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Sechstes Kapitel

Bevor er sich nach Pisa begab, um seine Professur anzutreten, widerfuhr ihm eine große Auszeichnung: er durfte sich bei seinem Herrscher zur Audienz melden. Die Audienz hatte ihm Belisario Vinta ermöglicht, der allmächtige Höfling, der dem jungen Mathematiker mit großem Wohlwollen gegenüberstand, ihn immer freundlich behandelte, ihm auf die Schulter klopfte und meistens' herzlich über alles lachte, was jener ihm sagte. Er unterhielt sich mit ihm, wie man es mit spaßigen Sonderlingen zu tun pflegt.

Der Herrscher von Florenz empfing den jugendlichen Professor im Palazzo Pitti. Galileo trat, sich mehrmals verneigend, in den Saal, und als er an die Reihe kam, vollführte er linkisch die höfische Verbeugung, die man ihn zuvor gelehrt hatte. Als er sich aufgerichtet hatte, sah er einen vierzigjährigen Mann vor sich, etwas kleiner als er selbst. Ein spärlicher Bart legte sich wie gelichtetes Moos um das Kinn, über den hellblauen Augen schienen die Lider entzündet zu sein; über dem gestreiften Spitzenkragen saß der Kopf wie eine Torte, die man auf ein ausgefranstes Papier gelegt hatte. Sonst war der Großherzog von Kopf bis Fuß in glanzloses Schwarz gekleidet: seine Tante, Katharina von Medici, die Königin von Frankreich, war erst vor kurzem gestorben. Von allen Mitgliedern der florentinischen Bankiersdynastie hatte sie es am weitesten gebracht: ihr Mann und drei ihrer Söhne saßen auf dem französischen Königsthron, ihre Schwiegertochter war die Königin von Schottland, ihr Schwiegersohn der König von Spanien und ihre Enkelin Christine von Lothringen, die Braut des Großherzogs von Toskana.

»Galileo Galilei«, las der Großherzog laut von einem vor ihm liegenden Blatt ab, »Mathematiker, Professor in Pisa.«

»Zu Euren Diensten, Hoheit!« erwiderte der Professor aus Pisa.

»So.«

Der Großherzog stellte sich von einem Fuß auf den anderen. Aus seinem Gesicht sprach Wohlwollen neben großer Müdigkeit und unendlicher Langeweile. Man sah ihm den gerissenen Befreier des zum Tode verurteilten Farnese wirklich nicht an.

»Die Mathematik ist eine wichtige Wissenschaft«, sagte er. »Wir wünschen sie auch nach unseren Kräften zu fördern. Im Interesse des Staates. Die Mathematik und die ihr verwandten Wissenschaften können der Kriegstechnik sehr nützlich sein. Habt Ihr Euch schon mit Kriegstechnik befaßt?«

»Bis jetzt habe ich mich damit noch nicht befaßt, Hoheit.«

»Das wäre aber wünschenswert. Die Vervollkommnung der Kanonen und anderen Kriegsmaschinen ist eine hervorragend wichtige Aufgabe. Auch ist es wünschenswert, daß sich die Gelehrten in die Befestigungslehre vertiefen. Es ist unsere Absicht, Livorno zu einem starken Kriegshafen auszubauen, und wir bedürfen dazu der Unterstützung der Wissenschaft.«

»Zu dienen, Hoheit.«

Hier brach das Gespräch ab. Der Großherzog sah gelangweilt in die Luft, anscheinend überlegte er, ob er noch etwas sagen sollte. Aber er beschloß, nunmehr nichts weiter zu sagen. Er lenkte seine Blicke abermals auf den Gelehrten, betrachtete ihn sichtlich gelangweilt und nickte dann. Das bedeutete, daß die Audienz zu Ende sei. Galileo gehorchte. Er verbeugte sich tief, wobei er sein rechtes Bein wie eine Sense kreisen ließ: die übliche höfische Verbeugung. Da ließ ihm der Großherzog noch eine andere Auszeichnung zuteil werden: er reichte ihm seine Hand zum Kuß. Galileo küßte untertänigst die Hand und entfernte sich rückwärts schreitend mit mehrmaligen Verneigungen.

