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Kapitel XXI.
Der Vorgeschmack des Todes

Ich habe beschlossen, mehr als ein Vierteljahrhundert zu überspringen, die Ereignisse der Reifezeit einer späteren Beschreibung zu überlassen und sofort mit meinem Alter anzufangen, denn ich möchte da noch einiges mit der genauen Treue eines Tagebuches erzählen.

Ich hatte oft gehört, daß in das dreiundsechzigste Lebensjahr das große Klimakterium im Leben eines Mannes fällt. Aber ich hatte keine Ahnung, was es wirklich bedeutet, bevor ich das Alter überschritten hatte.

Die Liebe spielte in meinem Leben mit sechzig eine ebenso große Rolle wie mit vierzig Jahren und konzentrierte sich hauptsächlich auf die schlanke, mädchenhafte Schönheit. Ich möchte hier von einem Erlebnis erzählen, das auf manche unbewußte Regung ein bezeichnendes Licht wirft. Während ich in Roehampton lebte und die »Saturday Review« herausgab, pflegte ich fast jeden Tag im Richmond Park zu reiten. Eines Morgens sah ich, daß sich etwas im hohen Farnkraut bewegte, und als ich an die Stelle ritt, fand ich einen Wächter, der neben einem jungen Reh kniete. »Was ist denn los?« fragte ich.

»Allerhand los«, erwiderte er und hob die Hinterbeinchen des Tieres in die Höhe, um mir zu zeigen, daß sie beide gebrochen waren. »Sehen Sie sich mal das Tier an, hübsch wie ein Bild, nicht wahr? Die arme, kleine Ricke ist ungefähr ein Jahr alt, in diesem Herbst wurde sie hitzig, und nun suchte sie sich den größten und ältesten Bock im Park aus, rieb sich gegen ihn, das arme, kleine Tier, und auf einmal knacksten ihre beiden Stöckchen von Beinen unter seinem Gewicht zusammen, und ich fand sie dann mit kaputten Knochen, ohne daß sie etwas davon gehabt hätte. Jetzt muß ich ihrem Leiden ein Ende machen, und sie ist so glatt und hübsch, nicht wahr?« Und er strich mit der Hand zärtlich über das seidige Fell.

»Müssen Sie sie wirklich töten?« fragte ich. »Ich würde dafür bezahlen, daß man ihr die Beinchen eingipst.«

»Nein, nein,« erwiderte er, »es würde viel zu viel Zeit und Mühe kosten, und wir haben eine ganze Menge davon. Die arme, kleine Ricke muß sterben.« Und als er den feinen Kopf sanft streichelte, sah ihn das Reh mit großen, tränenvollen Augen an.

»Verlieren Sie viele auf solche Weise?« fragte ich.

»Nicht sehr viele, mein Herr«, erwiderte er. »Wenn sie diese Jahreszeit überstanden hätte, wäre sie im nächsten Jahre kräftig genug gewesen, um den schwersten auszuhalten. Es war schon ihr Pech, daß sie im Rudel des stärksten und schwersten Bocks im ganzen Park geboren wurde.«

»Hat das Alter irgend etwas mit der Anziehungskraft zu tun?« fragte ich.

»Sicherlich,« erwiderte der Wächter, »der alte Bock ist immer hinter diesen Kleinen her, und die jungen Ricken sind immer bereit. Es ist halt schon Tiernatur«, fügte er wie bedauernd hinzu.

»Tiernatur,« sagte ich zu mir selbst, als ich wegritt, »und auch Menschennatur, fürchte ich.« Eine Bangigkeit oder Vorahnung legte sich schwer um mein Herz.

Es war im Frühsommer des Jahres 1920, nachdem mein fünfundsechzigster Geburtstag hinter mir lag, als mich ein junges Mädel aufsuchte, um mich zu fragen, ob ich für sie Beschäftigung als Sekretärin hätte. Ich hatte keine Verwendung für sie, denn ich stand gerade vor meiner Abreise aus Newyork, aber ich fand sie hübsch und aufreizend sogar. Aber zum ersten Male in meinem Leben blieb ich kühl und gleichgültig. Als ihre schlanke Gestalt in der Tür verschwand, wurde ich mir plötzlich in einer überwältigenden, erstickenden Welle von Bitterkeit des Elends meiner Lage bewußt. Also das war das Ende. Dann kam mir der Gedanke an meine Arbeit in den Sinn. In der letzten Zeit fielen mir keine neuen Geschichten mehr ein. Sollte mich auch die schöpferische Gewalt der Imagination mit der männlichen Kraft verlassen haben? Besser tot, als diese unfruchtbare Zukunft, diese furchtbare, monotone Wüste! Wie ich dann in meinem dunkelnden Bureau saß, strömten mir die Tränen aus den Augen – also das war das Ende!

