Carl Hauptmann
Schicksale
Carl Hauptmann

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Zwei echte Adepten der schönen Glasmacherkunst

Es ist kaum zwanzig, dreißig Jahre her. Uralte Tannenwipfel ragten dunkel um das vornehme, silbergraue Steinhaus mit den hohen Bogenfenstern zu ebener Erde, und in dem einzigen Stockwerk.

Finstrer Hochwald lag rings, der sich in weiten Wogen langsam aufwärts in die Einsamkeit und in die Ferne dehnte.

Hoch oben im Licht lagen Bergkuppen und Kamm und Felsen.

Das gepflegte Herrenhaus war unbehauen graniten.

Vor seiner breiten Front leuchtete ein freier Kiesplatz. Und mitten hindurch schoß ein starkes Bergwasser Tag und Nacht im tiefen Steinbette grollend und sprudelnd aus dem Gebirge zu Tale nieder.

Große Kugeln aus schwarzem und silbernem Glase standen ein paar in dem üppigen Blumengarten zur Seite, auf hohe Stöcke gepflanzt, und spiegelten kristallklar Waldmatten, Gebirge und Himmel.

Die rauchigen, verwitterten Dachkolosse der mächtigen Glashütten, die in der stillen, weltfernen Waldstelle lagen, und aus wenigen Luken von innen im Feuerschein blinkten, grenzten die Gegenseite der parkartigen, einsamen Anlage.

Auch wenn ein Holztor der Glashütten sich quarrend auftat, drang keinerlei Arbeitsgeräusch in das Rauschen von Wald und Fluß.

Man hörte nur vom grauen Morgen bis in frühe Nacht eintönig Axtschläge.

Drei, vier alte Schädel standen jahraus, jahrein, in Sommersonne und Winterschnee, abseits auf dem Plane über Holzblöcke gebeugt und schlugen ihre Eisenschärfen in die vertrackten Wurzelstöcke, die wirr getürmt herumlagen oder schon zerkleinert in langen Reihen gestapelt standen.

Es war im Herbste.

Die hellen Kieswege lagen im Licht und waren ganz menschenleer.

Vereinzelte, leichtschwankende Buchenkronen streuten ihr Braunlaub.

Die Nußhäher kreischten lustig aus Baumschatten oder flogen mit leichtfertigem, unstetem Fluge von einem Wipfel zum andern.

Die schwarzen Dachschlote stießen ihren Rauch qualmend in die hegerige Blauluft aus.

Ein großer Schwarzspecht mit seinem leuchtenden Blutstropfen auf der Stirn klebte an dem knorrigsten Tannenstamme in Hausnähe, und trommelte hörbar auf die Rinde.

Und dann und wann klapperten ein paar Holzpantoffeln die Glashüttenwand entlang.

*

In seiner eingebauten Veranda oben im ersten Stockwerk in dem vornehmen Herrenhause saß in Marderpelz und Decken eingehüllt der junge Livo, der jetzt seit etwa vier Jahren der alleinige Direktor der gräflichen Glashütten war.

Man erwartete täglich, wenn nicht stündlich, seinen Tod.

Die rußigen Glasmacher, wenn sie am Abend aus der Arbeit gingen, sahen mit starren Gesichtern hinüber, wo sie wußten, daß er dem Ende unrettbar entgegenging.

Der junge Livo saß dort oben seit Wochen Tag und Nacht.

Er haßte längst die geschlossenen Räume. Er konnte nur noch leben und atmen, dem leise rauschenden Luftzuge hingegeben, den die Millionen dunkel bewegter Baumhäupter aus der Kammhöhe und der weiten Bergeinsamkeit herniederwehten.

Jetzt war Sonne über Berg und Wälder gebreitet. Das schweigsamhandreichende Werktagsleben drinnen im Hüttenwerke lebendig. Und das vergrabene Gesicht des jungen Direktors lag bleich und hohl in die Lederkissen zurück, die seine, blutarme Unterlippe unter dem schwarzen Schnauzbart ein wenig nach Luft geöffnet.

