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Erstes Kapitel

Der junge Mann, der am Fuße des Ponte Vecchio zerstreut ein Stück Papier zerriß und die Fetzen ziellos in die Fluten des Arno flattern ließ, wollte sterben.

Schon seit langer Zeit trug er sich mit der Absicht, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Zuerst tauchte dieser Gedanke als eine müde Unlust in ihm auf, langsam nahm er aber immer greifbarere Form an. Endlich hatte er sich entschlossen: er wird sterben. Er betrachtete sein Dasein sowieso als etwas, das mit seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr sein Ende gefunden hatte. Er dachte an sich, als ob er bereits zu den Toten zähle, und wann er jenen Strick um den Hals knüpfen würde, den er zu Hause verborgen schon bereit hielt, schien ihm ganz gleichgültig. Einige Tage früher oder später, darauf kam es nicht an. Er hatte das Empfinden, daß es nichts als Faulheit war, wenn er nicht schon gestern, oder gar vorgestern Hand an sich gelegt hatte. Aber gerade diese schlaffe, gemütlose Trägheit, mit der er nicht weiterleben wollte, hatte immer wieder sein Leben verlängert. An seine Unfähigkeit, zu handeln, hatte er sich schon so gewöhnt, daß er fast neugierig darauf war, ob und wann sein Wille sich wohl aufschwingen würde, das schon längst in allen Einzelheiten Durchdachte zu vollbringen. Doch selbst diese Neugierde war kraftlos, er zuckte auch darüber die Achseln: gleichviel. Alles ist eitel.

Die zu anderen Zeiten so klaren, grünen Fluten des Stromes, vom Herbstregen lehmiggelb gefärbt, flossen eintönig und gleichgültig wie die Unendlichkeit dahin und trugen die allmählich versinkenden Papierstücke mit sich fort. Der Lauf des Flusses rief ihm den Verlauf seines Lebens ins Gedächtnis. So wie die lehmigen Fluten vor seinen Blicken dahinglitten, ließ er die Erinnerungen seines jungen Lebens an sich vorbeiziehen, die einzelnen Glieder jener langen Kette, die sein Selbstmord zerreißen sollte. Vielleicht übermorgen, vielleicht auch in einer halben Stunde; denn er wußte von seinem eigenen, zu keinem Entschluß mehr fähigen Ich nicht, ob er in der nächsten Minute die Tat vollbringen oder sich noch eine Zeitlang untätig hier herumtreiben, später heimkehren und lustlos achselzuckend einen neuen Tag verstreichen lassen würde.

Bilder aus seiner frühen Kindheit stiegen vor ihm auf, der Hof in Pisa, wo er mit den Nachbarkindern im Sande gespielt und ab und zu ein Sandkorn bewundert hatte, das plötzlich im Sonnenschein, wenn er es zufällig aus einer bestimmten Richtung anblickte, wie ein feuriger Diamant glitzerte. Dann hatte er diese sonderbare Erscheinung ganz aufmerksam beobachtet, seinen Hals vorsichtig immer weiter gedreht und aufgepaßt, wann das unscheinbare Sandkorn von neuem erglänzen und wann sein Glanz wieder ersterben werde. Die anderen hatten über ihn gestaunt, ihm Rippenstöße versetzt oder ihn ausgelacht.

Dann sah er die Geschäftsräume seines Vaters vor sich und meinte, den sonderbaren Geruch der schweren Ballen gerollter Stoffe, Seiden und Brokate zu spüren. Im Laden hielt sich kein Käufer auf, sein Vater saß in einer Ecke und spielte auf der Laute irgendein altes Lied. Der kleine Junge blieb in der Tür stehen und lauschte der Musik, die – er wußte nicht warum – sein kleines Herz mit unbeschreiblich wehmütiger Süßigkeit erfüllte. Zu gleicher Zeit erschallte vom Hofe her der leidenschaftliche Redeschwall seiner Mutter.

Dann dachte er an die Zeit, als sie von Pisa hierher nach Florenz übersiedelten. An die immerwährenden heftigen Wortgefechte seiner Eltern, manchmal sogar ganze Nächte hindurch. Wenn er sich jene Familienszenen vergegenwärtigte, blickte er heute noch mit dem Entsetzen des einstigen kleinen Knaben auf diese zwei Gestalten zurück: die Mutter, die mit zerzaustem Haar unbeherrscht lärmte, kreischte, herumtobte, und den Vater, wie er totenblaß, regungslos auf einer Stelle dastand mit vor ohnmächtigem Zorn feuchten Augen. Dieses Bild seiner Eltern hatte ihn durch seine ganze Jugend verfolgt, und wie vieler Skandalszenen konnte er sich erinnern, wenn die empörten Nachbarn zu ihnen hereindrangen, um sich den unerträglichen Lärm zu verbitten! Das gab dann stets einen höllischen Aufruhr, Gebrüll und Herumstoßerei, daß das ganze Haus zusammenzustürzen drohte und er mit seinen jüngeren Geschwistern entsetzt in eine Ecke flüchtete, als hätten sie Angst, überrannt zu werden.

Dann tauchte Vallombrosa in seinen Gedanken auf, das liebliche kleine Dorf mit den weißgetünchten Mauern und Steinfliesen seines Klosters und dem Klang der Orgel, die märchenhafte Friedenswelt des Weihrauches und der dicke, immer lächelnde Erzabt Don Orazio Morandi, dessen Liebling er gewesen war. Die erregten, glücklichen Unterrichtsstunden, die herzbewegenden Offenbarungen der Rechen- und Geometriestunden, die griechischen Verba und der lateinische » accusativus cum infinitivo« – eine herrliche Zeit war das, deren wundersamer Zauber nun niemals wiederkehren würde! In seiner kindlichen Seele vermengte sich die unbeschreibliche Freude des Lernens mit der mystischen Ekstase der Beichte und der heiligen Sakramente des Altars; er beschloß, selbst Mönch zu werden und legte die Kutte eines Novizen an. Er hatte das Gefühl, als ob ihn die Engel, deren sanfte Flügelschläge er auf seinen Wangen zu spüren wähnte, bei lebendigem Leibe in den mit goldenen Sternen besäten blauen Himmel emportrügen.

Da aber war sein Vater gekommen, hatte ihn mit nach Hause nach Florenz genommen und hart und entschlossen erklärt, er ließe ihn nicht Mönch werden. Eine lange, lange Zeit kindlicher Trauer folgte, Sehnsucht nach dem angebeteten Kloster, heimlich durchweinte Nächte, während er das gesunde Schnaufen seiner jüngeren Schwestern und Brüder neben sich vernahm.

Auf einer neuen Seite des Bilderbuches seines Lebens tauchte abermals Pisa auf: die Universität, an der ihn sein Vater immatrikulieren ließ, weil er Arzt werden sollte. Die derben Späße in der elenden Studentenherberge, der Stolz auf die Universitätstoga, der von Säulen umrahmte wimmelnde Hof der Hochschule, die offenen Wandelgänge und die numerierten Türen der Hörsäle. Die Galen-Vorlesungen, die ihn von Herzen langweilten, die Leichen, deren fürchterlicher Geruch ihn bis in seine Träume verfolgte. Und dann mit einem Male die Wunderwelt, die ihm Ostilio Ricci, der Erzieher des kleinen Herzogs von Medici, erschloß: die unerhörte Welt der Algebra und der Geometrie. Jetzt noch, in diesem Augenblick, wo er wie ein Fremder die Bilder seines, wie er glaubte, beendeten Lebens an sich vorüberziehen ließ, lächelte er wie einer, der, am Bettrande sitzend, ganz versonnen an den schönen Traum zurückdenkt.

Dieser Zeitabschnitt war schön, voller Gier und maßloser Freuden. Der herzogliche Erzieher, der die schnelle Auffassungsgabe des Tuchhändlersohnes bald erkannt hatte, begann sich vornehmlich mit ihm zu beschäftigen. Er brauchte ihn kaum zu unterrichten, hin und wieder zeigte er ihm dies und jenes und lieh ihm die Schriften des Euklid. Damals war er vor Erschöpfung nach dieser großen Freude fast zusammengebrochen: von einem Sonntagabend bis Dienstagmorgen konnte er sich nicht entschließen, schlafen zu gehen. Einen so unerhörten, noch nicht verspürten Genuß verlieh ihm das Spiel mit den Dreiecken, den Kreisen, den Tangenten, den Diagonalen. Sehnsüchtig feilschte er mit sich: noch eine Stunde, dann noch eine Stunde, dann nur noch eine letzte, dann nur noch eine allerletzte, bis er halb ohnmächtig vom Stuhle fiel, das Licht mit sich riß und um ein Haar das Haus in Brand gesetzt hätte. Die Vorstellung, daß, wenn eine Gerade und außer dieser Geraden noch ein Punkt gegeben seien, man durch diesen Punkt zu dieser Geraden nur eine einzige Parallele ziehen könne, erfüllte ihn mit unbeschreiblichem Entzücken. Ahnend sah er darin das Rückgrat eines weltumfassenden Gedankensystems. Mit inbrünstiger Andacht blickte er zu dem Manne empor, der so etwas entdecken konnte. Jeden, von dem er auch nur die geringste Aufklärung erhoffte, fragte er: was für ein Mensch war dieser bewunderungswürdige Grieche, dieser Euklid? trug er einen Bart? ist er sehr alt geworden? hatte er eine Familie? wie hat er gelebt? war er fröhlichen Gemüts? Alles wollte er von ihm wissen, konnte aber kaum etwas erfahren. Ostilio Ricci wußte selbst herzlich wenig über die Person des Euklid, in der Universität war niemand, an den er sich hätte wenden können; denn seine Professoren der Medizin, deren Vorlesungen er herausfordernd vernachlässigte, sahen ihn scheel an; eher hätte er sich vor ihnen versteckt, als sie wegen solcher Auskünfte aufgesucht. Also ging er die Straßen von Pisa entlang, entwickelte in seinem Kopf die gefälligen Zeichnungen der geometrischen Figuren, ließ sich ab und zu auf einem Eckstein nieder und zeichnete mit einem Weidenzweig geistesabwesend den Lehrsatz des Pythagoras vom rechtwinkligen Dreieck in den Staub. Währenddessen aber war dauernd und immer wieder Euklid in seinem Kopf, der unvorstellbare, unbekannte Held seiner Träume.

Dann ließen die Wunder der Algebra sein Herz höher schlagen. Als er erfuhr, daß man an Stelle von Zahlenwerten Buchstaben setzen könne, frohlockte er über diese kluge Entdeckung des menschlichen Gehirns. Einst sagte man noch: »Wenn man zu einer Einheit eine andere Einheit addiert, das Ganze mit zwei multipliziert, so ergibt das das Zweifache der ersten Einheit plus das Zweifache der zweiten Einheit.« Das ist gewiß richtig. Wenn wir die Summe von Drei und Fünf mit Zwei multiplizieren, so erhalten wir als Ergebnis die Summe von Sechs und Zehn. Oder die Summe von Vier und Sechs mal Zwei ergibt Acht plus Zwölf. An Millionen und aber Millionen von Beispielen könnte man das erklären. Die Algebra der Araber jedoch benutzt einfach Buchstaben, die für jeden beliebigen Zahlenwert verwendet werden können, und wozu man früher so viele Werte brauchte, das gibt sie folgendermaßen wieder: 2(a + b) = 2a + 2b. Das ist unerhört klug, zweckdienlich und geistreich. Und dabei ist es erst der Anfang vom Ganzen. In welch riesengroßen, üppigen Urwald führt der Pfad der Algebrabuchstaben, welch überraschende Wunder tun sich vor dem Auge des über die Bogen geneigten Jungen auf! Die Commedia dell'arte hatte ihn nicht so gefesselt, die abwechslungsreichen Geschichten Boccaccios hatte er nicht mit einer so maßlosen Neugierde in sich aufgenommen, wie jetzt die sensationelle Kunde von der Auflösung einer kubischen Gleichung. Denn eine kubische Gleichung hatte bisher niemand lösen können. Luca Pacioli, der große Gelehrte, hatte noch behauptet, daß die Menschheit Gleichungen dritten Grades nie werde lösen können. Scipione del Ferro aber fand die Lösung einer kubischen Gleichung! Wie unendlich erregt mochte er gewesen sein, als die Formel der Lösung vor ihm auf dem Papier stand, als er sich voller Begeisterung bewußt wurde, das durch die Kraft seines Geistes erreicht zu haben! Er hatte die Lösung auch geheimgehalten, wie die berühmten Maler jenes Rezept, nach dem sie ihre Farben aus Staub von Steinen und Pflanzen mit verschiedenen Ölen selbst mischten. Auch del Ferro wollte nicht, daß noch ein anderer außer ihm auf dieser Welt eine kubische Gleichung lösen könne. Das große Geheimnis vertraute er nur seinem Lieblingsschüler an, er ließ ihn aber einen Eid schwören, daß er es niemals jemandem verriete. Und jener hatte das Geheimnis gewahrt. Eine große Schar Gelehrter auf der ganzen Welt quälte sich mit Buchstaben, Gleichungen und komplizierten Experimenten ab: wie mochte das wohl dieser teuflische del Ferro zuwege gebracht haben? Und nach dreißig Jahren kam der stotternde Niccolo Tartaglia von selbst darauf: auch er hatte das Rätsel gelöst. Er konnte die Lösung der Gleichung aufstellen, die Zauberformel, die jedwede kubische Gleichung aus einem Rätsel in ein Kinderspiel verwandelte. Da stahl der geizige Gelehrte Cardano gleich einem Räuber, der den glücklichen Finder eines Edelsteins überfällt, den Schatz Tartaglias, indem er ihm die Lösung der kubischen Gleichung hinterlistig entwendete. Sein Schüler Ferrari konnte dann auch biquadratische Gleichungen lösen.

