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Am nächsten Morgen um zehn Uhr traf ich Lord Folkestone auf dem Redaktionsbureau der »Evening News«. Es war ein hochgewachsener, schlanker Mann, ganz kahl, mit einem spitzen, weißen Ziegenbärtchen und gütigen, braunen Augen, gut aussehend und liebenswürdig, aber kraftlos an Körper, Geist und Charakter. Er war der erste Freund, den ich mir nach Professor Smith gewonnen habe. Er hatte eine bezaubernde Art und war etwas mehr als ein bloßer Gentleman. Er kam mir sehr freundlich entgegen. Er betrachtete Huttons Empfehlungsbrief als etwas Außergewöhnliches, ebenso wie den von Escott. Er kannte Escott persönlich.
»Wollen Sie sich das Haus ansehen?« schlug er dann vor und brachte mich in den Maschinenraum hinunter, wo drei veraltete Maschinen früher dreißigtausend Exemplare in einer Stunde herstellten. »Wir brauchen nur zehntausend«, sagte er lächelnd. Er hielt anscheinend die Maschinerie für genügend und hatte keine Ahnung von der Tatsache, daß eine Hoe-Maschine doppelt so ergiebig sein würde wie die drei, für die Hälfte der Kosten. Dann stiegen wir in den vierten Stock, wo dreißig oder fünfunddreißig Setzer an den drei oder vier täglichen Ausgaben arbeiteten. Wir wanderten ungefähr eine Stunde herum und kamen wieder in das Bureau zurück, in dem er mich empfing.
»Über Ihre Qualifikationen besteht kein Zweifel,« sagte Lord Folkestone, »aber glauben Sie, daß Sie die Zeitung so weit bringen können, daß sie sich selbst finanziert? Sie braucht heute einen Zuschuß von vierzigtausend Pfund jährlich. Und so reich auch Kennard ist, wird es ihm doch für die Dauer zu schwer. Welche Hoffnung können Sie ihm geben?«
Er schien mir so einfach, so ehrlich und so gut, daß ich mich plötzlich entschloß, ihm die volle Wahrheit zu sagen, obwohl ich mir damit ins eigene Fleisch schnitt. »Meine Empfehlungen, Lord Folkestone, beziehen sich nicht auf diese Arbeit. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wie man einer Tageszeitung zum Erfolge verhilft. Ich habe absolut keine Erfahrungen auf diesem Gebiet. Hier braucht man einen Geschäftsmann und keinen Literaten. Aber ich habe immer alles durchgesetzt, was ich in die Hand nahm. Wenn man mir die Möglichkeit gibt, lasse ich ein Pferd das Derby gewinnen oder eine Zeitung sich selbst finanzieren. Geben Sie mir eine Probezeit von einem Monat, und dann werde ich Ihnen die Wahrheit sagen. Ich bitte Sie nur, in der Zwischenzeit mein Geständnis der Unkenntnis und Unerfahrenheit für sich zu behalten.«
»Ihre Offenheit gefällt mir,« erwiderte er freundlich, »und ich werde für Sie eintreten, das kann ich Ihnen versprechen. Aber Kennard muß entscheiden. Ich habe eben gehört, daß er morgen zurückkommt, also wenn es Ihnen paßt, können wir uns morgen hier wieder treffen.« Und bei dieser Verabredung blieb es.
Coleridge Kennard war ein geschäftiges Männchen, das sehr besorgt war, die Zeitung rein konservativ zu erhalten. Man hielt sie für radikal, weil sie nur einen halben Penny kostete. Aber er wollte Kommunismus und ähnlichen Unsinn bekämpfen. Aus diesem Grunde hatte er sie übernommen. Aber wenn sie noch länger Zuschuß brauchte, wollte er sie wieder aufgeben. Kein Mensch schien eine Ahnung zu haben, wie man die Einnahmen steigern könnte. Die Inserate mehrten sich, aber der Absatz rührte sich nicht. Wenn man statt der sechs- oder achttausend Exemplare täglich fünfzigtausend verkaufen könnte, würden die Inserate hereinströmen, und die Zeitung müßte einen Gewinn abwerfen. Er fragte mich um meine Meinung.
