie Kinder kriegen und nicht wissen von wem, ist etwas Naturwesenhaftes über sie gekommen. Das ist an sich eine Sache, die zu begrüßen ist als Beweis einer warmen, wohligen und gesteigerten Vitalität. Schon heut würden unsre Damen in eine europäische Gesellschaft nicht mehr hineinpassen. Aber mit der Rückkehr zur Natur verbunden ist eben auch die Natürlichkeit. Und was die Natürlichkeit unsrer Damen betrifft, so läßt sie allmählich gewiß nichts mehr zu wünschen übrig. Ja, gegen ihre Übertreibung durch Erlasse einzuschreiten, hat sich sogar unsre doch wahrhaftig weitherzige Präsidentin bewogen gefühlt. Unsre Damen sind geradezu frech geworden.

Die Frechheit wächst aus dem Übermut, und dieser wieder stammt aus dem glücklichen Boden, der uns ernährt, dem glücklichen Himmel, der über uns ist, kurz aus der üppigen heiteren Fülle, in der wir leben. Alle unsre Sinne erfahren täglich die reichste und süßeste Sättigung. Dadurch haben die Blicke der Damen abwechselnd etwas schläfrig Gesättigtes und etwas glühend Begehrliches angenommen. Denn es ist klar, daß bei immerwährender Sättigung auch das Begehren hier unersättlich ist. Was aber die Moral betrifft, so hat sie wenig Aussicht, eine Rolle zu spielen bei einer so heißen, furchtlosen Triebhaftigkeit, die, wie wir sehen, dazu führt, daß wir schon ohne Männer Kinder bekommen. Nun haben wir zwar eine Art Urzeugung, und es ist richtig, daß man, stolz auf die Beschattung des von jeher so kinderreichen Zeus, absolut männerfeindlich ist. Aber ich könnte mich nicht für die Zeustreue unsrer Damen verbürgen, wenn ein Achill oder Hektor oder auch nur ein hübscher Marineleutnant hier auftauchte. Und unser Phaon wird bald einem Alkibiades an Schönheit nichts nachgeben.«

»Nach meiner Erfahrung«, sagte Laurence Hobbema, »haben alle Kolonistinnen Phaon, das Kind unsrer Kolonie, für tabu erklärt. Ich glaube nicht, daß irgendeine für ihn anders als mütterlich empfindet. Dagegen kann man dem Knaben die Augen nicht zubinden. Unsre Damen haben sich sehr verschieden entwickelt, einige sind so wild und gewandt wie Pantherkatzen, andre, und zwar ein großer Teil, sind gleichsam zu üppigen Pflanzen geworden. Weder in der Bekleidung noch Entkleidung zeigen sie Schamhaftigkeit. Die Kinder werden, wo man geht und steht, öffentlich an die Brüste gelegt. Wahrhaftig, den großen Rubens würde ein Gang durch Ville des Dames sehr befriedigen. Trotzdem bleibt das Tabu undurchdringlich. Nur, wie gesagt, die Augen Phaons kann man nicht zubinden. Und das müßte auf die Dauer von schlimmen Folgen für ihn sein.«

Laurence, die auf der Insel allgemein schlechthin »die Göttin« genannt wurde, teilte Rodberte Kalbs Bedenken, aber sie fügte die ihren hinzu, und diese bezogen sich auf eine, wie sie meinte, in Phaon inkarnierte höhere Idealität. Die Reinheit des Epheben, die Miß War sowie Rodberte heilighielten und bewahrt wissen wollten, war ihr mehr als nur kindliche Unwissenheit. Vielmehr kam sie auf das zurück, was sie einst der Präsidentin gegenüber vertreten hatte, wonach sie Phaon die Rolle eines jugendlichen Helios zuteilte, der bestimmt sei, später einmal die Welt zu erleuchten. Das war nun freilich ein anderes Ziel als Miß Wars vollendeter Gentleman: und dieses Ziel sah »die Göttin« gefährdet.

Sie war es, deren Lust am Mythos und deren Neigung zum Transzendenten überhaupt den neuen Geist von Île des Dames geschaffen hatte. Sie hatte dem rätselhaften Ereignis von Île des Dames sofort den Charakter eines Wunders im Sinne Babette Lindemanns zugestanden, und ihre Begeisterungsfähigkeit hatte diesem Wunder den hohen und höchsten Sinn einer Neuorientierung der gesamten Menschenwelt beigelegt. Sie war die Schöpferin jenes neuen Bewußtseins geworden, wonach sich die Verbannten von Île des Dames als auserwähltes Volk betrachteten, ja als Erlöservolk der Welt. Damit war sie zur Schöpferin eines neuen Glaubens, einer neuen Liebe, einer neuen Hoffnung geworden. Aber völlig voneinander verschieden waren nun freilich die Motive, die sie nach Annis Erläuterung zur Mitarbeit an der mystischen Kuppel des neuen Doms von Île des Dames veranlaßten, und jene, die sie dazu brachten, in Phaon nicht Phaon, sondern einen Helios, einen Luzifer, einen Phos noëron, einen Lichtbringer, einen Heiland zu sehen.