Andere Studenten begeisterten sich an den Waffentaten alter Helden, sie schwärmten für Leonidas, für Alexander den Großen, für Cäsar. Die Helden seiner Phantasie waren die Gelehrten, die Mathematiker, die mit dem Mysterium der Lehrsätze kämpften, die auf den unerforschten Gebieten der Potenzen siegreich vordrangen und sich ab und zu einen abenteuerlichen tödlichen Kampf lieferten um das goldene Vließ einer neuen Formel. Sein Körper und seine Seele rebellierten gleichermaßen gegen den Willen seines Vaters, ihn Arzt werden zu lassen. Er verabscheute Galen, Hippokrates und alle die anderen, die unvollkommene Wissenschaft vom menschlichen Körper langweilte ihn tödlich. In dieser Wissenschaft war alles unbestimmt und voller Widersprüche, während in der Wissenschaft, die er liebte, alles klar, bestimmt und vollkommen einwandfrei war.

Da trat in sein Leben ein neues Ideal: er begann für die Weisheit des Aristoteles zu schwärmen. Den großen Griechen mußten auch die Kandidaten der medizinischen Fakultät studieren. Aber er hatte sich anfangs wenig um ihn gekümmert. Erst später erweckten die Wunder der Algebra und Geometrie in ihm die Lust zum Studium der Physik. Da entschied er sich endgültig, eher zu sterben als Arzt zu werden. Er verspürte kein Verlangen danach, daß sich ihm der Mensch offenbaren solle; seine Sehnsucht war, daß sich ihm alles andere erschließen möge: das ganze Weltall. Als er las, daß »Raum und Zeit endlos teilbar seien«, wurden ihm vor der Erhabenheit dieses Gedankens die Augen feucht. Größer als Päpste und Könige war in seinen Augen der Mann, der solches zu behaupten wagt, der von der Erde, vom Mittelpunkte des Weltalls kraft seines Geistes sich ins blaueste Blau des Äthers erhebt und das alles erlösende Wort der Wahrheit von dort verkündet, der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Ein solcher Mensch ist fast Gott gleich.

Vor allem studierte er die acht Bücher der Physik des Aristoteles. Ein jeder dachte, er hätte seinen Verstand verloren. Von den Körpern, von der Bewegung, vom Gewicht, vom Wasser, vom Ton, von der Wärme wollte er alles auf einmal wissen und mit seinen eigenen Augen wahrnehmen. Er stand inmitten seines Zimmers und ließ ein und denselben Stein, den er am Fuße des Battistero aufgelesen und in seine Tasche gesteckt hatte, hundertmal nacheinander fallen und hob ihn wieder auf. Er streckte den Arm aus, der Stein fiel polternd zu Boden. Das beobachtete er gespannt. Dann bückte er sich und ließ ihn von einer etwas geringeren Höhe abermals fallen. Leuchtend weiteten sich seine Augen wie bei einem, der Zeuge einer göttlichen Offenbarung wird. Wenn er zwei Gefäße nebeneinander stehen sah, goß er sofort Wasser von einem in das andere, auf alle erdenkliche Art und Weise das Gefäß senkend und hebend, schneller und langsamer bewegend. Seinen Stuhl hängte er an einem Strick auf und schwenkte ihn hin und her, den Wasserkrug stellte er in die Waschschüssel, nachdem er sie bis zum Rande mit Wasser gefüllt hatte, und beschwerte ihn mit Kieselsteinen. Er konnte zwei Gegenstände nicht sehen, ohne daß er sie aneinandergeschlagen hätte, er konnte keinen ruhenden Gegenstand sehen, ohne ihn in Bewegung zu bringen, und bewegliche Gegenstände nicht, ohne sie anzuhalten. Alles stieß er an, an allem klopfte er herum, alles ließ er fallen, er maß jedes Ding, legte es ins Wasser, ließ es wegrollen, setzte eines über das andere. Er benahm sich wie ein Narr. Und er betete außer zu dem Erlöser und den Heiligen der Kirche auch noch zu Aristoteles, wenn er überhaupt als nichtsnutziger Junge Verlangen nach einem Gebet hatte. Andächtig neigte er sein Haupt vor dem geheimnisvollen Gott der Wissenschaft. Aristoteles war die Urweisheit, das Alpha und das Omega, Anfang und Ende der Erkenntnis. Was das menschliche Gehirn einzufangen vermag, das stammt alles von dort, von der schattigen Baumreihe des Apollo-Tempels in Athen, wo Aristoteles einst mit seinen Schülern auf- und abwandelte. Auch heute sind die Manschen aller Jahrhunderte ausschließlich seine Zöglinge. Jede Polemik kann nur von ihm ausgehen und zu ihm zurückkehren. Zum Wissen der Menschheit von den Elementen hatte er gleichermaßen den Grundstein gelegt wie zu dem vom Wachsen des Grases. Über die zweckmäßige Staatsform wußte er ebenso Entscheidendes zu sagen, wie über die Bewegung der Sterne. Wem es beschieden war, geboren zu werden, der kann sich mit seinem Glauben nur der Heiligen Dreifaltigkeit, mit seinem Verstand nur dem Aristoteles zuwenden. Es ist ganz gleich, in welcher Sprache und auf welchem Punkte der Erde debattiert wird, – es genügt, nur einen einzigen der hunderttausend Sätze dieses peripatetischen Genies in die Debatte zu werfen: autos efa. »Er selbst hat es gesagt.« Es ist nicht erst nötig, anzugeben, wer mit diesem »Er« gemeint ist, und es gibt dann keine Debatte mehr.

Bislang hatte er den Aristoteles nur deshalb als Autorität angesehen, die gleich nach Gott kommt, weil seine Lehrer ihm das von Anfang an so gepredigt hatten; in diesem Pisaner Abschnitt seines Lebens erkannte er das aber bewußt, wie die Nonne, der in ihrer Zelle die Mutter Gottes erscheint, ihren Glauben findet. Und da wandte sich sein Blick zu den Sternen.

Auf der Universität zu Pisa war verkündet worden, daß durch eine päpstliche Bulle verfügt sei, den Kalender zu berichtigen, indem zehn Tage des Jahres achtzehnhundertzweiundachtzig zu überspringen seien. Nach dem vierten Oktober, der auf einen Donnerstag fiel, sollte man Freitag früh den fünfzehnten Oktober schreiben. Die Studenten machten sich darüber lustig.

»Ach, bin ich aber hungrig«, sagte der eine während des Mittagessens, »vor zehn Tagen habe ich das letzte Mal Mittag gegessen.«

»Und ich bin schläfrig«, erwiderte der andere, der die ganze Nacht durchgezecht hatte, »seit zehn Tagen habe ich kein Auge mehr zugedrückt.«

Galileo war gerne guter Laune, aber jetzt verstand er keinen Spaß. Schon seit Wochen studierte er den Aristoteles und die anderen Schriften der peripatetischen Wissenschaft, um diese Kalenderangelegenheit einwandfrei begreifen zu können. Sie war auch nicht so schwer zu verstehen. Den Kalender hatte Cäsar das letzte Mal geregelt. Zu Zeiten seiner Herrschaft meinte man, daß ein Jahr genau dreihundertfünfundsechzig Tage und sechs Stunden umfasse. Das aber war ein Fehler, denn das Jähr läuft in einer etwas kürzeren Frist ab: die Differenz beträgt keine vollen zwölf Minuten. Mit Bleistift und Papier ist es genau zu errechnen, daß diese Differenz in hundertachtundzwanzig Jahren einen ganzen Tag ausmacht. Der Kirche hatte dieser Umstand auch schon wegen der Einteilung der Feiertage viel Unannehmlichkeiten bereitet, die Päpste und Synoden befaßten sich immer und immer wieder mit dieser Frage, vermochten sie aber nicht zu bewältigen. Zuletzt überließ dann das Konzil von Trient Papst Gregor diese Aufgabe, er möge sie irgendwie lösen. Seine Gelehrten fanden die Lösung auch. Da die Frühlingsnachtgleiche statt auf den vierundzwanzigsten März in diesem Jahre auf den vierzehnten März fiel, hatte man offenbar diese Verspätung des Julianischen Kalenders einholen und zehn Tage von diesem Jahre einfach streichen müssen. So wurde es dann gewiß, daß im nächsten Jahre die Frühlings-Tages- und -Nachtgleiche wieder auf den vierundzwanzigsten März fallen mußte, wie das einst das Konzil von Nicäa befohlen hatte. Denn das Konzil befiehlt zugleich dem Frühling, dem Tag und auch die Nacht. Und damit von Stund an kein Fehler mehr entstehe, befahl der Papst, daß von jetzt ab von jeder Jahrhundertwende nur jene Jahre Schaltjahre sein sollten, die durch vierhundert teilbar sind, so zum Beispiel sollte das Jahr sechzehnhundert ein Schaltjahr sein, siebzehnhundert und achtzehnhundert aber nicht. So stimmte die Sache zwar auch noch nicht ganz genau; denn in viertausend Jahren mußte sich wieder eine Differenz von einem Tag ergeben. Aber das mochte dann der derzeitige Heilige Vater nach seinem Belieben erledigen.

Als die Studenten von Pisa in den Oktobertagen fünfzehnhundertzweiundachtzig noch darüber stritten, war Galileo längst schon viel weiter. Er war bei den Sternen angelangt; die Sonne hatte es ihm angetan, deren strahlender Ball sich seit Bestehen der Bibel um die Erde bewegt, der Mond, der hoch oben an der Himmelsdecke des Weltalls schwimmt. Die Gestirne bewegten seine Seele, die Planeten und die ewigen Fixsterne und endlich die geheimnisvolle Milchstraße. Er vertiefte sich in die Zeichen des Tierkreises, in die wundersame Sphäre des Krebses, des Stieres, des Steinbocks, des Wassermanns und in die Geheimnisse ihres Wirkens. Tagsüber verkroch er sich in seine Bücher, des Nachts erforschte er unermüdlich den Himmel. Wenn Nebel aufzog, wurde er schlechtgelaunt und ungeduldig, weil er am bewölkten Himmel die Sterne nicht beobachten konnte. Abermals eine neue, wiederum von tausend Wundern erfüllte Welt entfaltete sich vor ihm, eine Welt, deren genaues Bild der gewaltige Aristoteles in seinen Schriften zusammengefaßt hatte. Er hatte auch die Sterne des Himmels in den Kreis seiner Betrachtungen einbezogen und mit der Autorität des weisesten Gehirns der ganzen Welt verbot er, daß irgend jemand diese sternbedeckte Himmelswölbung anders sehe: soundso viel Sterne sind dort oben, und da und da ist ihr Platz, es gibt nichts weiter. Galileo Galileis Herz krampfte sich zusammen. Warum war er nicht zweitausend Jahre früher auf die Welt gekommen, dann hätte er als erster die Sternkarte aufzeichnen können! Über alle Maßen hätte er sich nach diesem Ruhm gesehnt. So aber konnte er nur, sein Haupt vor dem großen Gelehrten neigend, zur Kenntnis nehmen, daß die mächtige Arbeit bereits getan und ihm, dem späten, jungen Menschen in seinem Wissensdurst nichts mehr übriggeblieben war als zu lernen, was ihm ein anderer bereits vorgeschrieben hatte.

Da traten zwei Wendungen in sein Leben, beide schicksalhaft. Es brach zwischen ihm und seinem Vater und zugleich auch zwischen ihm und Aristoteles eine tiefe, seelische Kluft auf. Beide Ereignisse waren furchtbar.

