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Es ist schwer, von englischen Sitten in dem letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zu sprechen, ohne sie mit der Moral und der Lebensweise der Vorväter im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts zu vergleichen. In seinem »Jugendleben von Fox« gibt Sir George Trevelyan ein verblüffendes Bild der Unmoral des früheren aristokratischen Regimes. Nicht nur Führer der Gesellschaft und Parlamentarier waren finanziell korrumpiert, sondern sie tranken auch in einem solchen Übermaße, daß sie mit fünfundvierzig Jahren alt waren und in mittleren Jahren dauernd durch Gicht ans Bett gefesselt; sie spielten wie irrsinnig, und manche versuchten absichtlich, ihre Söhne zu ausgemachten Schurken zu erziehen.
Ich stelle mir vor, daß es der Orkan der französischen Revolution war, der die Luft reinigte und die Menschen zu der Achtung vor solchen Gesetzen der Moral zurückbrachte, die auch Gesetze der Gesundheit sind. Diese Reform wird oft dem Einfluß der Königin Viktoria zugeschrieben, aber vom Jahre 1875 an konnte ich nicht die leiseste Spur irgendeines guten Einflusses ihrer Person entdecken. Die auffallendste Besserung der aristokratischen Moral wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durch den lebenslustigen Edward, den Prinzen von Wales, hervorgerufen. Bevor er und sein »smart set« in London zur Macht gelangten, war es noch bei den Empfängen in London üblich, daß sich die Damen nach dem Essen in den Salon zurückzogen, während die Männer noch einige Flaschen tranken. Man betrank sich nicht mehr so wie früher, aber man war ziemlich angeheitert, und während die Damen schon um neun Uhr oder halb zehn verschwanden, blieben die Männer bis zehn Uhr oder halb elf zusammen und tranken.
Das einzige gute Ergebnis davon war, daß schon Männer von dreißig Jahren einen guten Wein zu schätzen wußten. Es wird allgemein und zwar mit gewisser Berechtigung behauptet, daß es der englische oder eher der Londoner Geschmack war, der die Preise der besseren Weinmarken des Bordeaux in die Höhe trieb. Ohne Zweifel war es der englische Geschmack, der es Frauen und Männern überall beibrachte, den Sekt brut oder nature den gesüßten Marken vorzuziehen, die man auf dem Kontinent und hauptsächlich in Frankreich so liebte. Die französischen Gourmets wußten, daß die Firma der Veuve Clicquot beinah ein Monopol auf Buzet, den feinsten, natürlichen weißen Weine zur Herstellung von Sekt, besaß. Aber sie ließen sich dieses Erzeugnis so stark versüßen, daß es nur in kleinen Mengen gegen Ende des Essens zur Süßspeise getrunken werden konnte.
In den siebziger Jahren wurde der Prinz von Wales der anerkannte Führer des »smart set«. Zum Glück für England zog er die kontinentale Gewohnheit des Kaffees nach dem Essen, einer Tasse Mokka mit Zigarette, der alten Sitte vor. Kein Raucher kann die Blume eines schönen Rotspons auskosten, und so verbannte der Kaffee die Gewohnheit, viel nach dem Essen zu trinken.
Der Prinz zog Sekt dem Rotwein vor, und so gewöhnte man sich mehr an Sekt, und bald ersetzte der natürliche Wein die gemischten französischen Marken. Im Laufe von zehn Jahren wurde es zur Gewohnheit, zu den Damen zurückzukehren, nachdem man ein oder zwei Glas reinen Sekt während des Essens getrunken und eine Zigarette zu der Tasse Kaffee geraucht hatte.
Die Nüchternheit setzte sich langsam durch, und jetzt würde ein Mann, der sich betrinkt, in keinem Haus empfangen werden. Die Zigarette, die der Prinz von Wales einführte, hat die Londoner Gesellschaft nüchtern gemacht.
In einer aristokratischen Gesellschaft breiten sich sowohl gute wie schlechte Sitten in sich immer weitenden Kreisen wie Wasser aus, das man auf Sand gießt. Die Aristokraten in England betrinken sich nicht mehr, und es ist jetzt schwierig, einen Mann zu finden, der einem den Jahrgang eines guten Rotspons oder Portweins sagen kann, während in der mittelviktorianischen Zeit neun Männer auf zehn jede bekannte Marke richtig erraten hätten.
Die Gastfreundschaft des englischen Landadels ist mit Recht berühmt. Es gibt nichts Ähnliches in der Welt, nichts, was sich damit vergleichen läßt. Ich berücksichtige dabei selbstverständlich den Umstand, daß Junggesellen bei den Empfängen besonders gebraucht werden, weil es schwierig ist, eine Tischordnung mit lauter verheirateten Leuten zu machen. Außerdem verschafft die Majoratssitte, die alles dem ältesten Sohne gibt und die jüngeren nach Indien oder in die Kolonien verjagt, den Junggesellen in London eine besondere Geltung. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, daß ich nach meinem ersten Monat als Herausgeber der »Evening News« vielleicht nicht mehr als sechsmal im Jahre in meinem Hause diniert habe und mehr Einladungen ablehnen mußte als annehmen. Von einem Junggesellen wurde nichts verlangt; wenn er nur von richtigen Leuten eingeführt war, anständige Manieren hatte, manchmal amüsant war oder eine gute Geschichte erzählen konnte, war er überall persona grata. Man kommt einem mit wirklicher Güte entgegen, die ich hier noch in einigen Worten schildern möchte.
Fast zu Anfang meiner Londoner Tätigkeit, als ich nur wenige Menschen kannte, bekam ich fast einen Monat im voraus eine Einladung vom General Dickson. Ich erwähnte es im Unterhaus im Gespräch mit Agg Gardiner. »Dickson!« rief er, »selbstverständlich kenne ich ihn, ein guter, alter Knabe, gibt ausgezeichnete Diners, zu denen er nur eine Dame bei einem halben Dutzend Männer einlädt. Er sagt, daß eine schöne Frau notwendig ist, um das Gespräch auf einem hohen Niveau zu halten. Selbstverständlich sollen Sie hingehen!«
An dem festgesetzten Abend ging ich in das Haus, das an einem der großen Westendplätze gelegen war. Den Dienern in der Halle merkte man an, daß sie alte Soldaten waren, und kaum legte ich meinen Mantel ab, als General Dickson in eigener Person erschien und mich freudig begrüßte. Sein gutgeschnittenes, bronzefarbenes Gesicht war von einer Fülle silbrigen Haares gerahmt.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte er warm und schüttelte mir fest die Hand.
»Ich bin froh, bei Ihnen zu sein«, erwiderte ich. »Ich dachte, ich sei ganz unbekannt in London. Es war doppelt liebenswürdig von Ihnen, mich einzuladen. Ich wußte nicht, ob Sie sich an mich erinnern.«
»Ich habe Sie bei Wolseley getroffen,« sagte er, »und beim Essen sagten Sie etwas über Schönheit, das mir auffiel. Sie sagten: ›Es muß etwas Ungewöhnliches in jeder vollkommenen Schönheit sein.‹ – Nun ist Schönheit aus meinem Leben verschwunden, aber ein gutes Essen macht mir noch Freude. Und so habe ich Ihren Satz auf das Essen bezogen, wo er auch seine Geltung hat. – ›Es muß etwas Ungewöhnliches in jedem vollkommenen Essen sein.‹ Da ich wußte, daß ich etwas Ungewöhnliches heute abend haben werde, hielt ich es für angebracht, Sie für heute einzuladen, um Ihre Meinung über meinen Versuch zu hören.« Und er lachte herzlich auf.
Das Essen war ausgezeichnet, aber es hatte nichts Überraschendes, bis wir zum Nachtisch kamen. Da öffnete sich die Tür, und ein Russe im Nationalkostüm erschien mit einer großen, silbernen Schüssel. »Milchkaviar,« verkündete unser Gastgeber, »von seiner Majestät, dem Zaren geschickt, den ich die Ehre habe zu kennen, wenn auch nur oberflächlich.« Und er drehte sich lächelnd zu mir um.
»Wirklich etwas Seltenes,« rief ich aus, »denn ich habe ihn weder in Moskau noch in Nischni gekostet. Ich habe irgendwo gehört, daß der ganze Milchkaviar dem Zaren geschickt wird.«
Das Diner beim General Dickson machte es mir klar, daß das gute Essen in London mehr gepflegt wird als überall in der Welt, obwohl wir in England keinen Ausdruck haben, der dem französischen »Gourmet« oder dem deutschen »Feinschmecker« entspricht.
Aber nur bei den besseren Klassen wird in London gut gegessen. Die meisten Restaurants in London sind nicht besser als die besten in Paris, Wien oder Moskau, und der englische Mittelstand ißt schlechter als der französische, weil man bei uns keine Ahnung von der Kochkunst hat und die Armen ein schwereres Leben als irgendwo anders auf der Welt führen. Die englische Freiheit und der aristokratische Hochmut laufen auf eine Degradierung des Schwachen und Wehrlosen und leider auf das Märtyrertum der Besten und Begabtesten hinaus. Es gibt keine Davidsons und Middletons, keine verzweifelten Selbstmorde der Genies in irgendeinem andern Lande, obwohl in dieser Hinsicht Amerika England dicht auf dem Fuße folgt, denn seine beiden größten Dichter Poe und Whitman starben in Elend und letzter Vernachlässigung.
