Gerhart Hauptmann
Die Insel der großen Mutter
Gerhart Hauptmann

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Natürlich war Anni Prächtel Leiterin der Wildermannland-Kommission. Ihr stand, wie immer, Rodberte zur Seite: diese hatte inzwischen das fünfzigste Jahr, sie selbst das fünfundsiebzigste ungefähr erreicht. Das paradiesische Klima von Île des Dames hatte sich an ihnen aber mehr als das Alter durchgesetzt.

Als Anni und Rodberte auf ihre Zebukühe gehoben wurden – reitend kam man am leichtesten über das Défilé des Dames –, drückte die Präsidentin ihre Freude darüber aus, nun endlich einmal gründlich betrachten zu können, was Phaon geleistet habe. »Wieso geleistet?« fragte Rodberte und riefen die anderen heiligen Mütter sofort, die, beritten und unberitten, dem Aufbruch entgegenharrten. – »Geschaffen«, sagte Anni darauf. – »Wieso geleistet? Wieso geschaffen?« fragte man wiederum durcheinander in einem Ton, dem überdeutlich anzumerken war, man wünsche nicht anzunehmen oder zu hören, daß Phaon etwas geleistet oder etwas geschaffen habe. Die Präsidentin brach darauf nur in ihr hämisch-herzliches Lachen aus.

Der frühe Morgen war schön, wie meistens auf Île des Dames. »Wissen Sie noch, meine Damen«, fing die Präsidentin wiederum an, »wie schön es war, als jener erste traurigherrliche Morgen auf Île des Dames heraufgedämmert kam, an dem Sie mich mit Ihrem Freudengeschrei vor dem Weißen Haus aus dem Schlaf weckten? Dies war der erste große Hoffnungsschrei auf Île des Dames, dem allerdings später ein größerer, der segensreiche Löwenruf des Inseldämons, folgte. Und bedenken Sie, meine Damen, was aus uns geworden ist.

Damals kamen Sie mit unsrer heiligen Mutter Page an der Spitze von dem ersten Erkundungsgange auf der Insel zurück mit köstlichen Früchten und besseren Nachrichten. Nun, Mutter Page, Sie sind beinah trotz der nahezu zwanzig hier verflossenen Jahre noch schöner geworden. Auch Mutter Warniko ist heute noch Gott sei Dank mit von der Partie. Ich empfehle es immer gern allen jüngeren Müttern, daran zu denken, was damals von diesen Damen geleistet worden ist. Unsre liebe Rosenbaum ist nicht mehr. Wir würden sonst mit der Erledigung mancher brennenden Frage nicht so viel Umstände haben. Sie war ein echtes Berliner Kind und traf immer den Nagel auf den Kopf. Die hochverdienstvolle Mutter Egli ist manchmal mit ihr zusammengeraten. Gelehrt war die Rosenbaum freilich nicht. In manches wollte sie sich nicht hineinfinden. Sie sagte: ›Ich habe meinen gesunden Menschenverstand.‹ – Was dem nicht standhielt oder was ihn überschritt, das warf sie kurzerhand über Bord.«

Man konnte jetzt schon deutlich bemerken, daß die aus zwölf heiligen Müttern bestehende Wildermannland-Kommission in zwei Parteien gespalten war. Die heilige Mutter Philomela Schwab, ein prächtiges, mit einem braunroten Haarschwall versehenes Weib, das mit großen Gesten und Worten nicht sparte, führte scheinbar die größere an. Obgleich die Ärztin Egli es vermied, ausdrücklich Partei zu ergreifen, gehörte sie dieser Gruppe zu, die mit starrer Prinzipientreue die Erhaltung des reinen Frauenstaats, koste es, was es wolle, durchsetzen wollte. Sie und Philomela Schwab dachten und empfanden ihn nicht, wie die große, liebende Seele Laurence es tat, sondern geleitet durch einen Affekt, den man als nur teilweise unterbewußten Männerhaß wohl bezeichnen kann.

Beide Damen empfanden übrigens für die Persönlichkeiten des Dreifrauenrats keine besondere Gewogenheit. Laurence, die Prächtel sowie Rodberte waren drei Damen von Welt. Ihre Haltung, ihr Geschmack, ihre Bildung hatte diesen Charakter zur Voraussetzung. Dieser Umstand wurde von mancher der heiligen Mütter drückend empfunden, besonders von Philomela Schwab, die, als der Schiffbruch über sie kam, seit zwei Jahren Frau eines tüchtigen Bierbrauers war. Aber auch die Doktorin, die, auf ihre außerordentliche Tüchtigkeit in ihrem Beruf gestützt, kaum einen Sinn für Kunst, Philosophie oder Religion noch einen entwickelten Geschmack hatte, konnte den Persönlichkeiten des Dreierrats nicht gerecht werden: ihre verfeinerte Kultur bemerkte sie nicht, und ihre Bildung ließ sie als solche nicht gelten.

Die Kavalkade hatte sich endlich in Bewegung gesetzt: zwölf Zebukühe, zwölf heilige Mütter und eine Begleitungszehnschaft von berittenen, speerbewaffneten Himmelstöchtern, die von der Reiterin Iphis geführt wurde. Man hoffte, am Abend noch den Wildermannland-Paß, das Défilé des Dames, überschreiten zu können. Hier sollte programmgemäß die Jungfrauenzehnschaft von einer Jünglingszehnschaft abgelöst werden.

Rodberte sagte zur Präsidentin, die neben ihr ritt: »Hören Sie nur, wie die Weiber schnattern. Ich langweile mich nie und ärgere mich kaum, wenn ich mit unseren jungen Mädels zusammen bin, weil mir das schöne Leben und Werden an sich Freude macht. Aber meinen alten Schicksalsgenossinnen gegenüber präferiere ich weitaus die Einsamkeit. Übrigens ist Ihnen das nichts Neues, Anni, aber was sollten wir uns auch sagen, was wir uns nicht schon hunderte Male gesagt hätten. Sie wissen, daß ich ein ›Pfirsich‹ bin: ich bin von je ein Fürsich gewesen, in sozialer Beziehung ein Anarchist. Es ist niemals ein sieghaft durchgeführtes System, was es gar nicht gibt, sondern es ist das Naturspiel, woran ich Freude habe. Naturspiel aber ist unsre ganze Menschheitsentwicklung.

Denn in der Tat, nicht haben die uranfänglichen Stoffe sich mit weisem Bedacht in gehörige Ordnung gefüget, und es bestand kein Plan der Bewegungen untereinander.

So sagt Lukrez, und so bleibt es am Ende in jeder Beziehung.

Da haben wir nun unseren Frauenstaat. Nun gut, er ist eine Spielerei. Als diese lasse ich ihn ruhig gelten. Der unaufhaltsamen Bildnerkraft der Natur hält er nicht stand. Es kommt mir ganz komisch vor, wenn ich die Ernsthaftigkeit von Mutter Egli bei Behandlung der Frage, ob Matriarchat oder Patriarchat, beobachten muß. Sie nimmt sich wichtig wie ein kindlicher Architekt von Kartenhäusern.

Gewiß, alles ist flüchtig, alles ist hinfällig. Und das rechtfertigt keineswegs die Tatenlosigkeit. Wer aber das Absolute gefunden zu haben glaubt und überzeugt ist, Bauwerke für die Ewigkeit aufzurichten, der bringt es immer nur bis zum Betrug seiner selbst und andrer.«

»Trotzdem«, sagte Anni, »werden wir nun darüber zu befinden haben, ob sich Wildermannland am Fest der Brautweihe beteiligen darf oder nicht. Und«, fuhr sie fort, »Rodberte, vergessen wir nicht unsere Anfänge. Schicksalsschlag hat uns nolens volens zum ausgesprochenen Weiberstaate gemacht. Warum sollen wir unser Experiment nicht ein Weilchen fortsetzen, um zu sehen, wie weit es zu treiben ist.«

»Ich glaube, es ist nicht mehr sehr viel weiter zu treiben«, sagte Rodberte, »ich bin gespannt, was sich in dieser Beziehung jenseits des Engpasses ergeben wird. Auch diesseits zeigen sich ja bereits, zum Beispiel in der Rede Babettens, gewisse Vorboten der Auflösung. Überhaupt diese ganze Absurdität im Tempelbezirk ist mir manchmal recht heftig gegen den Strich gegangen.«

Anni sagte: »Ich bin nicht genug dafür interessiert, um den Tempelbezirk anders als künstlerisch zu genießen. Von dieser Seite gefällt er mir. Auch halte ich ihn nicht für unvernünftig, denn er ist auf der allgemein dichterischen Anlage des Menschen als seinem natürlichen Grunde erbaut. Und daß sich der Mensch von seinen eignen dichterischen Gebilden physisch und seelisch abhängig macht, ja unterjochen läßt, ist keine Erfindung von Île des Dames. Sie können in allen fünf Erdteilen keine drei Schritte tun, ohne für diese Wahrheit Belege in Menge einzuheimsen. Nicht nur die Veden, nicht nur Buddha, Spinoza, Kant, Schopenhauer bezeichnen den Versuch, das Absolute zu erkennen, als hoffnungslos. Ein realistischer Denker wie Herbert Spencer sogar nennt, wie ich mich erinnere, das subjektive Bewußtsein einen rohen unzulänglichen Maßstab für objektive Existenz. Es könne, sagt er, keinerlei Wesensähnlichkeit zwischen den psychischen Erscheinungen im Bewußtsein und ihren äußeren Ursachen bestehen. Äußere Ursachen, äußere Dinge blieben ihrer Natur nach unerkennbar und unbekannt. Nun, warum sollten wir da nicht frisch drauflosdichten? Warum sollten wir da nicht die Phantasmagorie auf den Thron heben? Warum sollten wir da nicht unser Eiland nach unserem Gefallen mit rein subjektiven Realitäten bevölkern und ausstatten? Nährt sich doch der Geist nur vom Geist, ist doch der Geist jenes ewig unreale Element, welches trotzdem zum Inbegriff aller unsrer Freuden und Leiden wird. Von mir aus kann ich an subjektive Realitäten, wie Mukalinda und andre, die durch Suggestion übertragen werden, nur den Anspruch stellen, daß sie aus dem Bedürfnis nach Schönheit hervorgegangen sind und daß ihre Gläubigen mit künstlerischer Seele, also mit Ja und Nein glauben und nicht einem sturen, pfäffischen Wahnwitz verfallen.«

In einem gemessenen Abstand hinter der Präsidentin und Rodberte ritten die heiligen Mütter Schwab und Egli Zebukuh an Zebukuh.

»Sehen Sie doch, liebe Mutter Egli«, sagte die Schwab, »wie diese beiden Persönlichkeiten da« – sie meinte die Prächtel und die Kalb – »sich so überaus merkwürdig ausnehmen. Man könnte eher glauben, daß sie den ›Arizonakicker‹ lesen, als daß man sich entschließen möchte, sie als heilige Mütter anzusprechen.«

Die heilige Mutter Egli sagte darauf: wenn heute geraucht und Alkohol auf der Insel genossen werde, so seien allerdings nicht zum wenigsten diese beiden Damen schuld. Auf Weiteres wollte sie sich nicht einlassen.

