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Die Welt steht nirgends still. Auch die Sonne geht uns nur scheinbar auf, als eine goldene Scheibe in Götterhänden. Auch die Sonne ist eine Mutter, deren Eingeweide sich zerwühlen und zerbersten unter ihrem Feuergeschäft. Im Weltenkreise muß sie einherwandeln mit ihrem unsäglichen Glutglanz und wird auch einmal an ihrem Weltenberufe mit Tode erlöschen. Ihre Kinder, die die goldenen Lichtfluten wie Milch tranken und aufblühten, Erde an Erde, werden in Steine verwandelt einherziehen, grausig Leben und Liebe verlassen. Alles ist in ewigem Schwunge und muß sein Schicksal vollenden. Das Große und das Kleine.
Aber jetzt ging die Sonne wie eine Glanzkugel am Horizonte des Sees aus der grauen Wasserflut, fiel in den bunten Asterngarten und in die kleinen Fenster der Frau Güldenbaum, fiel hinein in den kleinen, feinen Saal, über den großen Flügel und die große Goldharfe, die in der Zimmerecke stand. Beschien mit seitlichen Streifen die Reihe goldgerahmter, altertümlicher Medaillonbildchen von großen Musikern, die zum Teil mit vergilbten Rosmarinkränzen geschmückt an der verblichenen Wand hingen.
Frau Güldenbaum stand in heller Verzweiflung in der geöffneten Glastür auf der Schwelle und sah in die Morgenglut hinaus. Sie sah gar nicht.
In ihr gingen Gewalten um.
Etwas jagte in ihr hin wie ein rasender Reiter, der alles auftrieb: Es mit einer Trompete in sie hineinschmetterte, daß sich irgend ein Schicksal an diesem Morgen vollenden müßte.
Frau Güldenbaum war eine lange, hagere Frau. Eine Parze mit langem Gesicht. Eine ganz große, behaarte Warze hatte sie an ihrem Runzelkinn. Graues Haar quoll ein wenig unter ihrer Chenillehaube hervor unter zwei zerknitterten und leicht unsauberen Seidenrosetten. Ihre Lippen waren verzweifelt verzogen. Ihre Gesichtsfurchen an Stirn und von der Nase zum Munde herab waren tief.
Sie hatte an dem Morgen durchaus nicht an ihre Toilette zu denken versucht. Schon die Nacht war auf eine sinnlose Weise hingegangen.
Sie empfand es in allen Gliedern, daß es seit gestern am Nachmittage eine vollkommen wirre Zerrüttung gegeben: Seit der Zeit, daß ihre jüngste Tochter Bronislava wie eine Königin aufgeputzt, oder auch wie eine arabische Fürstin – denn so kühn hatte sie die Konturen ihres herbstlichen Hutes um ihr braungelbes, fremdes Gesicht gezogen, und so leichthin im leichten Winde hatte sie die losen Falbeln ihres schönsten, kirschroten Seidenkleides wehen und flattern lassen – seitdem ihre Jüngste, Bronislava, den Klängen der Militärmusik, die in den stillen Ort eingezogen war, unaufhaltsam zulief.
Frau Güldenbaum hatte ewig gestanden.
Sie war schon im Morgengrauen in die Tür getreten.
Die Nacht war lau.
Sie hatte so hinausgestarrt, weil ihr langes Runzelgesicht feuerte. Weil sie in der Jagd ihrer Gedanken die frische Luft vom See kühl empfunden.
Die Nacht hatte sie in ihrem kleinen Alkoven im Giebel ihres kleinen Hauses auf einem vornehmen Biedermeiersofa gehockt, das mit zerschlissener Seide jetzt vernachlässigt dastand. Und das zu Vaters Zeiten einmal sehr köstlich gewesen war.
Das Häuschen lag vor der kleinen Stadt, wo auch Holzpläne bis zum See gingen.
Das Häuschen und ein geringes Vermögen war das Vermächtnis, das ihr und ihren beiden Töchtern von ihrem verstorbenen Manne verblieben war.
Aber die Mutter konnte der Unordnung schon längst nicht mehr Herr werden. Das Häuschen war, seitdem die beiden Töchter als feine Damen herumliefen, ein Haus streitender Gewalten und steter Leidenschaften.
Die alte Parze stand händeringend, und sah nur gen Himmel.