Die alte, schlechte Gewohnheit des übermäßigen Essens und Trinkens existierte noch in den achtziger Jahren bei den großen Diners der City. Ich erinnere mich heute noch an mein Erstaunen bei meinem ersten Lord Mayor's Bankett im Jahre 1883. Da die »Evening News« konservativ war, bekam ich einen guten Platz an dem Tisch des Lord Mayor angewiesen, fast ihm und den Hauptsprechern gegenüber.
Nach dem ersten Bankett ließ ich mir jahrelang keines entgehen, weil diese Feste ein so wertvolles Licht auf englische Sitten und Manieren werfen. Beim ersten Diner fiel mir die unerhörte Gefräßigkeit auf, die die meisten Citymagnaten entwickelten. Der Mann neben mir aß wie ein Ungeheuer. Seine gierige Hast und der Lärm, den er beim Herunterschlucken jeden Löffels Suppe machte, amüsierten mich. Im Nu hatte er den zweiten Teller Suppe ausgelöffelt und winkte den Kellner zum dritten Male heran. »Dieser Tisch gefällt mir eben darum,« begann er und schmatzte, »weil man sich so oft nachservieren lassen kann, wie man will.«
»Geht das an den andern Tischen nicht?« fragte ich.
»Es geht,« gab er zu, »aber die Diener haben hier den Befehl, höflich zu sein, und erwarten auch ein Trinkgeld. Ich gebe immer eine halbe Krone, wenn der Kerl aufmerksam ist. – Es ist wohl Ihr erstes Essen hier,« wandte er sich an mich, »essen Sie's auf,« er wies auf die Fleischstücke, die in meiner Schildkrötensuppe herumschwammen, »es ist das Allerbeste«, und er drehte sein dickes, gerötetes Gesicht seiner zweiten Portion zu, ohne meine Antwort abzuwarten. Die gierige Hast dieses Tieres und das laute Schlürfen machten mir Spaß. Im Nu war er mit der Suppe fertig und winkte den Kellner herbei, um sich zum dritten Male nachservieren zu lassen. »Ich werde Sie nicht vergessen, mein Guter«, sagte er mit lautem Flüstern. »Aber sehen Sie, daß Sie für mich etwas von dem grünen Fett bekommen. Ich möchte etwas Kalipasch haben –.«
»Ist es das, was Sie Kalipasch nennen?« fragte ich und wies lächelnd auf die grünen Stückchen auf meinem Teller.
»Selbstverständlich,« erwiderte er. »Früher gaben sie Kalipasch und Kalipee zu jeder Portion. Ich wette, daß Sie den Unterschied zwischen beiden nicht kennen. Kalipasch kommt aus der oberen und Kalipee aus der unteren Schale der Schildkröte. Die Hälfte dieser Leute hier«, und er schwenkte seine Hand verächtlich im Kreise, »kennt nicht den Unterschied zwischen der wirklichen und der falschen Schildkröte, aber ich weiß Bescheid.«
Ich lachte. »Bei Ihnen sieht man gleich, daß es Ihr erstes Bankett ist«, meinte er –. »Entweder sind Sie ein Mitglied des Hauses oder vielleicht ein Journalist – stimmt's?«
»Ich bin der Herausgeber der ›Evening News‹,« erwiderte ich, »und Sie haben richtig geraten. Es ist mein erstes Bürgermeisterbankett.«
»Essen Sie es auf«, sagte er und wies auf meinen Teller. »Es legt sich um Ihre Rippen und macht einen Mann aus Ihnen. Ich habe bei meinem ersten Bankett drei Pfund zugenommen. So etwas wie hier gibt es nicht – auf der ganzen Welt nicht.« Und er goß ein Glas Sekt herunter. »Das beste Essen und die besten Getränke auf Gottes Erde. Und man zahlt nichts dafür – nichts – das ist England! Das ist London, die größte Stadt auf Erden, wie ich immer sage, und ich bin stolz, dazuzugehören.«
Zu meiner Verblüffung ließ er sich zum zweiten und dritten Male von dem Hammelfleisch nachservieren und aß sich durch den Rest des Menüs mit derselben Gier durch und wurde dabei immer röter und heißer. Er muß mindestens anderthalb Pfund Fleisch gegessen haben, und er gab zu, daß er dazu drei Flaschen Sekt ausgetrunken hatte.
»Werden Sie nicht davon betrunken?« fragte ich. – »Bei Gott, nein«, rief er aus. »Wenn man genug ißt und eine gute Unterlage von Hammelfleisch schafft, kann man soviel trinken wie man will. Jedenfalls kann ich es – Gott sei Dank dafür«, fügte er feierlich hinzu. »Sie trinken und essen nicht genug,« schloß er, »es gibt keine ähnlichen Freuden auf Erden, und im Gegensatz zu andern Freuden steigert sich der Geschmack, je älter man wird.« Das war seine Philosophie. Aber ich fand später, daß William Smith – so hieß mein Nachbar – sehr gut mit allen stand, die ihn kannten, und ich war nicht erstaunt darüber. »Auf sein Wort kann man bauen,« sagten sie, »und er ist mehr als gütig, wenn Sie ihn brauchen. Ein guter Kerl und ein waschechter Konservativer.« Alles in allem das Muster eines Engländers.
Bei einem andern Bankett war mein Nachbar ein kleines Faß von einem Manne, der sich merkwürdig hin und herdrehte, bis ich endlich eine ungeheuere Flasche zwischen seinen Beinen entdeckte.
»Was ist denn das?« fragte ich.
»Ein Jerobeam von Haut Brion 78, der beste Wein der Welt.«
»Wo haben Sie denn, in aller Welt, diese ungeheure Flasche aufgegabelt? Sie ist so groß wie sechs gewöhnliche Flaschen.«
»Das nicht,« erwiderte er, »ein Magnum hat zwei Flaschen, diese hier hat vier und ein Rehabeam acht, aber das schaffe ich nicht – –«
»Sie wollen doch nicht damit sagen,« unterbrach ich ihn, »daß Sie diese vier Flaschen allein austrinken werden?«
»Ich kann – Gott sei Dank – soviel trinken wie ich will, ohne um Ihre Erlaubnis zu bitten«, erwiderte er gereizt.
»Ist es wirklich der beste Wein der Welt?« beruhigte ich ihn. »Ich möchte ihn mal kosten. Haben Sie ihn hierhergebracht?«
»Sie können ein Glas haben,« erwiderte das Männchen, »und ich gebe das nicht jedem, sonst würde verdammt wenig für Johnny bleiben, aber Ihnen gebe ich es gern.« –
Ich trank meine Flasche Sekt aus, und nach Ende des Essens erinnerte ich meinen kleinen Nachbar an das versprochene Glas.
»Ich sollte es Ihnen nicht geben,« brummte er, »Sie haben geraucht, und man kann die Blume eines schönen Weines nicht mit Tabakrauch im Munde beurteilen.« Er gab mir ein Glas und goß sich selbst die letzten Tropfen seines edlen Bordeaux ein. »Ein großer Wein,« sagte er und schmatzte, »die Phylloxera hat die besten Weinberge ruiniert. Château Lafitte mußte mit amerikanischen Weinen umgepflanzt werden. Keiner wird je einen solchen Château Lafitte trinken, wie ihn unsere Väter kannten. Aber diesen Haut Brion halte ich für den nächstbesten. Was glauben Sie, daß ich für diesen Jerobeam bezahlt habe?«
»Ich kann es mir nicht denken, vielleicht drei oder vier Pfund«, sagte ich. Er lächelte mitleidig: »Beinah zehn und kaum dafür zu bekommen. In zehn Jahren wird er das Doppelte wert sein, merken Sie sich das. Ich weiß, was ich sage.«
Als das Bankett zu Ende war, bat er mich, ihm in seinen Wagen zu helfen, da ihm der Wein in die Beine geraten war. »Der einzige Teil, wo ich den Wein fühle«, sagte er grinsend. Ich mußte ihn fast aus dem Saal tragen und verstaute ihn in einem bejammernswürdigen Zustande in seinem Wagen.
Die Art, wie diese Männer aßen und tranken, die Gier und Gefräßigkeit, war widerlich. Aber ich hatte deutsche Studenten gesehen, die Bier tranken, bis sie sich mit dem Finger in die Kehle faßten, und dann in die Kneipe zurückgingen, erfreut über ihre Bestialität. »Es ist dieselbe Rasse,« wiederholte ich mir, »mit Bestialität und Brutalität als vorherrschenden Grundzügen.«
Aber da ich einige Beispiele der englischen Gefräßigkeit herausgegriffen habe und mir manche andere englische Bestialität noch in Erinnerung ist, muß ich auch sagen, daß man in den besten englischen Häusern das beste Essen auf der Welt findet, ausgezeichnet serviert und in Ruhe genossen. Ich habe oft gesagt, daß das englische Kochideal das beste der Welt ist. Es ist das aristokratische Ideal, der Wunsch, jeder Speise ihren eigenen besonderen Geschmack zu lassen. Die Franzosen sind allgemein als die größten Gourmets der Welt berühmt, aber ich habe nie ein erstklassiges Essen in irgendeinem französischen Hause oder Restaurant gegessen. Die Franzosen haben demokratische Ideen vom Kochen und geraten gewöhnlich in Versuchung, alle Unterschiede mit einer demokratischen Soße zu verwischen.
