Carl Hauptmann
Schicksale
Carl Hauptmann

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Der Höllenfahrer

Als der junge Graf Meinholdt mit seinen vier Goldfüchsen im Wiesengrund eine Schlucht hinauffuhr, saß eine junge, abgemagerte Krähe im Grase, die einen zerschossenen Flügel hatte und sich bemühte, davonzurennen, weil nur noch der eine Flügel hilflos schlagend funktionierte. Und durch die Gedanken des jungen Grafen ging eine wirkliche Trauerempfindung, obwohl der Viererzug mit dem leichten Jagdwagen wie eine Windsbraut klitternd vorüber war. Denn in dem jungen, vornehmen Herrn lebte auch eine Sturmseele. Und der Eindruck eines zerschossenen Flügels hatte flüchtig eine Ahnung herangetragen, als wenn ihn plötzlich ein enger Beichtstuhl einschlösse und neben ihm ein ganz schwarzer Priester als Horcher säße.

Der junge Graf Meinholdt war ein straffer, rothaariger Herr mit einem straffen rothaarigen Schnauzbart. Kaum vierundzwanzig Jahre alt.

Die Leute in den Dörfern der weiten gräflichen Herrschaft nannten ihn alle den Höllenfahrer.

Wie er so mit seinen vier Goldfüchsen auf dem oberen Rande der Schlucht als Silhouette mit Wagen und galoppierenden Pferden verschwand, hatte man wirklich ein Gefühl, wie wenn ein flammender Luzifer aus den dampfenden Morgennebeln mit Vieren zum Frühbesuche ins Himmelslicht führe.

Aber das war nur eine Sinnestäuschung für die erbärmliche Krähe, die in der Schlucht im Grase zurückblieb. Die Lerchen oben im lichten Blau sahen den kühnen Menschen dann im Sprunge dem Wagen entsteigen, dort, wo ein hoher Eichwald begann. Dort hielten die schäumenden Pferde auf dem Flecke wie festgenagelt. Und der junge rothaarige Mann war mit der Büchse auch schon im Walde verschwunden.

Im alten Schlosse war der junge Graf auch diese Nacht nicht gewesen. Wie jetzt seit einem Jahre nie.

*

Im alten Schlosse, das man in weiter Ferne auf einem Hügel im Sonnenschein aufleuchten sah, residierte der alte Graf Meinholdt. Ein mächtiger Mann. Ein Mann von ganz unnahbarer, überlegener Art. Fast konnte man denken mit einem zerschossenen Flügel. In dem Sinne, daß, wo er auftauchte, nicht nur er selber, auch alles andere streng gebunden schien. Daß sogar der an sich behagliche Hauskaplan und natürlich der junge, brünstige Franziskanermönch, der an Feiertagen und Sonntags sich in den heiligen Zeremonien und Beichten mit dem Hauskaplan in der Schloßkapelle abwechselte, immer nur im Flüstergespräche dem alten Herrn nahten. Ähnlich, wie sie sonst nur gewöhnt waren, bei den heiligen Weihen mit Gott selber zu sprechen.

Es war nicht Härte, was über dem alten Grafen Meinholdt ausgebreitet lag. Wenn schon die Stimme eine Machtstimme war, und der Blick verriet, daß die Augen einen weiten Horizont hinaussahen. Es lag in dem alten Manne nur eine seltsam hohe Würde.

Der struppige, fast ergraute, zugespitzte Vollbart, und die vollen, weißen Bürsten über den stark gedunkelten Grauaugen schienen wie von einem echten Bettelmönch.

Man vergaß sogar die erlesene Vornehmheit der Erscheinung über dem Eindruck der heimlichen Entsagung und über dem unwägbaren Nimbus des Schicksals, das über dem mächtigen Grafen spielte.

Das Schicksal war eines von denen, die einmal begonnen, kein Ende haben, hoffnungslos sind, und den Menschen nie mehr zum Hochflug bereit finden.