Ich schleppte mich nach Hause. Dort würde ich ganz allein imstande sein, den Jammer in seiner ganzen Tragweite zu ermessen. Zum ersten Male in meinem Leben, glaube ich, stiegen Tränen in meinem Herzen auf, und ich erstickte in dem Gefühl der Sterblichkeit des Menschen.

»O Tränen, leere Tränen, ich kenne euren Sinn,
Aus göttlichen Jammers Tiefen entquollen ...

(Warum »göttlich«, warum nicht verflucht?)

Schwellen im Herzen, in Augen sich drängen,
Wenn sie das herbstlich' Glück der Felder schauen –
An Tage denken, die vergangen sind –
O Tod im Leben! Tage, die verweht!«

Ein furchtbarer Vorfall kam mir in Erinnerung. Eines Tages, lange vor dem Weltkrieg, schickte mir Meredith ein Exemplar des »Richard Feverel« zu, das er mit Korrekturen versehen hatte. In seinem Briefe schrieb er mir, daß er die Absicht habe, alle seine Bücher für eine endgültige, definitive Ausgabe zu korrigieren. Er wollte wissen, was ich von den Veränderungen hielte, die er gemacht hatte. »Ich hoffe, daß Sie sie alle als Verbesserungen empfinden werden,« schrieb er, »aber seien Sie ehrlich mit mir, ich bitte Sie darum. Denn Sie sind beinah der einzige lebende Mensch, auf dessen Urteil ich mich in diesen Dingen verlassen kann. Auch Morley ist ein guter Beurteiler, aber nicht für schöpferische Arbeit. Und da Sie immer eine gewisse Vorliebe für ›Richard Feverel‹ hatten, schicke ich Ihnen das Buch mit der Bitte um Ihre Ansicht.«

Ich war selbstverständlich gerührt und setzte mich hin in dem sicheren Gefühl, daß die Korrekturen auch wirklich Verbesserungen sein würden. Aber schon der erste Einblick erschütterte mich. Er zog dauernd das farblose Wort dem farbigen vor. Ich sah die Arbeit mit größter Sorgfalt durch. Unter ungefähr dreihundert Veränderungen waren kaum drei oder vier, mit denen ich einverstanden war. Die übrigen schwächten nur die Wirkung. Ich stieg sofort in mein Auto und fuhr nach Box Hill.

Ich kam in das kleine Haus am Spätnachmittag und fand Meredith vor, der gerade von einem Eselsritt zurückgekehrt war. Er nahm mich in sein Arbeitszimmer in dem kleinen Blockhaus fern vom Hauptgebäude, und nun gingen wir aufeinander los. »Sie haben Wasser in Ihre Tinte gegossen«, schrie ich, »und haben einige der schönsten Seiten der englischen Sprache ruiniert. Sie haben sogar das Liebeswerben im Boot abgeschwächt. Um Gottes willen, hören Sie damit auf und lassen Sie das Gute, ja Ausgezeichnete, in Ruh'.«

Er wollte zuerst meine Ansicht nicht gelten lassen, und so nahm ich eine Veränderung nach der andern mit ihm durch. Die Stunden flohen. »Wie erklären Sie die Tatsache,« rief er schließlich aus, »daß ich noch immer nicht überzeugt bin, daß Sie mich im tiefsten Herzen nicht bekehrt haben?«

Ich mußte die Wahrheit aussprechen, es blieb mir nichts anderes übrig. »Sie werden alt,« sagte ich, »die schöpferische Kraft verläßt Sie, fürchte ich. Verzeihen Sie mir, bitte, meine brutale Offenheit!« rief ich aus, denn sein Gesicht wurde plötzlich ganz grau. »Sie müssen wissen, wie ich Sie und jedes Wort dieser Szene verehre. Das größte Liebesidyll in der ganzen Literatur ist mir unendlich teuer. Es ist sogar größer als Shakespeares ›Romeo und Julia‹. Verändern Sie da kein Wort, bitte, nicht ein Wort. Sie sind alle heilig.«

Ich weiß nicht, ob es mir gelang, ihn zu überzeugen, oder nicht. Ich fürchte nicht. Mit dem zunehmenden Alter werden wir immer eigensinniger, und er sagte später einmal, daß es ihm Freude mache, seine früheren Arbeiten zu korrigieren.