Da ich dieses Kapitel mit der Geschichte von General Dicksons jovialer Höflichkeit und seinem ausgezeichneten Diner begann, muß ich London gerecht werden und es mit der Schilderung eines unvergeßlichen Festes bei Ernest Beckett (dem späteren Lord Grimthorpe) in Piccadilly beenden, weil sie ein Licht auf das reife savoir faire und die Güte wirft, die das englische Leben bereichert und uns über das Leben in andern Ländern hinaushebt.
Ich hatte Beckett gegen Ende des Jahres 1887 kennengelernt. Er hörte, wie ich einige Geschichten erzählte, die ich später veröffentlichte, und ermutigte mich durch warmes Lob. Er drängte mich immer, zum Parlament zu kandidieren. »So wunderbar Sie auch schreiben,« pflegte er zu sagen, »werden Sie doch nie so schreiben, wie Sie sprechen, denn Sie sind ein mindestens ebenso guter Schauspieler wie Geschichtenerzähler.«
Eines Abends lud mich Beckett zum Essen ein. Die einzigen andern Gäste waren Mallock und Professor Dowden von der Universität Dublin. Ich kannte beide Männer flüchtig, hatte jedoch viele ihrer Schriften gelesen, hauptsächlich von Mallock, und nicht nur seine »Neue Republik«, sondern auch seine Angriffe auf den Sozialismus in Verteidigung eines ungefesselten Individualismus. Trotz seiner reservierten Manieren und seiner etwas schleppenden Sprechweise empfand ich wirkliche Achtung vor seinen hervorragenden Qualitäten. Ich war auch froh, Dowden wieder zu begegnen. Sein Buch über Shakespeare hielt ich für unbedeutend, es stammte aus dem Flickkasten, wie ich es nannte, dem Behältnis, in dem die Engländer ihre eingewurzelten Ideen über Shakespeare aufbewahren, meistens vollkommen falsche und oft lächerlich absurde Vorstellungen. Neun von zehn der mittelmäßigen Engländer sind von dem Wunsch besessen, diesen Gott Shakespeare nach ihrem Ebenbilde zu schaffen, und diese unerklärliche Selbstvergötterung hat sie zu den vielfältigsten, unzusammenhängenden und falschen Vorstellungen geführt.
Als wir uns zum Essen setzten, hatte ich natürlich keine Ahnung, daß Beckett die ganze Sache arrangiert hatte, um herauszufinden, ob ich wirklich so außerordentliche Kenntnisse über Shakespeare besaß. Gegen Ende des Essens lenkte Beckett geschickt genug das Gespräch auf Shakespeare, und Mallock bemerkte beiläufig, daß, obwohl er Shakespeare nur flüchtig gelesen hätte, »wie die ganze Welt ihn eben liest«, er doch bemerkt hätte, daß einige von Shakespeares schönsten Ausdrücken, wahre Juwelen von Gedanken, nie zitiert werden und selbst den meisten Literaturhistorikern unbekannt sind. Ich nickte zustimmend.
»Geben Sie uns ein Beispiel«, rief Beckett aus.
»Gut,« erwiderte Mallock, »nehmen Sie diesen Satz: ›Tollkühn sein, heißt, aus der Furcht geschreckt sein.‹ Konnte eine Wahrheit besser ausgedrückt werden? Es ist ein unvergeßliches Epigramm.«
»Sie haben recht,« rief Beckett aus, »und ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, wo es vorkommt. Wissen Sie's, Harris?«
»Enobarbus in ›Antonius und Kleopatra‹«, erwiderte ich. »Enobarbus ist das Gewissen des Stückes. Es ist die hohe, intellektuelle Erkenntnis Shakespeares, die diesmal berufen wurde, zwischen dem großen Caesar und seinem alter ego, dem Liebhaber Antonius, zu entscheiden. Es ist meiner Ansicht nach das erstemal, daß Shakespeare je eine solche Abstraktion gebraucht hat.
»Ein bemerkenswertes Aperçu,« meinte Dowden, »ich hatte keine Ahnung, daß Sie ein solcher Shakespearekenner sind. Sicherlich gibt es nicht viele davon in den Staaten.«
»Auch wo anders nicht«, erwiderte ich lachend.
Einige Augenblicke später begann Mallock von neuem. »Bei Shakespeare wird immer die Charakterzeichnung gelobt. Aber ich bin oft erschüttert über die Art, wie er mit einem Charakter umspringt. Stellen Sie sich vor, daß ein Clown vom ›Rosenpfad‹ spricht.«
»Ein Clown?« wiederholte ich. »Sie meinen wohl den Pförtner in ›Macbeth‹, nicht wahr?«
»Selbstverständlich den Pförtner,« erwiderte Mallock, »ein wirklicher Clown.«
»Ich fragte deswegen,« sagte ich, »weil der Pförtner, glaube ich, nicht ›Rosenpfad‹, sondern ›Rosenweg‹ sagt.«
»Sind Sie sicher?« rief Mallock aus. »Ich hätte schwören können, daß es ›Rosenpfad‹ heißt. Ich halte ›Pfad‹ für besser als ›Weg‹.«
»Soweit ich mich erinnere, haben Sie recht, Herr Mallock«, warf Dowden ein. »Ich bin sicher, daß es ›Rosenpfad‹ heißt. ›Pfad› ist ohne Zweifel viel poetischer.«
»Ist es auch, und aus diesem Grunde wahrscheinlich legt Shakespeare den ›Rosenweg‹ dem verschlafenen Pförtner in den Mund, und den ›Rosenpfad‹ Ophelia. Sie wissen ja, daß sie ihren Bruder vor dem ›Rosenpfad der Lust‹ warnt.«
»Ich glaube, Sie haben recht,« rief Mallock aus, »aber was haben Sie für ein unerhörtes Gedächtnis.«
»Der Mann, der ein Buch gelesen hat,« lachte ich, »jagt einem immer Angst ein.«
»Es scheint mir merkwürdig, daß Sie Shakespeare so genau studiert haben«, bemerkte Dowden freundlich. »Nach einigen Ihrer Artikel, die unser gemeinsamer Freund Verschoyle mir gezeigt hat, hielt ich Sie eher für einen sozialen Reformator im Stile von Henry George.«
»Ich fürchte, ich bin es auch«, gestand ich. »Und doch lasse ich die meisten der Argumente von Herrn Mallock gegen den Sozialismus gelten, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie er gegen die auffällige Wahrheit, daß der Boden einer Nation dem ganzen Volke gehören sollte, argumentieren kann.«
»Was kümmert uns das Volk,« rief Mallock aus, »der ›große Ungewaschene‹, es zeugt sich fort, stirbt und füllt vergessene Gräber aus. Es sind nur die Großen, die zählen. Die Οἱ πολλοί spielen keine Rolle.«
Mallock legte den aristokratischen Gedanken mit einer noch größeren Geschicklichkeit als Arthur Balfour dar, und doch hielt ich meinen Standpunkt für den richtigeren.