Das Schicksal war eins von denen, die im Leben plötzlich ins Blut schlagen wie ein Blitz, die das Blut für immer dunkel färben, es mit einer unstillbaren Sehnsucht anfüllen bis zum Rande. So daß das Leben wachend und schlafend wie ziellos zernagt ist, und von diesem Nagen endlich leer und bewußtlos ermüdet.

*

Das Schloß war ein Fürstenschloß. Vierzig Zimmer standen allein als Gastzimmer leer.

Der alte Herr hatte früher ein Leben voll Laune und Glanz geführt. Noch vor zwanzig Jahren.

Er war damals zuerst, als er seine Laufbahn begann, Diplomat gewesen. Und wie er die schönste, junge Fürstentochter am Hofe unter der persönlichen Teilnahme seines kaiserlichen, sehr gnädigen Herrn geheiratet hatte, hatte der Kaiser selber einen Statthalterposten auf einer der seligsten Inseln in der Monarchie für ihn ausgewählt.

Dort in dem veilchenblauen, weiten, wiegenden Meergewässer hatte das marmorne Regierungsschloß auf Klippen gelegen. Und ein Tag um den andern war es Ehre und Lust und Liebesspiel gewesen, darein die Blumenkaskaden von hohen Steinmauern Duft und Farben, und weichbewegte Palmen und starre Steineichen und hohe Eukalyptusschäfte und Wedel seltsam vertrackte Schatten warfen.

*

Die Zeit war eine sehr irdische Zeit.

Der alte Herr hatte jetzt vergessen, wie schön die Zeit war. Er verfluchte jetzt die Erinnerung an diese Zeit.

*

Niemand im Schlosse sprach je von der Gräfin. Die Gräfin war wie verschollen. Nichts im Schloß mit den weiten Sälen, darin Prunkmöbel und köstliche Kronleuchter verhangen waren, erinnerte an sie. Kein Name auf den lauschigen Parkplätzen und in Tempeln und Grotten erinnerte je daran, daß hier eine Herrin aus strahlender Jugend und Freiheit verfügend umgegangen.

Die beiden Komtessen weinten nur manchmal in Zeiten der Schwermut heimlich vor dem Mutterbilde. Und beteten dabei die diamantenen Rosenkränze zu deren Seelenheil.

Und die beiden weißen Nonnen, die ergraut waren, schwiegen ewig. Suchten einander nur verstohlen einen Blick zuzusenden, weil sie mit der Frommheit ihrer Schutzbefohlenen zufrieden waren.

*

Auch der alte Herr hatte den Kaplan immer in seiner Nähe. Und die Büßermönche vom nahen Kloster schritten oft durch Park und Flure.

Der Park, der einst ein Freudengarten gewesen war, mit Heckenlauben und Rosenbüschen wie aus Tausendundeine Nacht, voll blumenbesäter Hänge, die sich mit bunten Menschen im Wasser kristallklar gespiegelt, war jetzt mehr ein Ort der Buße und göttlichen Ergebung.

Die jungen Komtessen waren lieblich wie Rosenranken. Eingeschüchtert und in sich gehalten von den weißen Müttern, die statt der einstigen jungen Herrenfrau plötzlich hatten Mutterdienste verrichten müssen. Wer weiß, an welchen verlassenen Liebeslauben und smaragdgrünen, weiten Rasenplänen, worauf man in früheren Zeiten Pfänderspiele gespielt und einander im Übermute in Schleppkleidern gehascht hatte, nicht jetzt Bilder der Gottesmutter, Heilandskreuze oder Heiligenfiguren aufgerichtet standen, vor denen dann und wann im Abendscheine die sittsamen Komtessen knieten.

*

Die Wahrheit zu sagen: Die einstige Gräfin Meinholdt, die eines der schönsten und lebenslustigsten Mädchen am Kaiserhofe gewesen war, hatte das überfeinerte Leben im Zwange des Grafen Meinholdt plötzlich satt bekommen. Man weiß nicht, ob der fromme, leidenschaftlich kirchliche Sinn den Grafen schon damals beherrschte, und die junge Gräfin schon bald seinem Einfluß entfremdet hatte.

