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Siebentes Kapitel

Professor Galilei stand vor dem Rektor.

»Ich habe Euch bitten lassen«, erklärte der Rektor düster und feierlich, »weil ich mich gezwungen sehe, Euch nach dem entsprechenden Paragraphen unserer Disziplinarordnung eine Rüge ersten Grades zu erteilen. Zu dieser Rüge …«

»Schon gut«, unterbrach der junge Professor heftig, »ich weiß es längst auswendig. Aristoteles. Bitte nur zu rügen!«

»Mein Lieber, diese Rüge ist keine Förmlichkeit. Die Überlieferungen unserer altehrwürdigen Universität haben einen tiefen inneren Sinn. Und wenn ich eine Rüge erteile, dann besteht diese nicht darin, daß ich einen Satz ausspreche, und Ihr einen anderen Satz darauf erwidert – noch bevor ich meinen Satz vollendet habe – und daß damit dann die ganze Angelegenheit erledigt ist! Sondern ich habe die Pflicht, kraft meiner amtlichen Stellung danach zu streben, daß diese Rüge auch fruchtet.«

»Und wie denken sich Eure Magnifizenz das mit dem Fruchten?«

»Ganz eindeutig: Ihr werdet von jetzt ab Eure ungezügelte Natur mäßigen und Euch bemühen, die lernende Jugend, insbesondere deren kirchliche Mitglieder, mit den Schmähreden gegen Aristoteles nicht mehr zu entrüsten. Derartige Redensarten, die den Glauben der Jugend an die großen und heiligen Autoritäten erschüttern, stehen im vollkommenen Gegensatz zu den Prinzipien einer gesunden Pädagogik. Es ist verhängnisvoll, eine junge Seele an der Weltanschauung irre zu machen, die vor zweitausend Jahren zuerst vom klassischen Altertum so weise und dann von der christlichen Neuzeit in einer so gottgefälligen Art begründet wurde. Wenn in einer so jungen Seele auch nur eine einzige Säule dieser Weltanschauung erzittert, dann fühlt sie die anderen Säulen auch schon in sich wanken. Wir erziehen uns auf diese Art nur Zweifler, die weder dem Staate noch der Kirche nützliche Söhne werden können. Wer den in die heiligen Autoritäten gesetzten Gemeinglauben untergräbt, sündigt wider die Kirche und wider den Staat. Ihr seid schuldig, also rüge ich Euch hiermit sehr ernsthaft. Ich hoffe, daß Ihr Euch dies auch zu Herzen nehmt und von nun an ein treuer und verläßlicher Hirte im Dienste sowohl des Staates und der Kirche als auch Seiner Hoheit des Großherzogs und Seiner Heiligkeit des Papstes werdet. In dieser Zuversicht lasse ich Euch jetzt Eurer Wege gehen.«

Der junge Professor entfernte sich jedoch nicht. Der Rektor, der sich schon auf das gnädige Kopfnicken des Abschieds eingerichtet hatte, zog ärgerlich die Augenbrauen über der Stirn zusammen.

»Ich kann die Rüge nicht annehmen«, sagte der junge Mann halsstarrig.

»Wieso könnt Ihr sie nicht annehmen? Das verstehe ich nicht. Hier ist keine Rede davon, ob Ihr sie annehmt oder nicht. Das ist ein Rechtsirrtum. Die Rüge ist als eine Tatsache erfolgt. In den Statuten ist eine Debatte hierüber nicht vorgesehen.«

»Weil die Statuten nicht daran gedacht haben, daß dies auch ungerechtfertigt erfolgen kann. Eure Magnifizenz erteilten mir eine Rüge für etwas, was ich gar nicht begangen habe. Ich habe Aristoteles niemals geschmäht, sondern lediglich einzelne Irrtümer des großen Gelehrten klargelegt. Das ist ein großer Unterschied.«

»Ich sehe diesen Unterschied nicht. Schon das ist eine beispiellose Respektlosigkeit, wenn ein junger Mann, der vor kurzem selber noch auf der Schulbank saß, die Behauptungen eines so weltbedeutenden und ewigen Genius in der Art, die Euch eigen ist, einer Kritik unterzieht, um so eher, als …«

»Verzeihung, Verzeihung, war denn Leonardo da Vinci niemand? Als er die Werke des Lucretius gelesen hatte, erkannte er ganz klar, wo die Lehre des Aristoteles hinkt. Habt doch die Freundlichkeit und seht nach, was Leonardo da Vinci über den freien Fall und die Bewegung auf der schiefen Ebene sagt. Und Giambattista Benedetti zählt auch nicht? Benedetti rügt Aristoteles, weil er sehr viele Vorgänge gar nicht bemerkt hat. Schlagt doch nach, was Benedetti von der Zentrifugalkraft sagt, oder auch vom Goldstück, das man auf der Kante zum Drehen bringt und das nicht umfällt, oder von der Fallgeschwindigkeit der Körper mit unterschiedlichen Gewichten – immer im Widerspruch zu Aristoteles! Und Tartaglia? Und Michele Varrone? Und Moletti aus Padua, mein verehrter, verstorbener Gönner? Alle haben sie einstimmig behauptet, daß Aristoteles sich irrte. Genau dasselbe hat auch Giambattista Bellaso behauptet, der, wie ich neulich mit größter Erregung feststellen konnte, über die Fallgeschwindigkeit genau dasselbe lehrt wie ich, also genau das Gegenteil von dem, was Aristoteles lehrt. Waren denn diese Menschen alle Esel und allesamt Feinde des Staates und der Kirche?«

»Ihr zählt mir sechs Gelehrte auf, die irgend etwas bezweifelt haben. Ich kann sechstausend aufzählen, die dasselbe heilig glaubten, schrieben und verkündeten.«

»Die Wahrheit hängt nicht davon ab, wie viele an sie glauben. Wie viele mögen wohl bei der Kreuzigung geglaubt haben, daß Christus tatsächlich Gottes Sohn ist? Jetzt wissen wir trotzdem, daß er es war. Die Wahrheit über die Fallgeschwindigkeit ist das, was ich behaupte. Die Zeit wird kommen, wo das die ganze Welt wissen wird.«

»Es war von Euch vielleicht nicht sehr taktvoll, den Sohn Gottes als Beispiel anzuführen! Ich möchte Euch darauf aufmerksam machen, daß der Protestantismus, der der alleinseligmachenden Kirche so ungeheueren Schaden zugefügt hat, eben eine Folge des Auftretens ähnlicher Verleumder war. Mir ist es gleichgültig, ob Ihr Euch durch meine Worte beleidigt fühlt oder nicht: Ihr seid ein protestantisch denkender Mensch.«