Der Glaube, den sie der Kolonie geschenkt hatte, war, verglichen mit dem, den Phaon ihr einflößte, eher auf künstlichem Wege zustande gekommen. Der Enthusiasmus für Phaon war unsozial. Der Reichtum seines Geistes, die Schönheit seiner ganzen Erscheinung hatten es ihr, so wie dem Sokrates etwa die des Phaidros, angetan. Und wie dieser die Schönheit und Reinheit des Phaidros, wollte sie die seine behüten.

So hatte sie es bei der Präsidentin, allerdings ohne alle Mühe, erwirkt, daß für Miß War und Phaon eine knappe Stunde abseits der Siedlung an einer luftigen und gesunden Stelle ein hübsches Holzhaus errichtet wurde, das neben den Wohn- und Schlafräumen der beiden auch einige Schulräume besaß, wo Phaon unterrichtet wurde. Man dachte daran, diese Gelasse in späterer Zeit noch besser zu verwerten, wenn der Nachwuchs von Île des Dames erst das schulpflichtige Alter würde erreicht haben. Nicht selten zog sich auch die Präsidentin auf Stunden, ja auf Tage in diesen Zufluchtsort zurück, für den sich der Name »Akademie« einbürgerte: Miß War, oder wer sonst gerade im Hause weilte, konnte bei jedem Besuch der Malerin ohne weiteres voraussetzen, daß ihr das Treiben des auserwählten Volkes wieder einmal zu bunt geworden war.

Dies war das letztemal geschehen, als das Dogma der alleinseligmachenden Weiberkultur zum erstenmal gleichsam die Zähne zeigte: denn daß Phaon als männliches Wesen mit scheelen Augen betrachtet wurde, war schließlich eine Geringfügigkeit. Und überdies wurde der Knabe selbst in seiner wahrhaft göttlichen Laune nicht im geringsten dadurch beeinträchtigt. Allein nun richtete sich das Dogma mit gesträubten Borsten und entblößten Hauern wie ein schwarzer mächtiger Keiler im Sumpfe auf und wetzte seine gebogene Waffe, um sich zum Kindermord vorzubereiten.

Allen Ernstes nämlich nahm eines Tages die Mehrzahl der Frauen, welche Mädchen das Leben gegeben hatten, an der Existenz der Knaben Ärgernis und stellten in öffentlicher Versammlung zunächst die Frage zur Diskussion, wie man sich der durch die Geburt von Knaben dem rein weiblichen Zukunftsstaat drohenden Gefahr zu erwehren gedenke. Widerspruchsvoll, wie Weiber nun einmal sind, wurden die Mütter von Knaben durch diese ganz berechtigte, weil folgerichtige Frage aufs äußerste aufgebracht, denn sie sahen ganz allein die Gefahr, die ihren geliebten Sprößlingen drohte. Die schwache Position aber, die sie nun einmal innehatten, konnte durch bloße Ausbrüche ihrer angstvollen Wut und Entrüstung nicht verstärkt werden: vielmehr zog die Gegenpartei ihren Nutzen daraus. Sie bewies, daß, wenn man die Frage als zu Recht gestellt nicht gelten lassen wollte, das Dogma damit verraten sei. Und so drangen sie, da sie durch die Heftigkeit der Knabenmütter ebenfalls leidenschaftlich erregt worden, außerdem in der Mehrzahl und schließlich im Rechte waren, insoweit durch, daß die heikle Frage besprochen wurde.

Es könne, wenn auch nur halb soviel Knaben als Mädchen geboren wurden, von einem künftigen Weiberstaat nicht die Rede sein. In den Staaten der Amazonen seien, um sie rein zu erhalten, die männlichen Kinder getötet worden. Man habe sie, weil dies wohl die mildeste Form der Ausmerzung sei, gleich nach der Geburt in den Gebirgen ausgesetzt. – Diese Erwähnung genügte, um Ville des Dames zum erstenmal in zwei feindliche, geradezu wütende Heere zu spalten.

 

Als die Präsidentin nach diesen Vorfällen verärgert und wütend die Akademie betrat, floß ein ziemlich unverständlicher Strom von Worten aus ihrem beredten Munde: Worten, unter denen das, mit dem sie begann, das, welches sie zumeist wiederholte, und das, mit dem sie endete, das Wort »Blödsinn!« war.

Wäre Miß Laurence zugegen gewesen, es würde zu einem jener Zusammenstöße gekommen sein, die sich zwischen den beiden einander übrigens gar nicht abgeneigten Damen oft ereigneten, aber dieser hätte wahrscheinlich alle früheren in den Schatten gestellt. So aber traf sie nur auf Miß War, und ihr gegenüber konnte sie, wenn es sich um die Folgen des Wunders von Île des Dames handelte, ohne mit einem Widerspruch rechnen zu müssen, frei von der Leber weg reden.