Aber die Tatsache blieb mir in der Seele haften. Meredith hatte das große Klimakterium überschritten. Er muß damals mehr als Sechsundsechzig gewesen sein und hatte selbst die Fähigkeit eines unparteiischen Urteils verloren.

Hatte ich sie auch verloren? Es war nicht unwahrscheinlich.

Gott! diese Bitterkeit des Todes im Leben – »die Tage, die vergangen sind!«

Von diesem Tage an begann ich über mein Alter zu sprechen, ließ Männer oder Frauen erraten, traf jedoch auf keine Verständigung selbst bei klugen Frauen. Wenn man nicht kahlköpfig ist und keine grauen Haare hat – die Stigmata der Senilität – ist man ganz richtig in ihren Augen, ganz richtig! Ach Gott!

Ich fand bald, daß meine Urteilskraft nicht nachgelassen hatte. Meine schlimmste Angst hatte sich also als grundlos erwiesen. Die fehlende Freude, selbst das schaudernde Mißtrauen in die geschwächten Fähigkeiten kann ohne Klage ertragen werden. Der allgemeine Gesundheitszustand jedoch beginnt, sich zu verschlimmern. Wenn man sich erkältet, bekommt man rheumatische Schmerzen, die sich nicht so leicht kurieren lassen. Wenn man etwas ißt, was einem nicht bekommt, wird man nicht für einige Stunden krank wie im Mannesalter, sondern für Tage und Wochen. Wenn man nicht genug Bewegung hat oder nur ein bißchen zu viel, leidet man wie ein Hund. Die Natur wird zu einem lästigen Gläubiger, der einem keine Ruhepause gönnt.

Ich erinnere mich, daß ich vor Jahren das Pitthaus auf dem Gipfel von Hampstead Heath besuchte. Ich erkundigte mich, warum es das Pitthaus genannt wird. Ich erfuhr, daß der Eigentümer, als er hörte, daß Lord Chatham krank sei, das Haus dem großen Staatsmann zur Verfügung stellte und daß es seit jener Zeit immer als das Pitthaus bekannt sei. Hier wohnte der Mann, der den Briten nach einer Reihe parlamentarischer Triumphe ein Reich gewonnen hatte. Hier verbrachte er seine letzten Tage in tiefer Einsamkeit und dunkelster Melancholie. Von Gicht geplagt saß er den ganzen Tag lang allein in dem kleinen Zimmer, ohne ein Buch sogar, den schweren Kopf auf die Hand gestützt. Er konnte selbst die Anwesenheit seiner Frau nicht ertragen, obwohl er sie jahrelang so geliebt hatte. Er wollte nicht einmal einen Dienstboten sehen. Er ließ eine Öffnung in der Mauer anbringen, um sich das Essen hereinholen zu können, das man ihm auf einem Brett reichte. Dann schloß er wieder die Schiebetür und sonderte sich von der Außenwelt ab. Man stelle sich vor – er, Jahre hindurch Herrscher der Welt, dessen seltenes Erscheinen im Unterhause immer zum Triumph wurde, in diesem Zustande verzweifelter Einsamkeit verelendet. Dieser Ausschnitt in der Mauer war für mich ebenso bedeutungsvoll wie seine große Rede und Verteidigung der amerikanischen Kolonisten.

Das Alter ist gewöhnlich durch Anfälligkeit verbittert. Bei mir ist es jedoch, Gott sei Dank, nicht der Fall. Ich fühle mich mit siebzig Jahren fast ebenso gesund, wie ich früher war, ja eigentlich noch besser. Ich weiß, wie ich mich gesund erhalten kann und mich vor den Unannehmlichkeiten des Alters und den meisten seiner Krankheiten schützen soll. Ich will die Geschichte hier zum Vorteil der anderen in Kürze erzählen.