»Ich verbitte mir das! Ich bin ein gläubiger Sohn unserer heiligen Kirche. Ich erhebe Einspruch gegen derartige Beleidigungen.«

»Da haben wir es also! Statt Euren unreifen Kopf vor meinem Alter und meiner amtlichen Würde zu senken, werdet Ihr herausfordernd! Ich wiederhole, Ihr seid ein protestantisch denkender Mensch. Und wenn Ihr mit Euch nicht im Frieden reden laßt, dann kann ich auch anders. Euer Vertrag hier läuft noch zwei Jahre. Ihr seid Euch hoffentlich darüber im klaren, daß bei der heftigen Opposition der überwiegenden Mehrheit des Professorenkollegiums von Pisa dieser Vertrag trotz der Fürsprache des Hofes kaum zu verlängern sein wird. Ich bin auf alle Fälle dagegen.«

»Andere werden schon dafür sein.«

»Ich möchte bloß wissen, wer?«

»Jacopo Mazzoni.«

»Ja, der vielleicht! Weil er in seiner Jugend ein persönlicher Freund Eures achtbaren Vaters war, den ich seines Sohnes wegen aus ganzem Herzen bedauere. Aber nennt Ihr mir noch einen! Seht Ihr, Ihr schweigt! Ihr seid auf dieser Universität sehr unbeliebt. Das gesamte Professorenkollegium findet Euer leidenschaftlich streitbares Wesen einfach abstoßend, und der ungebührliche Ton, in dem Ihr von der Weisheit der Peripatetiker, diesem großen Schatz der menschlichen Kultur, redet, ist unerträglich. Dafür kann ich Euch nicht streng und nicht oft genug rügen. Und in Euerem Benehmen sehe ich obendrein einen Beweis schreiender Undankbarkeit gegen unsere altehrwürdige Universität, die Euch Brot gibt.«

»Mir? Brot gibt? Fünf Goldstücke im Monat sind doch nicht das Brot? Und wenn es auch tausendmal mein Brot wäre, so würde ich darum noch lange nicht meine Überzeugung verkaufen. Aber nicht genug: Ihr kürzt mein Gehalt auch noch kleinlicherweise durch allerlei Abzüge, als ob ich dafür verantwortlich wäre, daß im vorigen Jahr, als ich nach Florenz fuhr, um meinen kranken Vater zu besuchen, der Arno zehn Tage lang Hochwasser führte. Vom dritten bis zum vierzehnten November hat man mir mein Honorar gekürzt, obwohl ich gar nicht der Schuldige war.«

»Wenn Ihr über den akademischen Betrieb besser Bescheid wüßtet, dann würdet Ihr auch wissen, daß dies auf sämtlichen Universitäten Italiens so Brauch ist. In Bologna ebensogut wie in Padua. Im übrigen verlangt ein anständiger Mensch auch kein Geld für eine Arbeit, die er nicht vollbringt. Braust nur nicht wieder gleich auf, ich habe Eure Anständigkeit nicht in Zweifel gezogen. Meine Geduld ist aber nun auch zu Ende. Warum lasse ich mich überhaupt in einen Streit mit Euch ein? Wenn Ihr als Professor Euch schon Eurem Rektor nicht fügen wollt, dann sage ich Euch jetzt, der alte Mann dem unreifen: Es ist genug! Schluß! Herrgott noch einmal, wir sind fertig miteinander!«

Galileo wartete eine Weile, als ob er noch etwas sagen wollte, dann entschloß er sich aber anders. Er nickte nur mit dem Kopfe und schickte sich an, zu gehen. In der Türe blieb er jedoch stehen.

»Hört mich an, Magnifizenz. Aristoteles behauptet, daß die schweren Körper schneller und die leichten langsamer fallen. Also bitte, ich werde morgen nachmittag beweisen, daß dies ein ausgemachter Unsinn ist. Eure Magnifizenz werden eine Einladung erhalten, ebenso alle anderen Herren Professoren ohne Ausnahme.«

»Ich werde schwerlich Zeit haben«, erwiderte der Rektor.

Doch der zornige junge Professor hörte das nur noch mit halbem Ohr. Er knallte die Tür der Aula hinter sich zu. Diese Ungezogenheit bereute er aber sogleich wieder. Er zögerte, ob er nicht zurückgehen sollte, um zu sagen, daß ihm die Klinke aus der Hand geglitten wäre. Dann aber hob er nur die Achseln. Mit energischen, festen Schritten ging er durch die gelbgetünchte Bogenhalle der Treppe zu. Hier und da standen Studenten auf dem Gang herum, einzelne zogen ihr viereckiges Barett, als sie den jungen Professor erblickten, aber es gab auch solche, die ihr Barett nicht einmal anrührten. Galileo Galilei, Professor der Mathematik, erfreute sich keines besonderen Ansehens im Kreise der Studenten. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn man ihn achten würde; denn die Studenten hörten von den anderen Professoren nur abfällige Bemerkungen über ihn. Seine Kollegen hatten ihn gleich von Anfang an mit kalter Zurückhaltung empfangen; der alte Mercuriali, Professor der Medizin, der ihn schon als nichtsnützigen Mediziner kannte, wollte kaum mit ihm sprechen. Aus dieser Zurückhaltung wurde in Kürze ein richtiger Kriegszustand. Sie behandelten ihn, als ob er mit irgendeiner häßlichen Hautkrankheit behaftet sei. Bei Zusammenkünften wollte keiner neben ihm sitzen; wenn er etwas sagen wollte, winkte man ab. Bald gewöhnte er sich vollständig ab, diesen Beratungen beizuwohnen. Und da seine Kollegen aus ihrer Ablehnung kein Hehl machten, meinte eine ganze Reihe unreifer Studenten und das Bedienstetenpersonal, sie könnten es ähnlich treiben. Dem einen Universitätsdiener hatte er zwar einmal unter dem Tore zwei mächtige Maulschellen verabreicht und die Pedelle nahmen sich seitdem etwas in acht, aber die Studenten konnte man nicht ohrfeigen. Die benahmen sich unerhört unverschämt gegen ihn und dachten sich allerlei Späße aus, um ihn zu ärgern. Auf seinen Rücken hefteten sie Zettel mit hohnvollen Sprüchen, in seiner Kopfbedeckung versteckten sie Schaben, unter das Stuhlbein vor seinem Katheder legten sie Nußschalen, auf der Straße schrien sie ihm Schimpfworte nach, und wenn er sich umwandte, sprangen sie schnell unter irgendein Tor. Er hatte nur fünf oder sechs Schüler, die ernstlich bestrebt waren, von ihm zu lernen. Die liebten und verehrten ihn, waren anhänglich und begleiteten ihn auf seinen Spaziergängen. Unter ihnen war einer namens Luca Valerio; der hatte den schärfsten Verstand. Ein häßlicher Kerl mit schiefen Schultern und mit einem Uhugesicht, aber sein reger Geist fraß die Mathematik wie das Feuer. Diesen Jungen zu unterrichten, war wahrlich eine Freude.