*

Wenn in dem weißglühenden Sud der rauchschwarzen Glasöfen die letzten Entzücktheiten der schönen Glasmacherkunst sich heimlich nicht fanden und banden, ging ein Werkmeister noch immer aus dem hohlbedachten, weiten Hüttenraume in die Sterbensruhe des Herrenhauses hinüber, wo der junge Livo vor sich hinbrütete. Dort stand der alte Beamte, bis der junge Livo sich rührte und sich ermannte.

»Nun ... was ist?« sagte der junge Direktor dann.

Da hielt ihm der Werkmeister stumm und behutsam ein in der Sonne blutigglühendes Becherglas hin. Und versuchte wohl schließlich doch ein paar Worte sanft dazu zu reden.

»Herr Direktor ... die Weinglut gelingt nicht ... das ist doch niemals ein echtes Weinrot!«

Der sterbende Mann hatte dann hastig das funkelnde Glas in die abgezehrten, zitternden Finger genommen und versuchte sich mit Hilfe des Dieners, der auch eilig herzugetreten war, noch vollends hochzurücken.

Und die verschlafenen, rabenschwarzen Augen des kranken Mannes gewannen immer mehr Leben. Blinzelten in sich. Gewannen Erinnerungen. Mühten sich. Und der totenblaue, entschlossene Mund redete energisch vor sich hin.

»Jedes Ding ist immer ein Kind zweier Eltern ... die Schönheit ist eine Tochter der Menschenträume ... dann aber auch des verfluchten, verführerischen Goldes ... wieviel auf einen Hafen?«

»Auf einen Hafen soundso viel Dukaten, Herr Direktor!«

»Das ist natürlich viel zu wenig!«

»Da wird das aber ein teurer Spaß, Herr Direktor«, versuchte der alte Werkmeister sehr sanft lächelnd hinzuzutun.

»Ein Drittel mindestens mehr!« rief dann der junge Livo so lebhaft, als wenn er ganz gesund wäre. Und bemühte sich immer noch, mit seiner feinen, frauenhaften, zitternden Knochenhand das Rubinglas hoch in die Sonne zu strecken, und es lachend wie ein Weinschmecker einen feurigen Tropfen anzustarren.

Bis der Kranke ganz plötzlich erschlafft dem Beamten das Glas zurückreichte. Und der Werkmeister sich stillschweigend mit dem Diener zusammen entfernte.

*

Schon der alte Livo war Wisser der allerfeinsten Geheimnisse der Glasbereitung gewesen.

Der alte Livo hatte die ganze Glasindustrie recht eigentlich durch seine Erfindungen wieder groß gemacht.

So daß es ein Aufblühen aus der Einsamkeit der Wälder, aus Wurzelstock und Stein gegeben. Und die diamantreinen Gefäße aus Glas bis Amerika und Indien die Menschen entzückt, und über den Ozean in den stillen Waldwinkel hergelockt hatten.

Und der junge Livo war lange Jahre der Eingeweihte und Vertraute des alten Livo gewesen. Allmählich selber ein Meister der Steine und Feuer, und der heimlichen Kostbarkeiten, der die letzten Praktiken aus eigenster Leidenschaft sicher handhabte.

Jetzt lag der junge Livo in Todesketten dämmernd. Nur manchmal noch vom Strahle der Sonne oder vom Hauche der Nacht, oder auch von einem Glasbereiter geweckt.

Denn außer den Werkleuten und dem Arzte dann und wann durfte dem jungen Livo niemand mehr nahe kommen.

Auch liebende Pflege hielt er brüsk von sich.

Da hatte er wie einen Wahn.

Er träumte sich richtig auf Todesposten im Felde.

Er hatte den Siebziger Krieg mitgemacht.

»Siebzig lagen die ehrwürdigsten Männer und starben an ihren Wunden hin ... und hatten auch keine Kinderfrau!« sagte er.

Auch sein Diener durfte nicht in der Nähe sein.