Draußen setzte er sich noch eine Weile zu Belisario Vinta, um ein wenig mit ihm zu plaudern.

»War unser Herr Großherzog gnädig?«

»Ja, er reichte mir die Hand zum Kuß.«

»Und was hat er alles gesagt?«

»Aufrichtig gesagt, habe ich nicht darauf geachtet; das heißt, ich habe nicht genau darauf geachtet, was er sagte, sondern habe ihn selbst beobachtet. Ich untersuchte, was er wohl für ein Mensch sei. Überrascht fühlte ich, daß Milde und Güte von ihm ausströmt. Unmöglich, daß …«

Hier unterbrach er plötzlich den unüberlegt begonnenen Satz und errötete vor Verlegenheit. Vinta lächelte.

»Unmöglich, daß er seinen Bruder und seine Schwägerin getötet haben soll. Sprecht es ruhig aus. Es ist in der Tat unmöglich.«

»Ob dann …«

»Ob dann Francesco und seine Frau eines natürlichen Todes gestorben sind? Weiß ich nicht. Möglich, daß es nicht der Fall war. Thronfolger haben immer Anhänger, die wissen, daß sie nichts zu befürchten haben, wenn sie dem Schicksal ein wenig vorgreifen. Aber ganz gleich, was geschehen ist, es geschah ohne Wissen des Großherzogs. Er ist ein gütiger und weiser Mensch. Wir können uns freuen, daß er, auf den Thron gekommen ist. Er ist auch ein vortrefflicher Herrscher. Jetzt wird er eine Familie gründen und ruhig und zufrieden regieren; gebe Gott, recht lange! Wißt Ihr auch nur einen einzigen Menschen, der Bianca zurückwünschen könnte?«

Galileo schwieg. Sein Geheimnis war tief in ihm verschlossen, noch keiner hatte es entdeckt.

»Wann geht Ihr übrigens nach Pisa?«

»Es wird langsam Zeit, daß ich meine Habseligkeiten packe. Aber ich werde noch einmal herkommen, um mich bei Eurer Exzellenz für alle mir bewiesene Güte abermals zu bedanken.«

»Nein, caro mio, davon kann jetzt keine Rede mehr sein: ich reise. Der Herr Großherzog schickt mich in amtlicher Eigenschaft nach Rom. Aber Ihr braucht mir auch sonst nicht zu danken. Ich tue gern, was ich für Euch tun kann. Und in Zukunft werde ich noch mehr tun können.«

»Noch mehr?«

»Noch mehr. Aber das soll vorläufig unter uns bleiben. Auf alle Fälle merkt Euch: wenn Ihr in Pisa irgendein Anliegen habt, schreibt es sogleich mir sowie auch dem Marchese del Monte. Der Großherzog kennt den Marchese gut und schätzt ihn außerordentlich. Und jetzt kommt mit mir. Ich will Euch noch einen Gönner verschaffen.«

Verwundert folgte Galileo dem Höfling. Der ging gar nicht weit. Er trat in eins der Arbeitszimmer. Dort saß ein Mann und machte sich aus unzähligen Büchern Aufzeichnungen. Galileo erkannte ihn sofort; in Florenz kannte ihn jedermann: Giovanni Medici, der uneheliche Sohn des einstigen Herzogs Cosimo.

Vinta stellte Galileo Herrn Giovanni vor.

»Ich habe schon von Euch gehört«, sagte Giovanni lebhaft. »Ich freue mich, daß wir auf ein und demselben Gebiete arbeiten. Auch ich befasse mich gern mit den technischen Wissenschaften. Wie Ihr seht, arbeite ich auch jetzt. Ich mache einen Abriß der Befestigungswissenschaft.«

Vinta überließ die beiden einander, nachdem er sich von Galileo warmherzig verabschiedet hatte. Giovanni Medici sah nicht besonders klug aus, war dafür aber um so gebildeter und belesener.

»Wißt Ihr denn«, erklärte er mit dem Eifer eines sein Steckenpferd reitenden Menschen, »daß die Kriegskunst mehr als fünfhundert Befestigungssysteme kennt?«

»Wirklich?« fragte Galileo höflich.