Und unter den Professoren fand sich auch nur ein einziger wohlwollender Mensch, der alte Professor der Philosophie, Jacopo Mazzoni. Auch jetzt war er auf dem Weg zu ihm, weil der Alte, der sich gerne seines Jugendfreundes, des Tuchhändlers aus Florenz, erinnerte, aus freundschaftlicher Gefälligkeit seinem jungen Kollegen täglich eine Stunde gab. Der alte Mazzoni wußte sehr viele Dinge, die Galileo bisher fremd geblieben waren. Aus der täglichen Stunde wurden jeden Tag mehrere Stunden, Galileo fand in dem Hause des alten Kollegen ein wirkliches Heim. Mazzoni wohnte am jenseitigen Ufer des Flusses, unmittelbar gegenüber den Befestigungen; man hatte nur über die Brücke zu gehen und schon war man angelangt. Auf einem kleinen, von Oleanderbäumen umsäumten Hofe saß ein weißhaariges Mütterchen mit einem schwarzen Häubchen auf dem Kopf und nähte: Frau Mazzoni. Und neben ihr sonnten sich, putzten sich und lärmten ihre Lieblinge, ein ganzes Regiment Enten.

»Ich küsse Eure gnädige Hand, ehrwürdigste Frau«, grüßte der junge Professor.

»Grüß Euch Gott, mein Sohn. Geht nur, Jacopo wartet schon.«

Der alte Professor, der in ständiger Angst vor einer Erkältung lebte, trug sogar in der größten Hitze ein Käppchen auf seiner spiegelblanken Glatze, um sie vor den heimtückischen Gefahren der Zugluft zu schützen. Er saß immer im Zimmer inmitten seiner Bücher, Globen und Atlanten, nicht einmal auf den Hof wagte er sich hinaus.

»Wie fühlt Ihr Euch?«

»Ich weiß nicht, unsicher. Sieh' mich an, befühle einmal meine Hand, ob ich kein Fieber habe.«

»Ihr habt kein Fieber, wie solltet Ihr auch. Euer Gesicht hat eine Farbe wie das Leben selbst.«

»Meinst du? Also nimm Platz. Ich habe die Bücher schon zurechtgelegt. Heute werden wir die Planetenbahnen weiter betrachten. Zähle mir aber vorerst noch schnell einmal die sieben Planeten auf. Was ist denn, fehlt dir etwas?«

Galileo erzählte, daß ihm der Rektor eine Rüge erteilt habe. Mazzoni schüttelte den Kopf.

»Wenn du nur beim Debattieren nicht so wild und heftig wärest! Und wenn deine Redeweise doch etwas gesitteter wäre! Du fluchst fortwährend und bedienst dich viel zu kräftiger Worte. Wie seid ihr denn schließlich auseinander gegangen?«

»Der Rektor erklärte, daß er morgen zu dem Experiment nicht erscheinen werde.«

»Das sieht ihm ähnlich. Er ist hartnäckig und beschränkt. Er ist auf die Wahrheit nicht neugierig. Und was hat er noch gesagt?«

»Daß er die Verlängerung meines Vertrags verhindern werde, wenn die Zeit abläuft.«

»Das ist schlimm. Und das redest du so einfach daher?«

»Ich habe mich damit schon längst abgefunden. Ich würde auch nicht länger hierbleiben, wenn es ginge. Ich sehe ein, daß ich in Pisa unmöglich geworden bin. Ich habe noch zwei Jahre; in dieser Zeit werde ich mit Gottes Hilfe schon irgendwo anders eine Anstellung bekommen. Mein Traum, den ich laut kaum zu sagen wage, ist der Lehrstuhl von Moletti in Padua. Er steht noch immer leer, und meines Wissens will Venedig ihn in absehbarer Zeit gar nicht neu besetzen. Vielleicht kann ich erreichen, daß sie noch zwei Jahre lang warten. Bis dahin hat sicherlich der Marchese Del Monte, der in Venedig und auch in Padua großen Ruf und Einfluß hat, irgend etwas unternommen. Aber ich rede andauernd nur, statt zu lernen. Was habt Ihr also befohlen? Ich soll die sieben Planeten aufzählen.«

Sie vertieften sich in die Sternkunde. Zwischen ihnen stand die Himmelskugel, auf der die Zeichen des Tierkreises eingezeichnet waren, die Milchstraße, die Sternbilder. Galileo fesselte diese Wissenschaft ungemein; ganz beglückt zeichnete er während des Unterrichts die verschiedenen Mondphasen, die durch die Drehung der Sonne hervorgerufenen Tages- und Jahreszeiten und die durch die Bewegungen der Gestirne entstehenden Finsternisse. Sein Meister war entzückt von den schnellen Fortschritten des Schülers. Nur fand es seinen Beifall nicht, wenn Galileo die Lehrsätze des Aristoteles zu untersuchen begann. Sie hatten gerade das Buch der Bücher zur Hand, das in die lateinische Sprache übersetzte » De coelo«, die Bibel der Sternkunde.

»Einen Augenblick Geduld«, unterbrach Galileo hin und wieder den Meister, »ich möchte bloß durchdenken, ob das auch wahr sein kann.«

»Rede keinen Unsinn. Das sind grundlegende Leitsätze, die muß man sich Wort für Wort einprägen.«

»Ich will es trotzdem überdenken. Wenn ich Aristoteles in der Mechanik bei einer ganzen Reihe von Irrtümern erwischt habe, kann ich ihn vielleicht auch hier erwischen. Dieses primum mobile zum Beispiel ist eine bei den Haaren herbeigezogene Sache. Was soll das heißen, daß sich die Sonne bewegt und doch nicht bewegt? Das klingt sehr gesucht. Das kann nicht wahr sein!«

Der alte Mazzoni schüttelte den Kopf und lächelte. Im Grunde genommen hatte er seine Freude an diesem unruhigen, jungen Geist, der alles eingehend untersuchte, wie der Gast der Borgias, um nicht etwa einen vergifteten Bissen zu essen. Was Galileo von Aristoteles annahm, das nahm er auch nur mit Vorbehalt an.