Jedenfalls war die junge Fürstentochter gar nicht lange, etwa nur fünf Jahre sein Weib gewesen. Und war dann einfach mit einem jungen, stahlharten Manne, einem sehr reichen, aber nicht einmal adligen »Abenteurer«, wie man vulgär sagt, durchgegangen.

Die Kinder, die geboren waren, drei an der Zahl, der Sohn und die beiden Töchter, blieben in Vaters Schutze zurück. Die Ehe war bald geschieden. Die einstige Gräfin war im bürgerlichen Nebel gleich völlig untergetaucht. Sie war mit ihrem neuen Manne wer weiß auf welchen kühnen Reisen. Und wenn sie je einmal in die Heimat zurückkehren und selbst ihren Kindern, die jetzt erwachsen waren, begegnen würde, wollte sie braungebrannt sein, rücksichtslos und hart gemacht von vielen Strapazen, überlegen, weil sie ihr Leben dann hundertmal in die Schanze geschlagen, prickelnd belebt, wie sie war für jede Gefahr und jede Lust der Freiheit, auch wenn sie etwas mit Blut und Leben erkaufte.

Es muß auch solche Menschen geben. Wohl uns, wenn es immer wieder solche Abenteurer gibt.

*

Und der junge Graf Meinholdt war seiner Mutter Sohn. Der junge Graf Meinholdt hatte dieselben goldroten Haare, die bei seiner einstigen, jungen Mutter mit Diamanten geschmückt wie vom Haupte der Freia im Glanze der Kaisersäle geschimmert hatten. Der junge Herr war auch immer auf der Flucht vor dem Alten. Er war immer auf der Flucht vor Kreuzen und Heiligen.

Der Hauskaplan trank zwar gelegentlich lachend einen langen Kelch Chartreuse mit ihm und spielte sich auf den Gutfreund aus. Aber der junge Herr war vor allen Heiligen auf der Flucht. Vor allen Mönchen. Und besonders vor dem Hauskaplan. Auch die Mönche alle gingen um den jungen Herrn, wenn er sich ihnen einmal zufällig zeigte, herum wie schnurrende Kater. Schließlich würde der junge Graf einmal auch der wirkliche Graf der weiten Wald- und Weidegründe sein, und der hohen Schlösser und Burgen des Stammes Meinholdt.

Aber der junge Herr ließ alle frommen Devotionen von sich abgleiten, wie ein Buchenblatt das Wasser. Er ließ niemand derart an sich heran. Er hatte es durchgesetzt, daß er nicht einmal im alten Schloß wohnte. Er hatte vor mehr als Jahresfrist einmal dem alten Grafen sehr bündig erklärt:

»Ich bin mündig ... ich bin erwachsen ... ich kann nicht ewig nur Vatersohn sein ... ich muß auch ein Bereich haben, worin ich mich frei bewegen kann!«

Und dieser fromme, in sich schwermütige Herr hatte das willig eingesehen. Und war niemals auf mißtrauische Gedanken gekommen, was für Gelüste den jungen, strotzigen Mann in die tiefe Einsamkeit seines neuen Waldschlosses trieben.

*

Der junge Graf trieb dort nicht immer nur einen lebendigen Mutterkult. Er war ein äußerst verwegener Mensch in allem. Man sah ihn manchmal in rasendstem Ritt mutterseelenallein einen alten Hirsch durch Bruch und Wald und Heide hetzen. Sein und seiner edlen Pferde Leben galt ihm ein flüchtiges Hohngelächter. Rätselhafte Abenteurer waren immer seine Umgebung. Zirkusleute. Mit denen er auf seinen Fuchshetzen die tollkühnsten Jagd- und Reiterstücke ausführte. Nur einmal auf großen Pferderennen konnte man ihn noch unter seinesgleichen sehen. Obwohl er auch da nur ganz obenhin mit den jungen Standesherren und Offizieren verkehrte. Bei den gefährlichsten Rennen sah man ihn im Sattel. Und dann am Abend der Rennen führte er mit den Jockeis und Pferdehändlern in vertraulichstem Umgang ein schrankenloses Leben.