Sein Vater wollte sich um keinen Preis damit einverstanden erklären, daß der Sohn den ärztlichen Beruf aufgebe. Als der Vater den Sohn in Pisa besuchte, teilte ihm der Student seinen Entschluß mit. Anfangs lachte ihn der Vater aus, dann aber, als er merkte, wie ernst es dem Sohn war, erschrak er, versuchte mit der befehlenden Stimme der väterlichen Gewalt auf ihn einzuwirken, und als auch das nicht fruchtete, verlegte er sich aufs Bitten. Sie saßen in einem Gasthaus beisammen und tranken. Der Chianti löste dem Vater die Zunge.

»Du bist alt genug, ich kann mit dir also über diese Dinge reden. Aber nein … doch nicht … was ich zu sagen hätte …«

»Sagt es nur, mein gnädiger Herr Vater, ich weiß sowieso, daß Ihr von meiner Mutter sprechen wollt.«

»Von ihr, ja«, nickte der Vater ein wenig verstört und errötend, »es schickt sich vielleicht nicht, aber ich rede doch. Sie ist eine sehr gute Frau, aber ihre Gemütsart ist fürchterlich. Du weißt vielleicht noch nicht …«

»Natürlich weiß ich. Wir Kinder haben, solange wir zu Hause waren, im geheimen viel darüber gesprochen. Unsere gnädige Mutter, der ich die gebührende Achtung niemals verweigern werde … ich muß es aufrichtig sagen, ist manchmal unerträglich. Als ich von zu Hause hierher nach Pisa kam, verspürte ich eine unsagbare Freude, daß ich aus diesem entsetzlichen Heim flüchten konnte. Tragt mir das bitte nicht nach, gnädigster Vater, aber wir Kinder unter uns haben immer und immer wieder davon gesprochen. Als ich nach Vallombrosa ging, waren sie noch klein, die Geschwister, damals konnten wir von solchen Dingen noch nicht reden, heute aber besprechen wir auch schon diese Sachen untereinander. Sie haben mich aus ganzem Herzen beneidet, daß ich von zu Hause fort kam.«

»So. Das ist ja sehr erbaulich.«

»Es soll Euch nicht wehe tun. Ihr, gnädigster Vater, seid ein guter und lieber Mensch. Bis an das Ende der Welt würden wir Euch folgen. Aber sie –«

Der Vater, ein armer, mit Sorgen kämpfender Mann, Sproß eines Florentiner Adelsgeschlechtes und heute nur ein notleidender Tuchhändler, tat einen tiefen Zug aus dem Becher und nickte.

»Sie kann nichts dafür, die Arme, glaube es mir. Wie einer, der blond ist, auch nichts dafür kann, daß er blond auf die Welt kam. Ihr verlieh der Allmächtige nun einmal eine solche Natur. Sicherlich nur, weil er uns zu Sanftmut und Demut erziehen und uns so den Weg zu unserem Seelenheil erleichtern will. Aber manchmal leide ich doch zuviel! Worin soll ich meine Freude finden, sage es mir? Außer in der Musik, die mir heilig ist, doch nur einzig und allein bei meinen Kindern. Du bist mein Erstgeborener, in dich setze ich meine ganze Hoffnung. Deine Schwestern heiraten und werden in fremden Familien die Frauen fremder Männer. Aber ihr beide, du und dein kleiner Bruder Michelagnolo, führt meinen Namen fort, diesen stolzen adeligen Namen, der ohne meine Schuld in die erbärmlichste Armut gesunken ist. Michelagnolo ist ein mäßig begabter Junge, er wird nie etwas anderes können als musizieren …«

»Hört, Vater, vielleicht kann er …«

»Nein, unterbrich mich gar nicht erst, das weißt du ebensogut wie ich. Er wird Musiker werden und kann froh sein, wenn er später einmal sein tägliches Brot verdient. Du aber bist ganz anders. Seit ich dich zum Lernen anhielt, sagt jeder deiner Meister, daß er ein so kluges Kind wie dich nie unter der Hand gehabt habe. Warum nützest du das also nicht, um deinem armen, vielgeplagten Vater Stütze, Stolz und Freude für sein Alter zu werden?«

Der Vater hatte zuvor viel getrunken, seine Zunge bewältigte auch die schweren toskanischen Sätze mit mehr Mühe als sonst, aber betrunken war er keineswegs, und man konnte ihm ansehen, daß er aufrichtig sprach und sein ganzes Herz vor seinem Sohne öffnete. In seinem Leben zum ersten Male. Seine Hand langte über den Tisch und faßte nach der Hand des halbwüchsigen Sohnes. Zunächst konnte Galileo nichts erwidern, da drei Soldaten in das Wirtshaus eintraten. Sie benahmen sich sehr laut, stießen die Stühle mit den Füßen hin und her und klopften mit dem Degengriff, Bedienung heischend, auf den Tisch. Der Padrone brachte schnell Wein herbei und beschwichtigte sie. Nun konnte der Sohn ungestört fortfahren.

»Mein gnädigster Vater, ich möchte Euch etwas fragen. Warum habt Ihr unsere Mutter geheiratet?«

»Weil ich in sie verliebt war.«

»Eine andere hättet Ihr nicht heiraten können?«

»Nein, obwohl man mir eine Reiche anbot. Für mich gab es damals nur die Jungfer Ammannati. Ich habe mich um sie bemüht, wie ein Schlafwandler. Denn du mußt wissen, Galileo, daß deine edle Mutter ein wunderschönes Mädchen war …«

»Sicherlich war sie das, man kann es ihr ja heute noch ansehen. Mit einem Wort also, Ihr habt niemand anderen heiraten können, weil Ihr in sie verliebt wart. Seht Ihr, Vater, deshalb habe ich so gefragt. Ich kann auch keine andere Laufbahn einschlagen als die philosophische, weil ich in sie verliebt bin. Umsonst bietet man mir eine andere an, eine reiche, ich will nur sie haben, ich liebe sie wie eine Frau.«

»Wie eine Frau?« Der Vater sah ihn ein wenig ungläubig an.

»Ja, genau so. Weil ich achtzehn Jahre alt bin. Andere haben zu dieser Zeit schon Heiratsgedanken, wenn sie dazu in der Lage sind. Wenn sie dazu nicht in der Lage sind, bringen sie zumindest auf ihrer Laute in der Nacht unter irgendeinem Fenster irgendwem ein Ständchen. Sie schreiben die Sonette Petrarcas ab oder hüten eine in Seide gewickelte Locke. Meinem Leben ist so etwas ferngeblieben. Ich war noch in keine Frau verliebt und kann es mir auch gar nicht vorstellen, daß ich es einmal sein könnte. Ich bin nun einmal so beschaffen, mein gnädigster Herr Vater. Mein Verstand und mein Herz sind eben so eingerichtet, ich kann nichts dafür. Was meinen Freunden eine Bianca oder eine Lucia bedeutet, das ist für mich meine Wissenschaft. Ich bin imstande zu erröten, wenn von ihr die Rede ist, ich bekomme Herzklopfen, wenn ich daran denke, daß ich mich bald an den Tisch setzen und Parallaxen errechnen kann.«

»Parallaxen? Was ist das?«

»Wie soll ich Euch das erklären? Ihr habt sicherlich schon einmal in einem schnellfahrenden Wagen gesessen, nicht wahr?«

»Ja. Und?«

»Habt Ihr aber schon beobachtet, daß die entfernten Berge weit hinter den Bäumen, am Rande des Horizontes, nicht in einer der Fahrtrichtung entgegengesetzten Richtung laufen, auch nicht etwa unbeweglich dastehen, sondern daß es so scheint, als …«

»Ja, ja«, unterbrach ihn der Vater, »als liefen sie mit uns in einer Richtung. Aber die Erscheinung ist doch ganz natürlich.«

Der Junge warf seinem Vater einen freudig überraschten Blick zu. Das hatte er von seinem Vater nicht zu hören gehofft, dem stillen Tuchhändler, der mit ihm über Wissenschaften nie gesprochen hatte. Der Vater aber reagierte auf diese Überraschung mit einem klugen und ein wenig traurigen Lächeln.

»Ich sehe, du wunderst dich über mich. Du hättest aber einmal darüber nachdenken müssen, von wem du deinen Verstand ererbt hast. Von deiner Mutter sicherlich nicht, sie ist nicht klug, nur unbändig stark und heftig, wie bei einem Erdbeben die Erde selbst. Von ihr hast du die Kraft und die Heftigkeit, die mir nie zu eigen war. Deine Begabung aber hast du von mir, Galileo. Was du zwar schon nicht mehr weißt, was aber manche auf dieser Welt noch wissen: ich war ein zu vielem vorbestimmtes Genie und habe Schiffbruch erlitten. Ich hätte es weit bringen müssen. Auf deinem Gesicht sehe ich die Frage stehen, worin wohl. In der Musik.«

Der Vater schwieg und der Sohn wagte nicht, ihn anzusehen. Wie einer, der sich im Walde nicht zu rühren wagt, um den auf einen Ast geflogenen seltenen Vogel nicht zu verscheuchen. Er fühlte, daß sein Vater im Begriff war, sein ganzes Herz auszuschütten, er empfand aber auch, daß er vor einem einzigen neugierigen Wort oder einer unbedachten Bewegung sofort zurückschrecken würde. Deshalb holte er seine langstielige Tonpfeife hervor und begann sie mit großem Eifer zu stopfen. Und wartete. Der Vater fuhr in der Tat fort.

»Ich bin ein ganz großes Talent, mein Sohn, das sollst du von deinem Vater wissen. Für mich ist die Musik nicht dasselbe wie für jene, die eine oder zwei gefällige Serenaden vorspielen können, um ihren Damen zu gefallen. Ich beherrsche sie als Wissenschaft, wie ein System, wie eine komplizierte Weisheit. Und du sollst auch wissen, daß ich ein großes Werk über die Musik schreibe, ein Buch voll neuer Gedanken, das mit Gottes Hilfe auch noch im Druck erscheinen wird. Ich rede nicht gerne von meinen großen Gedanken, weil ich dann das Gefühl habe, daß ich sie durch vorzeitiges Aussprechen durcheinanderbringe. Aber dir will ich noch etwas sagen. Überlege einmal, ob ich nicht recht habe, wenn ich behaupte, daß die Wissenschaft von der Musik und die Wissenschaft von der Mathematik den gleichen geistigen Ursprung haben. Die Mathematik war immer meine starke Seite. Es ist leicht, das zu verstehen und natürlich zu finden: die musikalische wie die mathematische Begabung beruht auf der Fähigkeit, das Verhältnis der Harmonien zueinander, ihre regelmäßigen Abstände und Proportionen zu erkennen. Verstehst du mich?«

»Vollkommen«, erwiderte der Junge, der gerade Feuer für seine Pfeife schlug und erregt den Rauch vor sich hinpaffte.

»Siehst du, deine Begabung bin also ich. Wenn ich dich ansehe, erkenne ich meine eigenen Fähigkeiten in dir. Meine einstige Sehnsucht, nur der Musik und der Philosophie zu leben, dem Schönen und Weisen, das mich ergötzt. Aber ich tat es nicht, mein Sohn. Ich stellte mich in den Laden, um das Brot für meine Familie zu verdienen und nur ab und zu heimlich meiner alten Sehnsucht nachzuträumen. Ich leugne es nicht, anfangs tat es sehr weh. Aber der Mensch findet sich mit allem ab. Ich sehe ein, daß es vielleicht auch gar nicht geglückt wäre: ich bin ein sanftmütiger Mensch, nicht stark genug, ich füge mich nur allzu leicht. Aber in dir steckt die Kraft deiner Mutter. Ich sehe es an deinen Augen, die die ihren sind, an deiner Hand, wie du sie hier auf den Tisch neben den Becher legst, an deinen Schläfen, an deinem Kinn. Du kannst auch dich selbst bezwingen, wenn du es willst. Sei klug, Galileo, du mußt erfolgreich und ein reicher Mann werden, und neben deiner Arbeit kannst du dann treiben, wozu du Lust hast. Ich schreibe ja auch mein Buch über die Musik.«

Der Junge schüttelte den Kopf:

»Ich kann kein Arzt werden. Was Ihr da sagt, gnädigster Herr Vater, spricht alles gegen Euch und für mich. Ihr habt also die Begabung, nicht wahr, aber keine Kraft. Ich aber habe die Begabung und die Kraft. Warum soll ich nicht das werden, wonach ich mich sehne? Ich werde ein Gelehrter und erhalte einen Lehrstuhl. Davon kann man leben. Und ich werde besser damit auskommen als ein anderer. Weil ich als Gelehrter berühmter sein werde als jeder andere. Seht, da ist zum Beispiel diese Sache, von der wir vorhin sprachen, die Parallaxe …«

»Laß gut sein, mein Sohn, wir halten nicht mehr dort. Wenn ich auch nie erfahren soll, was diese Parallaxe ist, – das, wo wir jetzt angelangt sind, ist viel wichtiger. Wie wirst du ein berühmter Gelehrter? Das dauert lange und kostet viel Geld. Es ist traurig, was ich dazu sagen muß, vielleicht das Traurigste, was ein Vater seinem Sohn überhaupt sagen kann: das steht nicht in meiner Macht.«

Der Junge blickte erschrocken auf. Daran hatte er bisher noch nie gedacht.