»Der physische Zustand der englischen Rasse verschlechtert sich durch die Armut der Volksmassen«, sagte ich. »Im Jahre 1845 waren nur hundertfünf Rekruten von Tausend unter fünf Fuß sechs groß, während im Jahre 1887 fünfzig Prozent dieses Maß nicht erreichten. Auch die Brustweite zeigt eine ähnliche Abnahme.«
»Diese Antwort trifft daneben,« höhnte Mallock, »warum sollten wir uns um Krethi und Plethi kümmern?«
»Weil die Genies und die großen Menschen aus der breiten Volksmasse aufsteigen. Die Newtons, Darwins und Shakespeares sind nicht edlen Flanken entsprungen.«
»Aber auch nicht aus den niedrigsten Volksschichten,« erwiderte Mallock, »mindestens aus den wohlgenährten.«
»Um so mehr Grund,« parierte ich, »der Volksmasse menschenwürdige Lebensumstände zu verschaffen.«
»Dem müssen wir zustimmen«, unterbrach mich Beckett. »Wenn die breite Masse des Volkes so gut behandelt werden würde, wie ein Aristokrat seine Diener behandelt, wäre alles in Ordnung. Aber der Fabrikant behandelt seine Arbeiter nicht wie Dienstboten, sondern wie Leibeigene.«
Das Gespräch bewegte sich in diesen allgemeinen Richtlinien, bis sich plötzlich Dowden an mich wandte:
»Eins müssen Sie zugeben,« sagte er lächelnd, »Shakespeare teilte die aristokratische Anschauung. Er war in der Tat Aristokrat bis in die Fingerspitzen. Sicherlich war noch nie ein großes Genie allen sozialen Reformen oder auch allen andern Reformen gegenüber so vollkommen gleichgültig wie er. Seine Karikatur des Jack Cade ist in diesem Punkte ausschlaggebend.«
»Sehr richtig,« rief Mallock aus, »ohne Zweifel.«
»Sagen Sie so etwas nicht,« brauste ich auf, »ich kann es nicht hören. Wie alt war denn Shakespeare, als er den Jack Cade schrieb? Denken Sie sich ihn frisch aus dem engen, hirnlosen Leben des Stratford-Dorfes in das pulsierende, vielfarbige Londoner Leben verpflanzt, von jungen Aristokraten umgeben. Kein Wunder, daß er über Jack Cade höhnte, aber fragen Sie ihn zwanzig Jahre später, was er von den Aristokraten und dem grausamen Elend des Alltagslebens dachte, dann würden Sie eine ganz andere Antwort bekommen. Die tiefste Wahrheit, die man zu leicht vergißt, ist die, daß Shakespeare aus einem fast durchschnittlichen Jüngling sich zu einem Menschen entwickelte, der seiner Zeit voraus war, ein geheiligter Führer der Menschheit auf Tausende von Jahren hinaus.«
»Das ist sehr interessant«, erwiderte Mallock, »und auch neu, aber geben Sie mir Beweise dafür! Wo haben Sie denn Jack Cade in seinen späteren Werken? Oder besser gesagt, wo finden wir denn Essex und Southampton verhöhnt und Cade als großen Reformator und Märtyrer einer Sache behandelt?«
»Damit hat er Sie geschlagen«, rief Dowden aus.
»Hat er das wirklich? In erster Linie müssen Sie, Herr Mallock, zugeben, daß Shakespeare schnell erkannte, wie ein englischer Aristokrat wirklich beschaffen ist. Es gibt kein besseres oder bittereres Porträt des Aristokraten in irgendeiner Literatur der Welt als das, welches Portia von ihrem englischen Freier im ›Kaufmann von Venedig‹ entwirft. ›Er ist eines feinen Mannes Bild, aber ach, wer kann sich mit einer stummen Figur unterhalten! Er kennt keine fremde Sprache, und sein Betragen wie seine Kleidung entbehrt jeder Distinktion.‹ Aber Sie sagen, daß wir keinen Jack Cade auf einem Piedestal haben. Nun ist Posthumus ebenso sicher Shakespeares alter ego wie Prospero. Und was sagt Posthumus, als er im Gefängnis die Götter anruft:
›Ich weiß, ihr seid nicht hart wie niedre Menschen,
Die dem gebrochnen Schuldner nur ein Drittel,
Ein Sechstel, Zehntel nehmen, daß am Rest
Er sich erhole. Dies ist nicht mein Wunsch.‹
Was würde Shakespeare zu Chamberlains Bankrottgesetz gesagt haben, das heute und noch auf Jahre hinaus in England Geltung hat? Man nimmt dem gebrochenen Schuldner alles und läßt seinen Fehlschlag noch jahrelang über seinem Haupte schweben, um ihn ins Gefängnis zu zwingen, dem der Unglückselige selten entgeht. In dieser Hinsicht sind wir noch niedriger als Shakespeares ›niedre Menschen‹. Shakespeare kein Sozialreformator! Wenn unsere Gesetze seinem reifen Geiste entsprungen wären, hätten wir das tausendjährige Reich auf Erden. Ich hatte ihn immer neben Jesus als Denker gestellt.« Mallock lachte auf wie über etwas Ungeheuerliches, und ich wollte das Thema nicht weiter verfolgen. Ich hatte ihren Angriff zurückgewiesen, und das war mir genug.
Wir gingen in den Salon hinüber, um dort unsern Kaffee zu trinken, der ebenso ausgezeichnet war wie das ganze Essen. Im Laufe des Gespräches bemerkte Dowden, er hoffte, ich würde über Shakespeare schreiben. »Sie haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben«, fügte er höflich hinzu. – »Und mir auch«, rief Mallock aus.
Als sie weggingen, hielt mich Beckett aus einem mir ganz unverständlichen Grunde zurück. Er brach plötzlich in die Worte aus: »Tant pis, wenn Sie es mir übel nehmen, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich sprach vor einigen Tagen mit Mallock über Sie, lobte Ihre hervorragende Bildung, Ihre Kenntnis Shakespeares und Ihr Genie. Er erwiderte darauf, daß Genie sich nicht messen läßt, aber Kenntnisse um so eher, und er würde gern Ihre Kenntnis Shakespeares auf die Probe stellen. So habe ich unser Essen arrangiert. Wenn Sie dabei schlecht abgeschnitten hätten, würde ich kein Wort gesagt haben. Aber da Sie sich so glänzend bewährten, muß ich Ihnen die Wahrheit gestehen. – Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse.«
»Nein, nein,« erwiderte ich, »wie könnte ich's denn?«
»Wir wollen Freunde sein,« sagte Beckett warm, »und zum Zeichen dessen wollen wir uns beim Vornamen nennen.«
»Das ist lieb von Ihnen«, sagte ich und ergriff seine Hand. Von diesem Tage an war mir Ernest Beckett ein treuer Freund, und meine Zuneigung für ihn wuchs immer, bis er – leider viel zu früh – in das ewige Schweigen einging.
Ich muß hier noch einige Worte über andere Ereignisse hinzufügen, die ein bezeichnendes Licht auf den englischen Charakter und englische Lebensumstände werfen. Eine amerikanische Schauspielerin, Mary Anderson, eroberte London im Sturm. Es wurde erzählt, daß Lord Lytton Abend für Abend eine Reihe von Orchestersesseln kaufte und sie an ein auserwähltes Publikum verschenkte. Seine Bewunderung verblüffte jeden, der ihn kannte, denn er galt eher als Bewunderer der Epheben als der Frauenschönheit.
Bevor Mary Anderson auftrat, suchte ich sie auf und schrieb einen Artikel über sie in den »Evening News«. Sie war eine hochgewachsene, graziöse, gutaussehende, blonde Frau, aber ich hätte an ihren gewaltigen Erfolg nicht im Traum geglaubt. Ihr Geist war ebenso gewöhnlich wie ihre Stimme. Sie hatte keinerlei besondere Begabung, aber auf der Bühne war sie schön. Das Rampenlicht hob sie besonders hervor, obwohl sie keine Ahnung vom Spiel hatte. Es war lächerlich, sie mit Ellen Terry oder selbst mit Ada Rehan zu vergleichen. Ihre Diktion war miserabel – und doch wurde ihr Auftreten zum Ereignis. Sie schritt von Triumph zu Triumph. Ich habe durch ihren Erfolg begriffen, daß die Bühne besondere szenische Qualitäten fordert. Sie war sehr groß, und als sie dann in Weiß auf die Bühne kam, beherrschte sie sie, und Frauen schrumpften neben ihr zu Zwerginnen zusammen. Beim Sprechen hatte sie einen leichten amerikanischen Akzent, der sie als Shakespearedarstellerin unmöglich gemacht hätte. Aber bis sie im »Wintermärchen« spielte, hatte sie ihren Akzent überwunden und sprach ziemlich gut. Ihre Augen waren etwas tief gesetzt, die Nase vollkommen geschnitten. In einem Zimmer war sie nur hübsch, auf der Bühne eine Göttin. Wieviel von ihrem Erfolge ihrem monumentalen Zauber und wieviel Lyttons leidenschaftlicher Protektion zuzuschreiben war, läßt sich nie ergründen.
Ihre Karriere hat mir gezeigt, wie empfindlich die Engländer für bloße physische Schönheit sind. Sie werten sie bei allen Tieren höher als irgendeine andere Rasse und studieren sie viel genauer. Kurzhörnige Ochsen oder Berkshiresäue, Bulldoggen und Windhunde, Terriers oder Kettenhunde, Southdown-Widder oder walisische Schafe, Rennpferde oder Jagdpferde werden um ihres vollkommenen Einklangs mit dem Typus bewundert, was ein leidenschaftliches und phantasievolles Verständnis für den Typ, wie er ist oder sein sollte, voraussetzt. Wenn die Engländer nicht ihren idiotischen Puritanismus hätten, würden sie die größten Bildhauer der Welt sein und sich infolge ihres außergewöhnlichen Verständnisses für jede Form und jeden Typus der körperlichen Schönheit den Weltruf gesichert haben.
Ich habe in späteren Jahren mit Rodin die Parthenonfiguren im Britischen Museum studiert. Er war in einer Ekstase. Er hielt sie für so sinnlich wie nur irgendwelche Bildwerke der plastischen Kunst. Ein anderes Mal ging ich mit George Wyndham hin, der sich jedoch nicht überwältigen ließ. Er behauptete, daß die griechischen Füße und Knöchel groß und schlecht geformt seien, die Brüste und Hälse der Frauen hielt er für plump, zog die Gestalten aus dem Tempel der Nike Apteros vor und hatte auch an ihnen manches auszusetzen. Schließlich stellte er fest, daß auch der Gesichtstypus zu hölzern sei. Die Nase in gerader Linie von der Stirn verlaufend war häßlich. Er fand endlich den besten englischen Typus schöner, lieblicher und zugleich vergeistigter als das griechische Ideal, und ich mußte ihm zustimmen.