Bei meinem dritten Aufenthalt in Südafrika gegen Ende der neunziger Jahre holte ich mir das Schwarzwasserfieber und wurde beim Chobéfluß von allen meinen Kulis verlassen, die glaubten, daß Geister über mich gekommen seien, weil ich delirierte und lauter Unsinn vor mich hinredete. Ich werde später einmal ausführlich erzählen, wie ich mich nach vier Monaten von Delirium und Verhungern zum Meere und zur Zivilisation durchgeschlagen habe. Hier erwähne ich nur, daß, als ich mich auf dem Schiff auf der Rückreise nach Europa befand, die Innenseite meines Magens sich in Fetzen und Stücken ablöste, und als ich London erreichte, war ich ein Märtyrer einer chronischen Verdauungsstörung. Ich verbrachte zwei Jahre meines Lebens damit, von einem berühmten Arzt zum anderen in ganz Europa zu gehen – und alles vergeblich. Der eine ließ mich nur von Trauben leben, der andere von Gemüse und der dritte von nichts als Fleisch. Aber ich litt fast ununterbrochen und magerte zum Skelett ab.

Meinem Hausarzt in London verdanke ich die erste Besserung. Er befahl mir, das Rauchen aufzugeben. Ich hatte mein ganzes Leben lang übermäßig geraucht. Ich unterließ es sofort, obwohl ich zugeben muß, daß es mir nie schwerer fiel, mit einer Gewohnheit zu brechen. Noch ein Jahr später wässerte mir der Mund, sooft ich den Rauch einer wirklich guten Zigarre spürte, obwohl ich bald entdeckte, daß seit der Zeit, da ich das Rauchen aufgegeben hatte, mir das Essen viel besser schmeckte und die Weine eine Blume bekamen, die ich nie vermutet hatte. Wenn ich mein Leben noch einmal leben sollte, würde ich nie wieder das Rauchen aufnehmen. Es ist, glaube ich, die schlimmste aller Gewohnheiten, sowohl dem Genuß wie der Gesundheit abträglich. Aber die Verdauungsstörung hielt an, und das Leben wurde mir ein einziger Jammer. Auf Schweningers Rat versuchte ich, vierzehn Tage lang zu fasten, und es half mir etwas, aber nicht viel.

Eines Tages riet mir mein kleiner Hausarzt in London, die Magenpumpe zu versuchen. Das Wort schreckte mich zuerst. Aber als ich sie das erstemal mit Hilfe des Arztes verwandte, spürte ich sofort eine solche Erleichterung, daß ich sie kaum zu beschreiben vermag. Ich hatte mich elend gefühlt, und im Augenblick war ich ganz gesund.

Am nächsten Tage wusch ich mir wieder den Magen aus und stellte bald fest, was ich verdauen konnte und was unverdaut blieb. Das Schwarzwasserfieber hatte die Milz geschwächt, und ich konnte weder stärkehaltige noch fette Sachen vertragen. In einer Woche lehrte mich die Magenpumpe eine wissenschaftliche Diät. Ich liebte Kaffee, aber ich fand, daß er Gift für mich war, denn er hielt die Verdauung auf. Ich verzichtete selbstverständlich darauf, ließ auch Brot, Butter und Kartoffeln weg, und sofort begann meine Verdauung richtig zu funktionieren. Ich habe mir jetzt fünfzehn oder zwanzig Jahre lang ungefähr neunmal in zehn Tagen den Magen ausgewaschen, und ich finde es nicht unangenehmer als zum Beispiel das Zähneputzen. Ich schlafe nachher ausgezeichnet. Dank der Magenpumpe, der striktesten Mäßigung im Essen und Trinken und einer vollkommenen Abstinenz vom Rauchen fühle ich mich beinah im Vollbesitz meiner Gesundheit. Es geht mir jetzt sicherlich besser als vor vierzig Jahren. Mit siebzig Jahren kann ich noch hundert Yards in ein paar Sekunden so schnell rennen wie mit zwanzig. Und fast jeden Tag mache ich meinen kleinen Galopp.

Ich habe mich zur vollkommenen Gesundheit durchgerungen, aber das Alter läßt sich nicht leugnen, wenn man es auch an die Schwelle bannt. Das Schlimmste daran ist, daß es einem jede Hoffnung raubt. Man seufzt, statt zu lachen, das Bild des unmittelbar nahen Grabes verläßt einen nicht mehr; und da das große Abenteuer der Liebe einen nicht länger reizt, wird man der Monotonie der Arbeit und der mattgewordenen Pflichten müde. Ohne Hoffnung wird das Leben farblos, flach und unwesentlich.