»Es steht nicht in Eurer Macht?« fragte er, die Worte verständnislos wiederholend.

»Nein, mein Sohn. Das hast du dir natürlich noch nie überlegt. Deine Eltern haben für dich gezahlt und nie mit dir darüber gesprochen. Aber jetzt müssen wir einmal davon sprechen. Wir sind sehr arm, mein Sohn, das Geschäft geht von Tag zu Tag schlechter und es besteht auch gar keine Aussicht, daß es sich bessern wird. Die Weber verlangen immer mehr, die Käufer können immer weniger zahlen. Ich muß fortwährend alles billiger verkaufen, was ich viel teurer wieder einkaufen muß. Bis du dein Doktordiplom erhältst, werde ich vielleicht noch mit großer Kraftanstrengung für dich sorgen können, aber auch nur so, daß ich das an deinen Geschwistern wieder einspare. Wie soll ich es abwarten können, bis du ein berühmter Gelehrter der Mathematik oder Physik bist? Das ist unmöglich!«

Eine tiefe Stille entstand. Sie tranken. Nach einer langen Pause wiederholte der Vater noch einmal, ruhiger, aber trotzdem nicht weniger fest:

»Das ist unmöglich!«

Und abermals schwiegen sie eine Weile. Dann begann der Sohn:

»Eher sterbe ich, als daß ich Arzt werde.«

»Leicht zu sagen, daß du eher stirbst. Wie soll ich dich ernähren können, wenn es unmöglich ist?«

»Hier an der Universität studieren zahlreiche Stipendiaten des Herrscherhauses. Warum könnte ich nicht auch solch ein Medici-Stipendium erhalten? Ihr, gnädigster Vater, habt eine ganze Menge von Bekannten in Florenz. Jedermann liebt und unterstützt Euch. Vielleicht könntet Ihr das doch erreichen beim Hofe? Man brauchte nur Ostilio Ricci, den Erzieher des Herzogs zu fragen: der weiß, wer ich bin und was aus mir werden kann. Wenn wir dieses Stipendium bekommen, könntet Ihr mich getrost meinem Schicksal überlassen.«

Flehend sah er den Vater an, dessen vom Wein immer unsteter werdender Blick mit einem Male aufleuchtete:

»Was du da sagst, ist gar kein übler Gedanke.«

Heftig ergriff der Junge die Hand des Vaters, sogar seinen Stuhl rückte er näher zu ihm heran, um ihn aus unmittelbarer Nähe überreden zu können.

»Ich flehe Euch an, versucht das, unternehmt alles, was möglich ist. Ich kann Euch meine Dankbarkeit nur in einer Form erweisen: ich verspreche, daß … daß … daß ich ein weltberühmter, großer Gelehrter werde.«

»Du bist ein lieber Bursche«, sagte der Vater, vom Weingenuß weichgestimmt.

Ungestüm und leidenschaftlich umarmte Galileo seinen Vater. Sie küßten einander. Die heftige Bewegung des einen riß den Weinkrug um. Verlegen griffen sie beide danach und bemühten sich, mit sorgfältiger Körperhaltung vor sich selbst und voreinander zu verheimlichen, daß sie schon stark berauscht waren. Sie hatten aber auch schon recht viel getrunken, und wie es den Berauschten zu gehen pflegt, verspürten sie eine himmelstürmende Anbetung füreinander, sie streichelten sich gegenseitig die Hände. Aus allen beiden strömte förmlich der Redefluß, eine heiße Zuversicht hatte sie ergriffen und alsbald wußte keiner mehr, was er redete. Und erst recht wußten sie nicht mehr, wann und wie sie aus dem Gasthaus fortgekommen waren.

Am anderen Tage war der Vater wortkarg und verschämt. Nur schwer fanden sie den Faden ihrer nächtlichen Unterhaltung wieder, weil keiner mehr wußte, welches der nüchterne Punkt war, wo sie aufgehört hatten. Der Wein hatte auch viel Geld gekostet und dem Vater erwuchsen peinliche Sorgen. Irgendwie gelang es ihnen aber trotzdem, den nächtlichen Gedanken des Stipendiums zu neuem Leben zu entfachen, und der Vater reiste in dem Gefühl ab, daß er sich die Entscheidung über den Beruf seines Sohnes noch vorbehalten dürfe.

Zu dieser Zeit war es, daß an der Universität zu Pisa ein Student namens Rossi auftauchte. Er kam aus Padua, wo er in irgendeine Liebesangelegenheit verwickelt war und jetzt davor zitterte, daß ihn der Bruder des verführten Mädchens ermorden könne. Er wollte Arzt werden und konnte die Mathematik nicht ausstehen. Galileo machte seine Bekanntschaft im Wandelgang der Universität. Sie sprachen über Padua und Rossi konnte sein Mißgeschick, daß er von dort hatte wegmüssen, nicht genug beklagen. Er war des Lobes voll über den Bo.

»Was ist der Bo?« erkundigte sich Galileo verwundert.

»So nennen wir die Universität. Früher stand nämlich dort, wo heute die Universität steht, oder in ihrer unmittelbaren Nähe ein Wirtshaus mit dem Aushängeschild: › Al bove.‹ Zum Ochsen. Und dieses Wort blieb dann auch an der Universität hängen. Die Professoren und die Studenten, aber auch die Einwohner der Stadt nennen sie nur Bo. Universität sagt keiner. Mein Gott, dieser liebe Bo …«

Beinahe bekam der neue Student Tränen in die Augen. Er erzählte von den akademischen Gepflogenheiten, von den zünftigen Schlägereien mit den Studenten der Jesuitenschule, von den Wundern des nahen Venedig. Dabei ließ er die Kolleghefte fallen, die er unter dem Arm trug. Als er sie gelangweilt auflas, erblickte Galileo auf den auseinandergefallenen Blättern physikalische Formeln.

»Ich habe mir in den Vorlesungen Molettis Aufzeichnungen gemacht. Aber ich brauche sie gar nicht mehr.«

»Wer ist dieser Moletti?«

»Das weißt du nicht? Der Paduaner Mathematiker. Er selbst ist zwar ein berühmter Mann, aber die Mathematik kann ich nicht ausstehen, mich interessieren nur die Krankheiten.«

Schon war Galileo dabei, die Aufzeichnungen zu lesen. Er überflog nur einzelne wenige Sätze, aber auch die zogen ihn bereits in ihren Bann.

»Würdest du sie mir nicht leihen?«

»Nimm sie, mein Freund, du brauchst sie mir auch gar nicht erst wieder zurückzugeben.«

Er nahm sie mit und las sie schon auf dem Nachhausewege. Moletti, der Paduaner Mathematiker, behauptete erschreckende Sachen in diesen Aufzeichnungen: er griff den heiligen Aristoteles an. Er erklärte, Aristoteles sei zwar ein großer Gelehrter gewesen, man dürfe aber nicht alles blindlings glauben, was er behauptete. Sehr oft hätte er nicht recht gehabt. Seine mechanischen Leitsätze seien zum Beispiel voller Irrtümer.

Der im Gehen lesende Student mußte vor Verwunderung und Erschütterung stehenbleiben. Als ob er gelesen hätte, daß Gott nicht Gott sei. An einer Ecke blieb er abermals stehen und während er die vollgeschriebenen Seiten vor sich hielt, sah er sie nicht an, sondern starrte in die entsetzlich große Leere, die in seiner Seele entstand. Er bewegte den Kopf hin und her, las weiter und setzte seinen Weg langsam fort. Zu Hause ließ er sich an seinem Tisch nieder und schüttelte wieder und immer wieder den Kopf. Er verspürte einen unbändigen Zorn in sich, daß jemand sein Idol derartig zu schmähen wagte. Aber mit unlöschbarer Gier las er die Aufzeichnungen weiter. Als er geendet hatte, ging er wieder auf die Straße hinunter. Nicht um spazieren zu gehen, sondern um zu laufen. Der innere Aufruhr jagte ihn wie besessen.

»Aristoteles behauptet, daß die Fallgeschwindigkeit der Gegenstände nach ihrem Gewicht verschieden, die Fallgeschwindigkeit eines Stückes Blei also größer als die eines Stückes Holz sei. Das ist nicht richtig. Die Fallgeschwindigkeit des Blei- und des Holzstückes ist völlig die gleiche.«

Diese wenigen Zeilen vor allem beschäftigten seine Phantasie. Er gab sich Mühe, sich ein Stück Blei und ein Stück Holz im Fallen vorzustellen und beobachtete diesen Vorgang in seiner Vorstellung. Er beobachtete ganz scharf: welches von beiden fiel schneller? Aber so kam er nicht vorwärts, dieses sich nur in seiner Vorstellung abspielende Experiment war nicht genau genug. Er versuchte sich vorzustellen, daß das Blei schneller fiele oder auch daß beide gleich schnell fielen. Er wog ab, welche Variation seiner Vorstellung dem Urteil seines Verstandes am nächsten käme. Er vermochte es nicht zu entscheiden. Zehnmal begann er von neuem, es ging nicht.

Zornig schüttelte er den Kopf, als wenn er sein nicht ganz einwandfrei arbeitendes Gehirn aufrütteln wollte. Noch einmal von vorn. Was fällt schneller? Sein Verstand konnte es nicht beantworten. Unwillig blickte er um sich, und schon kramte er auch in seinen Taschen. Hastig zog er seinen Wohnungsschlüssel hervor. Mitten auf der Piazza dei Cavalieri blieb er stehen, nahm den Schlüssel und betrachtete ihn unschlüssig und ratlos. Dann sah er sich um, ob er auf der Erde nicht irgendwo ein Stück Holz finden konnte, das die gleiche Form hatte. Er schalt sich selbst wegen dieses himmelschreienden Unsinns, dann zuckte er aber trotzig die Achseln und wandte sich an das Weltall: ganz gleichgültig, durch welches Wunder, aber irgendwie mußte sich ein schüsselförmiges Holzstück finden, weil er die Wahrheit unbedingt, und zwar jetzt gleich, erforschen mußte! Schwerfällig lief er weiter, von seinen mit sich ringenden Gedanken gejagt. Zwei gleiche Gegenstände: der eine aus Blei, der andere aus Holz! Die Menschen sahen ihn erstaunt an, der langbeinige junge Mann schien ein Narr zu sein, wie er, einen Schlüssel vor sich herhaltend, mit verstörtem Gesicht ziellos dahinjagte.

Er rannte nach Hause. Dort hatte er eine Kiste mit allerlei Kleinkram, einen Eisenring, eine Schraube, eine Holzkugel, eine Feile, einen Strick, einen Messingkegel unbekannter Herkunft, eine Glasglocke, Nägel und unzählige andere derartige Dinge. Stundenlang konnte er sich mit ihnen beschäftigen, er klopfte, feilte, setzte winzige Modelle von neuartigen Maschinen zusammen, oder hing in seiner spielerischen Laune dem Problem des Perpetuum mobile nach. Aus diesem Reich also suchte er sich zwei ungefähr gleichgroße Gegenstände aus, eine Eisenwalze und einen Holzwürfel. Er unterdrückte einen Fluch und schalt sich, warum er aufgesprungen und auf die Straße gerannt war; er hätte mit dem Suchen gleich hier beginnen müssen. Endlich nahm er die beiden Gegenstände und ließ sie aus der gestreckten Hand gleichzeitig fallen. Ob die beiden Gegenstände aber zugleich auf dem Boden aufschlugen, konnte er nicht feststellen; er hatte sie aus viel zu geringer Höhe fallen lassen. Da stellte er einen Stuhl an den Tisch, kletterte hoch und ließ sie von oben herunterfallen. Die Geschwindigkeit des Fallens konnte er abermals nicht beobachten. Er sprang vom Tisch herunter, las die weggerollten Gegenstände auf, kletterte wieder auf den Tisch und ließ sie nochmals fallen. Aber auch dieses Experiment war unzulänglich und nicht nachzuprüfen. Trotzdem wiederholte er es an die fünfmal, richtete sich auf und beugte sich nieder, lief hin und her, sprang herunter, stieg wieder hinauf und beobachtete die Aufschläge. Endlich setzte er sich an den Tisch und vertiefte sich mit besessenem Eifer in seine Gedanken.