Europa hat durch englische Touristen gelernt, was natürliche Schönheit ist. War Ruskin nicht der erste, der behauptete, daß französische Bäume weit schöner sind als die englischen? Er gab keinen Grund dafür an, aber ich führe es darauf zurück, daß England von einem südwestlichen Winde geplagt ist, der an dreihundert Tagen im Jahre bläst. Die jungen Bäume müssen sich gegen diesen Angriff stemmen, sonst würden sie entwurzelt werden. Sie werden daher zwerghaft und gekrümmt. Aber auch die Wälder Frankreichs leiden unter derselben Plage, obwohl nicht in diesem Maße. Es gibt keine Forste der Welt, die sich mit den amerikanischen vergleichen lassen. Auf einer halben Stunde Fahrt außerhalb Newyorks, den Hudson entlang, sieht man mehr Arten ausgezeichneter, gutgewachsener Bäume, als man sie in ganz Frankreich oder selbst Deutschland zu finden vermag.
Und wie mit den Bäumen, so geht es auch mit Männern und Frauen. Man kann mehr Typen köstlichen Mädchentums und herrlicher Männlichkeit in einer Stunde in Newyork finden als in einem Tage in London, einer Woche in Paris, Berlin oder Moskau. Warum gewinnen die amerikanischen Athleten alle Rekorde? Warum rennen sie schneller und springen höher, als die englischen Athleten, obwohl noch gestern die Engländer sich der Vorherrschaft in allen Formen des Sports und der Athletik gerühmt haben? In vierzig Jahren gab es keinen einzigen englischen Schwergewichtsboxer erster Klasse aus dem einfachen Grunde, weil die Masse des Volkes derart verarmt ist, wie man es sich in England kaum eingesteht. Die physische Männlichkeit der Rasse ist durch Entbehrung zusammengeschrumpft.
Aber diese Auseinandersetzung hat mich von meinem Thema abgelenkt. Kurz nach meiner ersten Begegnung mit Mary Anderson sah ich Tommaso Salvini als Othello. Salvini hatte alle persönlichen Mittel, eine gute Gestalt und hauptsächlich eine herrliche und vollkommen geschulte Stimme, die in ihrem sonoren Widerhall oder ihrer Weichheit immer das Ohr erfreute. Die Rede mit der Klage »Othellos Tagewerk ist getan« wurde nie so wunderbar wiedergegeben, die brechende Stimme, die Tränen, die aus dem verkrampften Gesicht fallen, selbst die sich ineinander verflechtenden und sinkenden Hände formten ein unvergeßliches Bild. Salvini war in diesem Moment Othello, und als er sich plötzlich zu Jago umdrehte, war er furchtbar, aber der berühmte Monolog im Schlafzimmer vor der Ermordung Desdemonas wurde mit viel zu lauter Stimme vorgetragen. Er hätte einen Toten erwecken können. Er hatte keine Ahnung von der komplizierten englischen Leidenschaft, die einen Mann noch bewundern, ja noch lieben läßt, während er schon zur Zerstörung entschlossen ist, »damit sie andere nicht betrügt«: Shakespeares eigene Leidenschaft, die für die italienische Natur viel zu kompliziert ist. Und auch in »Macbeth« hatte Salvini keinen Schimmer, daß er den gedankengequälten Hamlet spielen sollte. Sein Macbeth zögert nie und besinnt sich nicht. Er hat nicht dies »Wär's abgetan, so wie's getan ist« usw. Und doch war er der beste Othello, den ich je gesehen habe.
Warum werden Schauspieler wie Politiker immer überschätzt? Einige der besten wären nötig, um Hamlet zu meiner Zufriedenheit darzustellen. Ich brauchte Irving um seines Aussehens willen und Forbes Robertson, um die Monologe zu sprechen, Terriss um Polonius zu töten und Sarah Bernhardt, um Ophelia mit unendlicher Zärtlichkeit ins Kloster zu schicken.
Bei einem Essen, das Arthur Walter gab, habe ich Henry Irving kennengelernt. Ich war früher einmal von München gekommen, um seinen Shylock zu sehen und ihn mit dem besten Shylock, dem des Ernst Possart, zu vergleichen. Tree hatte Irving erzählt, daß ich tausend Meilen gefahren sei, um ihn einmal spielen zu sehen, und Irving war sehr liebenswürdig zu mir und hoffte, daß mir seine Darstellung gefallen hätte. Ich sagte ihm, sie sei ganz wunderbar gewesen, aber nicht ganz im Geiste Shakespeares. Irving verlangte von mir eine nähere Erklärung. Jeder, der ihn gesehen hat, erinnert sich an die Szene, als Shylock, ein geschlagener und gebrochener Mann, bittet, nach Hause gehen zu dürfen:
Ich bitt', erlaubt mir, weg von hier zu gehn:
Ich bin nicht wohl, schickt mir die Akte nach,
Und ich will zeichnen.
Doge: Geh denn, aber tu's.
Graziano: Du wirst zwei Paten bei der Taufe haben:
Wär' ich dein Richter, kriegtest du zehn mehr,
Zum Galgen, nicht zum Taufstein dich zu bringen.
(Shylock ab.)
Es ist, glaube ich, der einzige Fall, in dem unser sanfter Shakespeare einem Gentleman erlaubt, einen geschlagenen Mann zu beleidigen. Ich war daher über Irvings Auffassung erstaunt. Er stand in der Nähe der Tür, als Graziano sprach. Auf einmal drehte er sich um, ging zu Graziano zurück, reckte sich auf, kreuzte die Arme und schaute ihn verächtlich an, mitten im Applaus des ganzen Hauses. Als mich Irving um Erklärung bat, sagte ich ihm, daß, wenn Shylock Graziano so behandeln würde, Graziano ihm aller Wahrscheinlichkeit nach ins Gesicht gespien hätte.
»Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, erwiderte Irving trocken. »Ich glaube, der Applaus hat es bewiesen, daß ich mit meiner Auffassung des Shylock als einer großen tragischen Figur recht hatte.«
»Aber Shylock selbst sagt uns,« erwiderte ich, »daß der Held Antonio auf seinen ›jüdischen Roquelor‹ spie ...«
Irving drehte sich um und begann mit einem anderen zu sprechen. Ich ärgerte mich und warf mir vor, zu ehrlich gewesen zu sein.
Jahre später, als Mounet Sully Hamlet in Paris spielte und Lemaître, der große französische Kritiker, wissen wollte, wie er sich mit Irving vergleichen ließ, konnte ich nicht umhin, ihm die Wahrheit zu sagen: »Irving ist der ideale Hamlet für die Tauben, und Mounet Sully für die Blinden.«
Aber in den Jahren 1884 bis 1885 traf ich Irving oft, und eines Nachts nach einem Abendessen bei mir mit Lord Lytton und Harold Frederic, dem leidenschaftlichen Bewunderer Irvings, fing Irving bei Zigaretten und türkischem Kaffee zu erzählen an und sprach besser, als ich ihn je gehört hatte. Ich hatte gerade erwähnt, daß Lord Randolph Churchill versprochen hatte, zu der »Apotheose Gottes« zu kommen, wie er es nannte, sich aber im letzten Moment entschuldigen ließ, weil er eine wichtige Debatte im Parlament hatte. »Sagen Sie, bitte, Herrn Irving,« schrieb er in seinem Brief, »wie gern ich die wunderbare Wirkung seines Mephisto auf mich geschildert hätte.« Irving war selbstverständlich hocherfreut und legte nun mit seiner Erzählung los. Er sprach mit seiner natürlichen Stimme, ohne eine Spur seiner Bühnenmanieriertheit, die ich so unerträglich fand.