»Du bist närrisch, mein Sohn«, sagte Mazzoni, »sicherlich träumst du auch noch nachts von Aristoteles.«

»Ich lasse es gelten, daß ich närrisch bin, weil ich etwas herausgefunden habe.«

»Was hast du denn wieder herausgefunden?«

»Wer ein Narr ist.«

»Nun?«

»Jeder ist klug auf dieser Welt, der das Gehörte folgsam annimmt und für sich behält. Und ein Narr ist nur derjenige, der mit seinem eigenen Gehirn denkt. Es gibt Millionen und aber Millionen von Klugen, an ihrer Spitze Aristoteles. Dumme sind nur sehr, wenige: Leonardo da Vinci, Benedetti, Tartaglia, Varrone, Moletti und so weiter! Und ich. Und Ihr seid auch dumm; denn als ich Euch meine Gravitationstheorie erklärte, glaubtet Ihr Eurem klaren Verstand und nicht den alten Regeln. Aber von morgen an werde ich noch mehr Anhänger haben. Die Experimente werden jeden überzeugen, der genau acht gibt.«

»Ich bin selbst neugierig. Bist du schon mit den Vorbereitungen fertig?«

»Noch nicht ganz. Aber jetzt will ich endlich gehen, es ist schon sehr spät geworden. Luca Valerio und noch einige meiner Schüler erwarten mich mit meinen Sachen bei der Brücke. Wir gehen zum Turm. Ich danke auch verbindlichst für den heutigen Unterricht und küsse Euch die Hand.«

Auf dem Hofe verabschiedete er sich von dem weißhaarigen Mütterchen, sogar der Katze winkte er ein Lebewohl zu. Dann eilte er an die Brücke. Schon von weitem bemerkte er die auf ihn wartende kleine Gruppe. Die Schüler standen am Brückenkopf und hatten die beiden Kisten auf der Steinmauer der Brücke abgesetzt.

»Passen wir auf, meine Herren«, rief er, als er näher kam, »lassen wir die Kisten nicht ins Wasser fallen; denn ich springe nach!«

Die jungen Leute lachten und gingen über die Brücke. Sie waren zu viert: Luca, ein polnischer Student namens Casimiro, Carlo aus Pistoja und Giuseppe aus Vallombrosa. Die beiden Kisten trugen zwei von ihnen unter dem Arm.

»Machen wir es jetzt einmal wie die Peripatetiker«, sagte Galilei fröhlich. »In ihrer Wissenschaft wollen wir sie nicht nachahmen, nur in dieser ihrer Gewohnheit. Luca, erklärt uns nun – und zwar so, als ob Ihr vom Katheder heruntersprächet: was ist das Ziel unseres Versuches. Tragt also vor, was ich morgen vor der Versammlung sagen muß. Ach ja, Casimiro, habt Ihr die Einladungen alle besorgt?«

»Ich habe sie alle ausgehändigt, mein Herr.«

»Sehr gut. Nun, Luca, legt los!«

Während die kleine Gruppe dahinschritt, begann Luca Valerio seinen Vortrag.

»Zweck und Ziel unseres Experimentes ist, einen wichtigen Lehrsatz des Aristoteles öffentlich zu widerlegen und zu beweisen, daß die aus gleicher Höhe herabfallenden Körper ohne Rücksicht auf ihr Gewicht genau zu gleicher Zeit den Erdboden erreichen; das heißt also, daß die freie Fallgeschwindigkeit jedes Körpers dieselbe ist. Um dies zu beweisen, werden wir verschieden schwere, aber gleichförmige Körper von der Außenwand des schiefen Turmes zu Fall bringen und die Zeitdauer ihres Falles untersuchen. Die Zeit messen wir mit der Sanduhr. In dem Augenblick, wo je zwei Körper fallen gelassen werden, öffnen wir die Sperrhähne der Sanduhren, und wenn diese Körper auf dem Boden aufschlagen, sperren wir die Uhren. Diese Versuche dienen einem doppelten Zweck. Erstens zu beweisen, daß die Körper zu genau der gleichen Zeit den Boden berühren. Zweitens festzustellen, in wie langer Zeit die aus verschiedener Höhe fallenden Körper ihren Weg zurücklegen. Unsere Versuche werden beweisen, daß die Geschwindigkeit der fallenden Körper gleichmäßig wächst.«

»Richtig! Welche vorangegangenen Versuche waren notwendig, um zu diesem Ergebnis zu gelangen?«

»Wir hatten eine lange Gleitbahn aus Holz angefertigt, deren Neigung nur schwach war, die sich jedoch über die ganze Länge des zum Experiment dienenden Hofes erstreckte. In die Holzplanke hatten wir eine vollständig glatte Rinne gehöhlt; dann verschafften wir uns eine ebenmäßig glatte Bronzekugel. Wir setzten die Kugel auf, gaben sie frei und standen in genauen Abständen, die Sanduhr in der Hand, neben der Rollbahn. Jeder schrieb sich die Laufzeit der Kugel genau auf. Und da wir davon ausgehen, daß die Fortbewegungsgesetze eines Körpers, der sich auf einer schiefen Ebene bewegt, im Prinzip die gleichen sind wie die Gesetze eines freifallenden Körpers, so haben wir festgestellt, daß die freie Fallgeschwindigkeit gleichmäßig zunimmt.«

»War es gelungen, die Geschwindigkeitszunahme zu messen?«

»Es war gelungen! Unser Meister und Professor, der Florentiner Galileo Galilei, hat auf Grund dieser Versuche den Lehrsatz aufgestellt, daß die Fallgeschwindigkeit im gleichen Verhältnis zur Fallzeit wächst. Wenn also ein rollender Körper in einer Sekunde auf der schiefen Ebene einen Klafter zurücklegt, so legt er in zwei Sekunden vier Klafter, in drei Sekunden neun Klafter und in vier Sekunden sechzehn Klafter zurück, und so weiter. Die gleiche Proportion ist auch auf den freien Fall anwendbar.«

Der junge Professor nickte einige Male mit dem Kopfe. Ein wohltuendes Glücksgefühl bewegte sein Herz. Als sein Schüler den von ihm entdeckten Lehrsatz vortrug, war das für ihn, als ob er einen Satz seiner eigenen Lebensgeschichte aus dem Munde eines anderen gehört hätte.

»Und was war davon allen Peripatetikern der ganzen Welt bekannt?«

»Von all dem war«, erwiderte Luca Valerio mit schüchternem Pathos, »allen Peripatetikern der Welt nichts bekannt.«

Inzwischen hatten sie die Häuserreihe hinter sich gelassen und gelangten auf den freien Platz, wo die drei Gebäude nebeneinander standen. Sie waren vertraute Erinnerungen an seine ersten Betrachtungen dieser Art. Als Hintergrund der Campo santo, mit dem Stolz der Familie seiner Mutter, der Ammannatikapelle. Und vor diesem Hintergrund der Reihe nach das Baptisterium, der Dom und der Turm.