»Mehr als fünfhundert, so ist es. Welch ein Fortschritt seit den alten Griechen, die immer behaupteten, die beste Befestigung sei ›die Brust des Kriegers‹. Die Römer haben diese Frage, bei Gott, nüchterner behandelt. Stellt Euch nur einmal vor, ich lese da in alten Werken, daß die römischen Legionen auch während des Vormarsches Gräben um ihr Lager aushoben, wenn sie sich des Nachts zur Ruhe legten.«

»Interessant, das habe ich nicht gewußt.«

Giovanni Medici hielt Galileo nun einen langen Vortrag über die Grundbegriffe der Befestigungskunst. Er erklärte unter anderem, welch ein Genie dieser Machiavelli war, der zu Anfang des Jahrhunderts die Befestigungsanlagen der Stadt Verona entworfen hatte.

Galileo nickte beifällig und gab sich die größte Mühe, gewinnend zu erscheinen. Währenddessen sprang ein Gedanke in ihm auf, als Giovanni Medici in seinem überhitzten Vortrag bemerkte, es sei eine große Unterlassungssünde der italienischen Universitäten, daß sie für die Wissenschaft der Befestigungstechnik keinen eigenen Lehrstuhl geschaffen hätten; denn sämtliche Herrscher und die Söhne aller Heerführer Europas würden zu diesen Vorlesungen strömen, wenn bekannt würde, daß man irgendwo bei einem Fachgelehrten diese wichtige Wissenschaft hören könne. Galileo unterbrach Giovanni sofort:

»In Pisa soll es so werden.«

»Wieso?« fragte Giovanni. »Wer wird es vortragen?«

»Ich.«

»Ihr, Messer Galilei? Ihr habt Euch doch noch nie damit befaßt.«

»Das tut nichts. Ich werde es ein wenig studieren und es sofort wissen.«

»Ihr werdet es wissen, so gründlich wissen, um es unterrichten zu können?«

»Selbstverständlich. So etwas ist für mich ein Kinderspiel.«

Giovanni Medici blickte den bärtigen jungen Mann sonderbar an. Das selbstbewußte Lächeln des Fachmannes spielte um seinen Mund, aber er gab diesem Lächeln keinerlei hörbaren Ausdruck. Trotzdem konnte man an dem nachsichtigen Ausdruck seines Gesichts sehen, daß er diesen jungen Mann für einen unbedachten, eingebildeten und leichtfertigen Prahler hielt, der die Folgen seiner Übereilung noch rechtzeitig erkennen werde. Als sie sich verabschiedeten, klopfte er ihm mit herablassendem Wohlwollen auf die Schulter.

»Wenn Ihr dem Großherzog dienen wollt, dann befaßt Euch mit der Befestigungslehre. Denkt insbesondere an Livorno! Das ist für uns außerordentlich wichtig. Gott mit Euch.«

Zu Hause erzählte Galileo alles seinem Vater. Der alte Vincenzo wurde sehr lebhaft.

»Das ist großartig!« rief er strahlend. »Wann beginnst du damit?«

»Womit?«

»Mit dem Studium der Befestigungslehre.«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe zuvor noch vieles zu erledigen. Mit der Schwerkraft bin ich auch noch nicht ganz fertig. Dann muß ich noch die Theorie der Fortbewegung ausarbeiten, um zu beweisen, wie maßlos fehlerhaft hier die Auffassung des Aristoteles war. Desgleichen muß ich noch beleuchten, wie unmöglich die Behauptung des Aristoteles ist, daß die Fallgeschwindigkeit der schweren Körper größer ist, die der leichteren aber langsamer sein soll. Und dann …«

Der Vater fiel ihm ins Wort:

»Mit einem Wort: jede Phantasterei ist dir wichtiger als das Wohlwollen des Herrschers.«

Galileo holte tief Atem. Mit einem ganzen Strom von Erwiderungen wollte er seinen Vater überschütten. Aber dann fing er gar nicht erst an. Er hielt es für aussichtslos. Als er den alten Mann anblickte, dessen zerfurchtes Gesicht die schweren Sorgen ahnen ließ, unter dessen Augen sich die Haut sonderbar schwarz zu verfärben begann, dessen Hände krampfhaft zitterten, bemitleidete er ihn aus ganzem Herzen. Er fühlte, daß er diesen müden, gequälten, sich dem Grabe nähernden Menschen in rührender Weise liebte.