In dieser Nacht konnte er kaum schlafen. Am anderen Tage verbrachte er den ganzen Vormittag damit, daß er um das Bottonie-Haus herumschlich, bis er endlich von dessen Mauer eine Steinkugel entwenden konnte. Mit dieser Steinkugel ging er zu einem Tischler und bestellte eine ebenso große Holzkugel. Schon am nächsten Tage war die Holzkugel fertig. Da rannte er in die Universität und ließ vom offenen Gang des ersten Stockes die beiden Kugeln auf die Steinfliesen des Hofes fallen. Das Experiment gelang aber wieder nicht. Er war nicht imstande, die beiden Kugeln auf einmal fallen zu lassen, konnte auch nicht wahrnehmen, ob die Aufschläge gleichzeitig erfolgten und welcher Ton zu welchem Gegenstand gehörte. Inzwischen hatten ihn auch grinsende und ihn neckende Studenten umzingelt, die er am liebsten erwürgt hätte, und endlich kam der Pedell selbst, der einen Mordslärm schlug, daß »der Student Galilei die Steinfliesen des Hofes sprengte«.

Er aber experimentierte verstockt weiter, wie einer, in dem sich ein Dämon festgesetzt hat und ihn nicht wieder zur Ruhe kommen läßt. Zwischendurch las er immer wieder von neuem in den Moletti-Aufzeichnungen. Qualvoll grübelte er und manchmal stöhnte er in seiner Einsamkeit laut auf. Bis zum letzten wollte er den Aristoteles gegen die Zweifel verteidigen, aber entsetzt mußte er sehen, daß die Zweifel gegen seinen Willen zunahmen und immer stärker wurden.

Als er mit seinen kindlichen Versuchen nicht zum Ziele kam, versuchte er, die Verteidigung seines Idols gegen die Zweifel in Büchern zu finden. Zu Cardano, dem Mathematiker, hatte er das meiste Vertrauen. Mit ihm begann er und mit dessen Hinweisen ging er zu anderen Büchern über. Während seine Studiengenossen im Hörsaal saßen oder sich in fröhlichem Leichtsinn die Zeit mit Kollegschwänzen vertrieben und hinter den Mädchen her waren, las er ununterbrochen. Nach Cardano nahm er Pietro Pomponazzi vor. Dann griff er zu den Büchern Nizzolios, Patrizis und als er bei den Werken Telesios angelangt war, sah er erschüttert, daß sie alle den großen Aristoteles mit unzähligen Fragen bestürmen und zwischen den Zeilen zur Verantwortung ziehen. Diese Welt der Wissenschaft war einem königlichen Hofe gleich, wo über die Sünden des Herrschers allerlei unausgesprochene Fabeln im Umlauf waren; jeder scheute sich zwar, sie auszusprechen, aber ein jeder spielte darauf an. Den mißtrauischen und aufrührerischen Höflingen standen jedoch die verstockten Getreuen des Hofes gegenüber, die Peripatetiker, die jeden Buchstaben des Königs wie die Heilige Schrift und jede schüchterne Frage bereits als Majestätsbeleidigung werteten. Je länger und je mehr er las, um so klarer sah er diesen gespannten Gegensatz am Hofe der aristotelischen Wissenschaft und fühlte, daß auch er sich nunmehr einer Partei anschließen mußte, entweder den Blindgläubigen, oder den unterwürfig Zweifelnden. Am meisten litt er darunter, daß er niemanden hatte, den er um Rat oder Führung angehen konnte. Seine Studiengenossen liebten ihn nicht, weil er es sich nicht abgewöhnen konnte, immerfort zu streiten, er debattierte leidenschaftlich und gewalttätig, ungeduldig und aufbrausend, und er mochte wiederum seine Kollegen nicht, die ihn verlachten und sich für ganz andere Sachen interessierten als er. Unter den Professoren war keiner, dem er sich nach Herzenslust hätte erschließen können, weil die Mathematik und die Physik in Pisa keinen Lehrstuhl hatten. Oft dachte er seufzend an Padua, wo ihm dieser Moletti auf etliche Fragen Antwort hätte erteilen können, oder an Bologna, wo der berühmte Cataldi Mathematik lehrte. Hier in Pisa war der Mediziner Cesalpino sein Professor; dessen Zuneigung besaß er aber nicht. Die Universitätsprofessoren pflegen ohnehin den Studenten, der ihre Vorlesungen versäumt, nicht besonders zu schätzen, weniger noch jenen, der seinen Widerwillen über das Vorgetragene offen zur Schau trägt, erst recht aber nicht den Studenten, der, wenn er schon einmal in einer Vorlesung zu erscheinen geruht, unangenehme Fragen stellt, sich mit der Antwort nicht begnügt und kühn eine Debatte vom Zaune bricht. Und noch dazu eine unangenehm scharfsinnige, den Gegner an die Wand drückende Debatte. Der hochehrwürdige Professor Cesalpino konnte den Medizinstudenten Galilei nicht ausstehen. Der Student gewöhnte es sich ab, seinen Professor um Rat zu fragen. So blieb er allein in seiner Ratlosigkeit: sollte er nun an Aristoteles glauben mit dem kirchenstrengen Glauben der Peripatetiker oder sollte er es wagen, an ihm zu zweifeln? Und wenn er Zweifel hegte, wem sollte er dann glauben und wo sollte er dann die Wahrheit suchen?

Gerade als ihn die Zweifel am heftigsten bestürmten, besuchte ihn abermals sein Vater. Er kam mit düsterem Gesicht an und brachte eine schlechte Nachricht: das Hofmarschallamt hatte das Stipendiumsgesuch abgewiesen. Zwar wäre im Medici-Internat, wo vierzig Studenten aus Pisa ihre Studien auf Kosten des Hofes betrieben, noch Platz gewesen, aber auf das Gesuch sei trotzdem ein ablehnender Bescheid erfolgt, weil die Professoren es nicht unterstützt hätten. Umsonst hatte Ostilio Ricci, der herzogliche Erzieher, selbst vermittelt, gegen die Vorschriften war auch das Hofmarschallamt machtlos. Die Professoren stellten Galileo Galilei als nachlässigen, die Vorlesungen versäumenden, streitsüchtigen und widerspruchslustigen Schüler hin und bedauerten, ihn für ein Stipendium nicht empfehlen zu können. Es gab genug andere Studenten, die die Vorlesungen pünktlich besuchten und der Meinung ihrer Professoren blind folgten. Sie erhielten das Stipendium mit freier Wohnung, voller Verpflegung, – und konnten in vollkommener Sorglosigkeit ihren Studien leben. Er nicht.

Abermals saßen Vater und Sohn beisammen. Diesmal nicht nachts im Wirtshaus, nicht in der zungelösenden Stimmung des Chianti, sondern an einem regnerischen Wintervormittag, fröstelnd, düster, unlustig.

»Ich will dir nicht einmal Vorwürfe machen«, sagte der Vater und gab sich Mühe, den Blick seines Sohnes zu meiden, »ich würde es ja auch vergeblich tun, es würde kaum fruchten und dich nicht bessern. Ich sage dir nur einfach die Wahrheit. Du bist keine Rotznase mehr, du kannst unsere Lage selbst beurteilen. Das Geschäft geht immer schlechter, und ich breche unter der Last der Sorgen fast zusammen. Wenn ich nur daran denke, wie ich deine Schwestern verheiraten soll, bleibt mir fast der Verstand stehen. Wenn ich an dich denke, krampft sich mein Herz vor Enttäuschung zusammen. In deinem Alter habe ich schon Geld verdient, du aber lebst sorglos in den Tag hinein und frißt deinen Geschwistern weg, was noch übrig ist …«

»Ich lebe nicht sorglos in den Tag hinein. Ich studiere, ich quäle mich, ich arbeite, ich suche die Wahrheit.«

»Das ist alles sehr schön. Suche aber die Wahrheit nicht auf Kosten deiner Geschwister, die ich ernähren muß. Ich ersuche dich jetzt zum letzten Male, geh' ernstlich an den ärztlichen Beruf heran. Bisher hast du die Zeit vergeudet. Wenn du aber jetzt mit übermenschlichem Fleiß arbeitest, kannst du das Versäumte noch einholen; den Verstand hättest du ja dazu, wenn du ihn nur klug anwenden würdest.«

»Arzt soll ich werden?«

»So ist es, werde Arzt. Das ist der einzige Beruf, bei dem du schnell und mit jungen Jahren zu einem guten Einkommen gelangen kannst. Du bist der Älteste unter deinen Geschwistern, ich aber bin kränklich. Wie willst du die auf dich hereinbrechenden Pflichten bewältigen, wenn ich einmal nicht mehr bin und du das Haupt der Familie wirst?«

»Dann bin ich längst ein berühmter Gelehrter. Und an Euren Tod möchte ich im übrigen nicht einmal denken.«

»Ein berühmter Gelehrter wirst du werden?« winkte der Vater ab, »darauf gebe ich dir gar nicht erst Antwort. Aber es hat auch nicht den geringsten Zweck, sich hier herumzustreiten. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, und das war mein letztes Wort. Ich kehre jetzt nach Hause, nach Florenz zurück und lasse dich hier. Zu den Ferien kommst du entweder so nach Hause, daß du alles eingeholt hast und bald Arzt werden kannst, oder du wirst zu Hause Stoff verkaufen. Wenn du auch das nicht tust, ziehe ich meine Hand von dir. Geh' unter die Söldner, werde Soldat oder geh' auf die venezianischen Galeeren, das kannst du halten wie du willst, ich kümmere mich dann nicht mehr um dich.«

Galileo verlegte sich aufs Bitten.

»Mein gnädigster Herr Vater, denkt doch daran, daß Ihr meinem Leben schon einmal eine andere Richtung gegeben habt, als Ihr mich nicht Priester werden ließet. Damit habe ich mich abgefunden, obwohl ich damals das Gefühl hatte, als ob Ihr mir mein Glück raubtet. Wollt Ihr mir jetzt zum zweiten Male dasselbe zufügen …«

»Ich verstehe dich nicht«, unterbrach ihn der Vater ungeduldig, »was willst du denn tun? Was soll das überhaupt heißen, ein Gelehrter? Wer bezahlt den und wovon lebt so einer? Einen solchen Beruf kenne ich nicht. Was willst du zu Mittag essen, wenn du ein Gelehrter bist?«

»Ich will Universitätsprofessor werden und ich weiß, daß damit nur ein sehr geringes Einkommen verbunden ist. Aber ich will mich damit zufrieden geben, weil ich so Ruhm und Ansehen ernten kann. Ich will ein berühmter Mann werden! Ich will unsere Familie und euren Namen, auf den ich so stolz bin, berühmt machen! Warum seht Ihr mich so sonderbar an?«

»Gott mag mir verzeihn«, erwiderte der Vater und bekreuzigte sich, »deine Mutter wirft mir manchmal einen Blick zu, als ob sie nicht mehr ganz bei Troste wäre, und jetzt sehe ich das gleiche in deinen Augen. Ich muß wirklich beinahe glauben, daß dein Verstand auch nicht mehr ganz in Ordnung ist. Du gibst dich unnützen Schwärmereien hin, während es jetzt darauf ankommt, woher ihr euer täglich Brot nehmen sollt, wenn ich sterbe. Aber nun genug der Redereien, mein lieber Sohn, diese vielen Worte sind vollkommen überflüssig. Ich wiederhole dir, ich kehre jetzt heim nach Florenz. Mach' es, wie du willst. Wenn hier die Vorlesungen zu Ende sind, kommst du nach Hause. Ich werde dann schon sehen, welche Nachrichten du bringst: ob du Arzt wirst oder Tuchhändler oder ob du dich von der Familie losgesagt hast.«

Galileo ergriff die Hand des Vaters. Lange und liebevoll wollte er sich aussprechen, um dem Herzen seines Vaters näherzukommen. Mit dem offenen, vertrauensvollen Gesicht des einstigen kleinen Knaben blickte er zu dem düsteren geplagten Mann auf, der aber entzog ihm unwirsch die Hand und wandte sich ab.