Das Schlimmste ist eben die Hoffnungslosigkeit. Wenn man früher Geld brauchte, konnte man es sich auf zwanzigerlei Art verschaffen. Etwas Nachdenken und Energie: und die Schwierigkeit war überwunden. Jetzt – ohne Verlangen, ohne Hoffnung, ohne Freude –, wo soll man da die Energie finden? Der bloße Gedanke an den Kreuzzug stößt einen ab. Warum? Wozu? Was hat man denn davon? drängt sich auf die Lippen, während einem die Tränen in die Augen steigen.

Auch mein Gedächtnis für Namen ist plötzlich sehr schlecht geworden. Ich erinnere mich oft an Worte, die ich zitieren will, aber ich kann mich auf den Namen des Dichters nicht besinnen. Oder ich gehe in ein Geschäft, um ein Buch zu kaufen, und ich habe den Autor vergessen. Dies alles steigert meine Mühe und ist mehr als lästig.

Ich tröstete mich damit, daß es eine andere meiner Schwächen ausgleicht, die außerordentlich angenehm ist. Mein ganzes Leben lang habe ich auf die seltsamste Weise unangenehme Ereignisse und durchschnittliche Menschen vergessen. Meine Frau fragt mich oft: »Erinnerst du dich an Mary oder Sarah?« einen Dienstboten, der dies getan oder jenes verbrochen hat. Ich habe keine Ahnung. Ich erinnere mich, wie meine Frau mir einmal in Newyork furchtbar zürnte, weil ein zweitklassiger Schriftsteller mich bis an unser Haus begleitete und es fertig brachte, von mir zehn Dollar zu entleihen. »Erinnerst du dich nicht, wie er vor knapp sechs Monaten gegen dich gesprochen und geschrieben hat?« Ich hatte den ganzen Vorfall vergessen. Die kleinen Jämmerlichkeiten des Lebens lösen sich mir schnell in Vergessen auf, und dies zähle ich zu den größten Segen meines Lebens. Die Vergangenheit ist für mich lieblich und angenehm wie eine köstliche, sonnenverschleierte Landschaft.

Aber die Gegenwart wird immer dunkler, und erst die Zukunft ... Whitmans Klage in seinen »Grashalmen« hallt in meinem Herzen wider.

»In reifender Jugend begonnen und ständig verfolgt,
Wandernd, spähend, verweilend bei allem – durch Krieg
Und Frieden, durch Tag und Nacht hindurch,
Nicht für einer kurzen Stunde Dauer verlassend mein Werk,
Verende ich hier in Schwäche, Armut und Alter
Und singe vom Leben und trage den Tod im Sinn:
An meine Schritte heftet sich heut der schattende Tod
Und schreckt aus der Ruhe mich auf.
Und manchmal steht er ganz nah vor meinem Angesicht.

Und doch fesselt uns etwas, vielleicht ist es die »freundliche Gewohnheit des Daseins«, wie Goethe es nennt.

Ich kann jedoch den Trost nicht gelten lassen. Mit dem Zauber der Liebe ist auch der Glanz aus meinem Leben verschwunden. Vor zehn Jahren las ich die Anzeigen der Pariser Theater mit der größten Neugier; heute würde ich nicht die Straße kreuzen, um eine verpuffende Sensation der Stunde zu sehen. Noch vor fünf Jahren nahm ich das Buch, das ich gerade korrigiert hatte, frisch vom Druck mit stärkstem Interesse in die Hand. Brachte es etwas Neues oder Außergewöhnliches? Heute lese ich's mit dem äußerst geschärften kritischen Blick, weil der Glanz auch aus meiner eigenen Arbeit verschwunden ist. Ich sehe klar, daß der vierte Band meiner »Zeitgenössischen Porträts« nicht auf derselben Höhe ist wie die ersten beiden. Ich weiß, daß mein Novellenband »Ungeahnte Küsten« bei weitem nicht so gut ist wie sein Vorgänger, die »Unbeschrittnen Gewässer«.

Die Himmel sind des Lichtes entkrönt,
Die Erde der Sonne enteignet.