»Ihr mißversteht mich, mein Vater«, verbesserte er sich selbst, »ich wollte nur sagen, daß ich meine Aufmerksamkeit noch auf andere wissenschaftliche Probleme richten muß. Aber es ist selbstverständlich, daß ich in erster Linie bestrebt sein werde, mir die Anerkennung des Herrschers zu verdienen.«

»Endlich höre ich wenigstens einmal ein vernünftiges Wort von dir«, entgegnete der kränkliche Mann mit geringer Überzeugung.

Dann sprachen sie von der Sache nicht mehr. Je näher die Trennung herannahte, um so mehr mieden sie jeden Anlaß zum Streit. Sie bemühten sich auffallend, einander gegenseitig rechtzugeben. Die Stimmung der Familie wurde nach außen hin immer besser, sie waren alle guter Laune, scherzten zusammen und liebten einander. Der letzte Abend aber riß mit einem Male den ganzen bisher sorgfältig behüteten Frieden ein.

Es war ausgemacht, daß Galileo am nächsten Morgen in aller Frühe nach Pisa fahren sollte. Seine Sachen waren schon gepackt, nur die Kleider, die er morgen anziehen wollte, lagen noch nicht bereit. In einer erdrückenden Julihitze setzten sie sich zum Abendessen nieder. Die Mutter zerdrückte mit betonter Rührung ab und zu eine Träne und war statt streitsüchtig übertrieben zärtlich. Sie trat immer wieder zu ihrem Sohn und küßte ihn mit verkrampfter Liebe. Sie strich ihm über das Haar, nahm von seinem Gewand gar nicht vorhandene Fädchen ab und war bestrebt, ihren mütterlichen Kummer mit allen Mitteln zur Schau zu tragen, als ob sie eine Rolle auf der Bühne zu spielen habe. Das allein wirkte schon aufreizend. Es waren auch Verwandte gekommen: Mitglieder der Familie Ammannati, die sich sonst um ihre Verwandten nicht viel kümmerten, es jetzt aber für schicklich hielten, die Ernennung von Giulias Sohn zum Professor durch ihre Anwesenheit zu feiern. Die ganze Gesellschaft nahm das Mahl auf dem Hofe ein, es gab Gnocchi und Lammkeule und sie tranken dazu viel von dem im Brunnen gekühlten Chianti aus großen Korbflaschen.

»Es ist«, sagte Galileo beim Abendessen, »wie ein Fingerzeig Gottes: gerade heute hat mir das Schicksal die Gnade gewährt, eine neue krumme Linie zu entdecken.«

Sein Vater war der einzige, an den er, seines Verständnisses sicher, diese Worte richten konnte. Die anderen hörten die ihnen unverständliche Rede höflich an, der Vater aber wandte sich neugierig an seinen Sohn.

»Was für eine Kurve?«

»Die Zykloide. So habe ich sie getauft. Wie soll ich das nur schnell erklären? Wenn ein Kreis, ohne daß er gleitet, auf einer geraden Linie fortgewälzt wird und ich an der Peripherie dieses Kreises einen beliebigen Punkt annehme, dann beschreibt dieser Punkt durch die Fortbewegung des Kreises eine gewisse Linie. Diese nenne ich Zykloide. Euklid kannte diese Linie noch nicht, sie ist ihm nicht eingefallen. Mir ist sie eingefallen. Und Ihr, mein teurer Vater, sollt wissen, daß in hundert und abermals hundert Jahren die Menschen auf der ganzen Welt sagen werden: die Zykloide ist zuerst dem Sohne des Tuchhändlers Vincenzo Galilei aus Florenz eingefallen.«

»Warte einmal«, bat der Vater, »ich verstehe es noch nicht ganz. Wie ist das mit dem Kreis und dem Punkt?«

»Wie soll ich es Euch noch erklären? Denkt einmal ganz fest an ein Wagenrad. Recht deutlich sollt Ihr es Euch vorstellen. Schließt doch bitte die Augen.«

»Nun?« fragte der Vater ein wenig ungeduldig.