Nur sein schrillendes Klingelzeichen ging eiskalt und jäh durch alle Hausräume, Tages oder Nachts. Ganz wie es dem gebietenden Herrn einfiel, daß er eine flüchtige Handreichung brauchte.

Wenn der junge Livo in seinen Todesketten so hindämmerte, schwebten Erlebnisse nur noch im Geisterreigen vorüber.

*

Der junge Livo hatte Frauenhände. Ebenmäßig und lang und edel. Jetzt fast wie weißes Gebein.

Er hatte einmal alle Kraft und Zauber eines Virtuosen besessen.

Noch vor einem Jahr hatte es ihn aus seinen vornehmen Räumen, in denen ihn die Erinnerungen scheuchten, oft plötzlich hinausgetrieben, wenn die Sturmriesen aus dem Gebirge brachen. Und Hütten und Haus umheulten, gewaltiger wie ein Meer heult.

Noch vor einem Jahr hatte es den jungen Livo noch manchmal in Mitternacht so hinaus, und in die kleine Schenke getrieben, die am Eingange des verlassenen Waldplatzes lag.

Damals noch ein gesunder, sechsunddreißigjähriger, zäher Mann, der immer wie ein schlanker Ordonnanzoffizier eintrat, streng gehalten, und mit energischem Absatzschlage, als hätte er eben erst Nachtdienst im Felde getan.

Dort in der kleinen Schenke hatte er gesessen.

Ganz einsam. In die Sofaecke zurückgelehnt. Das längliche, feine, graubleiche Gesicht mit den pechschwarzen Augen und Haarbesätzen ganz starr. Den feinknochigen, strengen Unterkiefer fest geschlossen. Stumm vor sich hinbrütend. Und nur dann und wann seinen dunklen Schnurrbart zwirbelnd und streichend.

Denn seit dem jähen Tode des alten Livo war auch der junge Livo nur noch heimlich ein vernichteter Mann gewesen.

Damals hatte der junge Livo in der kleinen Schenke mutterseelenallein gesessen bis zum grauen Morgen.

Gesessen, und Glas um Glas stillschweigend hinuntergetrunken.

Wie Menschen sitzen und trinken, die in sich bis zum Grund verzehrt, nicht mehr das Wunder erwarten. Nur mit fanatischem Blicke das Hoffnungslose gespannt anstarren.

In der dürftigen Wirtsstube war dann niemand mehr wach gewesen, als nur der kleine Schicketanz. Der im Schlafe noch Grog um Grog für den jungen Direktor der Hüttenwerke herzugetragen.

Da hatte es niemand mehr gestört, wenn der junge Livo im jachen Aufwallen von Sehnsucht und Zorn und Lebensüberdruß stundenlang aus dem alten Klavier in der Stubenecke die seltsamsten Phantasien in dem einsamen Schenkhause geweckt hatte.

Nur daß der alte, behäbige Wirt und die versorgte Wirtin, die in dem Oberstock schliefen, von dieser ruhelosen Leidensmusik unsinnige, wilde Träume bekamen.

Denn jähe, rasende Dinge hatte dann der junge Livo auf dem alten klirrenden Klapperbrette lebendig gemacht.

Märsche, wie sie vor Paris erbrausten, wie er selber als Leutnant der Reserve an der Spitze einer Jägerkolonne bebenden Herzens und aufrecht zum Sturme vormarschiert.

Auch Töne voll Schluchzen und Klagen.

Auch seliges Singen in fremden Paradiesen.

Erhabenes Aufrauschen, und verklärtes Spielen und Jubeln. Beethovenklänge.

Und dann lange, tiefe Stummheit, die den Wirt und die Wirtin endlich ganz aus ihrem Schlafe aufgetrieben, so daß sie horchten, wie wenn sie die Sehnsucht des jungen Livo heimlich jetzt erst recht durch alle Wände des Hauses zittern fühlten.

Heute hatte der junge Livo keine Sehnsucht mehr. Heute hatte er nur noch eine abgrundtiefe, eisige Ruhe im müden Blute.

Er fühlte, daß der Tod sich sicher in seinen Schoß herabsenkte wie ein fallendes Herbstblatt.