Tief im Forste sein neues Anwesen, einem weiten, behaglichen Landschloß ähnlich, mit sehr reichlicher, peinlich gepflegter Stallung, war rings von einer vier Meter hohen Mauer umgeben.

Die Holzsucher aus den herrschaftlichen Dörfern dachten schon bald, daß es darin nicht geheuer wäre.

Nämlich, manchmal um Mitternacht kamen auch Leiterwagen mit verhaltenem Lärm, brachten Musikantenpack und Gelichter. Auf düsteren Waldwegen mit unheimlichem Fackelschein gingen verstohlene Trosse in das hohe Tor ein, das sich unter geflüsterten Kommandospäßen und verhaltenem Weibergelächter schnell wieder schloß. Der junge Graf hatte die seltsamsten Duzfreunde. Auch Fiakerkutscher und Kellnermädchen. Tänzerinnen aus dem berühmtesten Nachtlokale der Hauptstadt, aus dem »Ende der Welt«. Coupletsänger. Eine kostümierte Zigeunerkapelle raste in seinen reichen Sälen wie ein jauchzender Sturm mit Geigen und Cymbal auf und nieder. Eine nackte Schlangenathletin wand sich auf seinen kostbaren Teppichen unter taumelndem, kolossalem Gelächter. Und auch ein toller Franziskanerpater schwang hier manchmal heimlich im Tanze seine Kutte.

*

Aber eines Tages war alles anders. Der Lärm war verstummt. Das Waldgehäuse war verlassen.

Im alten Schlosse war ein frohes Ereignis eingekehrt.

Komtesse Helena und Komtesse Monika waren am Arme von jungen, vornehmen Herren noch ein wenig scheu durch den alten Park gewandelt. Sie hatten Heilige und Kreuze an diesem Tage gar nicht beachtet. Und auch der alte Graf lächelte zum erstenmal ganz zärtlich. Denn die beiden Töchter hatten sich mit zwei Brüdern aus hohem Hause, zwei Grafen Birinski, verlobt.

Zum erstenmal wieder war ein froher Ton in das alte Schloß gekommen. Obwohl die Birinskis auch sehr gläubige, fromme Leute waren, ohne Hauskaplan und Beichtiger nach ihren Jagden und Wettritten und erlesenen Gastereien nicht auskamen. Auch sehr stolz waren, daß die Komtessen, ihre Bräute, mit zauberhafter Anmut die diamantenen Rosenkränze durch die schönen Hände laufen ließen und mit zauberhafter Anmut vor dem Bilde der heiligsten Frau knixten.

An diesem Tage war gleich eine große Festgesellschaft im alten Schlosse. Mönche und Nonnen und der Hauskaplan. Aber auch eine Schar vornehmer Mütter. Und junger Damen, außer Helena und Monika. Allerlei junge Edelleute und sehr heitere Greise. Und alles fragte nach dem jungen Grafen, der gar nicht daran gedacht hatte auch zur Feier zu erscheinen.

Da hatte zuerst die Gräfin Helena einen berittenen Lakaien hinüber ins Waldschloß geschickt. Den der junge Graf, wie er das immer mit Uneingeweihten beliebte, einfach gleich am Tore hatte abfertigen lassen.

Dann hatte Monika einen dringlichen Brief mit einem zweiten Reiter hinübergeschrieben. Und auch der alte Herr hatte noch einmal befohlen, daß der junge Graf ausdrücklich in seinem Namen geholt werden sollte.

Der junge Graf kam nicht.

Die beiden Komtessen belogen schließlich den alten Herrn. Sie behaupteten, der junge Graf wäre gar nicht daheim gewesen. Er wäre schon den Tag vorher ohne jede Ahnung der Freude in die Hauptstadt gefahren. Und es war auch auf diese Weise möglich gewesen, den Unmut des alten Grafen Meinholdt noch einmal völlig zu verscheuchen.