»Ich hatte Lord Randolph zuerst 1880 in Dublin kennengelernt. Sein Vater war Vizekönig in Irland, und Lord Randolph lebte in Dublin. Wir hatten dort eine Shakespearewoche, die wir mit Hamlet eröffneten. Zu meiner Überraschung hatte man uns keinen Empfang vorbereitet. Gegen Ende des ersten Aktes kam Bram Stoker zu mir: ›Es sitzt jemand in der Loge des Vizekönigs,‹ sagte er, ›ich glaube, es ist Randolph Churchill, der jüngere Sohn des Herzogs.‹ Kurz vorher hatte sich gerade Blandford, sein älterer Bruder, durch eine sehr häßliche Scheidungsgeschichte unmöglich gemacht, aber schließlich sind das Privatsachen. Ich zuckte nur die Achseln. Gegen Ende des nächsten Aktes kam Bram Stoker und sagte mir, daß Lord Randolph mich kennenlernen möchte, um mir für mein wunderbares Spiel zu danken und so weiter. Ich erwiderte ihm, er könnte ihn nach Aktschluß zu mir bringen, und Lord Randolph erwartete mich in meiner Garderobe. Er kam mir mit ausgestreckten Händen entgegen: ›Ich muß Ihnen, Herr Irving, für eine der größten Freuden meines Lebens, einen unvergleichlichen Abend, danken.‹ Ich verneigte mich, er aber fuhr fort: ›Ich hatte keine Ahnung, daß Hamlet ein so herrliches Stück ist.‹ Ich starrte ihn an. Machte er einen Witz? Ich erwiderte trocken: ›Hamlet wird gewöhnlich für ein herrliches Stück gehalten!‹
›Wirklich?‹ sagte er, ›Ich hatte noch nie davon gehört.‹ Das war mir zuviel, entweder war er ein Narr oder er versuchte, mich anzuulken. Ich drehte mich um. Randolph fügte sofort sehr höflich hinzu: ›Ich darf nicht Ihre Zeit durch die Bloßstellung meiner Unbildung in Anspruch nehmen – Sie sind zweifellos sehr beschäftigt –‹ – ›Nein,‹ erwiderte ich, ›dieser Akt ist hauptsächlich durch die schöne Ophelia ausgefüllt.‹ – ›Wirklich?‹ sprudelte er wieder heraus, ›ich halte auch Ellen Terry für eine wunderbare Künstlerin. Ich darf kein Wort von ihrem Spiel verlieren.‹ Ich lächelte, und er fügte hinzu: ›Ich möchte nicht weggehen ohne die Hoffnung, Sie wiederzusehen. Wollen Sie nicht nächsten Sonntag bei mir essen?‹
Seine ganze Art, seine offene und enthusiastische Jugend gefiel mir, und ich nahm sofort an, mir einer gewissen Sympathie für ihn bewußt. Im Laufe der Woche hatte man ihn jede Nacht in der Loge des Vizekönigs gesehen. Am Sonntag ging ich zu ihm zum Essen mit einer gewissen Neugier. Was würde er denn sagen? Er kam mir in der Diele entgegen. ›Ach, Herr Irving,‹ begann er, ›ich kann nicht sagen, was ich Ihnen verdanke. Durch Sie lernte ich Shakespeare kennen. Welch ein Mensch war das! Einige seiner Stücke sind großartig – und so interessant –‹
›Aber sicherlich haben Sie einige vorher gekannt?‹ fragte ich. ›Mindestens in Oxford müssen Sie manches gelesen haben, selbst wenn man in unserer Schulzeit die großen Werke vernachlässigt.‹
›Nein, nein, ich versichere Ihnen,‹ erwiderte er, ›ich habe sie weder in der Schule noch in Oxford gelesen. Ich muß gestehen, daß ich ungeheuer faul war. Aber sein ›Lear‹ ist ein wirklich großes Drama. Ich möchte Sie so gern darin sehen. Und auch ›Antonius und Kleopatra‹ hat etwas in sich, was mich besonders ergreift. Haben Sie es je gespielt?‹
›Es läßt sich schwer aufführen‹, antwortete ich, und während ich ihm die Gründe dafür erklärte, setzten wir uns zu Tisch, und ich fand in ihm einen hervorragenden Gastgeber.
Lord Randolph machte auf mich einen tiefen Eindruck«, fuhr Irving fort. »Sobald es mir klar wurde, daß er nicht posierte, sagte ich zu mir selbst: Er ist ohne Zweifel ein großer Mann, er denkt sich unbewußt, daß sogar ein Shakespeare seiner Zustimmung bedarf. Er macht sich instinktiv zum Maßstab aller Menschen und kümmert sich nicht um die Meinungen oder Schätzungen der andern. Als sie ihn später im Parlament verspotteten, wie sie es zuerst taten, und ihn in den blöden Karikaturen als frechen Knaben darstellten, wußte ich, daß der Tag kommen würde, an dem sie ihn würden ernst nehmen müssen.«
Ich war begeistert von der Geschichte und der einfachen ehrlichen Weise, wie Irving sie erzählte. Ich halte sie noch immer für bezeichnend für seinen Intellekt und seine Wertung der Größe, die ich bei ihm nicht erwartete.
Etwas später erzählte mir der Schauspieler Arthur Bourchier eine amüsante Geschichte, die Henry Irving in einem anderen Lichte zeigte. »Als Benson seine Dilettantentruppe in Oxford auf Aischylos und Shakespeare eindrillte, lud er Irving einmal zu der Eröffnungsvorstellung vom ›Agamemnon‹ ein. Ich gehörte zu Bensons Truppe und war beglückt, als er mir Irvings liebenswürdigen Brief mit seiner Zusage zeigte. Er fühle sich durch die Einladung ›geschmeichelt‹ und würde gern kommen. Wir waren alle gespannt, wie man sich leicht denken kann. Die Vorstellung ging ohne Zwischenfall vor sich, und später kam Irving auf die Bühne und gratulierte Benson in der nettesten Weise. ›Ein großes Stück,‹ sagte er, ›und ein großer Schauspieler. Ich freue mich, Herr Benson, daß auch die Universität zur Bereicherung der Bühne beiträgt. Ich glaube, daß Sie das Hauptsächlichste herrlich gegeben haben.‹ Und er sprach so einfach, als ob ihm jedes Wort ernst wäre, und wir tranken alles gierig in uns ein, wie es junge Menschen immer tun. Sein Lob wirkte auf Benson so stark, daß er ihm nach einer Weile gestand: ›Ihr Urteil gibt mir den Mut, die Trilogie aufzuführen.‹
›Tun Sie es nur, mein Lieber,‹ rief Irving aus und klopfte ihm auf die Schulter, ›es ist eine Rolle, die Ihnen ausgezeichnet liegt.‹
›Daraufhin‹, sagte Bourchier grinsend, »fiel der Vorhang von selbst.«
Irving machte mir immer den Eindruck, daß er mehr als ein Schauspieler war. Er war eine große Persönlichkeit. Die Eigenheiten seiner Gestalt, seines Gesichts und seiner Sprechweise sonderten ihn in einzigartiger Weise aus. Unter den drei oder vier wichtigsten Persönlichkeiten der achtziger Jahre fiel er als die eigentümlichste auf und wirkte noch fesselnder als Parnell. Randolph Churchill und Gladstone mußte man im Unterhaus sehen, um sie richtig einzuschätzen, aber Irving, gleich Disraeli, lenkte überall den Blick auf sich und reizte die Phantasie. Selbst als Shylock ließ Irving jeden anderen auf der Bühne vulgär erscheinen – eine Wirkung, die der Schöpfer Shylocks sicher nicht beabsichtigt hat. Er hatte ohne Zweifel die besondere Aussprache und den Bühnenakzent absichtlich angenommen, um die Wirkung seines Auftretens zu steigern, denn im Privatleben sprach er fast wie jeder andere. Seine Bühnenmaske ging so weit, daß sie sich auf Rede und Stimme erstreckte. Soweit uns die Tradition übermittelt, war Garrick sein vollkommenes Gegenteil. Er war auf der Bühne immer einfach und natürlich, aber im Privatleben schauspielerte er immer, spielte immer eine Rolle.
Ich stimme mit Goethe überein, daß die Zulassung der jungen Mädchen ins Theater eine noch lähmendere Wirkung auf die Bühnenkunst ausgeübt hatte als auf die Buchwelt.
»... was tun unsere jungen Mädchen im Theater? sie gehören gar nicht hinein, sie gehören ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit menschlichen Dingen bekannt sind ... Da wir nun aber unsere jungen Mädchen schwerlich hinausbringen und man nicht aufhören wird, Stücke zu geben, die schwach und eben darum diesen recht sind, so seid klug und macht es wie ich und geht nicht hinein ... Ich müßte das Mangelhafte geschehen lassen, ohne es verbessern zu können, und das ist nicht meine Sache.«
In diesen ersten drei Jahren in London war ich aus einem ganz kleinlichen Grunde gegen Irving verstimmt. Er wollte mir die Inserate für das Lyzeum Theater nicht geben, weil die »Evening News« nur eine Halbpenny-Zeitung war; ich hielt es für kleinlich und schäbig von ihm, und ich revanchierte mich bei gegebener Gelegenheit. Erst Jahre später, als Irvings Bankrott bekannt wurde, erfuhr ich, wie falsch mein Urteil über ihn war. Bei der ersten Versammlung seiner Gläubiger hörte ich zu meiner Verblüffung, daß ungefähr dreißig alte Schauspieler und Schauspielerinnen auf seiner Liste standen, denen er eine wöchentliche Unterstützung von 30 Shilling bis 5 Pfund zukommen ließ. Gegen alle kleineren Mitglieder seiner Zunft, die je mit ihm gespielt hatten, benahm er sich mit fürstlicher Großzügigkeit. Er hatte seine große Stellung in vornehmer Weise ausgefüllt, und ich versuchte, es ihm zu erschweren. Ich schämte mich und litt darunter. Ich erwähne es hier nur, um zu zeigen, daß einige unserer schlimmsten Taten sich aus einer mangelnden Kenntnis und einer zu niedrigen Einschätzung unserer Mitmenschen ergeben.