Er tändelte gleichgültig mit dem Tode, wie wenn er ihn flüchtig zärtlich wie einen Buntkäfer in der Hand hielte und ihn bestaunte.

*

In dem hohen Dachgeräume der Hütten innen spann graue Luft. Und um die rauchschwarzen Öfen mit den großen, glühen Feueraugen, deren zwei die Mitte des weiten Arbeitsgehäuses wie Kolosse beiderseits ausfüllten, standen die rauchgeschwärzten Arbeitsmänner, Mann an Mann, in losen Hemden, mit Holzpantinen an den nackten Füßen, ganz stumm versunken, und schoben ihre schlanken Blaserohre in den weißglühenden Ofenbauch, um die schimmernden Glaswunder dann vor sich in die Luft zu hängen.

An den Enden ihrer Blaserohre hingen dann wachsend und zitternd und tanzend lange, sich windende, schillernde, glühe Gebilde. Wie große, fließende, rubinige Kürbisse oder sonst unheimliche Früchte, die wie in noch unerreichter Geburt nach Gestalt im Raume herumsuchten.

Ein Anblick, wie wenn aus rauchgrauem Dunkel im Traume Menschengesichter aufgewachsen, unter Riesenseifenblasen gespannt spielend, und unter Früchten, die heiß erglühen, unsicher und ewig wechselnd in Gestalt und Schein sich dehnen und dehnen, und plötzlich von Händen in feuchte Holzhülsen gezwungen einschrumpfen und zu edlen Gefäßen, zu Becher und Schale und Vase sich verwandeln.

Das war die Zauberküche des jungen Livo.

Hier krachten und brannten, in die Untergründe unter die Weißglutkessel der mächtigen Glasöfen eingefangen, die uralten Wurzelstöcke hundertjähriger Riesen aus den Gebirgswäldern ringsum, gaben die verzehrenden Glutfeuer, die selbst das Kieselgestein der Berge lebendig und beweglich machten und in die flüssige Sonnenspeise umschufen.

Das war die Zauberküche des jungen Livo.

Hier hatte schon der alte Livo, wie man ihn seinerzeit allenthalben genannt hatte, seine Träume aus dem noch ungeschiedenen Chaos der weißglühenden Glutkessel herausgeholt.

Der alte Livo, ein mächtiger Mann. Mit langem, glattrasiertem Gesicht, wie das eines englischen Edelmannes, das nur vor den Ohren einen feinen Strich gepflegten Bartes trug.

Hier hatte schon der alte Livo in seinem verschmutzten, faltigen Arbeitsmantel und mit dem Sammetbarett auf dem großen Schädel gesessen, und hatte die feinsten Edelzusätze in die fließende, weißglühende Glasspeise mit sorglichen Händen und in fiebernder Erwartung hineingeträufelt. Wie ein alter Goldmacher gespannt lauernd. Das Gesicht von der Weißglut des Ofens hochgerötet und die Grauaugen wie verglast. Und hatte dann auf das Spiel der Schillerfarben dieser wesenlosen Glanzgebilde hingestarrt, die glühend an der Spitze der Rohre sich in die Luft ausweiteten, und wuchsen und vergeblich nach Gestalt tasteten.

Das war die Zauberküche des jungen Livo.

Hier hatte schon der alte Livo seine Phantasien zu Wirklichkeiten erhoben.

Vater und Sohn. Beides Erfinder.

Und Phantasiemenschen sind immer Könige.

Beide herrischer wie der Grundherr selber, dem Vater und Sohn als Direktor dienten.

Aber beide hungrig nach Glanz und Schönheit. Wie der Rabe nach einem Silberstück. Wie der Sterbende nach Leben.

Vater und Sohn dieselbe heiße Begierde. Vielleicht lag darin der ganze Widersinn.

*

Wenn der junge Livo in dem fallenden Herbstlaube saß, deuchte es ihn richtig, daß er der alte Livo wäre.