*

Aber die Erregung des Tages hatte die beiden jungen Birinskis nicht schlafen lassen, daß, wie das Schloß endlich in nächtliche Ruhe sank, sie mit dem Hauskaplan zusammen noch im Parke wandelten. Und daß sie in ihrer Frohheit auf den Gedanken kamen, der Herr Kaplan möchte sie doch zu dem jungen Grafen hinübergeleiten.

Der alte Graf Meinholdt, der noch einmal durch das Glasvestibül seines Schlafzimmers ganz auf den Altan in die Nacht hinausgetreten war und die Rede der jungen Herren unten im Parke unabsichtlich belauscht hatte, gab nun ausdrücklich Befehl, daß man seine beiden neuen Söhne in einem geschlossenen Wagen zum Waldschlosse hinüberführe, weil die Nachtluft kühl wäre, und der Weg an einem Sumpfe vorbeikäme.

*

So waren die beiden Birinski mit dem Hauskaplan zuerst eine Weile im geschlossenen Wagen auf nachtdämmriger Straße und an dem flachen Sumpfe vorübergefahren. Aber wie sie die hellen Sterne sahen, hatten sie den Wagen aufschlagen lassen, hatten begonnen in den Nachthimmel ihre verliebten Lobpreisungen hinauszusprechen. Und der Kaplan hatte lange nur auf dem Rücksitz des Wagens gesessen mit beständigem Lächeln.

Dann fuhr man tiefer in den Wald hinein. Weich wie auf Moos. Man hörte nur dann und wann einmal die Pferdehufe eisenpinkend aneinanderschlagen.

Eine Eule schrie laut und jämmerlich wie ein kleines Kind. Sie schlüpfte in den Dämmer geräuschlos wie ein Geist. Und es herrschte lange Totenstille. Immer nur Totenstille.

Bis plötzlich ein Fetzen seltsamen Lärms durch die Waldstille flog. Wie vom Winde verworfen und herangeweht. Aber das ruhige Nachtgeflüster in den alten Kronen hatte es gleich verschlungen.

Die Nacht war unsäglich in die Tiefe der Räume geborgen. Wie in einem heiligen Kelche lag die schlummernde Ruhe eingebettet. Und das huschende Pferdegespann erschien Augenblicke lang gar nicht wie aus Erde gewoben, nur wie im Schmetterlingsfluge hinzuschweben.

Da ... kam der Lärm aus der Hölle doppelt aufscheuchend wieder.

Man wagte gar nicht zu reden. Der Kutscher hatte den frischen Trab der Pferde sofort eingehalten. Man fuhr im Schritt weiter. Und der Kutscher und der Diener auf dem Bocke lachten vor sich ganz stumm in die Luft.

Die jungen Birinski hatten die Weise sofort erkannt. Auch der Kaplan erkannte sie.

Die jungen Birinski hatten oft im »Ende der Welt« der Zigeunerkapelle Champagner spendiert. Auch das Gejohle der Frauenstimmen kannten sie. Fernes, schrilles Gelächter, das sich in die feierliche Nachtstille immer verwunschener einsenkte.

Die drei im Wagen wagten keinen Laut. Sie saßen gleich wie auf Kohlen. Es begann sie zu peinigen, daß sie überhaupt auf den Gedanken gekommen waren, noch diesen nächtlichen Ausflug zu unternehmen. Und alle begann der Gedanke zu quälen, daß sie ja doch dem alten Grafen würden berichten müssen.

Sie fuhren nur Schritt um Schritt.

Sie wollten schon umkehren. Der eine und der andere Birinski hatte schon eine Geste gemacht, sich abzukehren.

Auch der Kaplan hatte nach dem Rockschoß des Dieners gegriffen.

Da ... lag die hohe Steinmauer, mächtig wie ein Heiligtum des Herakles vor ihnen. Ein gewaltiges, schweres Eisentor. Im Tiefdunkel.