»Nun stellt Euch auch die Speichen dieses Rades vor. Stellt Euch vor, daß auf eine dieser Speichen, sagen wir etwas nach der Mitte zu, in der Nähe der Achse, ein Schmutzklümpchen spritzt, da bleibt doch auf der Speiche ein Punkt, nicht wahr?«

»Nun und –?«

»Bis jetzt stand der Wagen. Jetzt aber setzt er sich in Bewegung. Das Rad dreht sich. Und nun stellt Euch einmal ganz deutlich vor, was für eine Linie dieser Punkt beschreibt: eine wellenförmige Linie. Man kann sie ganz genau aufzeichnen. Das ist die Zykloide. Die Galileische Zykloide. Meine Zykloide! Könnt Ihr Euch das vorstellen?«

Der Vater schüttelte den Kopf.

»Ich sehe es noch immer nicht ganz klar.«

»Michelagnolo«, rief Galilei seinem jüngeren Bruder zu, »lauf und bring' schnell Stift und Papier.«

Unlustig erhob sich der Junge, weil er sein Essen im Stich lassen mußte. Er gehorchte aber, weil es der Abschiedsabend seines Bruders war. Nach einer kleinen Weile brachte er auch schon das Schreibgerät und fiel sofort wieder beleidigt grollend über sein Essen her. Galileo zeichnete mit geübten schnellen Zügen. Er hatte eine geschickte Hand und sicheres Augenmaß: er zeichnete die Kreise so ebenmäßig wie ein Zirkel. Dicht nebeneinander setzte er mehrere Kreise und zeichnete in jeden den angenommenen Punkt ein. Bald war auch die ganze Abbildung fertig: die miteinander verbundenen Punkte ergaben die Kurve. Würdevoll nickte der Vater, als ob er diese Erfindung gemacht hätte; zwar hatte sein Sohn das alles erdacht, er aber hatte diesem Sohn das Leben gegeben. Die anderen schwiegen und langweilten sich.

»Das ist aber noch nicht alles«, erklärte Galileo siegesgewiß, »denn ich muß diesen Punkt nicht unbedingt innerhalb des Kreises annehmen, ich kann ihn auch außerhalb des Kreises annehmen, vorausgesetzt, daß der Punkt mit dem Kreise irgendwie verbunden ist und sich mit dem Kreise bewegt. Seht einmal dieses Ergebnis an. Diese Zykloide hat schon Schlingen. Ist es nicht wunderbar? Ich kann das Ganze selbst noch gar nicht übersehen. Die Eigenschaften, die Natur und Vielfalt dieser neuen Kurve, ihre vielen Variationen sind schier unübersehbar. Es wird Wochen, sogar Monate dauern, ehe ich das bis in alle Einzelheiten untersucht habe. Sobald ich in Pisa bin, stürze ich mich sofort drüber. Mit nichts anderem will ich mich befassen als damit.«

»Mit nichts anderem?« fiel da der Vater ein. »Wovon willst du leben, wenn du dich nur damit befaßt? Von fünf Goldstücken monatlich?«

»Aber, mein Vater, kann ich jetzt noch an etwas anderes denken? Versteht doch: eine neue Kurve! Wißt Ihr, was das heißt? Der Ellipse und der Parabel ist eine Schwester geboren worden! Oder sagen wir: ein Vetter; denn das ist kein Kegelschnitt wie jene, das ist ein Weltereignis wie der Untergang der spanischen Armada vor zwei Jahren oder die Enthauptung der Maria Stuart, ebenfalls vor zwei Jahren. Würde ich jetzt schon für immer zu arbeiten aufhören, wäre ich bereits für alle Zeiten ein berühmter Mann.«

Da aber begehrte der Vater gereizt auf.

»Berühmter Mann, berühmter Mann …! Wenn du trotz deines großen Rufes vor Hunger stirbst, was nützt dann deine neue Kurve?«

»Was sie nützt? Mein Vater, um Himmels willen, eine neue Kurve! Versteht Ihr denn nicht, was das heißt?«

»Ich verstehe es nicht. Und ich will es auch gar nicht verstehen. Ich weiß nur, daß du nach so vielen Jahren des Elends und der Stellungslosigkeit morgen endlich deinen ersten mit festem Verdienst verbundenen Posten übernimmst. Aber statt nun als ernster Mensch auf dein Vorwärtskommen bedacht zu sein, hast du auch jetzt nur diese Spielereien im Kopfe.«

»Spielereien?« rief der Entdecker der Zykloide bestürzt.