»Wie kann nur jemand auf einen so seltsamen Gedanken kommen«, fragte der junge Pole, »einen schiefen Turm zu bauen?«

»Das weiß Gott allein«, erwiderte Galileo, »in meiner Kindheit habe ich sehr viel darüber gehört. Es ist eine alte Überlieferung, daß Bonanna von Pisa und Wilhelm von Innsbruck, die ihn vor vierhundert Jahren zu bauen anfingen, einen Campanile, einen Glockenturm wie alle anderen, bauen wollten. Sie hatten die Absicht, einen durchaus vorschriftsmäßigen Turm zu errichten. Zweihundert Jahre lang baute man daran. Dann begann sich der Turm mit einem Male zu neigen. Die Stadt Pisa bekam einen mächtigen Schreck und ließ teils den sich senkenden Erdboden befestigen, teils in geschickter Weise auf den einzelnen Stockwerken den Schwerpunkt verlegen. Nun kann er sich nicht mehr weiter neigen. Ihr, Luca, geht bis zur Spitze hinauf. Ihr drei besteigt je ein Stockwerk und ich bleibe hier unten. Macht die Kisten auf.«

Die Kisten wurden geöffnet. Sanduhren und Schachteln aus Holz kamen zum Vorschein. In den Böden der Schachteln waren Vertiefungen für je zwei Kugeln angebracht. In der einen Vertiefung lag eine Metallkugel, in der anderen eine Holzkugel. Jede der Holzschachteln war so konstruiert, daß man den Boden mit einer einzigen Fingerbewegung nach unten klappen konnte, so daß die zwei Kugeln zu gleicher Zeit fielen. Niemand sollte behaupten können, daß man die zwei Kugeln nicht zu gleicher Zeit hätte fallen lassen.

Die Schüler verschwanden im Eingang des Turmes. Einige Minuten später tauchte schon Carlo, der Student aus Pistoja, zwischen den weiten Säulen des zweiten Stockes auf und legte sich auf den Bauch. Er hatte einige Schachteln bei sich. Nur seinen Kopf und diese Schachteln konnte man über der Brüstung erkennen. Wieder einige Minuten später erschien Giuseppe aus Vallombrosa im vierten Stockwerk. Auch er legte sich mit seinen Schachteln auf den Bauch. Lachend rief er herunter:

»Casimiro und Luca keuchen schon mächtig.«

»Schon gut«, rief Galileo hinauf, »gebt bloß acht da oben, daß ihr nicht nach vorne rutscht.«

Casimiro war auch bald darauf im fünften Stock angelangt, und endlich kam auch der Kopf Lucas im sechsten zum Vorschein. Die vier Köpfe erschienen haargenau übereinander, als ob sie durch eine senkrechte Linie miteinander verbunden wären. Die Stelle, von wo aus die Kugeln fallen gelassen werden sollten, hatten sie schon während der vorangegangenen Tage wiederholt genau ausgemessen und bezeichnet. Am Fuße des Turmes waren auf dem Erdboden auch schon genau die Stellen bezeichnet, wohin die Kugeln fallen würden: von jedem Stockwerk aus etwas weiter vom Turm entfernt. Die vom sechsten Stockwerk fallenden Kugeln mußten vierzehn Fuß von der Turmmauer entfernt niedergehen.

»Kann es losgehen?« rief Carlo vom zweiten Stockwerk herunter.

Galileo nahm die Sanduhr zur Hand.

»Es kann losgehen! Achtung! Eins … zwei … drei!«

Gleichzeitig drehte er den Hahn der Sanduhr auf, und als sein auf den Boden gehefteter Blick die zwei Kugeln wahrnahm und seine Ohren den zu gleicher Zeit erfolgten Aufschlag vernahmen, sperrte er die Sanduhr wieder ab. Dann nahm er eine andere Sanduhr hervor und rief:

»Noch einmal, mein Herr Carlo! Los! Eins … zwei … drei!«

Sanduhr, Aufschlag der fallenden Kugeln, Sanduhr. Er sah prüfend die herabgerieselte Sandmenge an, nickte und legte die Uhr zur Seite. Er nahm eine neue Uhr zur Hand und rief hinauf zum vierten Stockwerk: auf Befehl fielen die Kugeln. So ging das nacheinander, bis auch Luca seine Kugeln von der Spitze des Turmes hatte fallen lassen. Da waren die anderen drei schon wieder heruntergekommen. Sie halfen die Sanduhren einstellen und die fortgerollten Kugeln aufsammeln. Dann untersuchten sie die Sanduhren sorgfältig und zogen aus ihren Taschen eine mit Zahlen vollgeschriebene Tabelle hervor. Alles hatte vortrefflich geklappt. Die Sanduhren bestätigten den Galileischen Lehrsatz über die Fallbeschleunigung aufs Haar.

»Wenn sie auch das nicht überzeugt«, rief Galilei, »dann darf man sich mit ihnen in eine weitere Debatte nicht mehr einlassen. Wir haben diese Kugeln nun schon an die hundertmal fallengelassen und die in den Uhren herabgerieselte Sandmenge an die hundertmal nachgemessen. Gehen wir, meine Herren Studenten! Ich muß zu Hause noch Stunden geben und schreiben will ich auch noch.«

Auf dem Heimwege betrat er nochmals das Universitätsgebäude, um nachzusehen, ob etwa jemand mit seiner Ankündigung, die er vormittags selbst am schwarzen Brett befestigt hatte, einen schlechten Spaß getrieben. Nein, der Ankündigung war nichts geschehen. Sie verkündete der Jugend der Universität, daß morgen mittag um zwölf Uhr, wenn keine Vorlesungen stattfänden, jeder Wissensdurstige am schiefen Turm erscheinen solle, wo Professor Galileo Galilei » ad oculos demonstrandum« seinen neuentdeckten physikalischen Lehrsatz unter Beweis stellen würde.

In dieser Nacht konnte er vor Aufregung nur wenig schlafen, obwohl er am anderen Tage früh aufstehen mußte: vormittags erst zwei Privatstunden und dann, was noch viel wichtiger war: um elf Uhr mußte er beim Hofe erscheinen. Der Hof hielt seine Sommerfrische in Pisa ab, und man hatte ihn wissen lassen, daß man in einer bestimmten Frage sein fachmännisches Urteil benötige. Er möge sich also pünktlich um elf Uhr in den Amtsräumen von Belisario Vinta einfinden.