»Ich habe den Eindruck, daß hinter uns Komplotte geschmiedet werden«, sagte Anni wiederum zu Rodberte. »Man wird ganz gewiß alles tun, um die Masse der Jungens vom Fest der Brautweihe fernzuhalten. Man muß ja gestehen, die Frage, ob Ja, ob Nein, ist überaus kitzlich. Was man auf unsrer Seite des Golfe des Dames vom jenseitigen Ufer zu sehen und zu hören bekommt, deutet auf eine ziemlich verwegene Gesellschaft hin. Ich möchte mich nicht dafür verbürgen, daß sie mit ihren gesunden Mägen sehr zurückhaltend sein werden, wenn man ihnen das für Mukalinda bestimmte Gericht allzu dicht unter die Augen und unter die Nase hält. Aber«, schloß sie, »das ist ja alles ganz gleichgültig. Was wären wir heute, hätte nicht ein wirklicher Gott unser Elend gesehen und seine Schöpferhand gnädig über uns ausgestreckt. Freuen wir uns an dem Wachsen und Werden um uns her, freuen wir uns an dem, was geworden ist!« Sie schloß: »Zum Donnerwetter nochmal, das ist meine Ansicht!« und gab dabei mit weit ausholender Hand enthusiastisch dem Höcker der Zebukuh eine Backpfeife, worauf diese sofort gehorsam zu traben begann.

»Sehen Sie, sehen Sie«, sagte die Schwab, »ich wette, das alte Mädchen hat bereits ihrer Reiseflasche erheblich zugesetzt.«

Am Schlangensee, in einem Haine von Dattelpalmen, die ihre Wipfel wie grüne Gewölbe verschränkten, wurde Mittagsrast gemacht. Das Wasser des Schlangensees war warm. Es durchwärmte ringsum die sumpfige Scholle und machte sie geeignet zu Brutplätzen. Flamingoschwärme belebten sie.

Man hatte von hier aus einen Blick über das Portail des Dames und den Golfe des Dames hinweg auf den Zwillingsberg, den erloschenen Vulkan auf der Mannlandseite, welchem Babette den Namen ›Hemakuta‹ gegeben hatte.

»Herrlich«, sagte die Präsidentin, »so wird das Portail des Dames gleichsam von zwei gewaltigen Riesen bewacht und flankiert. Damit verbinde ich aber beileibe keine symbolische Anspielung. Es würde nicht gut für das Gedeihen der Menschheit sein, wenn die Tugend des Weibes von so furchtbaren Wächtern beschützt würde.«

Es war nicht allein der See, noch war es allein der Weit- und Rundblick, welcher dem Orte seine unvergleichlichen Reize gab, sondern es hatte die Natur hier in der Stille von Jahrtausenden einen Terrassenbau von gewaltigem Umfang errichtet, der Stufe um Stufe marmorartig an den See niederstieg. Wirklich war es nicht schwer, zu glauben, ein Gott habe diese über die Maßen prächtige Freitreppe zum nephritnen Bade des von Dunstschleiern überwallten Sees angelegt. Sie selbst war von Wassern überflossen. Es bahnte sich stürzend, plätschernd, rinnend, allenthalben tropfend, rieselnd, sickernd, glucksend, sprudelnd, zischend den Weg von einem oberen Becken zum unteren See, aus dem oberen kochend aus- und, mit von Stufe zu Stufe sinkender Temperatur, immer noch heiß in den unteren eintretend. Zahllose Mulden und natürliche Wannen hielten das heiße türkisene Element, wie um es dem Lichte, dem Himmel, Genien oder Göttern in köstlichster Fassung darzubieten, schönsten Gefäßen, die es in ewig quellender Stille und Fülle überflutete.

»Hier in der Nähe«, sagte Rodberte, »liegt Mutter Babettens Einsiedelei, und wir müssen sie unbedingt besuchen.« – »Man muß gestehen«, bemerkte die Präsidentin dazu, »daß sie ihren Wohnsitz gut zu wählen verstanden hat, sozusagen in einem himmlischen Badeort. Baden-Baden ist nichts dagegen. Hier könnten alle Gichtiker und Rheumatiker des europäischen Kontinents all ihr Jucken, Zwicken und Zwacken in wenigen Wochen gründlich loswerden. Schade, daß man hier auf der Insel selbst für Geld und gute Worte nicht den kleinsten Gichtknoten haben kann. Mich juckt es förmlich, in diesem herrlichen Bethesda als armer Lazarus hoffnungsvoll von Wanne zu Wanne umher- und von Terrasse zu Terrasse nach oben zu steigen, vom Lauen ins Warme, vom Warmen ins Heiße und schließlich ins Kochende.« Damit schritten die beiden Damen auf einem nett gehaltenen Wege gegen die nun sichtbare Hütte Babettens vor, die eine dicke, trichterartige Mütze aus Palmstroh hatte.

»Es ist hier gut sein«, sagte Babette, die sich, als man sie antraf, Bananen an einem glimmenden Feuerchen vor der Hütte röstete. Sie trug einen gelblichen Hänger ohne Ärmel, der bis zum Knie reichte, um die Hüften eine Art Brahmanenschnur. Ihr offnes Haar, schon ein wenig ergraut, das von ungewöhnlicher Länge war, verstärkte den seltsamen Eindruck, den sie machte.

»Es ist hier gut sein, geliebte Mütter«, sagte sie. »Man setzt den Fuß auf den Götterberg, den feuerspeienden Olymp der edlen, götternahen Laurence, und hat den Hemakuta im Angesicht, meinen, den anderen Götterberg, jenseits des Golfe des Dames und des Portail des Dames, der des Morgens und Abends seine Goldspitze zeigt und auf ihr jenen Palast aus Kristall, in dem sich meine Götter versammeln.

Und ich habe hier meinen Schlangensee und die herrlichen Kieselsinter-Badeterrassen des Mont des Dames, beliebt bei den Göttern beider Berge als Badeplatz. Sie kommen fast allnächtlich zum Bade. Hier haben sich ganz in meiner Nähe außer vielen Flamingos auch einige Tschatakus angesiedelt, obgleich sie das irdische Wasser nicht trinken, wie ihr wißt, sondern ihren Durst nur mit den Wolken des Himmels löschen.«

Während sie sprach, wurde Babette von einer Schar kleiner grauer Papageien umlärmt und umschwärmt, die sich nicht nur den Platz auf ihrem Kopf, ihren Schultern und Händen streitig machten, sondern auch jeden Bananenbissen, den sie zu essen unternahm. Ihre Oberarme schienen eine vielbegehrte Rutschbahn für die Vögel zu sein, und es ließ die Büßerin vollkommen gleichgültig, daß sie fortwährend von einer Art Guano befleckt wurde.

»Ja, ja«, fuhr sie fort, »die Götter lieben mich. Wenn sie baden, muß ich zugegen sein. Herrlich ist es, wie sie im Mondschein des Nachts in weißen Gewändern die Terrassen hinauf- und hinunterschweben.«

»Man könnte dir also am Ende«, sagte die Präsidentin, »den Titel ›Badefrau der ewigen Götter‹ beilegen.«

Sie gab zurück: »Ihr könnt mir getrost diesen Titel beilegen. Ihr könntet mir aber auch noch ganz andre, höhere Titel beilegen. Wüßtet ihr nur, wie mich der fromme Geier Jatayus anredet, der vom Mont des Dames zum Hemakuta hin und wider mit Botschaft fliegt und auch, wenn die Götter baden, mit Botschaft fliegt. Die Griechengötter der edlen Laurence und jene des Hemakuta lieben einander. Aber die des Hemakuta sind geistesgewaltiger als jene. Sie ragen tiefer in die Unendlichkeit.«

Als Rodberte Babetten erzählte, daß man mit andern Müttern auf einer Fahrt nach Wildermannland begriffen sei, um einmal zu sehen, wie alles dort drüben laufe, sagte sie: »Oh, ihr Lieben, alles steht gut. Vergeßt nicht, daß unsre Knaben gewaltige Schutzherren über sich haben. Der Hemakuta, denket daran, steht auf Wildermannlandsgrund. Zuweilen findet, hauptsächlich um im heiligen Wasser der Terrassen zu baden, einer der sechzigtausend kleinen Seher von Daumengröße den Weg hierher. Da fällt auch wohl einmal etwas für mich ab von seiner geheimen Wissenschaft. Die Sechzigtausend bewachen den Sonnenwagen. Ich glaube, es sind ihrer noch viel mehr, und die heiligen Bücher irren sich. Die Sonne gibt ihnen Seherkraft. Mein kleiner Däumling hat mir gesagt, daß die Götter mit Wildermannland Großes vorhaben.

Ja, Manu Vaivasvata badet zuweilen hier. Wer wüßte nicht, daß er ein Sohn des Sonnengottes und Gesetzgeber der Menschheit ist. Er hat mir das Wort des kleinen Valakhilyas bestätigt, und daß ein neuer Buddha demnächst aus Wildermannland hervorgehe.«

»Aber du offenbartest uns doch jüngst den Sieg der Großen Mutter für alle Ewigkeit«, sagte die Prächtel.

»Aber ihre Schützer, ihre Schutzherren«, setzte Babette fort, »werden schwertgewaltige Helden sein. Auch Apsaras baden mitunter hier. Ich weiß durch sie: als Sohn meines Sohnes Bihari Lâl und Rukminîs wird Purûravas wiedergeboren. Er wird wiederum Urvasî, eine Apsara, zur Gattin nehmen. Urvasî, die schon jetzt mitunter bei der Götterversammlung auf dem Hemakuta gesehen wird.

Manu Vaivasvata, der Sonnensohn, hat eine Tochter gehabt. Der Sohn dieser Tochter ist Purûravas. In ihm also rollt das Sonnenblut. Sein Vater aber war Tschandra, der Mond.«

Auf diese Weise floß die Rede Babettens ohne Halt, ohne Stillstand stromartig fort, und sie merkte es kaum, als Rodberte und Anni sich verabschiedeten.

Als die Damen allein waren, sagte die Prächtel: »Es ist alles ganz gut, und ich bin Halluzinationen und Illusionen gegenüber im allgemeinen ziemlich verständnisvoll. Vielleicht ist es gleichgültig, ob man den Seelenhauch des Göttlichen um ein Nichts oder um ein Etwas hüllt. Die liebe Babette jedoch macht mir Sorge. Ich weiß nicht, ob sie schon völlig dem Wahnsinn verfallen ist, aber lange kann ihre Hirnhaut oder ihre Hirnsubstanz diesem allseitigen Zudrang von Göttern, Dämonen, Sehern und was weiß ich unmöglich mehr standhalten.«

Nicht lange vor Sonnenuntergang waren die Zebukühe mit ihren Reiterinnen am Défilé des Dames angelangt, jenem hochgelegenen Engpaß, der die einzige gangbare Verbindung zwischen Mütter- und Mannland darstellte. Hier nahm Phaon mit einer Zehnschaft von Jünglingen den Transport der zwölfmal heiligen, kostbaren Last in die Hand, während die Zehnschaft der schönen Iphis samt ihren Tieren mit überaus trotzigen Blicken kehrtmachte.

Als man auf den frischen Tieren der Mannländer kaum zehn Minuten in Bewegung war und der Zug durch eine höhlenreiche, enge und felsige Via Mala aufwärtsging, konnte Rodberte sich nicht enthalten, den Umständen angemessen festzustellen, es wehe hier irgendwie eine andre Luft und pfiffe aus einem ganz andren Loche.

Ob nun Phaon sich einen Spaß machen wollte, was ihm ja zuzutrauen war, oder ob es der Wildermannlandsgepflogenheit wirklich entsprach, es ging immer hopp und galopp und in einem Tempo bergan, daß die Mütter sich krampfhaft festklammern mußten. Es half den durch Zuruf und Peitsche beängstigten Kühen nichts, wenn sie grunzten und wild mit den Schwänzen um sich her schlugen. Gleichsam geflügelten Fußes bewegte sich neben jeder ein unbekleideter, athletischer Genius, welcher sie kaum beachtete, trotzdem aber zu ununterbrochener schnellster Bewegung zwang. Auch Phaon hatte sich, wie die schöne Iphis, einen Zebubullen als Reittier abgerichtet. Aber die Kunst der schönen Iphis blieb weit hinter der dieses Reiters zurück, der mit seinem Tiere gleichsam eine neue Art kentaurischen Wesens vorstellte. Für diesen Bullen, der größer und furchtbarer war als irgendeiner, den die heiligen Mütter bisher erblickt hatten, mit seinem Gebieter auf dem Rücken gab es kein Hindernis. Er hatte gelernt, seine Kraft zu erkennen und zu gebrauchen. Wenn er es auch zuweilen mit schrecklicher Wut in den Blicken tat, so war es wiederum ebendie Wut, die seine Kräfte gewaltig steigerte, die geradezu Wunder der Wut hervorbrachten.