»Oh, mein geliebter Herr und Heiland im Himmel ... wenn das so alles unsereiner begriffe ... oh, mein lieber, toter Vater, der du unter den Heiligen wohnst ... wenn das alles so unsereiner begriffe ... das sind Megären ... das sind Megären!« So ging es in ihr hin.
Herr Güldenbaum war ein ganz sanfter Mann gewesen. Ein großer Musiker. Er hatte am Hofe in Petersburg Geigenkonzerte gegeben, spielte daneben eine ganze Reihe anderer Instrumente meisterlich, und hatte seine beiden, kleinen Mädchen Stina und Bronislava noch in die ersten Geheimnisse des Harfenspiels selber eingeführt.
Die alte, hagere Frau Güldenbaum bewahrte noch ein kostbares Zarengeschenk in einem Sammetetui, das sie dreimal in Seidenlaken gehüllt, niemals aus der Hand gab.
»Wenn ich einmal tot bin, könnt ihr euch darum erwürgen, meinetwegen«, sagte sie und war darin allein unerschütterlich.
Und Frau Güldenbaum hatte diese ganze Nacht durchgemacht wie ein jagendes Nachttier. Wenigstens kamen zerrissene Erinnerungen daran in ihr neu auf und trieben mit Windeseile weiter. Wie wenn sie im Tiefdunkel ihres Giebelraumes hin und her geschwirrt wäre leise wie eine Fledermaus. Nur immer rastlos hin und her. Und dann und wann nur horchend nach den allerfeinsten Geräuschen.
Aber die andere Seite der Lage begann ihr sogleich noch aufwühlender fühlbar zu werden. Die sinnlose Wut, die aus dem Zimmer ihrer Ältesten weit noch nach Mitternacht sich in Harfenkaskaden, in jähen, gewalttätigen Durchkreuzungen allerlei wilder, rasender Harfenmusik entladen hatte. Bis es endlich gegen die zweite Stunde in dem Zimmer Stinas plötzlich ganz still geworden war, und es geschienen hatte, als ob ein schwerer Körper zu Boden fiele, und die Saiten des mächtigen Goldinstrumentes noch lange wie verwirrt und geschlagen klirrten.
Jetzt fiel es Frau Güldenbaum ein, daß sie dabei gedacht hatte, Stina wäre etwas zugestoßen. Stina hätte eine Ohnmacht niedergerissen. Denn Stina bekam richtige Wutohnmachten. Und es fiel ihr auch ein, daß sie, die Mutter, doch nicht gewagt hatte, zu Stina hineinzugehen, auch nicht einmal, die eigene Tür leise zu öffnen.
»Oh, mein himmlischer Herr und Heiland ... wenn das so alles der sanfte, tote Vater begriffe, was wir aus unserer Liebe für Megären hervorgebracht!«
Jetzt wußte Frau Güldenbaum alles deutlich, wie sie dann in der Nacht scheu zusammengehockt und zitternd nur ewig gehorcht hatte, ob Bronislava endlich leise den Schlüssel des kleinen Häuschens drehen, ob sie auch nur auf den Steinfließen des Vorgärtchens, das von einer gewaltigen Verwachsung von Teufelszwirn völlig verwunschen lag, schleichend herankommen und sich auf Strümpfen über die Holztreppe, ohne auch nur ein Knacken der alten Bretter zu wecken, in ihr Stübel hineinschleichen würde?
*
Das war nicht wahr.
Bronislava war ein lebenslustiges, ein feurig pathetisches Mädchen.
Eine Megäre war nur Stina.
Eine Megäre, von Ehrgeiz nach Ruhm und Schönheit kalt zerrissen.
Ein Dämon, den die kochende Wut genial machte.
Daß ihre Harfenmusik manchmal klingen konnte, als wenn Engel mit Teufeln zusammen die Töne durch Himmel und Hölle jagten.
So daß auch Bronislava sich wohl hütete, mit Stina zusammenzugeraten, solange sie es mit ihrem leichten, verächtlichen Lachen noch balancieren konnte.