Er besah das düster rauchende Hüttenreich und wähnte, daß er allein es je und je geschaffen hätte und immer beherrschte.

Und wenn er in der kühlen Herbstnacht die Bergströme lauter rauschen hörte und den Nachtwind mit den Mondstrahlen die Millionen Baumwipfel überhuschen sah, und die weiten Forsten streicheln mit Geisterfingern, bis hinauf, wo die kahlen Bergkuppen ragten, da horchte er hinaus, als wenn er selber der Geist der Berge wäre, der Steinen und Felsen und Baumwurzeln das Geheimnis der schönen Glasmacherkunst abgelauscht, war ganz ausgefüllt von Erd- und Nachtgefühl. Und wußte nichts mehr davon, daß er in Kissen, noch weniger, daß er in Ketten gebunden lag.

Ketten, Krankheit. Unheilbarkeit. Schwäche. Ohnmacht. Mehr als Schwäche.

Aber die Bilder in seinem Hirn gingen jetzt in der befreienden Sterbensruhe wunderbar auf, breit und golden, wie der Mond hinter den weiten Wellen der Gebirge.

Wenn der junge Livo so in der kühlen Herbstnacht eingehüllt auf seiner eingebauten Veranda saß, den Marderpelz bis ans Kinn gezogen, gebunden, aber befreit noch immer, wie Träumer nun einmal leben, schuf er Wesen wesenlos in die Waldmatten und in Mondglanz und Sterne.

Vater und Sohn, beide waren solche Zaubermänner gewesen.

Tätig vergraben bis zum Selbstvergessen.

Aber auch jach und ungebändigt ihr Leben. Launenreich und einfallsreich wie ein Traum.

Beide waren echte Adepten der irdischen Verklärung. In beiden zitterte dasselbe Schicksal.

*

Wenn der junge Livo so sterbend vor sich in die Luft oder in sich hineinstarrte, lachte er manchmal laut.

Hinter dem Walde tiefer lag das Dorf. In mehrere Kessel ausgedehnt.

Darin saßen außer Waldarbeitern Glasbläser und Glasverzierer. Auch oft sonderbare, drollige Phantasiemenschen, die immer die kleinen Gestalten im Auge hatten, die sie auf die Gläser malten oder schnitten. Porträts von Königen. Wappenzeichen und Jagdidylle.

Darunter war eine ganze Schar Komiker, die immer herzu gemußt, wenn der alte Livo seine Lebensspäße brauchte. Bajazzi und Anbeter. Ein Chor von einfallsreichen Genießern zum Ausbündig- und Lustigsein.

Einen ganzen Hof hatte der alte Livo immer um sich gehabt.

Ein ganzes staunendes Volk in Hütten und Häusern, wenn er in seiner auffälligen Glanzequipage und mit seinen Edelpferden durchs Dorf fuhr. Und es hatte tolle Kostümierungen und ausgelassene Aufzüge gegeben, die vor hohen Besuchen im Herrenhause munter defilierten. Und das ganze Dorf hatte danach auf dem Kiesplatze vor dem Herrenhause sich an den vollen Weinkörben und den Speisen des alten Direktors erlustigt, wenn die Lebenswoge einmal wieder in alle Lüfte gegangen. Wenn der junge Livo jetzt das vergangene Leben anstarrte, war es, daß ihn das seltsame Vermächtnis des alten, phantastischen Kraftmenschen oft geradezu wie ein Koboldtanz durchrann.

*

Wenn der junge Livo seinen Vater vor sich in der Luft stehen sah, bleich aber leibhaftig wie im Leben, rückte er sich hoch. Ein Stolz wölbte seine Brust. Er nahm Haltung an.

Ganz, als wenn er wie einst im Kriege von Siebenzig vor Paris dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm meldete und vor Seelenfreude heimlich erbebte. Damals, als er am Bullerjan die Feldwache unter sich gehabt und in der Langenweile des Wintertages stundenlang die Regentropfen gezählt, die auf seine Handfläche oder auf seine Nase fielen.

Alles huschte vorbei.

Nichts war aufzuhalten.