»Ich begrüße Euch, mein Lieber«, sagte der Höfling, als Galilei in seinem Sonntagsstaat bei ihm eintrat, »seit wir in Pisa sind, habe ich Euch noch gar nicht gesehen. Geht es Euch gut? Das freut mich. Aber zur Sache! Herr Giovanni Medici hat eine Baggermaschine erfunden. Es ist außerordentlich wichtig für uns, bei Livorno wegen des Hafenbaues die Flußmündung von den seichten Stellen zu befreien. Herr Giovanni behauptet, daß seine Maschine hierzu vorzüglich geeignet sei. Er hat auch ein kleines Modell verfertigt und es dem Großherzog vorgeführt. Solch ein kleines Spielzeug zu beurteilen ist jedoch sehr schwer. Die Maschine in Originalgröße herstellen zu lassen, würde hinwiederum sehr viel Geld kosten und unser gnädigster Großherzog scheut ein wenig vor dieser Ausgabe zurück. Deshalb befahl er, das Modell von einem Sachverständigen der Universität begutachten zu lassen.«

»Gut. Wo ist das Modell?«

Der Höfling lächelte.

»Bei Hofe, mein Lieber, tut man gut, mit der Wahrheit möglichst vorsichtig umzugehen. Denn ist die Maschine schlecht, und das befürchte ich, dann macht Ihr Euch Herrn Giovanni zu Eurem erbitterten Feind. Wenn Ihr aber die Maschine für gut befindet, dann läßt sie der Großherzog für teures Geld anfertigen und nachher funktioniert sie nicht. Wen wird man dann zur Verantwortung ziehen? Den Sachverständigen.«

Galileo schnipste mit den Fingern.

»Fürwahr, eine heikle Lage! Diese Aufgabe hättet Ihr mir ersparen können.«

»Ja, mein Lieber, das Leben am Hofe ist nicht einfach. Soll ich Euch erzählen, welchen Auftrag ich einmal in amtlicher Eigenschaft ausführen mußte? Wir haben noch einige Minuten Zeit. Vor sieben Jahren hatte ich noch im Auftrage des verewigten Herrschers die Verhandlungen wegen der geplanten Heirat zwischen Eleonora Medici und Vincenzo Gonzaga zu führen. Dieser Gonzaga war bereits einmal mit einer Farnese verheiratet gewesen; da ein Kind ihnen aber versagt blieb, gelang es Gonzaga zu erreichen, daß der Heilige Stuhl seine Ehe wegen Unfruchtbarkeit der Frau trennte. Die Familie Farnese gab sich damit aber nicht zufrieden. Sie behauptete immerfort und verbreitete das auch, der Fehler liege nicht bei der Frau, sondern beim Manne. Als nun bekannt wurde, daß wir Eleonora an Gonzaga verheiraten wollten, überschüttete uns die Familie Farnese mit Nachrichten und Briefen: wir möchten Eleonora Medici nicht unglücklich machen; denn sie würde nicht nur keine Mutter werden, sondern nicht einmal Frau; an der Seite Gonzagas müsse sie zeitlebens Jungfrau bleiben. Wir waren in einer großen Verlegenheit, da diese Ehe politisch sehr zweckmäßig erschien. Die Familienbeziehungen der Medici zu dem Herrscherhaus von Mantua auszubauen, war sehr wichtig. Als ich nun seinerzeit in dieser Angelegenheit dem seligen Herzog Francesco Meldung erstattete, war auch die Herzogin Bianca anwesend … bitte?«

»Nicht, nichts!« sagte Galileo hastig und bemühte sich zu verbergen, daß er zusammengefahren war.

»Kurz und gut, die Herzogin Bianca machte den Vorschlag, wir sollten von Gonzaga Beweise verlangen. Wir sollten irgendein hübsches, gesundes, noch unberührtes Bauernmädchen suchen, und Gonzaga sollte vor Zeugen beweisen, daß aus einer Jungfrau an seiner Seite wohl eine Frau werden könne. Herzog Francesco fand diesen Vorschlag zwar ein wenig brutal, aber was Bianca wollte, das wollte letzten Endes auch er. Wir teilten also dem Bräutigam die Bedingungen mit. Zunächst lehnte er die Prüfung selbstbewußt ab; als er aber sah, daß unser Kanzleramt auf Geheiß des Herzogs die Prüfung verlangte, war er gezwungen, einzuwilligen. Man war also besorgt, ein geeignetes Mädchen zu finden, und lud als Vertrauensmann den Herzog von Este ein. In Anwesenheit des Herzogs von Este fand die Prüfung auch statt und endete mit einem Mißerfolg. Die Jungfrau blieb, was sie war. Gonzaga ließ es nun seinerseits nicht dabei bewenden, führte allerlei Gegengründe ins Feld und schwur, daß er schon zeigen würde, was für ein Kerl er sei, wenn er die Prüfung wiederholte. Unser Herrscher besprach die Angelegenheit nochmals mit Bianca und beide kamen zu dem Entschluß, Gonzaga eine letzte Gelegenheit zu geben. Und diesmal ernannte man mich zum Untersuchungskommissar. Ich war dermaßen wütend, daß ich das gar nicht beschreiben kann. Ich bin von Natur aus ein schamhafter Mensch, lege großen Wert auf die Reinheit meines Familienlebens, und es war wirklich nicht nach meinem Geschmack, an einer so schamlosen Veranstaltung teilzunehmen. Und dann liegt doch auch in einer solchen Rolle etwas Lächerliches. Ich wollte irgendwie entschlüpfen, aber Bianca bestand auf ihrem Stück. Schließlich übernahm ich den Auftrag doch, weil ich meiner Karriere bei Hofe nicht schaden wollte. Als Ort der Handlung bestimmten wir Venedig. Alles geschah so, wie wir es vorher festgelegt hatten. Diesmal gelang der Versuch. Davon habe ich persönlich Francesco und Bianca Meldung erstatten müssen, die damals den Sommer in Serravezza verbrachten. Dieses Referat hättet Ihr mit anhören müssen! Ich wollte über die ganze Angelegenheit mehr hinweggleiten, einfach berichten, daß alles in bester Ordnung sei, aber damit gab sich Bianca nicht zufrieden. Eine geschlagene halbe Stunde lang hat sie mich über alle Einzelheiten ausgefragt. Ich war in einer fürchterlichen Verlegenheit, und darüber lachte der Herzog Francesco so sehr, daß seine Augen voll Tränen standen. Seht Ihr, solche Sachen können denen zustoßen, die sich in die Nähe des Hofes wagen. Jetzt können wir auch gehen. Seid also nur recht vorsichtig mit allem, was Ihr sagen werdet. Habt Ihr noch eine Frage?«