Holterdiepolter ging es die Kreuz und die Quer von Saumpfad zu Saumpfad durch felsige Bachläufe, Baumstämme waren kein Hindernis. Ohne jedes Bedenken rutschte man über eine Geröllhalde, ohne auch nur das geringste Zaudern jagte man die Kühe über ein Gewirre scharfkantiger Blöcke hinauf, daß es der mutigsten unter den Müttern bald heiß, bald kalt wurde. Es schien darauf abgesehen zu sein und verfehlte auch keineswegs seinen Zweck, den Müttern die Überlegenheit der männlichen Körperkraft und Gewandtheit von Anfang an deutlich zu machen.

Die Strapaze sowie die Gefahr des Ritts steigerte sich, als es vom höchsten Punkte des Passes abwärts ging, und damit natürlich die Angst der Mütter. Schließlich aber hatte man ohne Unfall eine schöne grüne Terrasse erreicht, von der aus man, nicht allzutief unter sich, die Fläche des Binnenmeers übersah, mit dem Abschluß seiner Erstreckung von Osten nach Westen hin, dem Riesenfelsspalt Portail des Dames.

Auf dieser Terrasse fanden die Mütter in einer sauber gehaltenen, mit Palmstroh gedeckten, luftigen Halle das Nachtquartier vorbereitet. Mit allem, was jede der Mütter auf und unter ihrem Bettgestelle fand, das durch schön bemalte Matten von den Nachbarbetten getrennt wurde, durften sie wohl zufrieden sein. Die Abteilungen mit Öldochten zu erhellen war nicht notwendig. Die Jünglingszehnschaft, welcher Empfang und Verpflegung der heiligen Mütter übertragen war, hatte die ganze Nacht hindurch zu ihren Ehren zwölf starke Feuer zu unterhalten. Zudem spiegelte sich der Vollmond im Golf und verbreitete einen nächtlichen Tag, bei dem man ohne Mühe zu lesen vermochte. Und schließlich hatte man noch die düstere Fackel des Mont des Dames, die ihren blutigen Schimmer in die Fluten des Golfs und zwischen das glitzernde Silber des Mondes warf.

In Mütterland hatte sich die Idee durchgesetzt, wonach der Mensch, wie der Orang-Utan, Frugivore ist und vermeiden soll, Fleisch zu essen. Es wurde hier, dies war ein Taktfehler, auf diesen Umstand nicht Rücksicht genommen. Zwar hatte man auch für Früchte, Frucht- und Blattsalate aller Arten zur Nachtkost gesorgt, aber es stahlen sich doch köstliche Düfte von den zwölf Ehrenfeuern herbei, welche bewiesen, daß allerhand gute Braten am Spieße rösteten.

Die Doktorin Egli war nicht eigentlich Vegetarierin. Sie hatte sich aber Philomela Schwab und der Neigung der meisten Mütter und Mädchen gefügt und war dem Prinzip nicht entgegen gewesen. Konnte sie doch im übrigen feststellen, daß den Müttern dieses fleischlose Leben vorzüglich bekam. Als aber Philomela Schwab, nicht übel gelaunt, an eines der Feuer trat und mit gemachtem Schauder sich abwendete, war gerade sie es, die Phaon, noch viel weniger übel gelaunt, zum Ziel seiner Überredungskünste nahm.

Beinahe war es befremdlich, was hier auf Wildermannlandsgrund aus Phaon geworden war und wie er sich in den Augen der Mütter spiegelte: seltsam war die Veränderung, die Spiegelung aber fast noch seltsamer. Er bewegte sich hier mit der heiteren Freiheit und Kraft eines Mannes, der keine menschliche Macht über sich kannte und der, wenn er Rücksicht nahm, sich solche Rücksicht aus Achtung gegen die Schwäche auferlegte. Das war drüben in Mütterland und besonders im Tempelbezirk nicht der Fall. Dort haftete ihm ein Wesenszug des Gehorsams, ja manchmal der Verstecktheit an, der einem wohlgeborenen Kinde eignet, wenn es, streng bemüht, das höhere Wesen von Vater und Mutter anerkennt. Rodberte aber sagte zur Prächtel: »Sehen Sie sich um Gottes willen diesen Menschen an! Ich frage mich, ob ich in meinem früheren Leben jemals einen solchen Mann, einen Mann mit so edlen und so gewaltigen Proportionen gesehen habe. Am Ende mag Leon Battista Alberti ein ähnlicher Mann gewesen sein. Aber der war vor meiner Zeit, er muß bereits um 1472 herum das Zeitliche gesegnet haben. Welche Körperkraft, welche Glut des Blickes, welche grundgeborene Heiterkeit! Ach Gott ja, da machen wir einen Frauenstaat, und er kann uns doch schockweise um den Finger wickeln.«

Phaons Lachen dröhnte, daß ringsumher die Nachtvögel aufflogen. Er hatte soeben einen gebratenen Vogel am Spieß, mindestens wie drei europäische Gänse groß, unter Philomelens Nase gehalten. Man hatte ihr Aufkreischen überhört, konnte es aber im Echo noch nachgenießen. »Du mußt es probieren, Philomela«, sagte der starke, furchtlose Mann, »denn sonst kannst du unmöglich den rechten Begriff von den Scheußlichkeiten Wildermannlands mit dir heimtragen.«

Als man sich hinter den Feuern unter der Ampel des Mondes zu Tisch setzte, war dieser und alles auf ihm und um ihn von der Jünglingszehnschaft aufs köstlichste vorbereitet. »Herrlich«, sagte die Präsidentin fast unwillkürlich, »einmal wieder unter solchen Fressern zu sein. Ich finde, wir machen in Mütterland gerade mit diesen Dingen ein bißchen allzuwenig Umstände.«

So, wie sie von dieser Jünglingszehnschaft bedient wurden – Phaon präsidierte der Tafel, keiner der Jünglinge durfte teilnehmen –, waren die Mütter auf Île des Dames nie bedient worden. Ein schöner Jüngling, halb noch Knabe, leitete das Mahl mit einem lautgesprochenen, unbedeutenden Verschen ein:

»Ruht, ihr Mütter, von den Mühen
aus nun unter Mondesglühen.
Schmecket Trank und schmecket Speise
mit den Augen, mit dem Munde.
Von der Lebenswunderreise
rastet ihr in dieser Stunde.
Denkt, daß, was sie heut bescheret,
niemals, niemals wiederkehret.«

»Bravo, ausgezeichnet!« sagte Phaon und im Verein mit ihm alle zwölf Glieder der Kommission. »Komm her, du Poet«, rief er dann und nahm den errötenden Knaben beim Ohr und sagte: »Jetzt geh um den Tisch herum, gib jeder der Damen einen Kuß und sage zu ihr: ›Wohl bekomm's, heilige Mutter!‹«

Gesagt, getan: in diesem Augenblick war gegen Phaons patriarchalisch-gebieterische Art nicht aufzukommen. Küssend umging der Jüngling, ein neuer Johannes Secundus, die Tafelrunde. »Johannes Secundus, der große Küsser«, sagte denn auch Rodberte zu ihm, als er ihr den befohlenen Schmatz verabreichte. Phaon rief: »Was sagt ihr zu diesem Mukalinda-Sprossen? Faßt den Bengel an und gebt mir Bescheid, ob nicht alles an ihm, wenn er will, von Eisen ist. Will er es nicht, ist freilich eine Handvoll Eiderdaunen hart gegen ihn.«

»Mukalinda-Sproß« war ein Wort, welches Mutter Philomela Schwab mehr Ärger und Kopfzerbrechen verursacht haben würde, wenn nicht der Eindruck, den Phaon machte, sie auf seltsame Weise entwaffnet hätte. Sie aß, sie trank, sie erquickte sich an der badewarmen Luft und dem Palmengeist und beschloß bei sich, diese Nacht überhaupt nicht schlafen zu gehen, sondern für sich allein durch dies mondbeglänzte Zauberreich zu lustwandeln. Sie dachte sogar daran, ihren Beschluß den herrlich angemaßten Patriarchen wissen zu lassen. Nur wußte sie nicht, auf welche Art sie es tun sollte, um nicht den übrigen heiligen Müttern unerwünscht aufzufallen. Als sie eben mit solchen Gedanken beschäftigt war, hörte sie plötzlich die in köstlicher Körperlichkeit ihr weit überlegene Mutter Page sagen: »Ich werde diese Nacht überhaupt nicht schlafen gehen, ich werde die ganze Nacht hindurch lustwandeln.« Rodberte rief: »Darf ich Sie begleiten, Mutter Page?«

»Niemand, niemand, darf mich begleiten«, erhielt sie zur Antwort. »Ich will diese Nacht so allein sein wie die Mücke, die seit Hunderttausenden von Jahren in einem Stück gelben Bernsteins eingeschlossen ist.«

Durch dieses Nachtessen hoch am Rande des Binnenmeers wurden alle Teilnehmer, mit oder ohne Palmengeist, in einen Rausch, in einen Taumel der Schönheit versetzt. Es ging vom Mond, vom Mont des Dames, vom Hemakuta, von der großen, erhaben-düster-seligen Landschaft ein mächtiger Zauber aus. Waren es die weichen Glutwinde, trächtig vom Duft narkotischer Spezereien, denen er vornehmlich innewohnte und mit denen er seine Opfer umnebelte, jedenfalls fühlten sich diese gleichsam in ein sinnlich-übersinnliches Reich versetzt, das ihrem Körper die Schwere nahm, ihre Seelen in das All-Eine auflösend. Es mochte auch wohl die dichte Nähe der Jünglinge, die lautlos köstliche Speisen und Getränke herzutrugen, vor allem auch Phaon dazu beitragen, obgleich er, selbst für den Geschmack von Anni und Rodberte, sich im Reden allzusehr gehen ließ und gefiel.

In der kleinen Ansprache, die er hielt, hieß Phaon schließlich die Mütter auf Mannlandsgrund willkommen. Dann sagte er eine Menge Dinge, welche belacht wurden, weil sie die Mütter als beabsichtigt humoristisch auffaßten. »Es gibt kein Gestern«, sagte er, »kein Heute, kein Morgen, es gibt keine Wirklichkeit. Was aber ist, das ist . . .«, und das wahre Sein, sagte er, müsse ein jeder, wo es ihm begegne, beim Schopfe fassen. Auf ähnliche Weise sprach er fort.

Trotzdem sie lachten und glaubten, daß Phaon belacht sein wollte, war es den Müttern zuweilen, als ob Phaon recht habe. Alles ringsum war Spukhaftigkeit. Waren sie wirklich auf Île des Dames? War wirklich das eine Realität, was gewesen und was geworden war? War nicht schließlich das Ganze in diesem seltsamen Augenblick untergegangen und nur noch da in der Vorstellung wie das gesunkene Schiff, der »Kormoran«? Machte sie nicht dieser heiter lachende Gewaltmensch, der sie bewirtete, förmlich gedankenlos? und blies sich und ihnen den Frauenstaat wie ein Federchen von der Hand? Und diese Jünglinge, diese Parias, diese Outcasts, diese Çudras um sie her, waren sie nicht wie Götterlieblinge vom Olymp oder Hemakuta herabgesendet zum Vergnügen der heiligen Mütter, wie die Apsaras zum Vergnügen der männlichen Götter bestimmt, Geliebte und Mutter zu gleicher Zeit? Was war im Reiche der Himmlischen sündhaft und unmöglich? Sah man es nicht diesen männlichen Genien an, daß sie von der Fremdheit der Körperlichkeit, die sie bedienten, zuweilen verwirrt, ja betäubt wurden?