Bronislava war ein schönes, feuriges Mädchen. Ganz fremdartig arabisch. Das Gesicht in Braun, mit tiefer Rosenröte nur auf den Wangen. Die Nasenlöcher ausdrucksvoll witternd und launig belebt. Die Augen – nun – wie Augen scheinen, die fast nur Pupillen sind. Groß und tiefdunkel. Und sengend. Und sanft. Und die ganz lange, seidene, schwarze Säume grenzten. Und ihr Kinn war rund und voll. Ihre Lippen rotdunkel, wie Preiselbeerblätter im Herbste. Man hatte, wenn man mit Bronislava einherschritt, das Gefühl, daß sie mit elastischen Sohlen die Erde berührte. Ihr Gang, ihre Haltung, ihr gehobenes Vorwärtseilen litt an keinerlei Schwere. Nur so achtlose Freiheit und Kühnes-ins-Leben schritt da den Hang zum Waldsee hinab und lachte mit klarem, rücksichtslosem Lachen in die hegerige Herbstluft.
Dagegen war Stina wie ein schwerfälliger Steinklotz.
Ihre Gesichtszüge waren derb. Auch in der Farbe ziemlich gewöhnlich. In allem an ihr war eine einzige Auffälligkeit. Obwohl sie nicht klein war, war doch alles an ihr zwerghaft von einem Riesengeschlechte. Ihr Gang war ein wenig drehend und unbeweglich. Ihre ganze Körperlichkeit hatte nirgend liebliche Wellen. Ihre Füße klebten am Boden wie ein Paar Klumpfüße.
So konnte es wenigstens manchmal scheinen.
Ihre Arme, die sie zuweilen kokett nackt trug, waren dicke, derbe Stümpfe, obwohl sie sich gerade darauf offenbar etwas zugute tat. Ihre Hände waren das Ungeformteste an Fleischgestalt, was man nur sah. Man begriff nicht, daß diese groben, runden Zapfen, solche tolle, kolossale Musik aus der Goldharfe herausschlagen konnten.
Oh, diese Stina!
Stina war ein Zwerg aus einem Riesengeschlechte! Auch ihre Seele war eine Zwergenseele aus einem Riesengeschlecht.
Alles, was sonst bei Menschen zum Flügel wird und hoch in die Luft treibt, zog diese Stina zur Erde nieder. Kroch in Gruben. War heimlich und schwelend. War jäh und ohne Gefühl. War Rauch, nicht Feuer. In ihr hatten sich Kräfte verdichtet, die für Flüche taugen.
*
Auch Stina lag jetzt noch, wie sie war, in einem großen, fast theatralischen Aufputz, in ihrem Giebelzimmer auf der Diele hingestreckt, genau so, wie sie etwa um zwei Uhr nachts vor innerer Zerrüttung und Scham und Übermüdung nach stundenlangem Toben und Brausen, auf der Harfe, hingefallen war.
Wie in Frau Güldenbaum, raste auch in ihr eine sinnlose Ratlosigkeit, seitdem Bronislava wie eine arabische Fürstin angetan, hinaus war, der Militärmusik im Königlichen Parke unaufhaltsam nach.
In dem Städtchen lag ein altes, ziemlich vernachlässigtes Königsschloß. Und ein Manöverzufall hatte ein Regiment Kavallerie hier ins Quartier hereingebracht.
Seit der Zeit hatte sich auch Stina nicht halten können. Sich angetan wie eine Diva in der Oper. Mit den köstlichsten Schmucks und Galanterien. Mit Seidenkostüm von tiefem Ausschnitt. An den Füßen selbst, die Fleischklötze waren, hatte sie das Nackte deutlich gelassen.
Sie fühlte sich haßvoll und üppig. Und auch im Geiste zum Wegwerfen fähig.
Denn heimlich erschauerte auch sie von den Lebenslüsten Bronislavas.
»Hahahaha«, das war der eine jähe Gedanke, »daß Bronislava einen Mann suchte, statt der göttlichen Künste ... einen Bürger oder einen Offizier ... einen Mann, der sie anrühren und ihre Arme und ihr Busenfleisch drücken und sie zu einer Kindermutter herabwürdigen könnte.«
Denn so schrie es in Stina im Haß.
Und sie hatte im Spiegel die Augen von ihrem eigenen Busen, der im freien Kleide üppig herausquoll, nicht losreißen können.
Und sie hatte dann an der großen Goldharfe gesessen. Nachmittag, Stunde um Stunde. Ohne Essen. Ohne Trinken. Ohne eine Rast.
So daß bis in Mitternacht die alte Güldenbaum die Kiefer im Gesicht wie mit ewigem Schwirren vibrieren gefühlt. Bis zu dem Augenblick in der Nacht, wo die Klänge jäh abgerissen waren, Stina auf die Zimmerdiele gefallen war, so wie sie noch jetzt dalag.