»Ja«, gab Galileo verstört und stotternd zu, als sie bereits das Zimmer verlassen hatten, »was denken Eure Exzellenz: hat die Herzogin Bianca ihren Mann jemals betrogen?«

»Nie! Sie war eine große Bestie, und ich mochte sie auch gar nicht, aber das können nicht einmal ihre Feinde von ihr behaupten. Sie war eine makellos treue Frau, die Unglückselige.«

Ganz benommen ging Galileo an der Seite des Höflings. Die Geschichte hatte ihn vollständig aufgewühlt. Bianca, die Traumgestalt, die er als überirdisches, körperloses Wesen in sich hütete, trat jetzt plötzlich mit einem sinnlichen Lächeln vor ihn hin, mit schamloser Glut, sprühenden Augen und einer lockenden Taubenstimme …

Er mußte sich aber zusammennehmen. Zwischen Hellebardieren und betreßten Dienern schritten sie hindurch, bis sie das Vorzimmer der Herrschergemächer erreichten. Ein Hofbeamter mit Spitzenkragen und einem Degen an der Seite meldete sie sogleich. Sie traten ein. Im Saale saßen der Großherzog Fernando, seine junge Frau und Herr Giovanni. Vor ihnen auf dem Tisch eine kleine Maschine, winzig wie ein Spielzeug. Christina, die Großherzogin, die Enkelin der Katharina von Medici, ließ durch ihren Anblick den jungen Gelehrten zunächst zusammenzucken; denn sie hatte rote Haare wie Bianca. Wunderschön war sie allerdings nicht. An ihrer Kleidung konnte man erkennen, daß sie das Großherzogtum Toscana bald mit einem Thronfolger erfreuen würde.

Herr Giovanni begrüßte den Gelehrten sehr zuvorkommend. Nachdem er der Etikette genügt und den Herrscher um Erlaubnis gebeten hatte, begann er seine Maschine zu erklären. Mit einem gewaltigen Redeschwall legte er die Grundsätze seiner Erfindung dar. Die Erfindung wies ein verwickeltes Schneckensystem mit unzähligen Zahnradübersetzungen auf. Unter dieses kleine Modell stellte der Erfinder nun eine kleine Kiste mit Sand. Er drehte an seiner Maschine und deren Eimer schöpften tatsächlich Sand, um ihn, nachdem sie den obersten Rand der Maschine erreicht hatten, auf der anderen Seite wieder auszuschütten. Giovanni beendet seinen Vortrag und blickte siegreich den Sachverständigen an; im Geiste legte er sich bereits die Gesichtszüge für die anerkennenden Worte zurecht. Galileo aber schüttelte nur den Kopf, nachdem er die Arbeit der kleinen Maschine aufmerksam verfolgt hatte.

»Nun?« fragte der Großherzog.

»Diese Maschine ist unbrauchbar«, erklärte Galileo.

»Wieso unbrauchbar«, ächzte Herr Giovanni. »Ihr seht doch, daß sie den Sand fördert.«

»Ja, auf dem Trockenen. Unter Wasser wird sie ihn nicht fördern. Die Lage der Eimer unter dem Wasser ist so, daß es den Sand unbedingt wieder herauswäscht, bevor die Eimer die Wasseroberfläche erreicht haben. Diese Maschine ist nicht gut.«

Der Großherzog lächelte Giovanni schadenfroh an und warf auch einen verstohlenen Blick auf seine Frau.

»Was sagt Ihr dazu, Giovanni?«

»Ich kann nur sagen«, erwiderte Herr Giovanni, fast erstickend vor Zorn, »daß dieser Mensch von Technik keine Ahnung hat. Was er behauptet, ist Blödsinn. Diese Maschine wird hervorragend arbeiten; das könnte ich vor dem Altar beschwören.«

»Galilei?« wandte sich der Großherzog abermals an den Sachverständigen.

»Die Maschine ist schlecht.«

Der Großherzog nickte mit dem Kopfe. Dann gab er Vinta ein Zeichen. Der berührte Galileo am Arm. Unter tiefen Verbeugungen entfernten sich beide. Herr Giovanni, der noch blieb, rief ihnen mit einem leidenschaftlichen Ausbruch nach:

»Esel!«

Galileo wandte sich an der Tür nochmals um.

»Die Maschine ist schlecht«, wiederholte er laut.

Er wollte noch mehr sagen, aber Vinta packte ihn kräftig am Ellenbogen und zog ihn aus dem Saal. Die Tür schloß sich hinter ihnen.

»Hoffentlich seid Ihr Euch darüber im klaren«, wandte sich Vinta an Galileo, »daß Ihr Euch einen schweren Feind geschaffen habt.«

Galileo blieb stehen. Auf seinem Gesicht loderte helle Empörung.

»Der Teufel soll das Ganze holen, daran habe ich nicht gedacht! Als ich die Maschine sah, habe ich alles andere vergessen. Ich habe nur an die Maschine gedacht und sprach die Wahrheit. Umsonst, ich kann nicht dafür. Wenn ich in einer wissenschaftlichen Arbeit einen Fehler bemerke, das muß ich einfach gleich herausschreien.«

»Ist denn die Maschine tatsächlich schlecht?«

»Vollkommen unbrauchbar. Nicht zwei Hände voll Sand könnte man damit baggern, wenn man sie anfertigen ließe. Es wäre jammerschade um das viele Geld. Warum, Herrgott noch einmal, hat dieser Herr Giovanni keine bessere Maschine erfunden? Wie gerne hätte ich sie gerühmt! Jetzt wendet sich auch der noch gegen mich. Als ob ich nicht schon genug Feinde hätte …«

»Gewiß, gewiß! Aber Ihr habt doch auch Freunde!«

Der erfahrene Alte sah ihn von der Seite scharf an und lächelte. Und plötzlich sagte er »Du« zu ihm.

»Du gefällst mir, Junge. Ich habe dich schon immer gern gehabt, von nun an werde ich dir aber noch mehr zugetan sein. Verzweifle nicht, auf mich kannst du immer zählen! Herr Giovanni steht zwar wirklich in der Gunst des Hofes, aber ich habe auch ein wenig Einfluß. Und wie ich dir schon einmal sagte: ich werde noch mehr haben. In einem Jahre. Geh' jetzt deiner Wege. Wohin willst du denn?«

»Am schiefen Turm erwarten mich meine Schüler und meine Kollegen. Ich muß einen Versuch vorführen. Auch dort werde ich recht haben, und auch dort wird mir deswegen ein jeder zürnen. Der Teufel hat mein Leben verflucht!«

Er grüßte, zog den Hut tief in die Stirn und verließ das Schloß in trüber Laune. Wie er aber so dem Dom zueilte, verflog sein Ärger bald. Er verspürte statt dessen eine unbändige Kampflust in sich. Ein unerschütterliches Bewußtsein seines Rechtes und auch seine alte Halsstarrigkeit, die ihn immer wieder von neuem anstachelte: »Nun erst recht!«

Es fehlten nur noch wenige Minuten bis zur Mittagsstunde, als er auf dem Domplatz ankam. Sehr viele Studenten standen bereits um den Turm herum; mehr, als er gerechnet hatte. Und der alte Mazzoni war auch da, er hatte sogar seine Frau mitgebracht. Außer ihm aber war niemand vom Professorenkollegium erschienen. Luca Valerio und die anderen drei Studenten eilten dienstbeflissen auf ihren Meister zu. Alles war schon vorbereitet, die Holzschachteln mit den Kugeln und die Sanduhren harrten des Versuchs.