Das Mahl ging zu Ende, der Morgen kam, die Wirklichkeit war wieder vorhanden. Hatte nun Mutter Philomela Schwab ihren Beschluß, die Nacht über wach zu bleiben, durchgeführt? oder hatte sie schlecht geschlafen oder dem Palmgeist zu viel Ehre angetan? Ihre Gesichtszüge jedenfalls, als sie wiederum hinter dem Zebuhöcker saß, waren unheilkündend finster geworden.

»Ich erkläre mich ganz entschieden«, sagte sie zu Mutter Egli, so daß nur diese es hören konnte, »ich erkläre mich ganz entschieden dagegen, daß diese ungebändigten, rohen Mannlandskräfte auch nur einmal und am Tage der Brautweihe über das Défilé des Dames gelassen werden. Das hieße, das wäre für den Frauenstaat die Auflösung. Ich sage das«, schloß sie, »trotzdem ich bis jetzt nur eine kleine Probe des zügellosen Mannlandwesens gesehen habe.«

Sie sollte noch ganz andre Dinge zu sehen bekommen, die sie gleich Wundern überraschten, aber ihr die Gefahr noch deutlicher zeigten, die dem Mütterstaat, ohne daß er es geahnt hatte, erwachsen war.

Die Mütter wurden durch Phaon sogleich in medias res geführt. Man erreichte mittags eine Anlage, von deren Dasein niemand in Mütterland, Dagmar-Diodata ausgenommen, etwas gewußt hatte, nämlich das sogenannte »Kapitol«. Seine Säulenfassade war auf einen weiten, von Arkaden umgebenen Kiesplatz gerichtet, dessen Mittelpunkt ein steinernes Denkmal bildete, eine gen Himmel zeigende Hand. Um das Gebäude des Kapitols liefen im weiten Umkreis Parkwege, zwischen Büschen und Bäumen waren Wiesen ausgespart, deren Mitte hölzerne Tempelchen einnahmen. Es waren in Wirklichkeit kleine Werkstätten, in denen der Kunstfleiß sich mit allerlei Handwerk, wie Steinschneiderei, Kunsttöpferei, Kunsttischlerei, Instrumentenbau und anderem, beschäftigte.

Die heilige Kommission fand im Kapitole bequemste und sauberste Unterkunft und konnte von hier aus ihren Studien obliegen. Mit diesem Augenblick war eine Festzeit für Mannland angebrochen.

Die Mütter waren erstaunt, wie sich Phaon nun wieder veränderte. Er trug eine Ruhe und Würde zur Schau, deren unnahbare Höhe zu ersteigen selbst ihnen keine ganz leichte Aufgabe war. Alle kleinen und großen Mannländer, die Phaon sichtbar größte Liebe und Achtung entgegenbrachten, wurden von ihm ohne Ausnahme mit »Mein Sohn, mein lieber Sohn« angeredet, wie es bei Generalen, ihren Soldaten gegenüber, Gewohnheit ist.

Die Besichtigung hatte mit einer sauberen kleinen Siedlung der Siebenjährigen angefangen, die durch Jünglinge von zwölf Jahren betreut wurden. Diese trugen gegen die Mütter eine sozusagen korrekte Ehrerbietung zur Schau, wie man sie Vorgesetzten schuldet, während die Kleinen sie teilweis mit offenen Mäulern, als ob sie Wundertiere seien, anstaunten. »In Betracht des überirdischen Eindrucks, den sie zu machen wünschen«, äußerte die Präsidentin gegen Rodberte nicht ganz ohne Ironie, »können die heiligen Mütter, denk' ich, hier recht wohl zufrieden sein.« Reiten, Schwimmen, Datteln und Vogeleier von den höchsten Bäumen herunterholen, Papageien im Fluge schießen, Springen, auf den Händen laufen und noch allerlei brotlose Künste wurden den Müttern vorgeführt, denen nur der Eifer an alledem merkwürdig war. Es kam ihnen vor, als sei dieses alles zu einem bestimmten, in der Zukunft liegenden Zweck angestellt.

Alle diese Knaben zeichnete eine bestimmte verwandtschaftliche Schönheit aus. Mit Ausnahme einiger unter ihnen schienen ihre lieblichen und gewandten, abgehärteten Kinderkörper wie aus ein und demselben Prägstock hervorgegangen. Verus, ein hübscher, trotziger Bengel, wurde von Phaon angerufen, worauf er sofort, an Gewandtheit einem Äffchen vergleichbar, am Halse des starken Mannes hing. Dieser aber machte ihn los und stellte ihn vor die heiligen Mütter hin.

Als ihm die noch immer wundervolle heilige Mutter Page die Hand reichte, um ihn herablassend zu bewegen, das gleiche zu tun, versteckte er seine Hände blitzschnell. Rodberten aber, die ihm gut zuredete, streckte er auf die allertemperamentvollste Weise ebenso blitzschnell die Zunge heraus. Philomela Schwab, die heftig wurde und ihm dabei mit dem edlen Antlitz vielleicht allzu nahe kam, erhielt, indem sie angespuckt wurde, einen neuen Beweis der männlichen Unverbesserlichkeit. Bei diesem Probestück konnte Anni ein erfrischendes Lachen nicht zurückhalten, ein Lachen, das man ihr mitunter recht übelnahm und das auch Verus dazu veranlaßte, seinen ahnungslosen Nebenmann rechts und links gewaltig zu backpfeifen. Man wußte nicht, war es in diesem Augenblick oder sogleich, als sie seiner ansichtig wurde, daß Philomela Schwab ihren Sprößling erkannte. Jedenfalls drang sie auf ihn ein und versuchte, ihn zu züchtigen, was ihr Phaon, den Knaben deckend, gelassen verwies. »Dieser Junge«, sagte er, »wird vielleicht eines Tages den Südpol entdecken.«

Die heiligen Mütter hatten die erste, die zweite und dritte der Siedlungen hinter sich, da fragte Anni Prächtel Rodberte, was ihr, im Gegensatz zu Mütterland, hier auffalle. Rodberte sagte: »Man ist hier kaum mehr auf Île des Dames.« – »Das leuchtet freilich ein«, meinte die Prächtel. – »Ich meine nicht«, ergänzte Rodberte, »weil man hier überall diese Jünglinge, diese Männer sieht, sondern weil hier alles mit einer solchen Verve und Freiheit vor sich geht, daß man unsre Gefangenschaft auf Île des Dames kaum mehr empfindet.«

Die Zwölfjährigen auf Île des Dames entsprachen Achtzehnjährigen der europäischen Zivilisation, die Fünfzehnjährigen den entsprechend Älteren. Einen solchen hatte die Präsidentin gefragt: »Was hast du für einen Lebensplan?« – »Ich werde zur See gehen«, hatte er geantwortet, »denn ich habe beschlossen, mir die Welt recht gründlich zu betrachten.« Nach diesen Worten fuhr der nackte, braunrote Jüngling fort, eine Kiefer von Ästen zu befreien, die er gefällt und deren krachenden Sturz man soeben vernommen hatte.

Dabei sang er mit schöner Stimme, die laut an den Abhängen widerhallte, folgende Weise:

»Iphis, du Himmelstochter!
Iphis!
Du erschienst
hoch über uns
auf deinem goldhufigen Zebu,
auf deinem Zebu mit goldnem Gehörn.
Hoch über uns erschienst du
auf der morgendlichen Klippe
im Glanz.
Um dich war Glanz.
Es zuckte deines silbernen Bullen Haut.
Er schnaubte Silbernebel
aus seinen Nüstern,
Wolken von Silber
aus seinem rosenfarbenen Maul.
Segne uns, Iphis,
Himmelstochter!«

Iphis hatte, das war bekannt, unter ihren Altersgenossinnen ganz besonders gegen die Beteiligung von Wildermannland am Fest der Brautweihe agitiert. Sie hatte sogar einen Knaben, der, die Grenze von Mütterland mißachtend, auf die Jägerin gestoßen war, durchgebleut. Darum berührte das Lied, das sie hörten, die heiligen Mütter um so seltsamer.

»Sie hat sehr unrecht getan, ihre Brüder durch Roheitsausbrüche zu beleidigen, unsre schlagfertige Iphis. Sie steht hier bei groß und klein hoch in Gunst und nimmt, wie ihr ja eben selbst hörtet, hier beinahe den Rang einer Gottheit ein.«

Als Phaon dies sagte, war man, einen Bergweg fortsetzend, um eine Klippe herumgebogen und hatte eine den Damen bisher unbekannte Meeresbucht unter sich. Was aber auf ihrer blauen und bewegten Fläche zu sehen war, lockte ihnen Rufe der Überraschung ab. Es kreuzten nämlich darauf eine Anzahl Boote mit braunen Segeln.

Man weiß, welchen Eindruck von Belebtheit eine kleine Fischerflottille auf bewegtem Golf hervorrufen kann. Die sieben Segler, welche hier kreuzten, hoben einen gewissen Seelendruck, an den man sich seit Jahrzehnten gewöhnt hatte, im Bewußtsein der heiligen Mütter plötzlich auf. Die Schranke des Ozeans schien gefallen, die Verbannung schien aufgehoben, die Vereinigung mit der gesamten Menschenwelt hergestellt.

Was Wunder, daß man in einen Rausch versetzt wurde.

»Sie sind uns über«, sagte die Prächtel. »Die Taugenichtse haben uns, während wir in Mythologie machten, eine gewaltige Nase gedreht.«

Es gab ein lebhaftes Hin- und Herfragen, ein Kreuzfeuer, das Phaon schließlich durch eine kurzgefaßte Darstellung vom Entstehen dieser Flotte beruhigte.

»Die Boote«, sagte er, »haben die Bilancellenform. Es ist die einfachste Seglerform, und ich habe sie auf Seereisen mit meinen Eltern in der Nordsee, an der Küste Portugals, also am Atlantischen Ozean, und an der italienischen Küste gesehen. Besonders dort, wo ich als Knabe mit meinen Eltern an einem kleinen Hafen gewohnt, habe ich sie näher kennengelernt. Oft und oft bin ich damals mit den Fischern in solchen Bilancellen auf den Fang gesegelt. Meine Eltern waren natürlich in solchen Fällen besorgt um mich, unser Hauslehrer kündigte, die Gouvernante wußte nicht aus noch ein. Die Fahrten waren gefährlich und führten zu nichts. Ich sollte ja doch nicht Fischer werden. Wie mir der Unfug einmal zugute kommen werde, ahnten sie nicht. Wir haben ganz einfach nicht geruht, bis wir, mit Zuhilfenahme eines unsrer historischen Rettungsboote als Vorlage für den Rumpf, eine, zwei, drei notdürftige Bilancellen flott hatten, wovon die zweite besser als die erste, die dritte besser als die zweite war. So ging es fort: jetzt sind wir bei der siebenten angelangt.«

»Kinder«, sagte die alte Präsidentin und – es läßt sich nicht verheimlichen – brach in Schluchzen aus, »wenn ihr einmal eine Expedition unternehmt, um Finstermannland im Ozean aufzufinden, und ihr nehmt eure Präsidentin nicht mit, sollt ihr zur Strafe alle ersaufen.«

Dann schneuzte sie sich und fuhr so fort: »Warum habt ihr uns das alles, mein guter Phaon, geheimgehalten? Weder ich noch Rodberte noch Fräulein Auguste haben das geringste von dieser Bucht und euren Segeln gewußt. Nicht einmal wir drei, die wir es doch wahrhaftig um euch verdient hätten. Ich würde mit einem Gedanken an diese Segel und mit einem Hauch dieser Bucht über den toten Punkt meiner Tage weit leichter hinweggekommen sein.«

Sie sagte dann, Phaons Rechte ergreifend: »Du wirst mir im Angesicht dieser Bucht eine Hütte bauen, mein lieber Sohn. Ich werde im Angesicht dieser Bucht wohnen. Denn sie macht mich jung und regt mich zu Phantasien an. Das soll euch nicht wundern, ihr heiligen Mütter. Ich bin einfach zu schlecht für das Paradies, eine alte verstockte Sünderin. Matriarchat, Patriarchat: ist das Matriarchat der Himmel, so werde ich ganz gewiß am Tor sitzen, um gelegentlich, wenn es geöffnet wird, einen Blick auf das Patriarchat zu tun. Läßt mich Petrus dereinst in das allerheiligste Patriarchat des himmlischen Paradieses eintreten, so werde ich den erhabenen apostolischen Türschließer bitten, mich irgendwie bei sich anzustellen, damit ich manchmal durch eine Türritze oder durchs Schlüsselloch auf das höllische Matriarchat blicken kann. Und vielleicht, wenn er schläft . . . wir heiligen Mütter wissen ja, wie man nachts gelegentlich, ich denke an Finstermannland, zum freien und glücklichen Gebrauch eines Hausschlüssels kommen kann.