»Diese Frauenzimmer«, sagte sie, »sind alle ohne Ausnahme übergeschnappt. Es fehlt ihnen absolut die Korrektur durch das Männliche. Mir selber fehlt diese Korrektur, und ich fühle genau, wie ich dem allgemeinen Wahnsinn langsam, aber sicher verfalle. Auf öffentlich anerkannte Lügen«, fuhr sie fort, »stützt sich ja auch die sogenannte europäische Zivilisation. Manches mehr oder weniger geistreiche Buch ist über das Thema der konventionellen Lüge verfaßt worden. Es gibt ganz wenige produktive Wahrheiten, aber um so mehr produktive Lügen und Irrtümer.« Sie sagte, man habe dafür unzählige, heiliggesprochene Beispiele. Aber dabeizusein und aus nächster Nähe zu erleben, wie mitten in der Wildnis so ein dicker, fetter, geiler Irrtum aufsprieße und aufschieße, immer fester einwurzele und den Himmel mit seinem Wipfel verdecke, und dabei müßig zuzusehen, das sei für eine Natur wie sie keine leichte Aufgabe.

Hier strengte der Geist Miß Wars sich vergeblich an oder weigerte sich, auf den Sinn dieser Worte einzugehen. So pflegte sie auch ihr Gesicht zu wenden, wenn ihr einmal Anni Prächtels Blick gerade und fest die Augen traf.

»Die Welt ist auch voller Donquichotterie«, fuhr die Prächtel fort. »Und es ist ganz gut, warum denn nicht, daß wir auch von diesem Artikel ein gerütteltes und geschütteltes Maß aus dem Schiffbruch gerettet haben. In der schönen Laurence haben wir zwar einerseits eine Göttin an Kraft, Güte und Menschlichkeit, aber sie könnte trotzdem gut eine von la Mancha sein. Sie macht uns verrückt. Sie treibt den Wahnwitz auf die Spitze.

Es ist mir im Grunde gleichgültig, wie dieser Kindersegen zustande kommt. Es ist mir mitunter, als kröchen, purzelten, flögen alle diese Bälger direkt aus dem schwangeren Schoß dieser lächerlichen Insel hervor. Warum sollten im Feuerbauch von Île des Dames nicht mehrere hunderttausend Kinder jährlich zustande kommen und an die frische Luft gesetzt werden. Ebenso könnten dort höllische Dämonen wohnhaft sein und nachts durch die Krater und Fumarolen aufsteigen, um unsichtbar mit den Töchtern der Menschen zu buhlen. Wie gesagt, es ist mir ganz gleichgültig. Wenn man aber das Forschen nach dem Ursprung des Phänomens aus bestimmten Gründen beiseite setzt, so sollte man bedenken, daß andere, nicht minder wichtige Gründe dafür vorhanden sind, aus dem Unsinn einer bloß weiblichen oder übernatürlichen Zeugung Schlüsse zu ziehen, die zu verbrecherischen Handlungen hinleiten.«

Es war dem obersten Frauenrat und anderen besonnenen Elementen zu danken, wenn das Verbrechen des systematischen Knabenmords nicht zum Gesetz wurde. Es wurde aber eine strikte Trennung von Menschen und Halbmenschen, Mädchen und Knaben, durchgesetzt, indem man eine Siedlung nur für Knaben einrichtete. Dorthin wurden die männlichen Sprößlinge unmittelbar nach der Entwöhnung gebracht und dort zunächst unter guter Pflege und Aufsicht gehalten, später wollte man weitersehen.

 

Am dritten März im dritten Jahre nach Bihari Lâls Geburt rannte eine Strandwächterin, den Bambusspeer hoch in der Faust schwingend, mit dem Ruf »Ein Schiff! Ein Schiff!« durch die Kolonie.

Nachdem man die Atemlose einigermaßen beruhigt und sich überzeugt hatte, daß diesmal nicht, wie auf Veranlassung Phaons öfter geschah, blinder Lärm geschlagen wurde, traten Laurence, Tyson Page und Rosita, die ehemalige Tänzerin, unter Führung der Wächterin den Weg nach der Stelle an, von der aus das Schiff zu sichten sein sollte.

Die Nachricht wirkte in der Kolonie wie ein Donnerschlag. Da es noch früh am Tage war, mußten allerlei Mutterpflichten erledigt werden, bevor andere Trupps sich dem ersten anschließen konnten. Inzwischen bildete sich vor dem Rathaus ein großer Zusammenlauf.

Der gesichtete Dampfer sollte ein gewaltiges Schiff mit drei oder vier Schornsteinen sein und mit direktem Kurs von Westen her auf die Insel zulaufen. So war es denkbar, daß man den Fünfuhrtee bereits in einem prunkhaften Damensalon, vielleicht an Bord eines der herrlichen deutschen Chinafahrer, genoß, und wenige Stunden später konnte Île des Dames möglicherweise im Weltmeer für immer versunken sein.