Warum also den Kampf fortsetzen? Warum nicht mit einer Spritze ein Ende machen. Ich habe keine Angst vor dem »unentdeckten Land«, gar keine! Warum also zögern? Ich kann nicht hoffen, daß ich mit siebzig Jahren besser schreiben werde als mit sechzig. Ich weiß, daß es nicht wahrscheinlich ist. Warum noch eine Stunde lang auf der Bühne zögern? Ich weiß nicht.

Ich durchschreite die Erde, atme und fühle die Sonne.

Und das hat einen gewissen Reiz, aber einen sehr geringen. Der erste harte Stoß, und ich werde gehen. So wie es nun einmal ist, hält mich die Zukunft meiner Frau mehr denn alles andere zurück. Ich sollte sie kränken und ihr weh tun? ihr, der ich so viel verdanke?

Hier liegt die kleine Spritze, morgen werde ich das Morphium kaufen.

Gibt es denn keine Freude im Leben? O ja, es gibt eine, die größte, stärkste und ohne jede Beimischung – Lesen – und in zweiter Linie der großen Musik zuhören, schöne Bilder sehen und neue Kunstwerke, alles reinste Freude ohne jeden Beigeschmack!

Chaucer ist einer der vielen Zauberer, die mir die ganze Welt verändern können und schwere Zeiten der Bangigkeit zu freudeschäumenden hellen Stunden verwandeln. Es gibt noch, Gott sei Dank, Hunderte von Büchern, die ich lesen will, ich möchte Russisch lernen und eine neue Kunst auf Gottes Welt sehen. Es gibt noch auf Jahre hinaus für mich zu tun. Und in erster Linie gibt es Heinrich Heine, dessen Leben ich einmal schreiben wollte und immer will! Heine, nach Shakespeare mir der liebste aller Menschen, der klügste aller modernen – nur nicht in seinem persönlichen Leben.

Und so bin ich wieder in den tiefen Freuden der Seele gebadet, in den Freuden der Kunst, des künstlerischen Strebens und künstlerischer Erfüllung, die uns Modernen im Altern den Trost der Religion ersetzen. Hier erreichen wir Sterblichen schließlich den festen Boden in der tiefsten Überzeugung, daß wir endlich unser Erbteil angetreten haben. Denn indem wir unsere eigenen Höhen nachleben, wie Künstler es tun, können wir nicht nur eine neue Welt schöner und seelenbefriedigender, als irgendeine, die sich ein Fanatiker der Zukunft auszumalen vermag, gestalten, sondern es gelingt uns auch, unser Paradies zu betreten und es zu genießen, wenn es uns gefällt, und Liebe ist über dem Tor in leuchtenden Lettern geschrieben. Und alle, die einziehen wollen, sind willkommen und können ihr Hoffen nicht überspannen, denn hier werden alle Wünsche erfüllt, alle Vorstellungen übertroffen.

Nun muß ich mich schließlich ernst an die Aufgabe machen. Gott sei Dank, daß man durch Aufnahme von Gedanken seiner Statur etwas hinzuzufügen vermag. Wie lautet meine Botschaft an die Menschen?

Teils ist es die kühne Freude an der Liebe und am offenen Wort, teils die Bewunderung der großen Menschen, hauptsächlich der großen Wohltäter der Menschheit, der Künstler und Dichter, die unsere Freuden steigern, und der Männer der Wissenschaft und Heilkunst, die unsere Leiden vermindern. Hier liegt unsere Gelegenheit. Hier in diesen siebzig Jahren des Erdenlebens unser edles, einziges Erbteil.

Und aus dieser Überzeugung heraus hasse ich Kriege und den aggressiven Kämpfergeist der großen Erobererrasse, der Angelsachsen, mit ihrer irrsinnigen, selbstsüchtigen Gier nach Macht und Reichtum. Ich hasse ihre Erfolge und fürchte das Leben, das sie sich mit Blut als Zement aufbauen. Ich möchte alle Heere und Kriegsflotten aufgelöst und die Herstellung von Munition überall als Verbrechen geahndet wissen.