Kinder, Kinder, was strömt doch hier an diesem gleichsam offenen Tor für eine erfrischende, stärkende Luft herein! Ihr wohnt nicht umsonst am westlichen Zipfel der Insel. Eigentlich ist ja der Westen und nicht der Osten das menschliche Morgenland. Weiß Gott, ich sehne mich nicht nach China, Japan oder Indien. Ich sehne mich nach Europa, nach einer Landung in Hamburg, nach Berlin. Ich will Dampfer tuten, Lokomotiven pfeifen hören. Eine Bilderausstellung will ich sehen, die neunte Symphonie will ich genießen, durch einen Riesenrefraktor will ich hindurchgucken, eine Vorstellung im Wiener Burgtheater erleben, hernach bei Sacher mit Cliquot-Ponsardin zu Abend essen. Bosheiten, Tollheiten, Frechheiten sollen über den Tisch fliegen. Zigeuner sollen Musik machen, ein Königreich für eine Pariser Kokotte, ein schönes, freches, geschminktes, mit Perlen besätes, in Marder und Seide eingepacktes, bis an den Nabel dekolletiertes, parfümiertes und raffiniertes Weib!«

»Halt ein, Präsidentin«, rief Rodberte. Es herrschte allgemeine Betretenheit. Fast glaubten die Mütter, daß ein Anfall von Alterswahnsinn, eine Art Schlagfluß, die Präsidentin ereilt habe. Aber sie hatten auch ein Gefühl, als ob hier ein geheiligtes Tabu freventlich überschritten worden sei. Es war da wieder etwas, von dem alle wußten und das doch nicht vorhanden war. Es hatte sich diese Konvention ganz selbstverständlich als eine der vielen Notwendigkeiten zur Selbsterhaltung herausgebildet, wie dergleichen in Finstermannland gewöhnlich ist. Kurz, es hatte die alte Dame die in keiner der Stammütter ganz verharschte Wunde des Heimwehs unsanft berührt und merkte es erst, als es nicht mehr zu ändern war.

Die heiligen Mütter der Kommission brachen jedoch nicht in Klagen aus: das hätte ihr Stolz nicht zugelassen. Sie überboten sich dagegen in Entgegnungen der Geringschätzung, ja der Verachtung alles dessen, was Anni so sehr zu begehren schien. Auch war es nicht schwer, durch ein Kopfschütteln über die Altersschwäche der Präsidentin den empfundenen Schmerz zu vertuschen. Endlich verfielen sogar die Bilancellen scheinbar der Geringschätzung.

Anni hatte nun das Gefühl, sie müsse weiter und mehr zur Sache sprechen, um ihre Entgleisung vergessen zu machen.

Sie sagte: »Bei euch, lieber Phaon, ist Jugendland. Bei uns aber . . .«

Niemand hörte jedoch mehr auf sie, da die Zebus bereits wieder in Gang waren.

Alexander, Answalt und Ariel hatten sich ihrem Mentor Phaon und also der Kommission zugesellt. Außerdem war sie von kleineren, dienstbeflissenen Knaben umgeben, die nach den Wünschen der heiligen Mütter zu horchen hatten.

»Das Handwerk, welches wir in der Hauptsache treiben«, sagte Phaon, »ist das, was die Verwertung des Holzes zur Aufgabe hat. Seine hauptsächlichsten Unterabteilungen sind: Holzfällen, Zimmern, Wagnerei, Böttcherei, Tischlern und Drechslerei. Es läßt sich nicht leugnen, daß durch diese allgemeine Einstellung überraschend gute Erfolge erzielt worden sind.«

Man war, als Phaon dies sagte, auf eine Gruppe von jugendlich kraftstrotzenden Zimmerleuten gestoßen, die in einem gelichteten Pinienwald unter heitren Zurufen Baumstämme bearbeiteten. Das Interesse der Kommission ward schon durch den Anblick lange in Anspruch genommen. Das Klingen des Holzes, das Splittern und Krachen der Späne, die reichlich umherflogen, die Wucht der geschwungenen Arme zog sie an. Hier wurde in einem Zeitmaß gearbeitet, das zu sagen schien: »Wir wollen mit dem Werk lieber heut als morgen fertig sein.« Es lag eine Unruhe, eine schöpferische Hast gleichsam über diesem hoch überm Meer gelegenen Zimmerplatz, die durch ein lediglich insulares Ziel nicht zu erklären war. Nicht nur von Anni Prächtel, Rodberte und dem buckligen Fräulein Auguste ward diese Beobachtung gemacht, sondern von allen Gliedern der Kommission, und je mehr sie zu sehen bekamen, um so eindringlicher.

»Wie kommt ihr zu so vielen und guten Werkzeugen?« fragte Mutter Titania, weiland Page.

»So, wie die Menschen der Steinzeit«, antwortete Phaon, »zu den ihren. Wir haben den gesamten Strand immer wieder nach geeignetem Steinmaterial und geeigneten Zufallsbildungen abgesucht und lassen durch Spezialisten auf diesem Gebiet ununterbrochen die Suche fortsetzen. Dem Fundmaterial wird dann, heut darf ich schon sagen, auf fachmännisch geübte Weise nachgeholfen.«

Sowohl durch den Leichtathleten Alexander als durch Answalt und Ariel wurden den Damen Steinhämmer, Äxte, Messer, Handkeile, Schaber, kurz allerlei Werkzeuge vorgezeigt.

»Glücklicher Phaon«, sagte die Präsidentin, »göttliche Jünglinge!«

Um mit ausgestreckter Linken und gespreizten Fingern zu grüßen, um mit der Rechten das Werkzeug zu weisen, waren prächtige Enakssöhne herangetreten. Man wollte wissen, wie alles und zuletzt auch, wie wohl der seltsame, keineswegs unedle Gruß entstanden sei.

Phaon sprach:

»Es kann euch am Ende doch nicht geheim bleiben, wenn ich es auch jetzt noch geheimhielte: wir beten neben Mukalinda und der Bona Dea noch andre Götter an, sagen wir wenigstens: einen andern Gott. Ihr werdet sagen, wir seien auf die Stufe halbtierischer Wilder herabgesunken, wenn ich euch bekenne, daß wir außer dem dritten Gott, den wir verehren, Idolatrie treiben. Ihr habt vielleicht nicht bemerkt, daß der Baumfäller, welcher das unverdiente Lied auf Iphis sang, sich einer von jenen Sägen bediente, die ihr uns aus dem geretteten Bootsbestand überlassen habt. Ebensowenig habt ihr es wohl bemerkt, wie er das Sägeblatt, nachdem es seine Arbeit getan hatte, ehrfürchtig an die Stirn drückte. Jedenfalls hat er das getan, weil jedes Stück unsres alten unersetzlichen Werkzeugbestandes bei uns heiliggesprochen ist. Unser spezieller Mannland-Gott aber, erschreckt nur nicht zu sehr, hohe Frauen, ist die Hand. Ich wiederhole: die heilige Hand. Ich hoffe, ihr werdet euch nicht, wie der heilige Karl an den Sachsen, an uns versündigen wollen und, wie jener die Irminsäule, unser Götterbildnis der heiligen Hand umstürzen. Es prangt, wie ihr wißt, auf der Agora. Der Gruß aber, ihr hohen Frauen, dessen Entstehung und Bedeutung ihr wissen wollt, ist aus der Verehrung der Hand entstanden und legitimiert uns als Bundesgenossen im Dienste der heiligen Hand.«

Darauf hatten die Mütter nicht viel zu erwidern. Noch begriffen sie die Tragweite dieses Gedankens, dieses Symboles nicht. Die Prächtel zwar und Rodberte erinnerten sich, daß auf einer Radierung Rembrandts van Rijn die Hand Jesu Christi, welche die Wechsler aus dem Tempel geißelt, von einem Glorienschein umleuchtet ist. Als beide zugleich diesen Umstand erwähnten, erklärte Phaon im Ton der Bestätigung, diesen Glorienschein verdiene nicht nur die Hand des Heilands, sondern überhaupt die menschliche Hand.

Ihm war eines Tages im Wege seiner einsamen Meditation das ganze Mysterium, das ganze Wunder der menschlichen Hand selbständig aufgegangen.

Er wußte nicht, welche Stütze seine genialische Intuition an den großen Forschern Finstermannlands, auch zum Beispiel an Charles Darwin, gefunden hätte. Darwin, der sich in seiner »Abstammung des Menschen« die Ansicht Charles Bells zu eigen macht, eine Ansicht, die also lautet: »Die Hand ersetzt alle Instrumente, und durch ihre Übereinstimmung mit dem Intellekt verleiht sie diesem universelle Herrschaft.« – Man sollte von dieser neuen Sonne des Gedankens den Gesellschaftsbau Europas und die ihm eigne Moral durchleuchten, erleuchten, nach Art des Vogels Phönix zu Asche verbrennen und dann in ihrem Frühling erneuern lassen.

Phaon hielt es für angezeigt, noch mehreres vom Wesen der menschlichen Hand, wie er es auffaßte, verlauten zu lassen. Er hatte ja bis zum zwölften Jahre, aufgeweckten Kopfes, in Finstermannland im geistig bewegten Kreise seiner Eltern gelebt und nahm von dort her seine Belege und Beispiele.