»Lassen wir die Gefühle«, erklärte er fremd und feindselig, »du bereitest mir so schweren Kummer, daß es besser ist, wenn ich mit dir nicht soviel verhandele.«

So trennten sie sich also in düsterer Frostigkeit, beide mit zurückgedrängtem Trotze. Der Vater ging, er blieb. Wenn ihn sein Vater mit warmem Verständnis verlassen hätte, dann wäre er vielleicht bestrebt gewesen, obwohl sicherlich umsonst, seinem Gewissen Gewalt anzutun. So aber versuchte er es nicht einmal. Nicht eine einzige Vorlesung Cesalpinos besuchte er. Sein Schicksal überließ er dem Zufall. Mochte alles kommen, wie es kommen sollte. Er fühlte sich wie ein zum Tode Verurteilter, dem man die Zeit der Hinrichtung nicht bekanntgegeben hatte. Solch ein Mensch versucht von heute auf morgen zu leben, ist bestrebt, nicht an das Ende zu denken und sich bis dahin noch so viele Freuden zu gönnen, wie nur irgend möglich ist. Galileo suchte die Verantwortungslosigkeit, die durch nichts gestörte Zerstreuung. Mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht hielt er die Zweifel um Aristoteles von sich fern, damit ihn nichts und niemand in seinen Freuden stören konnte, und überließ sich mit geschlossenen Augen seinem Vergnügen: er las, er experimentierte, er spielte mit algebraischen Gleichungen. Er vertrieb sich die Zeit mit launigen Zeichnungen von sonderbaren Waagen, Maschinen und Hebeln. Glücklich lebte er in seiner Welt, und wenn es ihm manchmal einfiel, daß er eigentlich jetzt in einem Armesünderhaus lebte, wies er diesen Gedanken gleich wieder heftig von sich.

Auf einem seiner ziellosen Spaziergänge gelangte er zufällig auch einmal auf den Campo Santo. Er warf einen flüchtigen Blick auf die drei Gebäude dieses Platzes, die er so genau kannte, daß er sie sogar mit geschlossenen Augen hätte zeichnen können. Da stand auf der einen Seite außen der Rundbau des Battistero mit seinen weißen gemeißelten Steinen und seinen doppelten Säulenreihen übereinander, in der Mitte erhob sich die wuchtige, weiße marmorne Basilika mit ihren Arkaden und auf der anderen Seite stand jener sonderbare schiefe Turm, auch er aus weißem Marmor, kühn und unbegreiflich in seiner zuckertortenartigen Schönheit; man hätte träumen können, daß er sich wie ein Schilfrohr im Winde hin und herneigte. Der bummelnde Student bekam Lust, in den Dom einzutreten. Eigentlich hatte er dort nichts zu suchen, denn er war selten zur Andacht geneigt, betete nie regelmäßig und wandte sich auch nur dann an Gott, wenn ihn irgendeine außergewöhnliche Freude oder ein besonderer Schmerz dazu trieben. Diesmal trat er ohne jeden Grund ein.

Drinnen spielte die Orgel, aber eine ganze Menge von Handwerkern verrichteten dabei ungestört ihre Arbeit. Neben dem Haupteingang waren Balken und Gerüste aufgestellt, standen Eimer voller Kalk: man war dabei, das Denkmal für den Bischof Rinuccini aufzurichten, der im vorigen Jahre gestorben war. Im Mittelschiff standen Menschen und hielten den Kopf in den Nacken zurückgeworfen: sie beobachteten die an der Decke arbeitenden Handwerker, die gerade mit dem Aufhängen des großen Kronleuchters fertig geworden waren. Entweder hatten sie die Aufhängevorrichtung des Leuchters oder den Befestigungspunkt an der Decke erneuert, das konnte man von unten nicht sehen. Jedenfalls war der Leuchter ins Schwanken geraten und beschrieb einen ruhigen, langsamen Halbkreis in der Luft.

Dem jungen Mann, der untätig dastand, fiel das auf. Er betrachtete den schwingenden Leuchter, und in seinem Gehirn, das er schon seit Jahren an solche Übungen gewöhnt hatte, wurde sofort der Forschertrieb wach.

Warum schwebt der Leuchter? Weil man ihn aus seiner ursprünglichen Lage gebracht hat. Aristoteles hatte das schon erklärt, seine Schrift » De motu«, das Alte Testament der Wissenschaft, erörterte allerhand Probleme der Bewegung. Aber was könnte man nun unabhängig von Aristoteles davon denken? Gesetzt den Fall, daß es einen Aristoteles nie gegeben hat, – Galileo Galilei, der Pisaner Student, steht jetzt hier und betrachtet den Leuchter. Was hat er davon zu halten? Wenn der Leuchter unbeweglich hängt, ist er für den Gläubigen eines der Heiligtümer des Domes, für den jungen Gelehrten ein freihängendes Gewicht. Dieses Gewicht möchte nichts anderes, als herabfallen. Es ist die Verkörperung der immerwährenden starrsinnigen Sehnsucht nach dem Herabfallen, die nicht eine Sekunde lang einschläft, immerfort an dem Seil zerrt und es gar zu gerne zerreißen möchte. Aber seine Kraft reicht dazu nicht aus. Es hängt dort und ringt mit dem Seil, Tag und Nacht stumm fordernd, man möge es fallen lassen. Dieser beharrliche Wunsch des Gewichtes hat wahrscheinlich das alte Seil zerschlissen und man hat es wohl deswegen erneuert, damit das drohende Verlangen des Leuchters nicht in Erfüllung gehe.

Was war aber nun weiter geschehen? Die Handwerker brachten den Leuchter in Bewegung. Sie haben ihn zwar aus seinem unbeweglichen senkrechten Zustande herausgekippt, seine Sehnsucht aber haben sie nicht töten können. Der Leuchter will hartnäckig auch jetzt noch herunterfallen. Nur immer näher zu der geliebten Erde, nur immer näher. Das Seil hingegen behauptet mit derselben Hartnäckigkeit seinen Standpunkt: es läßt den Leuchter nie weiter von der Decke entfernt sein, als seine, des Seiles, Länge ausmacht. Zwei entgegengesetzte Triebe erklären einander den Krieg. Sowohl ihre Kraft als auch ihre Hartnäckigkeit ist die gleiche. Wer wird siegen? Keiner, sie einigen sich. Der Leuchter, der, zur Seite geschwenkt, weiter von der Erde entfernt wurde, wollte unter allen Umständen in seine alte, senkrechte Lage zurückkehren, weil er der Erde so am nächsten sein kann, nach der er sich so sehr sehnt. Das Seil hingegen erhebt Einspruch, daß der Leuchter sich noch tiefer senke, als ihm zukommt. Einstweilen streiten sie noch heftig miteinander, der in Bewegung gebrachte Leuchter schwenkt, nachdem er den tiefsten Punkt erreicht hat, ebenso weit auf der anderen Seite aus und beginnt dann sein Streben nach der Erde von neuem. Das Pendel macht immer kürzere Schwingungen: die streitenden Parteien beginnen sich zu einigen. Schließlich einigen sie sich mit solcher Genauigkeit, wie sie nur in der Natur zu finden und nur dort vollkommen ist: der Leuchter ist der Erde am nächsten gekommen und fährt unter Aufrechterhaltung seines Standpunktes fort, mit seinem Gewicht abwärts zu streben. Das Seil hingegen hat auch erreicht, daß es den Leuchter nicht weiter als seine eigene Länge an die Erde herankommen ließ und auch niemals näher lassen wird.

Mit einem Male ergriff das Herz des gaffenden jungen Mannes eine lähmende Bestürzung, jene sonderbare Erregung, die die Geburt großer Gedanken und die Eingebung neuer Wahrheiten begleitet. Vor Freude hätte er am liebsten laut gebrüllt und der Welt » heureka!« verkündet. Und mit der Disziplin eines geschulten Gehirns ging er sofort daran, seine Entdeckung zu formulieren. »Die Pendelbewegung ist das Resultat der Beziehung zwischen dem freien Fall und einer hindernden Kraft.« Wenn die hindernde Kraft nicht mehr wirken würde, das heißt also, wenn man das Seil durchschnitte, bliebe nur der freie Fall, und der Leuchter würde klirrend zu Boden fallen. Ist dem aber so, dann könnte man die gleichen Gesetze, nach denen man beim freien Fall forscht, auch beim Pendel suchen, man müßte eben nur diese bestimmte hindernde Kraft berücksichtigen. Wenn also der Medizinstudent Galileo Galilei, der seine Vorlesungen zu schwänzen pflegt, erfahren will, ob ein Stück Blei und ein Stück Holz in der gleichen oder in verschiedener Zeitspanne zu Boden fallen, muß er sich zwei gleichlange Pendel anfertigen, eines mit einem Stück Blei, das andere mit einem Stück Holz beschwert, und beobachten, ob sie mit der gleichen oder aber mit verschiedener Geschwindigkeit schwingen. Ob also Aristoteles oder Moletti recht hat.

Hals über Kopf stürzte er aus der Kirche, fast wäre er über einen Stein des Rinuccini-Denkmals gestolpert. Er rannte nach Hause zu seinen Geräten. Hastig suchte er die Steinkugel hervor, die war ebensogut wie Blei. Dann nahm er die Holzkugel zur Hand. Alle beide waren sie in seiner Vorratskiste noch vorhanden. Aber dazu brauchte er noch einen möglichst hohen Holzrahmen und viel Bindfaden, um recht lange Pendel anfertigen zu können. Das einfachste wäre gewesen, in einen Laden zu gehen und Schnur, Leisten, Nägel und Schrauben zu kaufen. Er hatte aber gar kein Geld. Also machte er sich auf den Weg, um entweder etwas Geld zu borgen oder aber die notwendigen Gegenstände zusammenzubetteln. Und wenn er dafür einen Mord begehen müßte!

Am anderen Tage hingen die beiden Pendel auf dem Hofe. Er hatte sich eine Leiter geholt und die horizontale Leiste an den Ast eines Ölbaum in beträchtlicher Höhe angenagelt. An der Leiste hatte er dann die zwei langen Pendel befestigt, an einem hing die Steinkugel, am anderen die Holzkugel. Unmittelbar nebeneinander. Nun unterbrach er seine Arbeit und holte tief Atem. Und wartete. Wie ein eifersüchtiger Liebhaber, der vor der Tür zögert, weil er nicht weiß, was ihn erwartet, wenn er sie öffnet. Endlich ergriff er mit beiden Händen die zwei fast bis zur Erde hängenden Kugeln und trat zurück, soweit es die beiden Schnüre gestatteten. Dann ließ er die Kugeln los, nicht ohne scharf darauf zu achten, daß es genau zur gleichen Zeit geschah. Die beiden Kugeln traten ihren schwingenden Weg an, und mit funkelnden Augen, weit nach vorne gebeugt, beobachtete er gespannt ihre Laufbahn. Und pünktlich zur gleichen Zeit erreichten die beiden Kugeln den Tiefpunkt, genau nebeneinander schwangen sie sich auf die andere Seite, sie blieben in gleicher Höhe stehen und kamen wie Zwillinge in der gleichen Zeit zu ihm zurück. Es währte eine ganze Weile, bis ihre immer kürzer werdenden Schwünge schließlich zum Stillstand gelangten und die zwei Kugeln wieder unbeweglich dahingen. Dies geschah nicht mehr haargenau zu der gleichen Zeit, er erschrak aber nicht darüber. Er machte eine heftige Gebärde mit der Hand: offensichtlich lag das am Befestigungspunkt: die eine Schnur rieb sich wahrscheinlich mehr an der Latte als die andere und dadurch entstand die Ungenauigkeit.

In der Küche schaltete und waltete die schielende Magd. Von draußen hörte man die Schritte der Vorübergehenden und aus der Ferne Wagengerassel. Die Frühlingssonne schien heiß auf den Hof herab. Der junge Mann stand unbeweglich da und blickte voller Rührung immer nur die beiden Kugeln an. Er hatte jetzt Molettis Behauptung bewiesen und die des Aristoteles entkräftet. Sein Herz schlug wild, am liebsten hätte er die zwei Kugeln geküßt.