Die Empfindung der Freude brach natürlich zunächst mit elementarer Gewalt hervor, verbunden mit einem Sturm von Hoffnungen, die, scheinbar erstorben, nur geschlummert hatten, nun aber doppelt lebendig aufstanden. Dagegen freilich meldeten sich auch andere Empfindungen, die dem Trank der Freude eine sich deutlich geltend machende Menge Wermut beimischten. Eine Viertelstunde nach dem Bekanntwerden der großen Neuigkeit hätte man leicht zu dem falschen Glauben gelangen können, sie werde nicht als die Kunde von einem nahenden Glück, sondern von einem verheerenden Unglück aufgefaßt, da sich die allgemeine Erschütterung vornehmlich durch Weinen und Jammern Luft machte.

 

Als Laurence, bevor sie, mit ihrem Trupp in den Palmenwald einbiegend, Ville des Dames aus den Augen verlor, diese schmerzlichen Laute vernahm, sagte sie: »Ich verstehe euch schon, meine Lieben.« Und wie sie dann eine Weile, wie die andern heftig atmend, schweigend und mit ernstem Gesicht aufwärts geschritten war, fing sie eine Art lauten Selbstgespräches zu führen an, das sie, soweit der Weg es erlaubte, fortsetzte.

»Ja, ja«, sagte sie, »meine guten Schwestern, ihr seid nun wieder einmal auf katastrophale Weise zwischen Gewinn und Verlust gestellt, und nur der Verlust ist wirklich sicher. Alles, was ihr aus Eigenem geworden seid, geschaffen und erworben habt, das wird in wenig Sekunden wie durch ein Erdbeben durcheinandergeworfen, wie durch eine Sintflut hinweggespült. Wiederum wird eine schöne Epoche durch eine Art Schiffbruch abgeschlossen.

Ich wette, schon seid ihr nicht nur dem großen Ideale von Île des Dames untreu geworden, sondern die neue Seele, die ihr euch in Jahren der Not aus eigener Kraft erworben habt, ist von euch bereits über Bord geworfen. Ihr schämt euch schon jetzt eures mutig-stolzen Willens, eurer mutig-stolzen Gedankenwelt, eurer freien und eigenmächtigen Tat. Gewiß, eure Puppenkleider warten schon, und ihr werdet sie mit Genuß wieder anlegen.«

»Es gibt keine Wahl«, sagte Miß Tyson Page. »Landet das Schiff, so sind wir gerettet und verloren. Ich muß dann unbedingt, wie ich mir vorgenommen hatte, meine Studien in Paris bei der Artôt fortsetzen. Wenn Sie es freilich jetzt in meine Hand legten zu entscheiden, ob das Schiff landen oder fernbleiben soll, ich würde schweigen, beste Laurence, und in Ewigkeit weder ja noch nein sagen.«

Eine Weile schwieg man gedankenvoll. Dann sagte die Tänzerin unter Hüsteln: »Wir werden gewiß zur Sensation werden. Ich fürchte, sie wird schon beginnen und man wird sich nur mit allergrößter Mühe das Lachen verbeißen, wenn wir mit Kind und Kegel an Bord kommen. Nun, ich kenne in Brüssel eine sehr zuverlässige Frau, der kann ich die Kinder in Pflege geben.«

Laurence, die noch immer hochatmend, einer Pallas Athene nicht unähnlich, begleitet von Venus und Diana bergan eilte, – Laurence hatte also gesagt, daß bei dem, was herannahe, nur der Verlust das Gewisse sei. Und sicherlich war es allein schon ein Verlust, wenn man diese jugendliche und zukunftsreiche Welt gegen die platte Alltäglichkeit einer überlebten Zivilisation hingeben mußte. In dieser war man ein Tropfen im Meer. Die Mädchen und heiligen Mütter von Île des Dames, die sich an das große, freie Handeln und Wandeln von Göttinnen gewöhnt hatten, würden demnach, in die allgemeine Menschengesellschaft zurückgenommen, einige Tropfen in ihrem Ozean gewesen sein, und sie wären also in ihm verschwunden.

Aber sie hätten zudem ein wirkliches und wahrhaftiges Paradies an Reichtum und Schönheit – das war Île des Dames – zurücklassen müssen.

In den nunmehr vollendeten vier Jahren ihres Aufenthalts hatten die Kolonistinnen in der Entdeckung und Benutzung dieser Reichtümer große Fortschritte gemacht. Rodbertens gewissenhafte Chronik verzeichnete genau die glücklichen Tage, Funde und Finder. Der höchste Glanz umstrahlte dort den Namen der kleinen Mucci Smith, die bereits am Morgen nach der Landung die Präsidentin mit den herrlichen Früchten des Durianbaumes erfreut hatte. Sie hatte sehr bald danach in Höhen von über tausend Fuß Haine, ja Wälder von Dattelpalmen, Phoenix dactylifera, festgestellt, ein Baum, von dem Mohammed zu den Seinen die Worte sprach: »Ehret ihn als eure Base.« Und sie hatte gelehrt und gezeigt, wie man aus ihm Brot, Wein, Essig, Honig, Mehl und allerlei Flechtwerk gewinnen könne und wie auch noch die Dattelkerne verwendbar seien. Auf Vorschlag der Göttin Laurence wurde Mucci mit allen Stimmen der Name Thamar, das ist die Palme, zuerkannt. Nun aber gelang der unermüdlichen Mucci, der neuen Thamar, erst der wahrhaft große Wurf.