Bronislava war die ganze Nacht nicht zurückgekommen.
Nämlich, Bronislava hatte manchmal heimliche Gänge.
Das war zwar der Mutter Sorge noch immer nicht. Denn sie liebte Bronislava. Während Stinas nüchterner Blick jedes Zutrauen sofort erwürgte.
Und die alte Frau Güldenbaum hätte sich in ihrer gütigen Mutter- und Parzenseele geschämt, wenn sie Bronislava verdächtigt hätte.
Auch wenn Bronislava einmal in die Großstadt fuhr. Und dann mit mancherlei Zieraten und Einkäufen heimkam.
Aber das war schließlich doch nie eine Nacht außer Hause.
Aber Bronislava kam nun auch die Nacht nicht heim.
*
Stina erschien plötzlich im Musikzimmer, riß die alte Mutter fast gewaltsam am Arm herum, so daß sie ihr zornsprühend ins Gesicht und in ihre geängstigten, welken, bleichen Züge sah.
»Nun ... was denkst du jetzt zu tun?« fragte sie steinern.
Frau Güldenbaum konnte kein Wort antworten. Sie lief zusammengesunken, nur wie zur Besinnung aufgeweckt, als wenn sie bisher richtig schlafend dagestanden, halb rückwärts zur Tür hinaus, lief in die Küche, so übernächtigt wie sie war, sank über dem Küchentisch zusammen, und man hörte einen Augenblick flüchtig ein schluchzendes Weinen.
»Ach ... sich gebärden ... sich verrückt gebärden ... Oh Gott ... Vater... und Sohn!« stieß Stina aus sich.
Stina war vor dem Bilde Herrn Güldenbaums, der wie ein armenischer Jude sanft und heilig aus dem Rosmarinkränzchen blickte, stehengeblieben.
»Wenn du die Schmach erleben müßtest ... wenn du die Schmach erleben müßtest!«
Und Stina wollte der Mutter in die Küche nacheilen.
Aber die Mutter hatte die Tür instinktiv hinter sich zugeriegelt. So daß es in Stina nur neu und langsam sich aufzubäumen begann.
Eigentlich wollte sie gleich alles zertrümmern. Eigentlich wollte sie vor allem das im Goldrahmen paradierende Bild Bronislavas, das sieghaft auf dem Klavier stand, zertrümmern.
Sie hatte es in Händen und zerbrach es ganz plötzlich, warf es auf die Erde und zertrat es.
Und sie wollte auch die Goldharfe Bronislavas, die wundersam verlockende Harfe, die Bronislava züchtig wie eine schöne, prunkende, friedliche Himmelsfigur schlagen konnte, zertrümmern. Sie hatte blitzschnell die Stifte für die Saitenspannung herausgerissen, um sie schon auf die Erde zu werfen. Aber sie hörte die Mutter auch noch die Küchentür zuschließen. Las ebenso rasch Bildertrümmer und Stifte zusammen in ihre Hand und zögerte Schritt um Schritt horchend und hämisch mit Seitenblicken die Treppe aufwärts in ihr Zimmer zurück.
Auch in ihr jagte nur jetzt bestimmter etwas wie ein rasender Reiter hin, der das Blut in Schwarz auftrieb wie Wellen, die wie Meerwellen herandräuten, um alles zu bedecken.
Jäh und giftig ballten sich Stinas Fäuste. Und in ihre prallen Gesichtszüge war jetzt die Härte von Wolfsblicken gekommen, die bereit sind zu töten und zu verschlingen.
Aber sie bändigte sich. Sie stockte Schritt um Schritt. Weil es ihr jetzt deuchte, als ob den Gartenweg ein Mensch mit leichten Schritten herankam. So war sie auf der obersten Treppenstufe wieder steinern erstarrt.
*
Bronislava kam wirklich. Sie sah ein wenig verwogen aus. Man begriff nicht, woher sie kam?
»Nein ... weißt du, Mutter ... du brauchst gar nicht zu erschrecken«, sagte Bronislava kindlich weich zur Mutter, die ihr langes Parzengesicht schon aus der Küchentür heraussteckte.