Er ergriff sie von neuem und wiederholte das Experiment. Es gelang besser als das erste. Fast zu gleicher Zeit waren diesmal die Kugeln stehengeblieben. Jetzt wurde ihm auch klar, daß man die zwei Pendel noch genauer anfertigen könnte; bei ihrem Aufhängen müßte man auch die winzigste Differenz ausschalten: dann würden sie vollkommen übereinstimmend schwingen. Und dann hatte also Moletti allenthalben recht: das spezifische Gewicht der einzelnen Gegenstände ist ohne Einfluß auf die Fallgeschwindigkeit. Aristoteles hatte, sich also geirrt. Die Bibel der Wissenschaft hatte sich geirrt. Und wenn sie sich in einem Punkte irren konnte, dann konnte sie das auch in anderen Punkten …

Von da ab befaßte er sich lange Zeit nur mit Pendeln. Seine Augen gewöhnten sich daran, in allem, was hängt und sich bewegt, ein wissenschaftliches Pendel zu erblicken. Die Quaste eines Möbelstückes, die goldenen Ohrringe einer zur Kirche eilenden schönen Frau, die Schaukel der spielenden Kinder in einem fremden Hof, – für andere bedeutete das Quaste, Geschmeide und Schaukel, für ihn war alles nur ein Pendel. Wenn er in irgendeinem Buch ein Bild entdeckte, das einen gehängten Menschen darstellte, dachte er sofort daran, daß auch das ein Pendel sei, ein an einem Seil befestigtes Gewicht, wenn der Wind die Leiche bewegte. Ein anderer mochte vor einem Gehängten erschauern und sich bekreuzigen, er konnte darin nur eine neue Widerlegung des Aristoteles erblicken.

Der wunderliche junge Mann, der die Vorlesungen mied, wurde langsam bei seinen Professoren berüchtigt. Sie sahen in ihm einen unnützen, gottlosen Störenfried, wenn sie in der Säulenhalle der Universität an ihm vorbeigingen. Vorlesungen besuchte er nunmehr kaum noch. In der Universität zeigte er sich jedoch hin und wieder, entweder aus der gedankenlosen Gewohnheit seiner Untätigkeit heraus, oder um mit seinen Studiengenossen zu debattieren. Insbesondere unter den den kirchlichen Orden angehörenden Studenten hatte er leidenschaftliche zähe Widersacher, gelehrte Novizen, die an Aristoteles ebenso fest glaubten wie an die Kirchenväter. Sie rechneten Aristoteles beinahe zu diesen Kirchenvätern und stellten ihn neben den Heiligen Thomas von Aquino und den Heiligen Ambrosius. Von seinen Werken, die eine ganze Bibliothek füllten, zitierten sie wortwörtlich lange Sätze, und da das ganze System des Universitäts-Unterrichts die scholastische Diskussion zum Ziele hatte, bewiesen oder widerlegten sie alles in gewandten Syllogismen. Galilei, der baumlange Junge aus Florenz, war ein äußerst geeigneter Gegner für ihre Übungen im Debattieren, denn sein Verstand war scharf wie des Messers Schneide; was er jedoch behauptete, war meistens nicht aufrechtzuhalten. Das ganze Rüstzeug einer zweitausendjährigen Kultur konnte man gegen ihn ins Feld führen, er aber vermochte dem Gegner nur immer wieder seine eigenen Zweifel entgegenzustellen. Trotzdem stritt er zäh und leidenschaftlich. Die Natur hatte ihn mit einer seltenen Redegewandtheit begnadet, das Wort strömte aus ihm wie ein Wasserfall, wenn er erst einmal angefangen hatte. Und er kam sofort ins Streiten, wenn er jemandem begegnete. Mehr als einmal verstrickte er sich sogar mit dem einen oder dem anderen Professor in eine Debatte. Der Professor bot mit der Überlegenheit des Belesenen und eines in langen Jahren erworbenen Wissens das ganze Arsenal von Daten, Lehrsätzen, Zitaten auf und ihm gegenüber stand der Student, dem nur ein scharfer Verstand, aber wenig positives Wissen zu eigen war. Der Student konnte in den Debatten nie siegreich sein. Er war aber auch nicht zu besiegen, weil er mit verstockter Hartnäckigkeit bei seiner kühnen Behauptung blieb: Aristoteles irrt in einem Punkt, und wenn er sich in einem Punkt irrt, kann er auch in anderen Dingen keine unbeschränkte Autorität sein.

»Hier geht der Rebell«, sagten sie, wenn sie an ihm vorübergingen.

Heitere Nachsicht, mitleidiger Spott lag in der Art, wie sie ihn betrachteten, und das reizte ihn nur noch mehr. Seit sein Idol gestürzt war, sein Glaube an Aristoteles zusammengebrochen, fühlte er sich wie einer, dem im offenen Meer der Balken aus der Hand glitt und der mit einem Male schwimmen muß, um nicht unterzugehen. Auf dem unendlichen Ozean der unerforschten Wissensgebiete war er ganz allein: jeden Menschen, den er hier traf, mußte er als Feind ansehen. Er konnte sich auf nichts anderes als auf seinen Verstand stützen. Aber an diesen Verstand glaubte er. Er wußte, daß er einen außerordentlich scharfen Verstand hatte. Sobald er sich mit irgend jemandem verglich, konnte er seine Überlegenheit deutlich fühlen. Und er hatte sich damit abgefunden, daß er, der ganzen Welt die Stirn bietend, auf keinen anderen Verbündeten rechnen könne als auf seinen eigenen Verstand.

Die Zukunft, an die er gar nicht denken mochte, begann erschreckende Gegenwart zu werden. Über seinen Studien, Debatten und Experimenten verging die Zeit verhängnisvoll schnell. Und plötzlich war der Tag da, an dem er der unabwendbaren Wahrheit in die Augen sehen mußte: er konnte nicht länger in Pisa bleiben, sein Vater gab ihm kein Geld mehr. Die Studienzeit war zu Ende, und er hatte auch keinen Vorwand, um in Pisa bleiben zu können. Von der Medizin hatte er seit langer Zeit kaum noch etwas gehört, in der Philosophie konnte er gleichfalls keinerlei sichtbare Erfolge aufweisen. Zur Prüfung war er nicht zugelassen worden, ein akademischer Grad konnte ihm nicht verliehen werden, die Kosten der Pisaner Jahre mußte seine Familie mit Recht als unnütz vergeudetes Geld ansehen. Wenn ihn sein Vater zur Verantwortung ziehen würde, was er denn auf der Universität zu Pisa für das viele Geld gemacht habe, könnte er nur antworten: gelesen, debattiert und experimentiert.

Aber sein Vater zog ihn nicht zur Verantwortung. Sie sprachen mit keinem Wort von seinem Beruf. Auch ohne eine Aussprache war es selbstverständlich, daß der einstige Student der Medizin mit Schimpf und Schande in das Geschäft seines Vaters eintreten müsse. Er kehrte heim, er suchte sich einen Platz in der überfüllten Wohnung, freute sich seiner lange nicht gesehenen Geschwister und beugte sich dem Schicksal. Wenn er es auch niemandem verriet, so lehnte er sich innerlich um so mehr gegen seinen Tuchhändlerberuf auf. Er begann sein neues Leben mit dem Entschluß, seine neue Arbeit bereitwillig und ordentlich zu verrichten, zwischendurch aber weiter zu lesen, zu lernen und zu forschen, um dann zu seiner Zeit aus dieser Tuchhandlung herauszuspringen, wie ein Kirschkern zwischen zwei Fingern.

Schon an dem seiner Ankunft folgenden Tage fand er sich in dem Laden ein. Sein Vater erklärte ihm lang und breit, wo alles stand und lag, und was es kostete. Anfangs gefiel ihm das ganz gut. Die vielen verschiedenen Stoffe machten ihm Spaß, wie die Bilder in einem Buch betrachtete er die einzelnen Muster der Brokate, er streichelte Samt und Seide und befühlte die dicken Stoffe der Ballen, die sich so angenehm anfassen ließen, zwischen den Fingern. An vieles konnte er sich noch aus seiner Kindheit erinnern und auch in der Bedienung der Waage und des Ellenmaßes fand er sich bald zurecht, war guter Laune und munter. In den ersten Tagen bedeutete er sogar für das Geschäft einen sichtlichen Nutzen, denn die Kunde lief schnell um, daß der Sohn des Tuchhändlers Vincenzo von der Universität zu Pisa nach Hause zurückgekehrt sei, und viele kamen schon aus reiner Neugierde in den Laden.

Aber schon während der ersten Woche stellte es sich heraus, daß es nicht leicht sein würde, eine neue Lebensform zu finden. Vor allem war es das elterliche Heim, in das er sich nur schwer einleben konnte. In diesem Heim hielten der Lärm und die Unruhe von frühmorgens bis spätabends an. Seine Mutter war launischer und unverträglicher denn je. In diesem ausladenden, klobigen, großen Frauenzimmer saßen fürchterliche Furien. Sie zeterte den ganzen lieben Tag lang bald mit dem einen, bald mit dem anderen der Kinder. Und wenn es im eigenen Hause nichts mehr zu streiten gab, dann lief sie in die Nachbarschaft und kam mit den Worten heim, »daß sie es denen aber anständig gegeben habe«. Ab und zu hatte sie dann noch ihre tolle Stunde, und dann war es mit ihr unter einem Dach einfach nicht auszuhalten. Dann regte sie sich über die geringste Kleinigkeit auf, schrie aus Leibeskräften, schlug alles kurz und klein und rannte wie besessen hin und her. Ihr Haar mit den weißen Strähnen hing ihr wirr ins Gesicht, in ihren fanatischen Augen flammte ein gefahrdrohendes Feuer auf und ihre Lippen wurden bleich. Ohnmächtig betrachtete die Familie die Tobende. Plötzlich war der Sturm vorüber, die Mutter hatte sich ausgetobt, wurde ohne jeglichen Übergang guter Laune und von größter Zärtlichkeit gegen ihre Umgebung. Mit würgenden Umarmungen überfiel sie ihre Tochter, die sie gerade kurz zuvor mit dem Küchenmesser durch den Hof gejagt hatte. Die Magd, der sie eben erst eine Maulschelle verabreicht hatte, streichelte, lobte und küßte sie und half ihr, die Scherben des durch den großen Sturm in Stücke gegangenen Geschirrs zusammenzukehren. Dann ergriff sie irgendein Kleidungsstück, ein venezianisches Glas oder ein Buch, damit in die Nachbarschaft zu laufen und jene Nachbarin zu beschenken, mit der sie sich am Tage vorher tödlich überworfen hatte.

Die Heimkehr Galileos gab neuen Anlaß für ihre Ausbrüche. Während der ersten zwei Tage feierte sie zwar den heimgekehrten Erstgeborenen mit übertriebener Affenliebe, sie küßte ihn ab, setzte sich neben ihn, streichelte seine Hand und beschwerte sich bei ihm über alle anderen. Aber schon am dritten Tage zankte sie sich fürchterlich mit ihm, nannte ihn ein nichtsnutziges Schwein und schmähte ihn, unter dem Tore stehend, nach Herzenslust. Und von nun an war Galileo das bevorzugte Ziel ihrer Angriffe. Wenn die Streitlust über sie kam, erschien sie sogar im Laden und wetterte dort nach allen Regeln der Kunst; leidenschaftlich beschimpfte sie den nichtsnutzigen Taugenichts vor den Kunden und vergaß auch nicht, den willensschwachen Vater gleich mit zu bedenken, weil er in seiner Familie keine Ordnung halten könne.

Dieses Verhalten machte die anderen Familienmitglieder natürlich reizbar und ungeduldig; jeder mußte in jedem Augenblick gewärtig sein, daß der Familienkrieg sofort ausbrechen könne. Bald kamen dann auch noch Streitigkeiten zwischen dem heimgekehrten Sohn und dem Vater hinzu. Der Sohn stahl sich abends in den Laden, um beim Schein einer Tranfunzel seine Bücher zu lesen, denn in der engen Wohnung störte er die anderen nur und wurde selber auch fortwährend gestört. Einmal verbrachte der Vater den Feierabend im Kreise seiner musikliebenden Freunde. Als er spät nach Mitternacht nach Hause kam, sah er aus dem Laden Licht schimmern. Er glaubte einen Dieb zu erwischen, schlich leise hinein – und fand seinen Sohn, der gerade damit beschäftigt war, auf dem Ladentisch aus Rädern und Holzstäbchen eine Wasserhebemaschine zu bauen. Dazu benötigte er ein großes Gefäß voll Wasser; es war aber undicht, das Wasser lief aus und benäßte zwei Ballen Stoffe. Darüber erhob sich der erste Sturm zwischen Vater und Sohn. Und dem ersten folgten schnell die anderen. Noch waren die ersten vier Wochen seines Aufenthaltes im elterlichen Hause nicht vergangen, da hatte ihn der Vater schon aus dem Laden verwiesen. Untätig lebte Galileo nun dahin, mit Bitterkeit schluckte er jeden Bissen bei den Mahlzeiten, weil ihn entweder eine vielsagende Stille oder eine unmißverständliche Anspielung gemahnte, daß er sein tägliches Brot nur durch Faulenzen verdiene. Seine drei Geschwister tuschelten über ihn und der kleine Michelagnolo zwängte sich grinsend an das Tischende und starrte mit der kleinen Kindern eigenen Schadenfreude den gedemütigten Bruder an.