Um diese Zeit sprach jeder von Joseph Chamberlain, seinem »Unautorisierten Programm« in »The Fortnightly Review« und von der schwierigen Lage, in die Gladstone sich selbst und seine Regierung, nur aus Abneigung gegen Chamberlain, verwickelt hatte. Auch Parnells Name wurde seit der Kilmainham-Affaire, dank der dauernden unfairen Angriffe der »Times«, immer öfters genannt.
Auf Parnell und seinen Aufstieg prägte ich das Wort: »Große Menschen steigen wie Papierdrachen gegen den Wind auf.« Aber Parnell, so durch und durch englisch er auch war und obendrein ein wunderschöner Mann, vielleicht der schönste Mann im Unterhause zu jener Zeit, hatte doch keinen durchgreifenden Erfolg in England, und erst gegen Ende seines Lebens begann er sich im Unterhaus durchzusetzen, eine Tatsache, die die Tragödie seines frühzeitigen Todes noch stärker vertieft hat.
Aber Chamberlain war die Hauptgestalt auf der politischen Bühne. Ich hatte ihm vielleicht bei unseren ersten Begegnungen Unrecht getan. Ich habe es bereits geschildert, wie erstaunt ich über das vornehme Verhalten Lord Salisburys zu seinen Mietern in Hatfield war.
Als ich Chamberlain meinen Bericht brachte, fragte er mich verdrossen: »Sind Sie auch ganz sicher? Wie ist es möglich, daß alle ausführlichen Beschuldigungen, die Archibald Forbes erhebt, absolut ungerechtfertigt sein sollen?« Immer wieder griff er darauf zurück. »Forbes hatte kein Motiv, keine Ursache, um ungerecht zu sein. Er gilt als ein großer Reporter. Es ist außergewöhnlich, Sie müssen zugeben, es ist höchst merkwürdig.«
Ich konnte es schließlich nicht länger ertragen. Er war so kleinlich und so ungerecht seinem Rivalen gegenüber. »Was mich als außergewöhnlich berührt, ist Salisburys Großzügigkeit. Wenn die liberalen Fabrikanten und die monopolisierenden Industriellen Englands sich ihren Arbeitern gegenüber so gut benehmen würden wie der große Gutsherr zu seinen Pächtern, hätten wir keine Streiks in England, keine Gewerkschaften und auch keine Unzufriedenheit in der Industrie.« Chamberlain sah mich mit ungeschminktem Antagonismus an, aber sagte nichts, und ich verabschiedete mich bald. Eines Tages wartete ich auf ihn in seinem Eßzimmer, wo einige Leighton-Bilder hingen, auf die er mit einer pompösen Handbewegung hinwies. »Alles von Leighton, von dem Präsidenten unserer Akademie, wie Sie wissen.« Ich nickte und Chamberlain fuhr fort: »Ich habe zweitausend Pfund für das eine Bild bezahlt.« – »Wirklich?« staunte ich. – »Ja,« erwiderte er, »was denken Sie denn, daß es wert ist?« Ich konnte mir die Antwort nicht verbeißen: »Ich kenne den Wert des Rahmens nicht!«
Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß er mich eine geraume Weile nicht sehen mochte. Aber es ereignete sich bald ein anderer Vorfall, der mein anfängliches falsches Urteil über den Mann erklärt. Forbes' Artikel erschien in seinen wesentlichen Punkten in der »Truth«, der Wochenzeitschrift von Labouchère. Ich fragte Escott, ob er den Artikel Labouchère gegeben hätte, er leugnete es jedoch und nahm an, daß es Chamberlain selbst getan hatte. Ich legte die ganze Falschheit und Albernheit dieses Artikels in höhnischer Weise in den »Evening News« dar, und der Bevollmächtigte des Lord Salisbury schrieb mir dankend für meine Verteidigung und fügte hinzu, daß Lord Salisbury ihm verboten habe, irgendeine Berichtigung an die Presse zu schicken. Mein Kampf um die Wahrheit hatte mir bei Salisbury einen guten Dienst geleistet, wie ich noch später, bei der Schilderung der Venezuela-Affäre, erzählen werde.
Nun mußte ich Chamberlains »Unautorisiertes Programm«, das in der »Fortnightly Review« erschien, monatelang lesen, denn in dieser Zeit stand ich in enger Beziehung zu Escott und seiner Familie. Es war schwer für mich, Chamberlains außerordentlichen Erfolg zu erklären. Er hatte keine Ahnung, daß Bismarcks Bemühungen um die Verstaatlichung der deutschen Eisenbahnen das beste Mittel waren, die Arbeiterklassen auf ein höheres Niveau zu heben. Er zog die alten individualistischen Heilmittelchen vor. Jahrelang glaubte er an einen unbegrenzten Freihandel. Er wußte nicht einmal, daß die Verwaltung der Aktiengesellschaften in der Industrie jeden Nachteil der staatlichen Verwaltung ohne einen einzigen ihrer Vorteile besitzt. Von einem kontinentalen Gesichtspunkt aus betrachtet, war er verblüffend unwissend. Er hatte kaum etwas gelesen und war seltsam ungebildet.
Er hatte eine große, treibende Kraft des Willens, und jahrelang konnte ich kaum etwas anderes in ihm entdecken. Dies alles erklärt meiner Ansicht nach Gladstones Abneigung gegen den Mann, die er zeigte, als er dem radikalen Führer bei der Bildung seines Kabinetts im Jahre 1886 einen so geringen Posten einräumte, obwohl Chamberlain schon damals sechs Sitze in Birmingham allein beherrschte.
Kimberley und Granville, die alten ausgedienten Kriegspferde, bekamen das indische und das Kolonialministerium, während man Chamberlain nur eine kleinere Stellung an der Spitze einer lokalen Verwaltung gab. Dieses Ministerium zeigte eine seltsame Schwäche und verdiente meinen Hohn, daß in diesem Kabinett »eine Schraube los war«. Man wußte allgemein, daß Chamberlains großes Vermögen aus seinem Monopol des Handels mit Schrauben stammte. Aber Gladstone hätte ihn ins Vertrauen ziehen und ihm jede Stellung, die er verlangte, geben sollen. Denn er war zu jener Zeit zweifellos der Führer der Radikalen Partei und das einflußreichste Mitglied der Mehrheit nach Gladstone selbst. Als das Homerule-Gesetz im Unterhause votiert wurde, wie Randolph Churchill richtig sagte, »von einem alten Mann in Eile durchgepeitscht«, muß Gladstone seinen Fehler der Unterschätzung Chamberlains begriffen haben, denn sowohl Chamberlain wie Hartington händigten ihre Demission ein, wodurch das Gesetz unmöglich gemacht wurde. Gladstone nannte die Rebellen die »Dissidentenliberalen«, aber der Name blieb nicht haften. Sie wurden bald als »Liberalunionisten« bekannt, und keiner konnte leugnen, daß Chamberlain die Anwärterschaft auf die Führung der Partei lieber aufgegeben hätte, als seine Prinzipien geopfert. Aber wenn Gladstone ihn im Jahre 1866 so behandelt hätte, wie er es verdiente, wäre irgendein Homerule-Gesetz im Hause durchgekommen, und die Geschichte dieses unglückseligen Landes hätte eine andere Wendung genommen.
Ich konnte mir keine Vorstellung von Chamberlains außerordentlichem Einfluß in Birmingham machen, bis ich mich zu einem Besuch dieser Stadt entschloß. Dort wurde ich schnell bekehrt. Jeder in Birmingham kannte seine Tätigkeit und sprach mit wärmster Bewunderung von ihm. Schon im ersten Jahre war er Bürgermeister, im Jahre 1874 kaufte er die Gaswerke für die Gemeinde an, steigerte die Wirksamkeit der öffentlichen und privaten Dienste auf eine ganz hervorragende Weise und leitete die wachsenden Gewinne in die Taschen der Steuerzahler über. Ungefähr ein Jahr später machte er dasselbe bei den Wasserwerken und erzielte noch bessere Resultate, während er sich gleichzeitig als ein wirklich demokratischer englischer Staatsmann bester Art bewährte. Bei den Gaswerken benutzte er die steigenden Einnahmen, um die Kosten zu vermindern, während er sich bei den Wasserwerken mit einem Minimum von Gewinn begnügte, um die ständig wachsende Wasserversorgung auf die ganze Gemeinde zum Vorteil der ärmsten Schichten zu verteilen. Bei seiner dritten Wahl bewährte er sich noch besser mit größeren persönlichen Opfern. In Birmingham war ein Armenviertel von einem unvorstellbaren Schmutz, in dem eine langandauernde Armut in Krankheiten vereiterte. Einige Tatsachen werden einen Begriff von der Situation geben. Die Kindersterblichkeit in dem Armenviertel war dreimal so hoch wie in den anständigen Stadtteilen, die Lebensdauer nur halb so lang und die Proportion des Verbrechens zehnmal so groß. Chamberlain unternahm es, diesen Augiasstall auszuräumen, und um die ganze Tragweite seines Vorhabens zu ermessen, darf man nicht vergessen, daß seine Macht scharf umgrenzt war und er außerdem gegen den Widerwillen zu kämpfen hatte, der einer übermäßigen englischen Liebe für individuelle Freiheit entspringt. Er traf auch auf den Haß gegen die behördliche Einmischung oder Verweichlichung. Und doch siegte er über jede Schwierigkeit. Er war kühner als Hausmann in Paris und legte einen großen Boulevard durch das Herz des Arbeiterviertels hindurch, den er die Corporation Street nannte. Heute hat die Corporation Street die besten Läden in Birmingham, und da er die Grundstücke nur für siebzig Jahre verpachtete, werden die Birminghamer Mieten nach Ablauf der Pacht noch vor der Mitte dieses Jahrhunderts um hunderttausend Pfund jährlich vermindert werden.