Wie eine Nebelgestalt stand dann der alte Livo lange vor ihm.

Man hatte den alten Livo im ganzen Reiche gekannt.

Der mächtige, alte Mann war von breiter Wucht gewesen.

Wo er je im Lande und in den Großstädten auftrat, hatte man ihm immer Platz gemacht. In den Hotels der Hauptstädte fuhr er vor Fürsten unter die Vorfahrt.

So weit bestaunte man sein Genie und seine Macht.

Mit Grafen und Fürsten lebte er in heiterem Verkehr. Von den tollen Jagden, die in den weiten Forsten um die Glashütten widerhallten, war man in den weiten Speisesaal des alten Livo getreten, schwatzend und lachend. Und der gräfliche Standesherr hatte seinen alten Direktor von rückwärts an den Schultern genommen und hatte ihn vor sich her in dessen eigene, fürstliche Räume hineingeschoben.

Die Tafeln, die aufgereiht standen, waren Wunderwerke aus glitzernder, diamantener Glaskunst und Blumen.

Man speiste die köstlichsten Gerichte und leuchtendsten Früchte von echtem, schimmerndem Silber.

Der junge Livo hatte sich mit den erwachsenen Grafensöhnen geduzt, und war immer mitten unter Prunk und Genüssen gewesen.

Noch mehr, wenn der heiße Weinsinn allmählich die tollsten Blüten trieb.

Man war auf umgedrehten Stühlen geritten, Sektgläser in Händen, durch die weiten Säle. Und für seine Liebesidole hatte man die kostbarsten, eben neu ersonnenen Weinkelche an die Seidentapeten geworfen, daß die wie mit Blut begossen waren. Das waren alles die ausbündigen Launen des alten Livo.

Ein trunkener Bacchantenchor konnte sich nicht rasender tummeln, als solch eine weintolle, machttolle Jagdgesellschaft.

Der alte Graf hatte den alten, phantastischen Livo immer leidenschaftlich geliebt.

Der alte Graf lag dann auf dem Gobelinsofa in die Kissen geworfen und fühlte in solcher Laune auch erst die Welt.

Selbst der Pfarrer des Ortes hatte hier das Leben genossen.

Denn der alte Livo hatte immer in sich und in anderen alle Phantasiekräfte über die Grenzen entfesselt.

Weil er immer das Leben gebraucht hatte, wie es sich in bunten Farben und eitel Golde auf kostbare Prunkbecher zu malen lohnt.

Und der junge Livo war in den taumelnden Prunkfesten immer mitten darunter gewesen. Obendrein als ein freier Virtuose dem mächtigen Steinway die perlendsten, jauchzendsten Rhapsodien Liszts entlockend und in die purpurroten Orgien hineinstreuend.

Bis das jache Ende des alten Livo gekommen war.

Bis das schwindelndste Ästchen plötzlich gebrochen war, auf dem sich der alte Livo immer kühner und gewissenloser in sein Phantasieleben hineingewagt hatte.

Auch der junge Livo hatte ohne Besinnen mit auf dem schwindelnsten Ästchen gesessen in dem jähen Sturze.

Solche Reigen träumte der junge Livo jetzt, in Rätselgefühlen auf und ab wogend, in seinen Sterbensketten in der einsamen Wäldernacht angeschmiedet.

Niemand durfte ihn stören.

Auch wenn er stundenlang so in Ohnmacht dalag und sich innen und außen nichts mehr rührte.

*

Der junge Livo fühlte schon manchmal den Tod seinen Leib erdig-eisig durchschauern.

Aber er gab kein schrilles Glockenzeichen.

Der Herbst atmete leise in der stillen Mondluft.

Nichts rührte sich in der weiten Nachtrunde.

Der Himmel war tief und sternreich über den Bergen.

Der Kiesplatz vor dem Hause lag ganz silbern.

Drüben durch eine der Hüttenluken sah man ein glühendes Auge aus dem Glashafen glänzen. Und wie ein schwarzer Schatten huschte dann und wann der Feuermann vorbei, der die Nachtkontrolle versah.