»Der Begriff des Fortschritts«, sagte er, »ist vom Fuß hergenommen. Der Begriff des Handelns von der Hand. Nennt mir irgend etwas Materielles oder Spirituelles in dem ungeheuren Ganzen der Finstermannlandkultur oder ihres europäischen Ablegers, dessen Entstehung ohne die menschliche Hand denkbar wäre. Es ist dabei gleichgültig, ob ihr auf den geschriebenen oder gedruckten Buchstaben eines Goethischen Gedichts, auf das Papier oder die Form eines Buches, auf einen Prellstein oder das ganze Straßburger Münster blicken wollt. Ihr mögt alsdann in das Münster hineingehen. Seht den Kruzifixus über dem Altar, die farbigen Bilder, ihre Leinwand, ihr Holz, oder seht die farbigen Fenster an, in welchen die Sonne einen Olymp von Heiligen, eine Walhalla von deutschen Kaisern, Königen und Fürsten lebendig macht: alles ist Werk der menschlichen und, will heißen, der denkenden Hand. Platon, Kant, über die ich manchen Vortrag meiner Hauslehrer leider nur halben Ohres hörte, haben geschrieben. Aber selbst wenn sie diktiert haben würden, hätten sie ohne Vermittlung einer Hand ihr Werk nicht zustande gebracht. Nehmt aber das Immateriellste, nehmt die Musik! Abgesehen davon, daß eine Partitur das Ergebnis zahlloser denkender Hände ist: was wäre Musik ohne Instrumente! Und nun stelle man sich das unendliche Gewimmel denkender Hände vor, die handeln mußten, um nur Mutter Gerte Bergmanns Geige hervorzubringen. Es mußte sogar, das beweisen die Darmsaiten, Mord und Totschlag vorausgehen. Denn das ganze ungeheure Gebiet des Handelns, das der denkenden Menschheit oblag, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, vom Abscheulichsten bis zum Liebreizendsten, vom Furchtbarsten bis zum Glückseligsten, vom Rohesten bis zum Feinsten, vom Edelsten bis zum Gemeinsten, vom Gehässigsten bis zum Liebreichsten, vom Grausamsten bis zur aufopferungsvollen Caritas, bedient sich der menschlichen Hand. Wollt ihr aber verstehen, wie innig die menschliche Seele, wie unlöslich der menschliche Intellekt mit der menschlichen Hand zur Einheit verbunden sind, so blickt auf die Hand des Violinspielers! Oder blickt auf die Hand des Klavierspielers! Auf rapide, gedankenschnelle Weise werden durch die Hände des Violinisten, des Pianisten zahllose, unübersehbar zahllose Regungen der menschlichen Seele, des menschlichen Intellekts bis in die feinsten, unnachweisbar zartesten Schwebungen zum Ausdruck gebracht. Hier hat sich das scheinbar stumme Organ eine Sprache geschaffen, die selbst dasjenige auszudrücken vermag, was der Sprache des Wortes unzugänglich ist. Ich empfehle euch, liebe heilige Mütter, der Sache in Gedanken noch weiter nachgehen zu wollen. Denkt an den kleinsten Nagel Finstermannlands, die kleinste Nadel, denkt an den einfachen Ziegelstein, aus dem vielleicht das Haus eurer Eltern ebenso wie die Riesenstadt Paris, die Riesenstadt London, die Riesenstadt Berlin errichtet ist, und dann werdet ihr Hände und Hände und wieder Hände, geradezu eine Sintflut von denkenden Händen am Horizont heraufkommen und, so betrachtet, die Sonne verfinstern, die Erde begraben sehen. Aber nein, was rede ich: mögen noch so viele, mögen unendliche Wolkenzüge solcher Hände, mögen solche Geisterhände wie aufgewühlter Wüstensand unzählbar über den Horizont unsres Geistes heraufkommen, ihm wird es nur eine ungeheure Offenbarung sein, die ihn unendlich bereichert, statt ihn zu verschütten und zu ersticken. Es ist nicht zu überschätzen, was in Finstermannland eintreten wird, wenn die Hand aus dem Stande der Verachtung in den höchsten Adelsstand erhoben sein wird. Erst dann wird die Menschheit nicht mehr von dünkelhaften Narren, sondern von einem wohlbegründeten Bewußtsein geleitet sein. Von der Schöpfung dieses Bewußtseins an wird man das Werden einer Adelsmenschheit erleben, ein Werden, das uns der in dem Europa Finstermannlands so märchenhaft zutage tretenden Erfolge der denkenden Hand nach und nach würdig machen wird.«

Als Phaon geendigt hatte, trat wiederum ein scheinbar betretenes Schweigen ein. Rodberte allein schwang sich zu den Worten auf: »Ich wünschte, die götternahe Laurence wäre hier gewesen!« – worauf ihr die Prächtel beistimmend zunickte.

Phaon fragte befremdet: »Warum sagt ihr das?« – »Du hast dich«, gab ihm Rodberte zurück, »wie mir scheint, in vieler Beziehung zu dem entwickelt, was die edle Laurence dereinst von dir erwartete.«

Im Betragen der heiligen Mütter gegen Phaon verriet sich von nun an eine seltsame Sprödigkeit. Er schien ihnen gänzlich fremd geworden. War es nun, weil er mit so viel Freiheit und Energie fremdartige, wenn nicht staatsgefährliche Ansichten auskramte, oder weil sie des Anblicks von Männern entwöhnt waren und dadurch gestört, ja gereizt wurden. Schließlich war es ja ungeheuer seltsam, daß es außer der weiblichen noch eine andre Menschensorte gab, deren Art und Auftreten ihr hilfloses Hervorgehen aus dem Mutterleibe zeitweilig ganz vergessen ließ.

Bei solchen Umständen mußte sich das Verhalten einer der heiligen Mütter ganz besonders peinlich auszeichnen. Es war ein schönes, üppiges Weib, dessen kleine Füße ein edles Gewicht an weiblichen Reizen zu tragen hatten. Ihr Haar war schwarz, ihr Nacken fast immer geneigt, sie redete wenig, sang meist vor sich hin und pflückte seltsame Blumen am Wege. Mitunter schlug sie bedeutsam dunkelnde, feucht überglänzte, bis dahin nach innen gerichtete Augen auf. Dies tat sie auch, als Rodberte geendet hatte. Und so, als ob sie alleine wäre, ohne die allergeringste Verlegenheit, Phaon in den Blick ebendieser feucht dunkelnden Augen gefaßt, trat sie gelassen ganz an ihn hin und schlang ihm zwei köstliche Arme um den Nacken. So drückte sie ihm einen Kuß auf den Mund.

»Mutter Erdödy! Mutter Erdödy!« riefen die Mütter erschreckt, bestürzt, wie aus einem Munde.

Schwer zu sagen, worauf der Ruck, den es jeder der Mütter beim Anblick des sehr natürlichen Vorgangs gab, letzten Endes zurückzuführen war: keine Handlung indes der Unmoral, der Unsittlichkeit, der Schamlosigkeit, des Verrates sowie der Beschmutzung geheiligter Satzungen und Geheimnisse hätte können anstößiger sein. Die heiligen Mütter erstarrten und verstummten, ja, sie erbleichten auf geradezu krankhafte Weise mit aufeinandergepreßten Lippen, um die Mundwinkel das Zucken namenloser Erbitterung.

Phaon ließ sich sogleich auf ein Knie nieder und küßte der heiligen Mutter Erdödy voll Ehrfurcht die Hand.

»Mutter Erdödy«, sagte Rodberte, »hat unserm Phaon nur ihren Segen für seine schwere und große Mission in Finstermannland erteilen wollen.« – Mutter Erdödy war Magyarin und wegen ihrer einfachen Güte und wohligen Sinnlichkeit allbeliebt.

Die Mütter waren nunmehr bergab zu weiten grünen Matten gelangt. Bevor sie noch etwas sahen, war zu ihrem erneuten Staunen ein seit Jahrzehnten entbehrtes Geräusch zu ihren Ohren gedrungen. Sie hätten es müssen als Geläute von Herden ausdeuten, wenn ihnen nicht die beschränkte Menge von Metallen bekannt gewesen wäre, die auf der Insel verfügbar war. Nun aber sahen sie wirklich Zebuherden, sahen Glocken den Tieren an breiten Riemen um die Hälse gehängt.

»Wir treiben auch viele brotlose Künste«, sagte Phaon. »Als ich eines Tages der Herdenglocken Finstermannlands gedachte, befiel mich eine Sehnsucht danach. Ich hatte ja selbst manchmal mit den Hirtenjungen am offenen Feuer Kartoffeln gebraten. Aber ich wollte auch meinen hiesigen lieben Jungens gern einen Spaß machen, vor ihren Seelen etwas von der traulichen Musik unsrer Schweizer Berge, ja, im Anschluß an den Kuhreihen schließlich Friedrich Schillers ›Wilhelm Tell‹ vor ihnen aufleben lassen. Ich wollte ihr Staunen erleben, wenn selbst die unvernünftigen Zebukühe Musik machten. Da fiel mir ein gewisses Holzinstrument der Zigeuner ein, das mit Hämmern geschlagen wird. Also konnte man Hölzern Töne entlocken. So schritt ich dazu, unsern geschickten Drechslern die Aufgabe, eine Glocke aus Holz zu formen, anzuvertrauen. Ich bin immer ebenso froh wie meine Kinder, wenn sich eine neue Aufgabe bietet. Der Ehrgeiz, der bei uns ungeheuer grassiert, ist dann wieder auf eine Weile lebhaft beschäftigt, ein Umstand, der uns in jeder Beziehung vorwärtsbringt und vergessen läßt, daß wir, ursprünglich Meer gewohnt, leider heut Teichkarpfen sind. Es dauerte gar nicht lange, bis nach meiner Zeichnung die erste hölzerne Glocke fertig war, bis wir einen Zweiklang, einen Dreiklang hatten und schließlich eine ganze Oktave zustande kam.«

»Man muß es dir lassen, du hast deine dir vom Mütterrat seinerzeit übertragene Aufgabe auf eine über jedes Erwarten großzügige Art aufgefaßt. Es war vielleicht gut, daß man dir damals das nicht zutraute.«

»Hätte man es nicht so gewollt«, sagte Phaon mit großer Gelassenheit, »die Entwicklung Mannlands würde dadurch nicht gehemmt worden sein.«

In diesem Augenblick tönte Gesang. Er war nicht übermäßig melodisch, denn er ging, mehr geschrien, von einem nackten, versonnen begeisterten Buben aus, sitzend auf einer grasenden Zebukuh. Er sang sein Lied in englischer Sprache, was von Phaon damit begründet ward, daß er es von seiner amerikanischen Mutter vor seinem fünften Jahre gelernt und nach Mannland mitgebracht habe:

»Lady-Cow, Lady-Cow,
fly away home.
Thy house is on fire,
thy children are flown.

All but a Little One
under a ›Stone‹:
Fly thee home, Lady-Cow,
ere it be gone.
«

Als dieser hübsche Ausbund von einem Hirtenjungen den zweiten Vers seines Liedchens begonnen hatte, brach die heilige Mutter Titania, geborene Page, in maßloses Schluchzen aus.

Und nun ereignete sich wiederum eine für die Würde der hohen Matriarchatskommission etwas peinliche Szene. Die heilige Mutter Page näherte sich mit prächtigen, weit ausholenden Sprüngen ihrer Dianenbeine der Zebukuh, die den Sänger, scheu werdend, mit einem plötzlichen Seitensprunge absetzte. Noch brüllte der Knabe, als ihn Titania Page, auf der Erde kniend, zu würgen und zu erwürgen schien. Die Prächtel sagte, indem sie sich schneuzte: »Gott sei Dank, ich habe ja wenigstens noch ein altes gerettetes Taschentuch.«

Der Vorgang wurde von einer bestimmten Müttergruppe innerhalb der Kommission ganz anders aufgenommen. Auch die heilige Mutter Doktor Egli hielt sich zu ihr. Ihr Zentrum und Spiritus rector jedoch schien Philomena Schwab zu sein. Sie sagte, zur Doktorin Egli gewandt: »Ich finde nicht, daß wir bei solchem Betragen vor diesen Outcasts gut abschneiden!« Und auch Mutter Eglis kurz hingeworfenes Wort »Affenliebe!« ließ nichts zu wünschen an Eisigkeit.