Vor der Schande, vor dem häuslichen Zwist, vor der Einsamkeit, vor dem Leid der Armut flüchtete Galileo zu seinen Studien. Er besuchte Ricci, den herzoglichen Erzieher, und lieh sich Bücher von ihm. Aber auch damit erntete er nur Schimpf und Schande: wenn seine Mutter eine Unterlage für ein öliges Gefäß brauchte, griff sie rasch nach irgendeinem Buch. Beschämt mußte er das vollgeschmierte Buch dann wieder zurücktragen und den verärgerten Ricci versöhnen. Er hätte gern weiter experimentiert, hatte aber nirgends Platz dazu; seine Habseligkeiten konnte er nicht einschließen; Schrauben, Räder und ähnliche Kleinigkeiten plünderten seine Geschwister und machten sie entzwei. Wenn er ungestört lesen wollte, war er gezwungen, aus dem Hause zu gehen. Er tat das mit Freuden und war selig, wenn er diese von erdrückender Armut und unerträglichem Geschrei erfüllte Hölle hinter sich wußte. Schon während er auf der Straße ging, las er eifrig, ab und zu einen Vorüberhastenden anrempelnd, der ihn dann zornig zurechtwies. Er dehnte seine Spaziergänge weit hinaus, ließ auch das herzogliche Schloß hinter sich und trottete, immer lesend, zwischen den von umherhuschenden Eidechsen belebten Mauern nach Arcetri zu. Schließlich warf er sich irgendwo ins Gras und gab sich restlos dem Genuß des Lesens hin.

In dieser Zeit beschäftigte ihn am meisten die Person des Archimedes. Er rief sich die lustige Geschichte von der Goldkrone ins Gedächtnis und malte sie sich in allen Einzelheiten aus. Er stellte sich den König Hiero vor, der seinen gelehrten Verwandten Archimedes rufen läßt, ihm seine goldene Krone in die Hände legt und fragt: »Kannst du mir, ohne die Krone auch nur im geringsten zu beschädigen, sagen, ob der schlaue Goldschmied dafür außer purem Golde noch einen anderen Stoff verarbeitet hat?« Der Gelehrte bittet sich Bedenkzeit aus und geht nach Hause. Tag und Nacht sinnt er über diese Aufgabe nach. Als er einmal in ein Wasserbecken steigt, um zu baden, kommt ihm plötzlich die Erleuchtung: »Jeder ins Wasser getauchte Körper verliert soviel von seinem Gewicht, wie die von ihm verdrängte Wassermenge wiegt.« Halb verrückt vor Freude rennt er, splitternackt wie er ist, auf die Straße und ruft einmal über das andere den Syrakusern zu: » Heureka, heureka! – Ich hab's gefunden, ich hab's gefunden.« Er hat entdeckt, wie man durch die Feststellung des spezifischen Gewichts das Geheimnis einer Legierung enthüllt, und kann nun auch die Frage seines Königs beantworten. Ferner erfand er die Wasserschraube, stellte die Hebelgesetze auf und errechnete aus dem Durchmesser den Umfang des Kreises. Auch eine neuartige Wurfmaschine erfand er. Und als während der Belagerung der Stadt durch die Römer ein römischer Soldat bei ihm mit blankem Schwert eindrang und auf die in den Sand gezeichneten verwickelten geometrischen Figuren trat, schrie ihn der Gelehrte an: »Störe mir meine Kreise nicht!« und wurde von dem rohen Krieger niedergemacht.

Dieser Held begeisterte den jugendlichen Leser. Er empfand eine heiße Zuneigung zu ihm und glaubte ihn ganz zu verstehen. Auch er hielt sich für fähig, in der überschäumenden Freude über eine große Entdeckung nachts auf die Straße zu rennen und die soeben gefundene Formel einer neuen Entdeckung mehr als das eigene Leben zu schätzen. Wie der betrübte Gläubige mit wehem Herzen bei dem Heiligen, den er sich erwählt hat, Trost sucht, so wandte er sich in seinem Kummer über die unerträglichen Verhältnisse im Elternhaus, den Widerstand der Eltern gegen seine Pläne, seine materielle Ohnmacht, an den klassischen Gelehrten, den er menschlich liebte, dem er sich verwandt fühlte, und suchte seine Hoffnung auf seinen eigenen scharfen Verstand und seinen außerordentlichen entdeckerischen Spürsinn zu setzen.

Aber seine seelische Kraft reichte nicht aus. Immer unerträglicher wurde seine Lage. Nach Hause schlich er sich wie ein geschlagener Hund, bemüht, nicht gesehen zu werden. Das Mittagsmahl im Familienkreise war jedesmal eine solche Qual für ihn, daß er lieber solange draußen zwischen den Hügeln umherirrte, bis die Tischzeit vorüber war, sich auch aus dem Hunger nichts machte, nur um sich die Bissen nicht einzeln in den Mund zählen zu lassen. Mit der Mutter gab es täglich Auftritte, der Vater sprach überhaupt nicht mehr mit ihm. Seine Hoffnung auf die Zukunft war in nichts zerflossen. Nach und nach ergab er sich dem Trunke, denn nur ein Rausch konnte ihn wenigstens für Minuten heilen und sein zermartertes Selbstbewußtsein wieder aufflackern lassen. Geld hatte er keins, so ging er alte Bekannte um kleine Darlehen an, um sich betrinken zu können, oder er plünderte die Ladenkasse. Wenn er sich einen Rausch angetrunken hatte, blühten alle seine Hoffnungen mit einem Male wieder auf. Am Tage darauf aber fand er mit einem bitteren Geschmack im Munde, ausgetrocknetem Gaumen und dröhnendem Schädel alles nur noch viel furchtbarer als zuvor. Wie er seelisch zerfiel, verfiel auch sein Körper. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, sein Gesicht war vom Trinken aufgedunsen. Seine Kleider, seine Sandalen waren zerschlissen, neue konnte er sich aus eigenen Mitteln nicht kaufen; den Vater um Geld anzugehen, widerstrebte ihm aber.

Und so war er langsam dahin gelangt, daß er sterben wollte. Er stand an einem Ende des Ponte Vecchio und blickte auf den rastlos dahineilenden Strom herab. Wie die Wellen dahinrollten, verabschiedete er sich von ihnen, als ob er von seinem eigenen Leben Abschied nehmen wollte.

»Schade um mich«, sagte er zu sich.

Aber dann lächelte er hämisch und zuckte die Achseln mit einer aus dem Elend geborenen grausamen Verachtung seiner selbst. Es lag irgend etwas niederträchtig Wohltuendes in der Vorstellung, sich selbst baumeln zu sehen. Warum sollte man das noch aufschiebend Das ganze hatte ja doch keinen Sinn mehr. Lieber heute als morgen. Sofort beschloß er, es noch heute zu tun. Er wollte jetzt heimgehen und abwarten, bis das Haus still geworden.

Unverwandt blickte er auf den Strom nieder. Eigentlich konnte er sich ebensogut auch ins Wasser stürzen. Und wenn er sich ins Wasser stürzte, was würde dann geschehen? Seine Gedanken, die er lediglich auf die Vorstellung des Todeskampfes beschränken wollte, gehorchten ihm nicht, sondern schlugen den gewohnten Weg der wissenschaftlichen Spekulation ein: sofort dachte er daran, um wieviel sein Körper im Wasser leichter würde; natürlich genau soviel, wie das Gewicht einer Wassermenge von dem Umfang seines Körpers. Der menschliche Körper ist kaum dichter als das Wasser; von dem Gewicht eines ins Wasser getauchten Menschen müßte man also sehr viel abziehen, es würde sogar kaum etwas übrigbleiben. Daher kommt es, daß man sich an der Oberfläche des Wassers halten kann, wenn man sich genügend mit Luft vollpumpt wie ein Blasebalg. Archimedes hätte auch noch messen können, wieviel Luft und wieviel Körpermasse in einem schwimmenden Menschen vorhanden sind, wenn das auch etwas umständlich gewesen wäre.

In diesem Augenblick zuckte der Todeskandidat zusammen. Er trat von einem Bein auf das andere. Ein Funken flammte auf in seinem Gehirn und dieser Funken sprang auch sogleich weiter. Das Ganze mußte sogleich noch einmal wiederholt werden:

»Wie war das doch?«

Er sprach laut vor sich hin wie ein Geistesgestörter und war bemüht, sich in seinen vorherigen Gedankengang wieder einzuschalten. Ja, ich hab's: man müßte eine Waage konstruieren, blitzte es in seinem Gehirn auf, die das Gewichtsverhältnis von zweierlei Legierungen aus verschiedenem Material messen kann, ohne daß man den Gegenständen Schaden anzutun brauchte. Wie ist das nun? Setzen wir den Fall, wir würden einen Würfel aus Gold und Kupfer anfertigen, dessen Gewicht wir mittels einer gewöhnlichen Waage und danach mittels einer Waage unter dem Wasser feststellen könnten. Wenn wir dann einen genau so großen Würfel nur aus reinem Kupfer anfertigten, so könnten wir auch den unter und über dem Wasser wiegen …

Im nächsten Augenblick begann der junge Mann auf die Brücke zu rennen. Wer ihm in der Straße der Goldschmiede entgegenkam, mußte glauben, daß ein auf frischer Tat ertappter Dieb flüchtete. Er rannte über die Brücke, rannte am Hause Macchiavellis vorbei und bog nach dem Palazzo Pitti ein. Dort ging ihm dann der Atem aus. Keuchend, mit fliegender Brust, erklärte er den zwei Wache stehenden Hellebardieren, daß er in einer lebenswichtigen Frage sofort Seine Exzellenz Ostilio Nicci sprechen mäste.

Er hatte Glück. Der herzogliche Erzieher kam gerade vom Garten Boboli her, ganz allein mit einem Buche in der Hand.

»Was gibt's Neues, Messer Galileo?«

»Mein durchlauchtigster Herr, ich habe eine … eine …«

»Nun? Verschnauft Euch doch, mein Sohn. Was habt Ihr erfunden?«

»Eine hydrostatische Waage. Ich kann auf einfachem statischem Wege in einer Legierung das Verhältnis der einzelnen Bestandteile zueinander messen.«

Bevor Nicci antworten konnte, ergriff Galileo seine Hand, drückte sie heftig und die große Erregung machte sich in Tränen Luft.

»Durchlauchtigster Herr … ich weiß gar nicht … erlauchtigster Herr …«

Er stotterte, er schluchzte und strahlte ganz aufgelöst den würdigen alten Herrn an. Der klopfte ihm begütigend auf die Schulter.

»Gut, gut, sammelt Euch ein wenig. Kommt mal mit mir. Bis wir unser Zimmer erreicht haben, habt Ihr Euch schon beruhigt.«

Sie stiegen die Treppen hoch. Wenige Minuten später saß Galileo Galilei vor einem Tisch und zeichnete mit fliegender Hast und zittrigen Linien.

»Verzeiht gütigst, daß die Zeichnung so unordentlich ist, aber ich zeichne die Waage jetzt zum ersten Male. Erst vorhin auf der Brücke habe ich mir das Ganze ausgedacht.«

Nicci sah sich die Zeichnung an und sann nach.

»Herrlich. Ihr habt eine ganz großartige Erfindung gemacht, mein Sohn. Ich habe mich in Euch nicht getäuscht. Vor allem müssen wir das Modell dieser Waage anfertigen lassen.«

»Aber wovon, mein Herr, wovon? Ich bin ein armer Teufel! Hier, meine Schuhsohlen haben Löcher.«

»Bei mir sollt Ihr alles Notwendige erhalten. Wir lassen einen geeigneten Handwerker kommen. Kommt morgen um diese Zeit mit einer genauen und sorgfältigen Zeichnung wieder zu mir …«

»Erlauchtigster Herr, mein Papier ist auch aufgebraucht. Und mein Zirkel ist schlecht. Und ich habe auch keinen Platz, wo ich zeichnen könnte.«

»Dann zeichnet Ihr eben hier. Aber so kann das mit Euch nicht weitergehen. Ich werde mit Eurem Vater reden. Jetzt geht, denn ich habe zu tun. Könnt Ihr die Zeichnung hierlassen?«

»Natürlich, ich habe doch das Ganze im Kopfe.«

Er lief nach Hause. Unter dem Tore spielte sein kleiner Bruder Michelagnolo mit einem Ball.

»Wo kommst du her, Galileo?«

»Aus dem Grabe«, erwiderte er strahlend und trat ins Haus.


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