Der junge Livo hatte schon ewig in Ohnmacht gelegen.

Er träumte nur noch, was früher einmal Leben war.

Und jetzt blickte er neu in ein ganz wunderbar erstrahlendes, diamantenes Bergland.

Die alten Tannen behangen mit schneeweißen Winterlasten.

Kristalle in der Luft, wie von einem unermeßlichen Schleier.

Es mußte ein eisiger, blendender Wintertag sein.

Wie ein helles, schneidendes Lied klang von den Schneematten nieder.

Der junge Livo hatte das schneidende Lied auf der Zunge liegen.

Der alte Graf, dem Wald und Hütten zu eigen waren, ein vornehm-fröhlicher Herr, stand im Jagdanzug mitten auf dem Plane und lachte verworren.

Es begann gleich ziemlich unheimlich zu werden.

Hirsche lagen herum, die in roten Strömen auf den weißen Schnee bluteten.

Und jetzt stieg auch ein blutüberströmtes Gesicht in die Träume des jungen Livo, das alles andere plötzlich verdrängte. Und dessen Blut lebendig sickernd unaufhaltsam über die Totenzüge rann.

Das war der alte Livo.

Ein fünfundsiebenzig Jahre alter, ergrauter, mächtiger Schädel.

Der Erfinder.

Der Phantast.

Der nach Glanz und Schönheit hungerte, wie der Rabe nach einem Silberstück. Wie der Sterbende nach Leben.

Ein hoffnungsloser Schädel, von dem das Blut ununterbrochen herabrieselte.

Die eigene Kugel hatte ihm ein kleines, sicheres Loch in die Stirn gedrückt und seinen Wahn ausgelöscht.

Das Kartenhaus aller seiner Prunkphantasien war plötzlich eingefallen wie eine flüchtige Schneehütte. Wie er eines Tages endlich begriff, daß sein irdischer Reichtum völlig geschwunden war.

In dem jungen, sterbenden Livo schlossen sich die Augenlider jetzt noch fester. Und er sank in noch tieferes Vergessen ein.

*

Endlich kam der Diener.

Es war zu lange still gewesen.

Der legte eine Decke mehr um die Füße seines Herrn, weil gegen den Morgen die Nachtkühle zunahm.

»Nein ... nichts ... nichts!« sagte der junge Livo noch immer mit strenger Kommandostimme.

Aber er war totenfahl. Man sah ihm an, daß ihn der Tod an der Hand hielt.

Wie man ihm zu trinken reichte, sank er unter den Schlucken noch mehr in sich. Daß man schon dachte, daß es das Sterben wäre.

Man sandte nach dem Arzte.

Der Arzt kam bald. Er trat zu dem Kranken. Und sah die Todesblässe. Und nahm die Hand, die jetzt ganz wesenlos war.

Da erwachte der junge Livo mit herbem Gemurre.

»Da ... wer ... was ... ach ... Sie sind es!«

Und er schlug fremd und groß seine Augen auf und sah den Arzt prüfend an.

»Pah ... mitleidige, lamentable Gesichter!« sagte er nur müde. »Ich hätte mich mögen in alle Winkel verkriechen ... damals ... als mir alle Leute die Geschichte von dem Ikarusfluge der Livos mit flennenden Blicken ins Angesicht schrien!«

»Verehrtester Herr Direktor, Sie dürfen sich heute um keinen Preis damit anstrengen und aufregen!«

»Ach was ... papperlapapp ... aufregen und anstrengen ... das wird mir jetzt sehr viel schaden ... wo ich doch nur noch ganz ungestört in dulci jubilo lebe.«

Aber die Kraft ging dem Kranken unter diesen Worten neu aus.

*

Wer weiß, aus welchem Schlupf die Ohnmacht blasen kann, daß die Seele klein wird und ganz auslöscht. Des jungen Livo Seele war jetzt wieder ausgegangen wie ein Licht im Winde.

Der Arzt machte die Augen weit auf. Auch der Diener war herzugetreten.