»Jawohl, Spielereien! Ich wollte es zwar für mich behalten, aber wenn wir schon einmal soweit sind, kann ich es auch nicht mehr verschweigen. Diese Sachen sind deine Spielereien, wie es der Kreisel für die kleinen Kinder ist! Und das, womit du dir die Zeit vertreibst, unterscheidet sich nicht im geringsten von den Rätselaufgaben eines Gesellschaftsspiels. Du vertreibst dir nur die Zeit! Du vergnügst dich nur! Du zeichnest hier herum, wie kleine Kinder schmieren, und nennst das Wissenschaft. So ist es sehr leicht, Wissenschaft zu pflegen; denn du läßt dich währenddessen von deinem Vater ernähren.«

Galileo schluckte bitter.

»Das ist wahr, daß Ihr für mich gesorgt habt, obwohl ich schon über fünfundzwanzig Jahre alt bin. Aber daß Ihr mir das gerade wieder unter die Nase reibt, wenn ich zum letzten Male an diesem Tische sitze, das ist nicht schön von Euch. Und warum tut es Euch weh, wenn ich in meiner Arbeit auch noch Freude und Zerstreuung finde? Gönnt Ihr mir diese Freude nicht?«

Geräuschvoll und laut polternd erhob sich da seine Mutter von ihrem Platz.

»Ich lasse meinem Sohn nichts antun, Vincenzo«, rief sie breit und theatralisch, »quäle am heutigen Abend meinen teuren Schatz nicht!«

Schnell trat sie zu ihrem Sohn, drückte ihn krampfhaft an sich und während sie ihn kräftig abküßte, begann sie zu weinen. Mit einer ungeschickten Bewegung warf sie ein Glas um, Anna und Virginia rückten kreischend zur Seite, weil sich der Wein auf ihre Kleider ergoß.

»Ach, laßt mich, Mutter«, wehrte Galileo gereizt ab. Die Stimme der Mutter fiel mit einem Male um.

»Was? Ich soll dich lassen? Du stößt mich zurück, wenn ich dich küsse und dich am letzten Abend in Schutz nehme? Gibt es denn überhaupt auf der ganzen Welt einen schändlicheren und undankbareren Sohn als dich?«

Die ganze Wucht ihres Zornes machte sich nun in einem wilden Redeschwall Luft. Sie schrie und schrie. Man redete ihr gut zu, doch das erhöhte nur noch ihre Wut. Da verlor der Vater die Geduld und wendete sich auch gegen seinen Sohn. Er beschimpfte ihn laut, weil er den Ausbruch der Mutter verschuldet hatte. Vater und Mutter lärmten und schimpften gleichzeitig. Der eine Vetter Ammannati, sonst ein friedlicher Polier, trat dazwischen, um sie zu beruhigen. Jetzt schrien sie schon zu dritt durcheinander. Aus den Nachbarhäusern rief man auch schon gereizt herüber, die Mädchen gaben laute, spitze Antworten, die Familienfeier für den scheidenden Sohn verwandelte sich in einen wüsten Skandal.

Galileo hielt diesem tobenden Orkan nicht länger stand. Mit einem Male sprang er auf und, so wie er war, trat er in Hemdsärmeln auf die Straße und eilte, ohne stehenzubleiben, fort. Erst am Ufer des Arno machte er halt. Aber auch hier fand er keine Ruhe; denn viele Menschen wollten sich dort nach der Hitze des Tages an der Kühle der Nacht laben. Er wäre jetzt nicht imstande gewesen, auf Fragen oder Anreden von Bekannten zu antworten. An den Häuserreihen entlang eilte er weiter, dem stilleren Stadtende zu. Erst sehr weit draußen wurden die dunklen Ufer menschenleer, nur von weitem schallten die Schritte eines einsamen Heimkehrenden an sein Ohr.