»Die anderen Kollegen kommen nicht?« erkundigte sich Galilei während der Begrüßung bei Mazzoni.

»Ich weiß es nicht, ich habe heute noch mit niemandem gesprochen.«

»Vielleicht fassen sie sich doch noch ein Herz. Es ist noch nicht ganz zwölf Uhr.«

Sie standen und warteten. Als die Glocken erdröhnten, traten seine auserwählten Schüler in den Turm. Jeder nahm seinen bezeichneten Platz ein. Die Studenten drängten sich am Fuße des Turmes zusammen. Galilei erklärte ihnen, wieviel Platz sie freilassen müßten, spähte jedoch währenddessen immer wieder in die Richtung der Stadt. Aber es kam niemand.

Das mittägliche Glockengeläute war längst verklungen. Kein einziger Professor von der Universität ließ sich blicken. Galilei zuckte mit den Schultern.

»Also dann fangen wir an!«

Er klatschte in die Hand und sofort verstummte die Unterhaltung der Studenten. Mit gehobener Stimme begann er zu sprechen und erläuterte den Sinn des Experimentes. Er erzählte, wie er überhaupt zu diesem Versuch gekommen, wie dieser Gedanke erstmalig in ihm wachgeworden war, als er drüben im Dome den schwingenden Leuchter beobachtet hatte; er erzählte von seinen Studien mit dem Pendel, von der rollenden Bronzekugel, von Benedetti, Tartaglia, Moletti und den anderen, die auch anderer Meinung als Aristoteles seien. Schließlich faßte er die ganze Betrachtung nochmals in einigen kurzen Sätzen zusammen, dann rief er Carlo zu:

»Achtung, wir beginnen!«

In einem engen Kreise scharten sich die Studenten um ihn und harrten der kommenden Dinge. Die ersten beiden Kugeln fielen und schlugen zugleich auf den Steinen auf. Dann folgten nacheinander die Kugeln der oberen Stockwerke. Das Experiment war zu Ende. Ohne jede Wirkung. Die Studenten äugten herum, die Kugeln fielen herab, Galilei bediente die Sanduhren. Alle sahen sie schweigend zu. Auf dem Gesicht eines jeden stand aber geschrieben, daß sie im Grunde genommen nicht im geringsten ahnten, was hier vor sich ging. Als Luca auch die letzten Kugeln hatte fallen lassen, verkündete Galilei laut und vernehmlich:

» Quod erat demonstrandum.«

Die Wirkung wartete er gar nicht erst ab. Ein Student rief enttäuscht:

»Was ist los? Das war schon alles?«

Galilei erwiderte nichts. Die Studenten schwenkten ihre Baretts, als sie sahen, daß sie umsonst auf ein erschütterndes Wunder gewartet hatten. Sie zerstreuten sich allmählich. Mazzoni aber klopfte Galilei heftig auf die Schulter.

»Recht so, das war sehr anständig, mein Sohn! Diese vielen Lümmel ahnen wirklich nicht, was hier überhaupt vor sich ging. Ich aber weiß es und verstehe es. In der Geschichte der Wissenschaft war das eine halbe Stunde von ungeheurer Tragweite. Diese Kugeln haben sich in den Körper der peripatetischen Schule eingebohrt. Die peripatetische Schule ist von heute an nicht mehr der Herr der Welt.«

Galileo dankte für die Anerkennung, verspürte aber nicht den Wunsch, sich weiter zu unterhalten. Nicht mit der Familie Mazzoni, auch nicht mit seinen vier Lieblingsschülern, die inzwischen vom Turm herabgestiegen waren und die Geräte einsammelten. Ganz bestürzt meldete Luca:

»Zwei Sanduhren sind gestohlen worden!«

Er hob schweigend die Achsel. Damit hatte er rechnen müssen. Es war eine alte Überlieferung auf der Universität zu Pisa, daß man die Sachen des Professors stehlen durfte; man mußte sich bloß am anderen Tage melden und sie gegen Lösegeld zurückkaufen lassen. Die würden sich also auch schon bei ihm melden. Er verabschiedete sich von Mazzoni und dessen Frau, entließ die Schüler und ging selbst in den Dom unter dem Vorwand, beten zu wollen, in Wahrheit nur, um allein sein zu können. In dem von Weihrauchduft geheiligten kühlen Schatten war er kurze Zeit in seine Gedanken versunken, dann verließ er die Kirche wieder.

Er suchte ein nahegelegenes Wirtshaus auf und trank statt zu essen. Mit dem entschlossenen und bösen Willen zu einem Rausch stürzte er gierig den Rotwein hinunter. Spät am Nachmittag erst fiel ihm ein, daß er auch Privatstunden zu geben hatte. Leichtsinnig beschwichtigte er sich selber bei dem Gedanken und ging mit unsicheren Schritten in ein anderes Wirtshaus. Hier trank er weiter. Jetzt wurde der Rausch allmählich Herr über ihn, sein Bewußtsein wurde trübe und hellte sich hin und wieder nur für einige Augenblicke unerwartet auf, um sich über sich und seine Lage zu wundern. In einer solchen lichten Minute nahm er mit einem Male wahr, daß er schon in der dritten Schenke saß. Es war Abend geworden, die Talgfunzeln brannten bereits, und ein singendes Mädchen saß neben ihm.

Er ergriff ihre Hand und sagte mit schwerer Zunge:

»Du hast mich betrogen, Bianca. Du hast ja auch einen Leib …«

Das Mädchen lachte.

»Warum nennst du mich Bianca?«

Er riß das Mädchen an sich und sah verwundert, daß sie sich gerne fügte. Er küßte sie auf den Mund. Und schon während dieses Kusses bemächtigte sich seines Gehirns von neuem der Nebel des Rausches. Am anderen Tage konnte er sich keine Rechenschaft darüber ablegen, wie er sich nach Hause gefunden hatte.


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