Eines Tages hatte sich Thamar in ihrem botanischen Forschertrieb bis in eine Höhe von etwa dreitausend Fuß verirrt. Ihre Schwester Lolo begleitete sie. Diese hatte ahnungslos von einem immergrünen Strauch einen Zweig voll roter Beeren gebrochen. Thamar aber bemerkte ihn erst, als man längst den Ort, von dem er stammte, verlassen hatte.

Die Rinde des Holzes war weißlichgrau und rauh, das Blatt dem Blatt des Zitronenbaumes nicht unähnlich. Es zeigten sich weiße, balsamische Blüten neben roten, fleischigen Beeren. Einige waren tief purpurfarben. Die hübsche Thamar wurde nachdenklich und veranlaßte Lolo, mit ihr an den Fundort des Zweiges zurückzugehn.

Sie fanden ihn bald in einer nach Westen offenen Schlucht, die sich hernach zu einem lieblich terrassierten Tale erweiterte, und als Thamar den Bruch und den ganzen Strauch geprüft hatte, überzeugte sie ein Blick in die Talweite, daß er dort überall Geschwister hatte. Es kletterten Sträucher und Bäume derselben Art die Terrassen hinan als Unterholz, das von Palmenwipfeln beschattet wurde. Lolo erschien das Benehmen Thamars überaus sonderbar, da sich ihrer eine nur mit Mühe zu dämpfende Erregung bemächtigt hatte. Keine der beiden Jungfraumütter konnte sich erinnern, je ein so verzaubertes und bezauberndes Fleckchen Erde erblickt zu haben. Überall sorgten klare und frische Quellen für Kühle und Fruchtbarkeit. Es schien beinahe, als habe der unsichtbare Gärtner dieses wahrscheinlich nie von Menschenfüßen betretenen Bereichs ihre glucksenden Rinnsale sorgsam an die Wurzeln der Bäume geleitet. Da sagte Thamar: »Wenn mich nicht alles täuscht, wird dieses herrlich duftende Paradies uns in ungeahnter Weise beglücken, nicht mit Gold, aber mit einer Sache, die viel tausendmal wertvoller für uns ist.«

Schon nach Minuten war Thamar an einen anderen Strauch gelangt und hatte von ihm sowohl die weiße, stark duftende Blüte als auch junge und alte Beeren genommen. Die alten Früchte waren vertrocknet. Aus ihren braunen, knorpligen und bitter schmeckenden Kapseln kamen, wenn sie Thamar öffnete, je zwei grüne und ziemlich harte Kerne hervor, die selbst Lolo sofort als Kaffeebohnen erkannte.

So brauchte man also den köstlichen Kaffeetrank in Ville des Dames nicht mehr entbehren, und das war für das Leben der Kolonistinnen von höchster Wichtigkeit. Allein schon durch das Bewußtsein, Kaffee zu trinken und jederzeit genießen zu können, sah man sich in die große kulturelle Weltgemeinschaft wiederum eingeordnet, und so minderte sich die Empfindung der Ausgestoßenheit; durch den Genuß an sich aber ward das tägliche Wohlbehagen gesteigert, und in seinem Gefolge zeigten sich bald die Reize einer wärmeren Geselligkeit und Geistigkeit.

Die im übrigen noch entdeckten und benützten Schätze der Insel waren der Tabak, der Hanf, die Pfefferrebe, einige Arten zimtgebender Bäume, das Zuckerrohr, das gern gekaut wurde, vielerlei Früchte und vielerlei Holzarten, darunter eine von äußerster Härte, schön geädert, schokoladefarben, die poliert die Eigenschaft des Spiegelglases gewann und von den Damen auch so gebraucht wurde.

In gewissen Ufergebieten waren natürliche Salzdepots entstanden durch einströmendes Seewasser, das in flachen Tümpeln schnell verdunstete. Damit hätten ganze Provinzen, nicht nur die wenigen Seelen des auserwählten Volkes, ihre tägliche Suppe versalzen können.

Nicht nur Phaon, sondern auch Miß Page, Rosita, Lolo Smith, die Mulattin Alma und andere Damen brachten täglich Pfauen, Fasanen, Schnepfen, Wachteln, Waldhühner, ja nicht selten auch große und kleine gefleckte Hirsche als Jagdbeute heim. Und ebenso lohnte die Fischerei in Bächen, Flüssen und Buchten.

Tonlager hatten das Formen und Brennen von Krügen, Tellern und Tassen möglich gemacht, und auch sonst waren viele Geräte entstanden, die der Geschicklichkeit und dem Geschmack der Kolonistinnen Ehre machten.