Keine der Mütter konnte wissen, auf welcher Seite Mutter Egli eigentlich stand, und selbst Laurence war in dieser Hinsicht unsicher. In Wirklichkeit war die Ärztin die einzige, die mit dem Gedanken des Mütterstaats ganz Ernst machte und insgeheim auf intrigante und fanatische Weise an seiner Verwirklichung arbeitete. Von der götternahen Laurence und ihrem Transzendentalismus hielt sie nicht viel. Er war ihrem Wesen unzugänglich. Sie fühlte nur, daß er ihre geheimen Zwecke förderte. Ihre Mentalität mußte ja auch eine ganz andre sein, da ihr Blick überwiegend mit sowohl qualvollen als blutigen körperlichen Vorgängen zu tun hatte und ihr der Eingriff mittels scharfer Instrumente in das lebendig zuckende Leben alltäglich war. Auch war ihre Moral mit dem Eintritt in die medizinische Gilde in der Moral dieser Gilde untergegangen. Sie ward beherrscht von der kalten, nüchternen medizinischen Gildenmoral, die einmal das Vorhandensein der menschlichen Seele auf Grund der Tatsache bezweifelte, daß ihr noch bei keiner Obduktion und Sektion etwas wie eine Seele unter das Seziermesser gekommen sei.

Phaon wußte genau, auch wenn ihm die Äußerung von der Affenliebe entgangen sein würde, was er von Mutter Egli zu halten hatte. Ihr wissenschaftlicher Automatismus allein schon war höchstens zu brechen, niemals zu beugen. Phaon war willens zu lernen, wo es irgend zu lernen gab. Darum hatte er sich auch zum Teil ihren Darwinismus und ihre Betrachtungsweise des Menschen als eines Säugetieres zu eigen gemacht. Dann war eben das Menschentier, wie er bei sich ergänzte, das größte der Wunder der Natur und als solches verehrungswürdig. Man mußte dann auf der Tierheit aufbauen, und wenn man den erstaunlichen Aufstieg des Menschentiers durch die Jahrmillionen in Rücksicht zog und der Millionen von Jahren gedachte, die das Fatum seiner Entwicklung möglicherweise noch bestimmte, so hatte man sich zu gestehen, daß die Erhabenheit jenes Geschöpfes, jenes Tieres, das vom Ende jener Zeitläufte zu uns heruntergrüßte, selbst unsre ahnenden Kräfte weit überstieg. Aber Phaon bekämpfte auf jede nur mögliche Weise Mutter Egli, sofern sie in ihrem heimlichen Männerhaß und weiblichen Glorifizierungsdrang Mannland, das heißt den Mann opfern wollte. Er sagte ihr insgeheim unter vier Augen und auch durch die Art, wie er ihre Intrigen durchkreuzte, Todfeindschaft an. In diesem Augenblick aber, nachdem Titania Page nach dreijähriger Trennung ihren Knaben wiedererkannt und umhalst hatte und Mutter Egli die Äußerung von der Affenliebe tat, schoß diese Todfeindschaft mit einem Blicke Phaons hervor, der Mutter Eglis Auge unsicher machte.

»Diese Zebukühe«, sagte er dann mit herzlichem Lachen, zu der orthodoxen Gruppe gewandt, »diese Zebukühe wird man gewiß deshalb nicht heilige Mütter nennen, weil sie eines so wahren und herzlichen Ausdrucks der mütterlichen Gefühle nicht fähig sind.«

Was die Mütter im Verlaufe von drei, vier Stunden Weiteres, im einzelnen und im allgemeinen, erfahren hatten, lockte Anni Prächtel das Geständnis ab, der Horizont von Mannland sei weiter als der auf der Gegenseite. Rodberte sagte, es käme daher, weil eine Mutter gleichbedeutend mit Familie sei. Das Wesen einer Familie aber sei Bodenständigkeit, die Entwicklung einer Familie um so gedeihlicher, je weniger sie zu nomadisieren gezwungen sei. Darum sei die mütterliche Geistigkeit mehr nach innen gekehrt oder werde von dem kleinen Kreis der Familie, von den Kindern, von Haus, Hof, Herd und Garten aufgesogen. Der Knabe, der Jüngling, der Mann sei ein Wesen für sich allein. Omnia mea mecum porto, dürfe er sagen, weshalb er sich frei und ungebunden im Grenzenlosen bewegen könne.

Die weibliche Lebensaufgabe zwinge zur Intensität, im Leiblichen wie im Geistigen. Die männliche sei wesentlich extensiv, womit die Gefahr des Ausschweifenden im Körperlichen wie Geistigen verbunden sei. Um am Abend nicht das Gefühl zu haben, daß ein verlorener Tag hinter ihm liege, müsse der echte Mann bis an die Grenze seines körperlichen Vermögens ins Unbekannte fortgeschritten sein, während die Frau sich im geheiligten Bezirk des Ewigbekannten ermüde. Wo der Fuß des Mannes aus Übermüdung, oder weil er an ein Hindernis stoße, nicht weiterkönne, würden Hindernis und Müdigkeit vom Geist übersprungen, der unermüdet, unaufhaltsam weiter ins Unendliche fortschreite. Sie schloß, das Wesen des Weibes sei gleichsam zentripetal, das männliche Wesen zentrifugal.

Hier konnte es sich die Ärztin denn doch nicht versagen, den Mund zu öffnen und mit zwei Worten den Vorrang der Frau gerade aus diesem Schluß zu beweisen, da das Zentrifugale niemals staatenbildende Kraft habe.

Die Präsidentin zog die Sache ins Komische. »Ich will mich auf tiefere Fragen nicht einlassen«, sagte sie. »Ich habe mich nur über die überaus reichliche, gesund entwickelte Knaben- und Jünglingsschönheit gefreut und die vielen kuriosen Köpfe, die wir darunter gefunden haben. Daß viele unter ihnen in isolierten Verstecken von uns gleichsam aufgetrieben wurden und daß sich darin sowie in der damit verknüpften Eigenbrötelei nicht gerade ein besonders starker sozialer Sinn verrät, will ich gerne zugeben. Auch daß den meisten unser Paradies durchaus nicht ein und alles ist. Aber es ist doch ein köstlicher Genuß, wieder einmal die Aura männlicher Narrheit mit ihren hochfliegenden Plänen einzuatmen. Ich neige eben zur Abwechslung. Ein vierzehnjähriger Bengel grübelt über das Flugproblem. Das Flugproblem wird man niemals lösen. Aber das ficht ihn gar nicht an. Die Vögel fliegen, warum soll er nicht auch fliegen. Es geht ihm gut, es geht ihm hier nichts ab, er sieht wie ein Adonis aus, aber er möchte lieber heut als morgen sich auf Flügeln der Morgenröte in das Unbekannte hineinstürzen.

Ein andrer hat die Idee gefaßt, einem Alexander dem Großen, einem Cäsar, einem Napoleon nachzuarten. Er wird sogar seinen Kameraden lästig damit. Dabei fällt es ihm gar nicht ein, unsre erbärmlichen kleinen Dörfer, weder das Weibsparadies noch das Mannsparadies, regieren zu wollen. Nein, er wird eines Tages der Gebieter von Finstermannland sein und diese große, lockende Welt wahrscheinlich durch die Schläge seines Holzschwertes – er hat ja kein andres – zur Vernunft bringen und erlösen. Und ich wette, sein Wille ist so stark, daß er jedenfalls eines Tages in Kapstadt oder sonstwo landen wird, und wenn er auch wie ein Frosch dahin schwimmen müßte.«

Phaon sagte: »Die Zeit ist zu kurz. Und außerdem haben die heiligen Mütter durch eine Würde, eine Höhe, die nun einmal im Geiste der Mannländer ihnen zugesprochen ist, an Vertrauen in kleinen Dingen eingebüßt. Es würde sehr viel Zeit erfordern, hinter das zu kommen, was die Mannlandgemüter bewegt. Es ist unendlich viel Tolles und Lustiges, was eine mild-humoristische, freilich nicht erschöpfende Zusammenfassung unter den Begriff ›männliche Narrheit‹ wohl verträgt. Wir haben Pixe, welche jeden Baum der Insel mit so viel Göttern und Dämonen bevölkert haben, daß selbst unsre götternahe Laurence ein Erstaunen anwandeln würde. Sie zitieren jede halbe Stunde einen andren Geist und ein andres Gespenst. Die Bollandisten, von ihnen hat Tante Rodberte mir manches erzählt, haben nicht so viel christliche Legenden zusammengetragen und können nicht so viel zusammentragen, als ein so kleines, reges Gehirn im Laufe der Zeit über das Verhältnis von Mukalinda und der Bona Dea zusammenphantasiert. In den Köpfen unsrer Jünglinge und Knaben sind bereits in unübersehbarer Fülle Tempel, Kirchen, Kathedralen, Paläste, Brücken über Ströme und Meere von solchen ungeheuren Dimensionen aufgebaut, daß selbst die Ruinen von Baalbek, St. Peter in Rom und das Straßburger Münster winzig und ärmlich dagegen erscheinen.«

»Das ist ein Unsinn«, sagte die Egli. »Das sind ja nicht einmal Seifenblasen. Was tun wir damit? Wenn es nach mir ginge, würde ich vielleicht überhaupt auf Île des Dames mit aller und jeder Phantasterei aufräumen.«

So weit hatte sich Mutter Egli bisher noch nicht vorgewagt.

Die heilige Mutter Schwab warf bissig ein: »Es ist ja sogar das Einhorn auf Île des Dames gesichtet worden. Der Unsinn übersteigt bereits alles Zulässige.«

»Warum denn nicht?« sagte Phaon darauf. »Warum soll schließlich das Einhorn auf Île des Dames nicht vorkommen? Ich möchte euch sogar die Versicherung geben, ihr heiligen Mütter: es kommt hier vor.«

»Und kommt etwa«, fragte Philomela Schwab weiter, »der famose hängende Garten der Luft mit der seltsamen Zoologie und Botanik, ein Wolkenkuckucksheim, von dem sogar schon unsre Himmelstöchter allerlei Spukgeschichten erzählen, auch auf der Insel vor?«

»Jawohl, heilige Mutter, auch der kommt vor.«

Die Prächtel sagte: »Ich wundre mich über nichts mehr, liebe Doktorin Egli, aber auch über rein gar nichts mehr wundre ich mich. Ich sehe schon lange auf dieser unsrer affenteuerlichen Insel nicht nur Einhörner umherwandeln, sondern weiß Gott was für tolles fabelhaftes Gezücht. Der ganze Tag wird mir förmlich vergoldet, wenn ich mal einen richtigen, braunen, europäischen Floh sehe.«

In der Nähe des Kapitols ward der Kommission eine kleine, von drei jugendlichen Handwerkern besetzte Werkstatt gezeigt. Hier wurden zum abermaligen Staunen der Damen nach dem Muster von Gerte Bergmanns Instrument ohne alle Frage Geigen verfertigt. Die fünfzehnjährigen Geigenbauer, deren Anblick das Herz jedes rechtschaffenen Mädchens in Brand gesetzt hätte, mußten ausführlich darlegen, nach wieviel Mühen, fehlgeschlagenen Versuchen die Aufgabe doch am Ende leidlich bewältigt worden war. Es ergab sich, daß Gerte Bergmann ohne Wissen der übrigen heiligen Mütter oft bis in diese Werkstatt vorgedrungen war und bei Bewältigung der herrlichen Aufgabe mit Rat und Tat geholfen hatte. Die fertigen Geigen, das Quartett, das Quintett, ja ein kleines Orchester, dessen Einstudierung Gerte leitete, sollte bei der ersten sich bietenden großen Gelegenheit für die heiligen Mütter eine festliche Überraschung sein.