Nur Lichtgarben des dahinter hell erleuchteten Schlosses schnitten in den Nachtraum des Himmels. Und Sang und Getöse drang über die Mauern her, wie aus einem großstädtischen, verrufenen Tanzlokal.

»Soll ich die Glocke ziehen?« sagte der Diener unschlüssig, der vom Bocke herabgesprungen war.

Der eine Birinski war in der Aufregung, in die er geriet, schon ebenso schnell vom Wagen gesprungen, und hatte die große Glocke, die am Torpfosten hing, selber gezogen. Die Glocke schlug mit ehernen Schlägen schneidend durch den Lärm. Ein Schicksalsschlag. Allen war ziemlich grausig zumute. Zumal alle Musik wie eine abgebrochene Kaskade staffelweise sofort versiegte.

Es wurde ganz still.

Man hörte eine Weile nur drinnen ein Huschen. Danach die Stille noch tiefer war. Dann merkte man, daß ein Mauerfenster sich ganz behutsam von innen auftat. Es war nichts genau zu erkennen. Nur konnte man wähnen, daß ein Augenpaar in die Waldfinsternis und die kleinen Wagenlichter vor der Mauer herabspähte.

Da klang die Glocke noch ein-, zwei-, drei-, viermal immer lauter und herrischer, weil über den jungen Grafen Birinski jetzt eine richtige Empörung gekommen war. Aber um so tiefer nur begann danach das nächtliche Waldrauschen mit den großen, goldenen Sternen darüber zu summen. Und es war und blieb totenstill. Auch die Lichtgarben aus dem Waldschloß loschen allmählich ganz aus. So daß man denken konnte, es wäre ein Geisterschloß, das jetzt von der Erde mit einem Zauberzeichen ganz ins Walddunkel eingesunken.

Man stand wie genarrt. Man stand ewig. Man pochte noch immer wieder. Man rief mit harten Stimmen. Alles blieb stumm und eingeschlafen

So daß man sich endlich entschließen mußte, heimzufahren. Völlig ernüchtert und stumm.

Die jungen Birinski suchten natürlich am andern Morgen die Sache so harmlos wie möglich und wie einen Spaß darzustellen.

Aber wie dann doch der alte Herr selber, mißtrauisch gemacht, mit einem Franziskanerpater zum erstenmal hinüberfuhr, um in der einsamen Junggesellenbehausung des jungen Grafen persönlich zum Rechten zu sehen, war nicht nur der Lärm völlig verstummt. Das Schloß war ganz leer.

*

Der junge Graf Meinholdt war in die Hauptstadt gefahren. Seitdem er wußte, daß sein Geheimnis vor seinem Vater gelüftet war, saß er unter Fiakerkutschern und sonstigem Armutsvolke in wer weiß was für Schenken und Vergnügungslokalen herum. Er hatte sich im Hotel eingemietet. Später entschloß er sich, weil ihn auch das verkommene Leben gewissermaßen an der Quelle bald langweilte, auch auf besonderen Wunsch des Alten, eine große Jagdreise zu machen, nahm einen Varietéabenteurer und ein junges, schönes Mädchen aus der Ukraine, die spielte und tanzte und sang, und zwei übermütige Diener mit und lebte eine zeitlang in Kashmir in den höchsten Gebirgen, der Verfolgung des Bären und des königlichen Markhors leidenschaftlich ergeben. Wie er einmal einen alten, weißen Widder mit der gewaltigen Hörnerkrone und den Eisriesenbehängen in eine einsame Firne verfolgt, ist er vermutlich von einer Lawine fortgerissen zu Tale gegangen und verschüttet worden. Er ist von diesem Pirschgange nie mehr zu seinen Begleitern und seinem Zelte zurückgekehrt. Auch wie der alte Graf Meinholdt ein Vermögen verschwendet hatte, der Leiche seines Sohnes irgendwie habhaft zu werden, hat man keinerlei Spuren vom Höllenfahrer mehr auffinden können.


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