Mit alledem konnten die Reichtümer, Reize und Annehmlichkeiten des Eilands längst nicht als erschöpft gelten. Es besaß unzählige offene und verborgene Schönheiten, Hügel, Schluchten, Täler und Tälchen, Niederungen und Hochflächen von köstlichster Mannigfaltigkeit, einen Flor paradiesischer Mimosen und Orchideen, verzauberte Quellen, Haine von unnatürlicher Blütenpracht; es besaß erhabene Orgelwerke porphyrischer Felsmassen, deren Spitzen im Azur des Himmels verschwammen. Es öffnete furchtbare Abgründe und Felsspalten, und schließlich über allem türmte es jenen ewig rauchenden Kegel auf, der es mit dem heiligen Berge der Japaner, dem Fuji-no-yama auf Nippon, an erhabener Schönheit wohl aufnehmen konnte.

In halber Höhe des Berges war man eines Tages auf eine Herde grasender Zebukühe gestoßen. Man hatte beinahe den Eindruck, als könnten sie hier nicht heimisch, sondern müßten, wann immer, durch Kolonisten hierher verpflanzt worden sein. Eine Stütze fand diese Vermutung in der Entdeckung einer Höhle mit einer altarähnlichen Anlage, um welche herum sich Teile eines basaltenen Bildes vorfanden, aus dem mit wenig Mühe ein zwei Fuß langes, höchst primitives weibliches Kultbild ergänzt werden konnte. Die gelehrte Laurence hatte sogleich mit Begeisterung von dem Jugendlande des Dionysos gesprochen, das Herodot in die Länder der Tropen verlegt habe: »Wie schön der Gedanke, daß vielleicht vor uns hier Griechen gelebt haben!«

Miß Laurence hatte recht, zu sagen, daß beim Verlassen der Insel nur der Verlust das Sichere sei. Er bestand neben allem anderen in der Summe von Arbeit, Erfindungskraft und Tüchtigkeit, die man an diesen köstlichen Boden der Verbannung gewandt hatte und als ein bereits herrliches, zinstragendes Kapital ungenutzt zurücklassen mußte.

Man mußte auf einen gewissen Paß zusteigen, wenn man im Nordosten der Insel das Schiff am Horizonte entdecken wollte. Die Wächterin erklärte, es mache einen ungeheuren Rauch. Laurence wollte wissen, von wem und wo es zuerst gesichtet worden. »Von Lolo zuerst und dann von Phaon.« Ob Lolo und Phaon zusammen seien, und was sie so früh schon so hoch in den Bergen zu tun hätten? Lolo und Phaon hätten die heilige Mutter Babette bis an einen bestimmten Ort geführt, in dessen Nähe alle Bäume und Gräser aufhörten und nur rauchende Schlacke sei. Laurence wollte wissen, was denn wohl Mutter Babette dort oben vorhätte. Ein flüchtiger Blick überzeugte Laurence, daß ein kaum merkliches Lächeln die vollen Lippen der begleitenden Göttinnen kräuselte. Oh, Mutter Babette, rief die Wächterin, habe dort oben am verzauberten See, wo das Wasser nach Schwefel rieche und dampfe, etwas Geheimnisvolles vor, wovon sie freilich nicht sprechen dürfe. – »Und was tun Lolo und Phaon dabei?« – »Lolo und Phaon tun nichts dabei.«

Allmählich kam indessen heraus: es war durch Phaon dieser rauchende See entdeckt worden, und er hatte dort eine Schlange gefunden.

Man hatte den Eingang des lieblichen Kaffeetals erreicht, von wo aus der erste Blick nach Nordosten sich öffnete. Noch sah man den Rauch der Zivilisation, aber er war nach Aussage Phaons, Lolos und Thamars, die sich in den Kaffeeterrassen betätigten, nicht näher, sondern ferner gerückt, weshalb die Hoffnung auf eine Landung sich mit jeder Minute verringerte. Nun war die Enttäuschung der Frauen doch sehr groß, während Phaon, wie unter anderen Damen Laurence erkannte, sie nur in entgegenkommender Weise mitspielte. Scheinbar hatte er etwas ganz anderes im Kopf, auf das er nach seiner Art mit eigensinniger Ausdauer hinzielte, wobei ihm das drohende Ereignis nur störend war. Als Miß Laurence hinter seine Maske zu dringen suchte, warf er bereitwillig diese fort und bekannte mit enthusiastischer Heiterkeit, daß er allerdings keinerlei Neigung verspüre, Île des Dames zu verlassen, wo es ihm niemals besser als gerade jetzt behagt habe.

Phaon war im übrigen einsilbig. Er schien sich in Gegenwart der immer zahlreicher anlangenden Kolonistinnen beengt und von ihrem lamentablen Geschwätz unangenehm berührt zu fühlen. Er war denn auch ganz plötzlich verschwunden, als mit einer Schiffslandung nicht mehr zu rechnen war.