»Da wir für das Fest der Brautweihe kandidieren«, sagte Phaon, »habe ich mich entschließen müssen, eins unsrer schönsten Geheimnisse schon jetzt preiszugeben. Aber was tut man nicht, um einer so hohen Ehre, wie es die Teilnahme an diesem Fest bedeuten würde, sich wert zu erweisen. Ich sagte euch ja, daß wir alle unsre Kraft und Intelligenz auf die Behandlung und Verwertung des Holzes gerichtet haben. Und nur auf diese Art ist es uns geglückt, einigermaßen hinter dieses, sein allersubtilstes Geheimnis, hinter seine musikalische Seele zu kommen.«

Als die Damen über den Platz vor dem Kapitol schritten, bereitete sich ein Empfang auf den Stufen des Kapitols vor. Bekränzte Knaben, bekränzte Jünglinge standen dort aufgereiht, und alles schien plötzlich in einem Sturm von hymnischen Klängen sich aufzulösen.

»Heilige Mütter!
Gebärerinnen des Himmelssohnes Bihari Lâl,
von Gott erkannt, den Gott gebärend!
Gebärerinnen der Himmelstöchter,
die ihr wandelt
über den Kelchen der Blumen,
durch die Berührungen eurer Sohlen
Farben streuend.
Gebt eure Lippen dem Baum,
er wächst und blüht.
Bald wird der Fall von Früchten
wie Klang von Pauken
den Boden erschüttern.
Euer Kuß erwecke den Fels,
daß kristallene Flut aus ihm bricht,
Himmelsflut, eure Kinder zu nähren,
himmlisch,
wie die Milch eurer Brüste himmlisch ist.«

Wie nun auch immer dieser Hymnus weiterging und wenn er auch, wie es die Eigentümlichkeit solcher Empfänge ist, weit über Gebühr lange dauerte, so mußten denn doch die heiligen Mütter mit dem Geiste, in dem er gedichtet war, wohl zufrieden sein.

Die denkwürdige Inspektionsreise der mütterländischen Abordnung endete mit einem feierlichen Gastmahl im Kapitol, bei welchem wiederum gebratenes Fleisch gegessen und, zum Ärger der Doktorin Egli, auch Palmwein reichlich genossen wurde. Phaon aber sagte in einer begrüßenden Ansprache, es werde von niemand in Mannland bezweifelt, das Weib wäre ein Geschöpf höherer Art. Einige Wirrköpfe ausgenommen, dächte niemand hier hüben daran, an diesem Axiom zu rütteln. Der Mensch wolle immer etwas bewundern und verehren, und es böte sich den Knaben sowie den Jünglingen, den Jünglingen sowie den Männern nichts Bewunderungswürdigeres und Verehrungswürdigeres als die heilige Mutter und die Himmelstochter dar. Unter allen Geschöpfen sei überhaupt die Frau das vollkommenste. Was sei die Unruhe, der Erkenntnisdrang, der Trieb des Suchens, Findens und Erfindens beim Manne denn anders als das Eingeständnis seiner peinlich empfundenen Unvollkommenheit. Der Umstand, daß die Frau meist auf einem Punkt der Entwicklung stillstehe, wo ihre Stimme noch die knabenhafte Höhe besitze, daß überhaupt ihr ganzer Habitus nie in die Sphäre der Roheit, Rauheit und Brutalität des Mannes aufsteige, spreche für sie. Ihre wahre Kraft sei deshalb nicht geringer. Sie sei auch dem Manne an Mut überlegen, da jede einzelne Frau selbst im Zustand des höchsten Glücks Schmerzen aushalten müsse, die dem Manne erspart bleiben, und da passiver Mut der höchste sei. Dieser Stillstand der Entwicklung, gleichsam in einem heiligen Kindheitsstadium, habe dem Weibe die dämonische Genialität der Jugend erhalten, die nur darum so wenig hervortrete, weil die Brutalität des Mannes es leicht habe, mit der trieblosen, ehrgeizlosen Genialität der Frau fertig zu werden. An die Krüppelformen der Weibheit in Finstermannland, sagte Phaon, dürfe man sich dabei freilich nicht erinnern. Phaon nannte die Frau engelhaft, den Mann aber quasi vom Teufel besessen. Kurz, wenn Tisch- oder Parlamentsreden jemals gewirkt hätten, so hätte diese das doktrinäre Eis um die Herzen der Philomela-Schwab-Partei gewiß geschmolzen.

»Unsre Augen«, fuhr der breitschultrige, langgelockte Redner fort, »unsre Augen, die Augen von Mannland, hängen überdies mit gläubiger Andacht, gläubiger Liebe, gläubiger Verehrung an dem Göttertempel von Mont des Dames, an den Göttertempeln und ihren Mysterien. Wir sind uns bewußt, mit Stolz und Ehrfurcht bewußt, ebenfalls dem Wunder von Île des Dames teils die Art unsres Daseins, teils dieses Dasein selbst zu verdanken, wenn wir auch nicht den Anspruch haben und je haben können, unmittelbar wie die heiligen Mütter von der Gottheit erkannt zu werden. Trotzdem sagen wir Vater zu ihr und sagen zur Bona Dea Mutter.

Solltet ihr uns, hohe Mütter, zum Fest der Brautweihe nicht zulassen, so werden wir hier ein andres Fest feiern, nämlich das Fest der Geburt Bihari Lâls. Wir werden es auf den Tag der Wintersonnenwende, den einundzwanzigsten Dezember, verlegen, der ja hier allerdings als solcher wenig spürbar ist. Wir werden das aber darum tun, weil das Schicksal von Île des Dames am Tage der Geburt Bihari Lâls seine Wendung zur Höhe, zum Lichte, zum Glanze genommen hat, aus Beengung und Finsternis.«

Was nun geschah, war der Höhepunkt von allem Überraschenden, was die heiligen Mütter bisher in Mannland erfahren hatten. Ein seltsames Säuseln, ein wunderliches Vibrieren traf ihr Ohr, das sich zu Tönen, zu Harmonien zartester Art verdichtete. Ähnliche Laute hatte die Prächtel, hatten Rodberte und andre so lange nicht gehört, daß sie zunächst nicht wußten, welche Bedeutung sie ihnen beimessen sollten. Ja, es dauerte ziemlich lange, bis jede der Damen darüber im klaren war, ob nur sie allein dieser luftigen Schwingungen nach Art des Ohrenklingens teilhaftig wurde oder ob sie, aus einer allgemeinen Quelle stammend, allgemein empfunden wurden. Allmählich aber entpuppte sich dieser weiter und weiter musizierende Ariel, und nachdem auf einen Wink Phaons sich ein Vorhang geteilt hatte, konnte man nicht mehr im Zweifel sein, daß man, von Epheben gespielt, zwei Geigen, Bratsche und Cello, also ein Quartett vor sich hatte. Die jungen Künstler entwickelten ihren Haydn zu göttlicher Süße, Frische und Heiterkeit, und fühlende Seelen empfanden, wie ihnen trotz Bona Dea und Mukalinda das wahre Göttliche nie so nahe als mit diesen himmlischen Harmonien und Rhythmen getreten war.

In diesem Augenblick war die Schwab-Egli-Partei sehr, sehr klein geworden. Der Würfel würde unbedingt zugunsten Mannlands gefallen sein, wenn nicht, wie leider oft geschieht, ein Zwischenfall noch zum Schluß eine starke und wohlbegreifliche Mißstimmung bei der Kommission hervorgerufen hätte. Ein junger Mensch, Bianor genannt, war durch Phaons Gebot mit Hilfe der Lichtbringer vom Empfange der heiligen Mütter ausgeschlossen worden. Man kannte ihn als einen ungeselligen, händelsüchtigen Geist, der schon von Kindesbeinen an Erbitterung gegen das Mütterland in sich genährt hatte. In gewisser Beziehung war es ja merkwürdig und nur durch die wonnige Süße des Daseins auf Île des Dames zu erklären, daß diese Outcast-Erbitterung nicht bei allen zutage trat. Nächst dem Klima und den seligen Daseinsbedingungen hatte Phaon das größte Verdienst daran. Dieser Bianor indes war von seinem Weiberhasse, der bis zur Weiberverachtung ging, nicht abzubringen. Er hatte sich gewisse zurücksetzende Vorkommnisse seiner frühesten Jugend, als er noch in Obhut der Mutter war, allzu genau gemerkt, und gewisse Worte, von denen damals die Mütter glaubten, daß sie weit über sein Verständnis hinausgingen, hatten sich seinem Innern schmerzlich eingebrannt. Es waren unheilbare Wunden daraus geworden.

Bianor also, der Ausgeschlossene, der seinerzeit bei der Abführung nach Wildermannland um sich gespuckt hatte, war plötzlich in den Festsaal getreten und begleitete unglücklicherweise gerade eine überaus freundliche Ansprache Mutter Rodbertes mit bissigen Einwürfen. Nicht die Gesamtheit der Knaben und Jünglinge noch auch Phaon selbst vermochten etwas gegen den Unfug auszurichten, da sie ein Schauspiel der Roheit, der Gewalt, etwa durch Bianors Hinauswurf, den heiligen Müttern nicht geben wollten. War doch Gewalt und Roheit, wie sie wußten, ganz und gar bei ihnen verpönt. Rodberte sowohl wie die Mütter merkten, wie es ein Zahnarzt etwa merkt, wenn er den Nerv des Zahnes berührt, daß hier der Nerv von Mannland berührt worden war. Und alle erkannten übereinstimmend: weder war er getötet worden, noch hatte er etwas von seinem empfindlichen Leben eingebüßt. Ja, das Denken der Mütter war bisher viel zu bequem gewesen, um diesen Mannlandnerv überhaupt in Betracht zu ziehen. Es hatte darüber hinweggesehen. Der Schreck war groß, als man mit dem Dasein des Nervs zugleich die mit ihm gegebene Gefahr erkannte.

Nie hatte jemand den Müttern eine ähnlich heftige Anklage wie Bianor entgegengeschleudert, als er mit einer glänzenden Suada einsetzte, nachdem Rodberten das Weitersprechen unmöglich geworden war. Er überhäufte die Mütter mit Vorwürfen, sagte, daß ihnen der geheiligte Name Mutter nicht zustehe, da sie sich seiner durch ihr Verhalten gegen ihre männlichen Kinder verlustig gemacht hätten. Er verhehlte nicht, er habe sich nachts in ihre Siedlungen eingeschlichen. Er habe gewisse Gespräche belauscht, die Mutter Egli und Mutter Schwab mit ihren sauberen Helfershelferinnen gehabt hätten. Man habe da Dinge gegen Mannland geplant, die er sich schämen würde, öffentlich auszusprechen. »Eure Mütterlichkeit«, sagte er, »ist die allerniederträchtigste, kälteste Grausamkeit. Bestreite es, Mutter Egli, bestreite es, Mutter Schwab, daß in euren Augen von neunhundert Männern mindestens achthundertneunzig überflüssig sind! Ganz Mannland erscheint euch überflüssig. Ihr würdet uns alle am liebsten umbringen, ihr wißt nur nicht, wie ihr es anstellen sollt. Verweist ihr nicht auf den Bienenstaat, wie man die männlichen Bienen nach dem Hochzeitsfluge der Königin abtötet? Wißt, ihr habt uns aus eurem Geiste, aus eurem Herzen ausgelöscht! Ihr verwünscht uns schon, wenn wir noch unter eurem Herzen herumhüpfen. Sollen wir euch vielleicht dafür dankbar sein? Wir leben, wir wirken. Wir gehen mit großen Entwürfen um, und ihr wollt nicht einmal, daß wir sind. Aber wir sind und werden euch euer Nichtwollen heimzahlen. Denn was seid ihr mit eurem bißchen Geist, eurem bißchen Kraft, eurer Nesthockerei, eurer Backfischchenproduktion gegen den Mann?«

Der Skandal war schlimm und nicht wieder gutzumachen. Holterdiepolter brachen die Mütter auf, und die Doktorin sagte zur Schwab im Abreiten: »Ein kurzer Handgriff zu rechter Zeit, und alles dies wäre unmöglich geworden.«

 


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