Er setzte sich am Flußufer nieder und überließ sich der Stille. Es dauerte lange Zeit, bis seine erregten Nerven sich wieder beruhigt hatten, bis er über sein Schicksal, seine Zukunft, sein Leben, wieder nachdenken konnte. Schmerzlich durchzuckte sein Herz die Erkenntnis, wie sehr er doch allein stand, wie wenig er sich mit Menschen verständigen konnte. Obwohl er schon ein erwachsener Mann war, lebte er auf Kosten seiner Familie, das war nicht zu leugnen. Aber was wußten die schon davon, mit wie vielen und wie wichtigen Sachen er sich zu beschäftigen hatte in der Zeit seiner scheinbaren Beschäftigungslosigkeit? Was wußten die schon von der wunderbaren Welt, die in ihm aufging, langsam, nach und nach, aus ganz neuen Erkenntnissen und von der bisherigen Ordnung vollkommen abweichend? Er hatte seine Einsamkeit, die allgemeine Verständnislosigkeit schweigend ertragen und es nicht fertiggebracht, trotzig aufzubegehren und sich mit dem heldenhaften Mute der einsamen Großen zur Verlassenheit zu bekennen. Er sehnte sich heftig nach Freunden, in seinem Herzen brannte die Sehnsucht nach der vertrauten Familie. Von ganzen Herzen liebte er seinen Vater, seine Mutter und seine Geschwister; aber umsonst streckte er seine Hände nach ihnen aus, – fremd und verständnislos glitten sie zwischen seinen sehnsüchtigen Armen ins Nichts.

Bis Mitternacht blieb er am Ufer des dunklen Stromes einsam sitzen. Dann ging er nach Hause. Vor dem Tore spähte und horchte er eine ganze Weile. Kein Ton erklang, kein Lichtschein war zu sehen. Vorsichtig trat er durch die Pforte und verfluchte innerlich das Knarren der Türangeln. Er schritt über den im Mondschein still daliegenden Hof, suchte sein Wams, zog es an und tappte sich in den Laden, wo sein geschnürtes Bündel bereitlag. Er hängte es über die Schultern und ging hinaus. Die Türe knarrte abermals; er wartete, ob wohl drinnen jemand erwachte. Aber es rührte sich nichts. Da preßte er seine Stirne gegen den Türpfosten und begann zu schluchzen. Er fühlte sich wie ein hilfloses kleines Kind, das man aus dem elterlichen Hause trieb. In Gedanken umarmte er die Eltern und die Geschwister. Verabschieden wollte er sich aber nicht mehr von ihnen.

In der dunklen Nacht trottete er dem Dom zu. Hier sollte er frühmorgens um vier Uhr den Wagen des Töpfers treffen, der zum Markt nach Pisa fuhr. Galileo ließ sich bei dem Haupteingang des Domes unter den Bronzefiguren Ghibertis nieder. Seine Augen waren noch feucht von den Tränen, sein beklommenes Herz beruhigte sich aber nach und nach. Er mußte an die Zykloide denken und zeichnete in Gedanken mit immer regerer Anteilnahme die verschiedensten Möglichkeiten dieser Kurve auf. Und alsbald hatte sich ein sanfter Trost auf sein Herz gelegt.

Um drei Uhr wurde es hell. Ungeduldig, mit brennenden Lidern über den nach Schlaf verlangenden Augen, wartete er auf den Wagen. Endlich verkündete ein dumpfes Poltern sein Herannahen. Dann hielt der Wagen vor ihm.

»Guten Morgen!« rief er dem Töpfer zu.

»Guten Morgen!« erwiderte der frisch und laut.

Ihre Worte hatten eine besondere Kraft in dem noch unberührten frühen Morgen. Galileo legte sein Bündel auf den Wagen und setzte sich neben den Töpfer. Sie fuhren los. Inzwischen war es vollkommen hell geworden. Die Häuser, die in dem seltsamen Frühlicht überraschend scharfe Umrisse hatten und in ungewöhnlich lebhaften Farben leuchteten, blieben nacheinander hinter dem ratternden Wagen zurück. Als Galileo vom Rande der Stadt nochmals zurückblickte, lag Florenz wie eine aus purem Golde erbaute Stadt in gleißendem Funkeln da.


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