Die schöne Laurence aber hatte bemerkt, wie er sich in die Büsche schlug. Auch sie war froh über die Entscheidung, die das Schicksal soeben getroffen hatte. Das konnte indessen der Grund nicht sein, weshalb sie sich ebenfalls sogleich nach dem schönen Knaben von ihren Genossinnen absonderte.

Diese wundervolle Laurence, die in der Kirche Notre-Dame des Dames als Priesterin waltete, wurde von der ganzen Kolonie aufs höchste verehrt. Ihre Persönlichkeit strahlte sowohl heitere Güte als unnahbare Reinheit und Hoheit aus. Sie hatte ein von allen Bekenntnissen gern befolgtes Rituale bei den Andachten, denen sie vorstand, eingerichtet. Und man verdankte es nur Laurence Hobbema, wenn es durchaus mit Ernst und Würde ausgeübt wurde.

Dem sei nicht zu helfen, der die große Hinweisung des Schicksals nicht verstehe, den die Entstehung dieser Pflanzstätte aus der heiligen Not des Schiffbruchs nicht belehre, der nicht genug prophetischen Geist besitze, um zu erkennen, daß hier gleichsam jene reine, himmlische Erde wiedergewonnen sei, Erde im Sinne des Mutterbodens, in dem auch das goldene Weizenkorn der Religion vergehen und neu entstehen, in verjüngter seliger Schönheit wachsen, blühen und Frucht tragen könne. So versicherte sie und sagte oft: »Ist es nicht ähnlich, wie es die Alten sich auf dem Mond vorstellten, den sie sich aus olympischer Erde gebildet dachten? Diese Erde war ihnen das Reinste der irdischen Welt, wenn auch freilich das Unreinste der himmlischen, und die Entzückungen, welche die Seligen dort empfanden, kamen daher, daß dort das männliche und das weibliche Prinzip noch in einem Leibe vereinigt waren und unbehindert sich gegenseitig mit unendlichen Wonnen durchdrangen.«

Im Allerheiligsten der Kirche Notre-Dame des Dames wurden Bücher geführt, die als heilige Schriften der Insel verehrt zu werden bestimmt waren. Hier wurden die wunderbaren Ereignisse, von Babettens Abenteuer mit Mukalinda an, als ewige Wahrheiten aufgezeichnet. Und weiter Bericht auf Bericht der fortgesetzten übernatürlichen Befruchtungen. Alles und jedes unter dem erhabenen Gesichtspunkt der Heiligkeit. Konzilien wurden abgehalten, wo man den sich häufenden mythischen Stoff einigermaßen durchsiebte und die Auslese kanonisierte.

Es schade nichts, meinte Laurence, wenn sich Absurditäten einmischen sollten. Man möge nur ganz den phantastischen Teil von dem rein verstandesmäßigen loslösen. Man brauche eine phantastische Realität, die andere biete sich ja von selber. Die Alten seien auch darin wiederum Vorbilder: der Mond war ihnen ein Weltkörper, den sie genau untersuchten. Und er war ihnen andrerseits auch die Göttin Artemis, und eines störte das andere nicht.

Laurence genoß der höchsten Verehrung und auf ihrem Gebiet eine unantastbare Autorität. Sie segnete Schwangere und Gebärende und führte eine Art insulare Kindestaufe ein, die sie selbst ausübte, und ihr Ansehn stieg fast zu dem einer wirklichen Heiligen. Nicht wenig, wie sie und die übrigen fühlten, trug seltsamerweise dazu bei, daß weder der zeugende Gott noch auch etwa das Selig-Hermaphroditische in ihr wirkte und man in ihr, der Kinderlosen, eben auch die keusche Vestalin sah.

Laurence wußte selbst kaum, was mit ihr geschehen war, als sie sich plötzlich wiederfand, ganz allein und den Spuren Phaons nachfolgend. Recht eigentlich hatte sie den Entschluß dazu nicht gefaßt. Vielmehr hatte sie etwas, von dessen Dasein sie kaum gewußt hatte, irgendeine mystische Kraft, blindlings dazu hingerissen. Während sie das hastige Atmen ihrer Lungen vernahm und den Eifer erkannte, mit dem sie, einer Jägerin gleich, ihr menschliches Wild verfolgte, mußte sie lächeln und mehrmals erstaunt das Haupt schütteln. Warum stieg sie denn hinter Phaon her, den sie doch morgen in der sogenannten Akademie mit Sicherheit zur Unterrichtsstunde erwarten konnte? Weshalb war ihr auf einmal der Gedanke so unerträglich, ihn erst morgen und nicht sogleich, womöglich auf der Stelle wiederzusehen?

Von dem, was sie nun so völlig beherrschte, hatte Laurence nicht einmal etwas geahnt, bevor es jählings von ihrem Wesen Besitz ergriff. Es war eine Regung von solcher Entschiedenheit, daß sie für irgend etwas Gewesenes oder Zukünftiges, überhaupt irgend etwas anderes in der Seele der Anglo-Holländerin keinen Raum mehr übrigließ. Als hinge ihr Leben davon ab, wurde die sonst so beherrschte Person über Stock und Stein Phaon nachgehetzt oder von seinem Bilde vorwärtsgerissen.