Und ich möchte neue Heere anwerben. Ich möchte das Geld, das man in Angriff und Verteidigung verschwendete, wissenschaftlichen Zwecken zuführen. Pflegestätten der Wissenschaft müßten in jeder Stadt in großzügigster Art gegründet werden und Forscher für selbständige wissenschaftliche Arbeit bestimmt, die man gleich Offizieren ehrt. Ich will Kunst- und Musikschulen in jeder Stadt haben, Opernhäuser und Theater an Stelle von Kasernen, und in erster Linie Spitäler an Stelle von Gefängnissen, Ärzte an Stelle von Gefängniswächtern, Krankenschwestern an Stelle von Henkern. Und zuerst und vor allem Nahrung und ein Dach überm Kopf für jedermann gesichert und keine Fragen in unsern Armenhäusern gestellt, die nichts weiter sind als die Versicherung des Reichen gegen das Unheil. –

Alle meine Ideale sind menschlich und alle erreichbar; verwirklicht jedoch würden sie das Leben wandeln.

Und wenn dieses neue Ideal nicht bald ins Leben umgesetzt wird, bangt mir um die Zukunft der Menschheit, denn die Kluft gähnt vor uns. Der berühmte Gelehrte, Sir Richard Gregory, stößt in der englischen Tagespresse des Jahres 1924 einen Alarmruf aus. Er sagt uns, daß wir »auf der Schwelle von Entwicklungen stehen, durch die Mächte entfesselt und Kräfte erlangt werden weit über unsere jetzige Vorstellungswelt hinaus, falls man jedoch diese Gaben mißbraucht, wird die Menschheit von diesem Planeten verschwinden«.

Und doch verschwenden England und Amerika Tausende von Millionen für Heer und Flotte, Gebißreihen falscher Zähne, mit denen man nicht einmal beißen kann, wie ich dem Präsidenten Harding zu seinem Entsetzen sagte.

Was kann ich tun, um dem neuen idealen Staat und dem neuen idealen Individuum den Weg zu bahnen? Sehr wenig – und das wenige wird in demselben Maße wirksam werden, in dem ich mich bessere und die Balken aus meinen eigenen Augen entferne.

»Der Tod schließt alles, doch eines ist das Ende;
Noch läßt ein Werk von edlem Wert sich tun.«

Und so gelingt es mir auf dem Wege der Kunst, der Wissenschaft und des Glaubens an ein künftiges Tausendjähriges Reich auf unserer freundlichen Erde, die Liebe zum Leben wiederzugewinnen und mich der Arbeit an dem Besten in mir selbst zu widmen. Ich brauche schließlich nichts weiter als ein wenig Geld, um mir die Lebensruhe zu verschaffen, und auch das wird wohl nicht unmöglich zu verwirklichen sein; denn meine Wünsche sind bescheiden, und ich begnüge mich mit wenigem, so lange der Geist interessiert und erfreut wird. Und immer wieder halfen mir Freunde, amerikanische Freunde, die ich nicht einmal kannte, haben mir Geld und liebevoll ermutigende Worte geschickt, die mir Tränen in die Augen drängten, helle Tränen der Rührung und Dankbarkeit. Ich kann nur das Beste in mir herausholen, ihnen zum Entgelt Besseres als das Beste, wenn möglich. Und ich beginne mit dieser demütigenden Beichte.

Shakespeare sagt, »an ihm sei mehr gesündigt, als er sündigte«, ich wollte, ich könnte es ebenfalls sagen, aber ich fühle, daß ich an anderen gesündigt habe, mindestens so stark, wie man an mir sündigte, und ich bin mir jetzt nicht einmal mehr so sicher wie früher, daß ich den anderen gegenüber großzügiger war als sie gegen mich.

Einige werden sicher dieses Buch in dem Geiste lesen, in dem es entstand, wenige werden sogar sehen, was es mich gekostet hat. Man spricht davon, daß man durch ein freimütiges Buch Geld verdienen kann. Es ist absurd. Wenn es ein englisches Buch ist, verliert man, wenn man es schreibt, verliert, wenn man es veröffentlicht, und verliert, wenn man es verkauft. In Frankreich ist es möglich, noch Geld damit zu verdienen, doch auch da erlebt man eine Einbuße an Ansehen.

Aber alle Pfadfinder müssen leiden, sage ich zu mir selbst, trotzdem die ungerechte Strafe das Leben verbittert. Und doch ist mir der Lohn sicher, obwohl ich nie die Lorbeeren erblicken werde. Viele Männer und einige wenige Frauen werden meine Worte lesen, wenn ich längst zu Staub geworden bin, und werden mir vielleicht ein wenig dankbar dafür sein, daß ich die Fesseln sprengte und den Weg aus dem Gefängnis des Puritanismus ins Freie und in den Sonnenschein dieser zauberhaften Welt der Wunder erschloß.


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