Nach meiner Rückkehr aus Birmingham konnte ich nicht umhin, Chamberlain eines Tages zu fragen, wie er alles fertiggebracht hatte. »Ihre Gas- und Wasserreformen waren leicht. In Deutschland wäre es etwas durchaus Übliches gewesen. Aber wie haben Sie es fertiggebracht, Ihre Straße durch die Armenquartiere zu legen? Haben sich denn die dortigen Hausbesitzer nicht gegen den Verkauf gewehrt und extravagante Preise gefordert?«
»Einige ja,« erwiderte er lachend, »manche kamen mir wie Straßenräuber entgegen. Aber ich behandelte sie auf die vielfältigste Weise. Ich hatte ja eine Macht, die weiter reichte als das Armenviertel. Als ich auf entschlossene Forderungen traf, sagte ich: Dann schön, mein Freund, ich werde die Richtung meines Boulevards verändern und Sie in dem verkommenen Viertel lassen, wenn es Ihnen besser gefällt. Sie werden eben keinen Vorteil von meinen Reformen haben. Das ist alles. Zu einem andern sagte ich: Hören Sie, wenn Sie nicht verkaufen wollen, lasse ich Ihre baufällige Bude in der Mitte meines Boulevards stehen und werde schon dafür sorgen, daß Ihnen die Stadtgemeinde auf Jahre hinaus keine Bauerlaubnis gewährt. Einen andern wieder kriegte ich herum, indem ich mich an sein Gefühl für das fair play wandte, das in jedem Engländer so tief eingewurzelt ist. Ich bewies ihm, daß ich gleichmäßig gerecht verfuhr. Keiner sollte mehr profitieren als ein anderer. Und das war schließlich mein überzeugendstes Argument. Aber im großen ganzen mußte ich dem Grundstücksbesitzer den doppelten und dreifachen Preis bezahlen.«
Er erzählte dies alles mit einer so lachenden Laune, zeigte ein so reiches, menschliches Mitgefühl selbst mit dem Gemeinsten und Gierigsten und bewies obendrein eine so unbeugsame Entschlußkraft, daß er mich vollkommen gewann. Ich hatte Tränen in den Augen, als er endete, und flüsterte: »Ei, du frommer und getreuer Knecht!«
Er nahm meine Worte mit tiefem Ernst auf, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »So sehr ich mein Haus hier und mein Wohlleben liebe, würde ich ohne einen Pfennig morgen auf die Straße gehen, wenn ich nur diese schmähliche, verbrecherische Armut aus unserer Insel ausfegen könnte, wie ich es in Birmingham getan habe. Und doch habe ich bis jetzt keine Nacheiferer gefunden. Die Armenviertel in Glasgow sind schlimmer als die schlimmsten in Birmingham. Aber kein Schotte nimmt die Sache in die Hand und löst sie so, wie ich sie in Birmingham gelöst habe. – Und noch mehr, viel mehr könnte geleistet werden. Man verbringt die Hälfte seines Lebens, bevor man über das Problem klar wird und einsieht, wie leicht es zu lösen ist und wie wichtig es ist. – Aber ach, die Zeit ist so kurz, und man kann so wenig tun.« – Er seufzte tief auf.
Als er sich wieder an seinen Schreibtisch setzte, bemerkte ich zum ersten Male seine außerordentliche Ähnlichkeit mit dem jüngeren Pitt. Eine Welle von Mitgefühl stieg in mir auf, und ich mußte ihm etwas sagen. »Ich bin sehr froh, daß ich nach Birmingham gefahren bin«, begann ich. »Ich habe Ihnen Unrecht getan. Ich freue mich aus tiefstem Herzen, daß ein Bismarck auch in England möglich ist. Jedenfalls zeigt Ihr Geist, daß das Problem früher oder später in Angriff genommen werden wird, um auf eine edle Weise gelöst zu werden.«
»Das ist auch meine Hoffnung,« sagte er lächelnd, »ich freue mich, daß wir in den Hauptproblemen einer Meinung sind.« – »Ich frage mich, ob das stimmt«, erwiderte ich. »Ihre Freihandelspolitik erfüllt mich mit Schaudern.« – »Sind Sie denn kein Freihändler?« und der Mund stand ihm vor Verwunderung offen. – »Keinesfalls!« erwiderte ich. »Der Freihandel schafft nur Armenviertel, eure Armenviertel, und ich bewundere den Despoten, der sie saniert.« Er zuckte die Achseln. Er war anscheinend zu beschäftigt, um sich auf eine neue Diskussion einzulassen. »Wollen Sie nicht eine Zigarre nehmen«, sagte er und hielt mir die Schachtel entgegen. Ich fühlte, daß ich entlassen war. Aber von nun an empfand ich eine tiefere Bewunderung für den Staatsmann, der Birmingham aus einer gewöhnlichen englischen Stadt in die wahrscheinlich bestgeordnete und gesündeste Großstadt im Vereinigten Königreiche verwandelt hatte. Ich habe mir später oft gewünscht, daß ich, statt mit dem Kopf gegen seine Freihandelsvorurteile zu rennen, ihn gefragt hätte, warum er nicht ein städtisches Opernhaus und ein Theater in Birmingham gegründet hat, um das Geistesleben auf das Niveau von Marseilles oder Lyon zu heben.
Gladstones Homerule-Gesetz fiel bei der Abstimmung durch, weil er den kleinen persönlichen Vorurteilen nachgab, und doch wurde er von den Engländern als ein großer Mann geschätzt, wurde sogar mit einer größeren persönlichen Ehrfurcht angesehen als Bismarck in Deutschland. Ich sah in ihm jedoch kaum mehr als einen guten Redner. Mittlerweile wuchs die Unzufriedenheit der arbeitenden Klassen in Großbritannien und Irland und nahm an Bitterkeit zu. In London fand sie entschlossene Verteidiger in der sozialdemokratischen Föderation. H. W. Hyndman hatte diese Vereinigung vor Jahren als ein mehr oder minder überzeugter Jünger von Karl Marx ins Leben gerufen. Ich habe Bernard Shaw zum ersten Male bei einer Versammlung der Föderation sprechen hören. An einem Montagmorgen im Februar 1886 hatte die Föderation eine Versammlung in Trafalgar Square zusammenberufen, die in einem Straßenaufruhr endete. Die Volksmenge entglitt ihrer Führung, griff die Klubs in Pall Mall an, stürmte die Geschäfte in Piccadilly und hielt eine andere Versammlung am Hyde Park Corner. Die Führer wurden verhaftet und kamen vors Gericht. Es waren Hyndman, Williams, Burns und Champion. Willams und Burns, beide Arbeiter, wurden gegen die Bürgschaft des Dichters William Morris freigelassen. Hyndman erschien mir wie ein durchschnittlicher, englischer Bourgeois mit einem Firnis deutscher Belesenheit. Er war etwas mehr als mittelgroß, bärtig und plump. Champion hatte den mageren, gezüchteten Offiziertypus mit gutem Herzen und geringer Bildung. Williams war der gewöhnliche Arbeiter, voll von Klassenvorurteilen, und John Burns, auch ein Arbeiter, verfügte über eine wirkliche Intelligenz und Besonnenheit und erwies sich später als ausgezeichneter Minister. Er zog es vor, mit Lord Morley zurückzutreten, als die Verantwortung für den Weltkrieg zu tragen. Trotz seiner unzulänglichen Bildung war Burns damals schon ein sehr interessanter Mann. Obwohl kaum mittelgroß, war er stämmig, außerordentlich stark und mutig. Er hatte von seiner Knabenzeit an viel gelesen, und wir freundeten uns zu Anfang des Jahrhunderts an, als der südafrikanische Krieg uns einander näherbrachte. Burns war ein Verehrer von Carlyle, und die Erfahrungen aus seinem Arbeiterleben hatten ihn nicht für den Wert individueller Verdienste blind gemacht. Er stand in mancher Hinsicht an der Spitze der kommenden Zeit, und wenn seine Ausbildung seinem Wissensdurst entsprochen hätte, wäre er einer der ausgewähltesten Geister unserer Zeit geworden. Ich freue mich, zu sagen, daß ich ihn schon im Jahre 1886 weit höher als die meisten Politiker einschätzte, obwohl er sich nie zu einer wirklichen gedanklichen Originalität durchgerungen hatte.