Es ist ein förmlicher Aufstand in mir, dachte, immer die Spuren des Jünglingswildes verfolgend, die schöne Laurence, deren königliche Schultern nun auch schon einen leicht olivenfarbenen Glanz angenommen hatten. Steht diese plötzliche Rebellion meines ganzen Wesens, so dachte sie weiter, mit der Möglichkeit im Zusammenhang, die durch die drohende Landung des Chinafahrers soeben in greifbare Nähe gerückt wurde? Würde ich dann nicht zu den wenigen gehört haben, die um den wahren Gewinn, die wahre Frucht von Île des Dames durch sich selbst betrogen worden sind und die also ganz umsonst diese gnadenreiche Epoche durchlebt hätten?

»Freilich, was kannst du denn tun, wenn du nicht wie die anderen der Beschattung durch das Mysterium dieser Zauberinsel gewürdigt worden bist? Und wie soll dir dein Zögling dabei helfen, der dir ja, obgleich du fast täglich mit ihm zusammen gewesen bist, nicht helfen konnte und deshalb auch nicht geholfen hat?«

Laurence zog vor, diese Frage sich lieber nicht zu beantworten. Ebensowenig auch die übrigen, die ihr in Menge aufstiegen und die sich alle darauf bezogen, inwieweit ihr jetziges Verhalten mit ihrer priesterlichen Würde und ihrer Stellung als Phaons Erzieherin in Einklang zu bringen war. Alle diese Fragen gingen in einem seltsamen Rausch der Verjüngung unter. Diese herrliche Malerstochter stürmte mit königlichen Schritten und Sätzen durch das Palmen- und Pisangparadies dahin, Schwärme von Araras aufscheuchend, und ein Europäer, der sie erblickt hätte, würde geglaubt haben, einer hochgeschürzten, von olympischem Feuer durchglühten Artemis des Peter Paul Rubens begegnet zu sein.

Sie war von einem Verlangen erfaßt, das mit dem tödlichen Durst eines verschmachtenden, müden Wanderers zu vergleichen ist, und es knüpfte sich eine ähnliche Fata Morgana daran, wie sie jenem lechzenden Durste vorgegaukelt wird. Freilich lag ihrem Verlangen Fülle zugrunde. Die Sonne, der Boden, die den Blüten- und Früchtereichtum der Insel geschaffen, die heißen Säfte der Palmen- und Gewürzbäume kreisen ließen, die Täler und Höhen in Weihrauchwolken hüllten, hatten auch dieses Verlangen wie den üppigen Kelch einer Orchidee aufgeschlossen. Ja, ja, dachte die schöne, von ihrer Verwandlung ebenso bestürzte als beseligte Miß Laurence, ja, ja, so geht es dem Stolzen, dem Hochmütigen. Es kommt mir nun zehnfach heim, daß ich mich mit der kühlen, allüberlegenen Pallas Athene verwechselt habe. Dafür befinde ich mich in einem Zustande völliger Wehrlosigkeit, den ich, wenn ich nicht so entschlossen, so froh, so zum Bäumeausreißen kräftig wäre, als Unterjochung oder völlige Ohnmacht bezeichnen würde.

Indem ein girrender, jubelnd-vogelartiger Laut ihrer Kehle entfloh, sagen wir etwa ein seliges Zwitschern der Götter, wußte sie plötzlich, daß sie ein namenloses Wesen von ewiger Jugend, aber nicht diese noch jene war. Es beseligten sie ihre Arme, Brüste, Hüften und Schenkel. Sie löste ihr Haar und wurde durch seine Berührung an Schultern, Brust und Hüften entzückt. Jeder, auch der winzigste Teil ihres Leibes empfand die höchste Beseligung. Sie zweifelte nicht mehr daran, zu neun Zehnteln aus paradiesischer Erde gebildet zu sein. Aber freilich, das fehlende Zehntel war stark genug, um die anderen neun Zehntel im seligen Wirbel nach sich zu reißen.

Flüchtig dachte Laurence an Miß War. Doch was bedeutete jetzt Miß War, wo man unzweideutig im Kerne der mystischen Wolke der Vermählung mit dem Unendlichen zugeführt wurde. Jeder Sinn war verwandelt in ihr. Was sie erblickte, hörte, tastete und an Düften sog, war früher niemals von ihr erblickt, gehört, getastet und mit den Geruchsorganen eingesogen worden. Und Phaon? Ihn, diesen holdseligsten Eros selber, sah sie gewiß zum erstenmal, als er, von ihr bemerkt, heimlich in die Büsche entsprang.

Ah, dieser tückische, niederträchtige, hinterlistige Gott! Sie fühlte jede Muskel an ihrem himmlischen Leibe sich straffen. Sie würde ihn bändigen, ganz gewiß, und wenn er zehntausendmal so schön, ein zehntausendmal so berückender Gott wäre . . .

 


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