Die Mutter konnte kein Wort aus ihrem Schrecken heraus sprechen. Die Mutter sah Bronislava nur an. Und machte ein paar gebundene, abkehrende und abwehrende Bewegungen. Sie stand längst im Banne des Gewaltstreiches, den sie von der oberen Treppe her erwartete. Sie blickte nur dann gleich verzweifelt und todbleich nach oben.
Freilich lachte Bronislava noch übermütig.
Man sah es Bronislava an, daß sie Wein getrunken, und die Nacht in Unbändigkeit vertan hatte. Ihre Zöpfe waren offen. Offenbar hatte sie ihre Haare gelöst und ganz frei gemacht. Und hatte die Zöpfe dann nur in Eile noch leicht wieder zusammengedreht.
Ihre kirschrote Robe war ziemlich zerknittert. Nur ihr Hut hatte noch einen vollen Schwung.
Und was vor allem auffiel: sie schien bereit, frech zu sein. Schön war sie. Aber sie schien bereit, frech zu sein. Ermüdet hingegeben jeder Wahrheit. Gleichgültig für alle moralische Gebärde. Noch belustigt von der glühenden, tollen Lust, die sie genossen.
So lachte sie auch noch einmal über die alte Mutterparze, die sich jetzt von neuem scheu vor ihr in die Küche rückwärts zu drücken begann.
Denn jetzt quälte sich schon ein anderer gallsüchtiger, häßlicher Zwergengeist gespannt und gebunden die Treppe herab. So daß Frau Güldenbaum die Türe der Küche vor den Augen der Töchter wie traumwandelnd vollends zuschloß. Und auch ihre Augen vollends zuschloß.
»Wo ... kommst du... her?«
Bronislava lachte noch immer.
»Wo ... warst du ... die ... ganze Nacht?« preßte Stina durch die großen, geschlossenen Zähne.
Bronislava hätte jetzt durchaus nicht von der Stelle gekonnt, so stachen die Augen Stinas in ihre Frechheit und Weinlaune und Verrücktheit.
Im Grunde genommen war jetzt auch Verzweiflung in ihrer übernächtigten, entsprungenen Jugend.
»Wo ... warst du ... wie die Fee Pari Banu aufgedonnert?«
Stina hatte völlig vergessen, daß auch sie wie eine Favoritin im Sultansharem mit ihrem tiefen Ausschnitt, und köstlich schleppend dastand. Und nicht weniger so aussah, als wenn sie sich mit der Ballrobe zwischen Strohbündeln und Staub hindurchgezwängt.
Niemand hatte seit gestern an der Toilette einen Finger gerührt.
»Wo ... warst du? ...«
Stinas Wut kroch jetzt Bronislava immer näher.
»In einem Neste!« sagte Bronislava ganz kindlich.
»In ... einem ... Neste? ...«
»Wenigstens ... zuletzt!«
Stina ächzte richtig.
»Oh, du, ... es ist zum Sterben unter euch ...« schrie Bronislava.
»Schamlose ...« schrie Stina.
»Ja ... ich bin es ... mit wahrem Entzücken!«
Stina war noch immer keines Wortes mächtig.
»Herr Jesus ... da beruhige dich doch!« sagte Bronislava gutmütig.
»Die Nacht ... die Nacht!« Stina überstürzte plötzlich ihre Worte.
In Stina begann ein wahres Entzücken von Lüsternheit zu kämpfen. Eine ganz unbarmherzige Lüsternheit. Daß auch sie jetzt fast ein gellendes Lachen angekommen wäre.
Aber Stina war ein niedriger Zwerg im Beherrschen ihrer Gefühle.
»Ich werde es dir jetzt ganz ruhig erzählen!« sagte Bronislava sehr gefaßt. »Mein Gott ... wo war ich ...?« Und Bronislava begann plötzlich bitterlich zu weinen. »Bei einem jungen, feinen Herrn ... der mich lebenslustig anlachte ... mich einlud ... mich zum Abendbrot, ins Hotel bat ... mit seinen Freunden ... mit wer weiß was für jungen, lustigen, tollen Herren ... hahahahaha!« Und sie lachte wieder unter ihren Tränen, die sie doch auch nicht zurückzuhalten wußte. »Unter Weinkelchen saß ich ... darin der Champagner sprang ... unter viel Blumen ... mit ganz offenen Haaren ... weil mich der eine immer tiefer an sich zog ... weil er mich zärtlich anrührte ... weil er mich lockte ... ach ... mit allen Fasern zog er mich ... Stina ... laß deine Ruhmgier ... Stina ... friß nicht den Haß und den Neid in dich ... Stina ... ich habe eine sinnlose Lust genossen ... ich bin wie beseligt ... es war so fröhlich und unbenommen ... er wollte mich lieben ... wenn auch nur einmal ... Stina ...!«
Da schlich Bronislava schon Treppenstufe um Treppenstufe die Treppe nach oben. Erschrocken bis ins Mark. Bleich geworden bis ins Mark. Weil Stinas Wesen einen kolossalen, vernichtenden Ausdruck von Gewalt annahm. Sie ihrer gar nicht mehr mächtig war. Ihre Augen, ihre Hände, ihre Gestalt sich reckten und krampften und spannten. Und sie sich quälte, etwas herauszuschreien.