Und man versuchte eine Kampferspritze einzuführen.

Aber der junge Livo schlug sie dem Arzte ohne ein Wort aus den Händen.

Er war immer herrisch gewesen.

Niemand wagte jetzt mehr ihn anzurühren.

Er saß da, das gekrampfte Kinn in den Marderpelz vergraben. Die Lider hohl über die Augen gesenkt.

Man stand im Scheine einer kleinen Lampe, die von der Rückwand des weißen Einbaues leuchtete. Der Arzt spannte auf den Atem des Kranken.

Der Diener hatte auf sein Geheiß die Lehne des Stuhles noch mehr gesenkt, so daß der Kranke bequem dalag.

*

In dem jungen Livo gingen von neuem Träume hin.

Kühne Träume. Erfinderträume.

Weil jetzt die Grenzenlosigkeit der Himmel sich noch weiter auftat.

»Mit Hirschen ... mit Hirschen!« stöhnte jetzt der junge Livo plötzlich ein paarmal. Aber es kam so stoßweise, als wenn er es eigentlich herausschrie.

Auch der alte Livo war im Leben ein paarmal mit starken, ungebändigten Hirschen gefahren.

Zwanzig Waldarbeiter hatten die beiden jachen Tiere damals unter der tollen Laune der vornehmen Jagdgäste und Forstleute und des Treibervolkes endlich vor den Schlitten des alten Livo gezwungen. Und es hatte ein paar hundert Meter sinnlosverworrener Fahrt in den Lüften gegeben. Bis die zitternden Tiere in ihren Strängen im Schneewalde fest hingen. Und der vornehme Schlitten in Trümmern lag.

Jetzt fuhr der junge Livo offenbar auch mit Hirschen. Aber nicht mehr auf Erden. Auf weichstem Wolkenschnee in die Berge hinein.

Denn der junge Livo hatte sich ein volles Jahr schon verzehrend auf die Heimatberge hinaufgesehnt.

Jetzt ging es offenbar mit Hirschen.

»Halali ... Halali ... mit Hirschen ... mit Hirschen!« rief er wieder, mit einer Art verwandelter Geisterstimme die Worte herausstoßend. Und seine Totenzüge nahmen ein beständiges Lächeln an. »Halali ... Halali ... mit Hirschen... hinauf, hinauf ... durch die Schneegruben hinauf ... durch die Schneegruben hinauf ... immer höher ... immer höher!«

Kein Zweifel, daß er jetzt nicht mit zweien, daß er wer weiß mit sechs ungezähmten, mit gewaltigen Gehörnen am Himmel hinjagenden Hirschen in die winterlichen Schneehöhen und über die Abgründe seines Heimatgebirges fuhr.

»Halali ... Halali ... mit Hirschen ... mit Hirschen!« stieß der junge Livo immer wieder heraus, während sein gänzlich abgemagerter Leib von der Erregung zuckte.

*

Das mag wohl des jungen Livo jauchzende Todesfahrt gewesen sein.

Denn von dieser Fahrt ist er nicht mehr zur Lebensbesinnung zurückgekehrt. Er lag noch viele Tage lang, ohne jedes Begehren. Krampfhaft Annäherungen verwehrend. Den Mund hart geschlossen gegen jede Aufdringlichkeit. Und allmählich in den eisernen Zwängen des Atem-Rhythmus eintönig gebunden, bis das Geheimnis ganz aus seinem Leibe ausfuhr.

*

Wie man den jungen Livo auf den Kirchhof in dem einsamen Gebirgsdorfe zu Grabe trug, rief die Glocke, daß die Herrlichkeit der Livos jetzt ganz aus wäre.

Die Glashütten lagen seit der Zeit verwaist.

Die beiden echten Adepten der schönen Glasmacherkunst, die in Werkstatt und Hütte und Haus jaches, buntes Leben geweckt, waren tot.

Kein kluger Rechensinn vermag je Träume der Schönheit zu schaffen.

Die alten, mächtigen Hüttenwerke rauchten und glühten und schliefen.


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