Es kam endlich der Ruf, der durchs Haus klang wie ein Gottesfluch aus einem Horntrichter. Der Ruf kam, als Bronislava schon oben im kleinen Flur war und ihre Tür und ihre Augen genau wie die Mutter im Schauer geschlossen hatte, des Furchtbaren gewärtig.
»Dirne ... Dirne ... Dirne ... Dirne ... Dirne ... Dirne ...« Heulend kam es.
Dann wütete ein Orkan im Musikzimmer. Man hörte Scheiben zerbrechen. Man hörte, daß schwere Gegenstände fielen. Man wußte, bleich und gelähmt, die alte Parze hinter der Küchentür und Bronislava in ihrem verschlossenen Stübel, daß das Unaufhaltsame, Hoffnungslose losgebrochen, das viel hinwegnahm.
Fast hatte Bronislava vergessen, daß sie ihre Reinheit in der Nacht in den Wind gestreut wie einen glühenden Purpurtraum. Sie hatte nur den Mund offen, bleich wie der Tod, und horchte zitternd.
Und unten zerbrachen Stühle und Möbel und Bilder. Rosmarinkränze flogen herum.
Unten zerbrach die Goldharfe. Und die Klaviersaiten klirrten wie Scherben.
Bis es von neuem durch das Haus gellte.
Aber das Häuschen lag abseits. Niemand hörte es. Und niemand hätte sich auch gewagt, der Wahnsinnigen Einhalt zu tun.
Wieder mit der Zwergenriesenstimme, wie in ein Horn hineingerufen, klang es. Denn in Stina waren alle grausen Gewalten jetzt in Aufruhr.
»Dirnenspelunke ... Dirnenmutter ... Dirnenspelunke ... Dirnenmutter ...« Heulend kam es.
Und dann kamen Stinas Schritte wie von schweren Steinfüßen, doch behende, über die Treppe emporgehastet. Unter den sich überstürzenden Rufen.
Und sie erschien jetzt vor Bronislavas Tür, jäh wie ein Räuber, sah durch die kleine Fensterluke ins Zimmer herein. Zielte. Schoß einen Revolverschuß in die Luft ab. So daß endlich die Mutter die Küchentür aufriß, und emporstob und retten wollte.
Aber ehe Frau Güldenbaum die Treppe hinaufeilte, wo sie im Schrecken auf der letzten Stufe gelähmt liegen blieb, scholl aus dem Zimmer Stinas ein zweiter Schuß.
Da war der Tumult endlich zu Ende.
Und in der Mutter, die sofort wieder die Augen aufschlug, war es still wie im Schlafe.
Und in Bronislava begann die Ruhe gleich mit lieblichen Harfenklängen zu tanzen.
*
Aber wie Bronislava endlich wagte, in Stinas Zimmer zu treten, stand die Junge totenbleich und wie irr. Stand und starrte. Und befühlte die tote Stina.
Und versuchte in der Irre nach Worten zu tasten.
»Ein Weib bin ich ... eine, die die Männer von der Straße zur Hochzeit ladet ... weil der Bräutigam nicht kommen will ... eine Dirne bin ich doch nicht ... Stina!«
Und sie lachte ganz sanft. Streichelte Stinas Totengesicht und sagte:
»Stina ... du dachtest es mit Ruhm und Arbeit, und wer weiß was zu erreichen ... oh, Stina ... wenn du einmal gewußt hättest, was Sehnsucht ist!«
Und Bronislava streichelte unaufhörlich die bleiche, tote Stina.
Und die Mutter stand mit großen, geweiteten Augen, und fand vor innerem Schauen keine Träne.