»Geben Sie mir die Zeitung für einen Monat, Herr Kennard,« sagte ich, »und ich werde Ihnen alles genau sagen.«
»Zu welchen Bedingungen?« fragte er.
»Ich überlasse es Ihnen«, erwiderte ich. »Ich werde mit allem zufrieden sein, was Sie und Lord Folkestone entscheiden. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich das Blatt nicht schädigen werde.« »Sehr gut,« meinte Kennard, »ich denke, daß wir es annehmen.« Er drehte sich fragend zu Lord Folkestone um.
»Sicherlich,« nickte Lord Folkestone, »und ich glaube, daß wir zum ersten Male die Chance haben, sie zu einem Derbysieger zu machen.«
In diesem Geiste schüttelten wir uns die Hände, und ich wurde den Leitern der verschiedenen Abteilungen vorgestellt.
Die Redaktionsmitglieder kamen mir enttäuscht und verstimmt vor. Der Setzereiinspektor, ein Schotte, schien mir zu unabhängig, der Buchhalter, ein Herr Humphrey, der Gatte der berühmten Schriftstellerin Madge von der »Truth«, sehr gütig und bereit, mir zu helfen. Ich sagte ihm in Gegenwart von Kennard und Folkestone, daß ich im ersten Monat keine Veränderungen einführen würde. Ich wollte erst das Feld studieren. Sobald die Direktoren das Zimmer verlassen hatten, sagte mir Humphrey die ganze Wahrheit über alle Punkte, in denen er sich auskannte. Er hielt es für beinah unmöglich, eine billige konservative Zeitung sich selbst finanzieren zu lassen. Es läge ein offener Widerspruch zwischen der Politik und dem Preis. Die Maschinen seien wertlos, Macdonald nicht sehr brauchbar und ...
Es stand mir ohne Zweifel eine sehr schwierige Aufgabe bevor. Als ich den ersten Redakteur Abbott fragte, ob er irgendwelche Ideen hätte, wie man die Zeitung erfolgreich gestalten könnte, erwiderte er mir nonchalant, daß er täte, was man ihm sagte, und der Rest ihn nichts anginge. Auf meinem Heimwege nahm ich mir die letzte Ausgabe der »Evening News« und den radikalen Rivalen, das »Echo«, mit. Das »Echo«, hatte eine rein liberale Politik, die dem Arbeiter nichts weiter bieten konnte als eine billige Verachtung für die Höherstehenden. Meine konservativ-sozialistische Politik mußte es aus dem Felde schlagen. Die Nachrichten in den beiden Zeitungen wurden einfach den Morgenblättern und den Agenturen entnommen und waren in der einen Zeitung so schlecht wie in der anderen. Es war offensichtlich, daß gewisse Neuigkeiten auf amerikanische Art in kleine Geschichten umgeschrieben werden mußten. Ich sah noch nicht den Weg vor mir, aber ich wußte, daß ich ihn finden würde. Die Lethargie in dem ganzen Hause war entsetzlich. Man brauchte eine Stunde, um die Stereotypplatten für die beste Maschine vorzubereiten, und oft setzte die alte klapprige Maschine aus, und als ich herunterkam und Macdonald zur Rede stellte, erwiderte er mir, er wäre der einzige, der imstande sei, den alten Klapperkasten in Bewegung zu setzen.
Der vorige Herausgeber hatte den Maschinenraum nie betreten. Ich verbrachte dort täglich eine Stunde, und bald fiel mir ein Arbeiter auf, sechs Fuß groß, herrlich gebaut, mit kräftig geschnittenen Zügen. Sooft eine Maschine stehenblieb, schien Tibbett sofort zu wissen, was mit ihr los war. Als ich ihn einen Moment allein traf, bat ich ihn, nach der Arbeit zu mir heraufzukommen. Er kam sehr zögernd, wie es mir schien. Allmählich gelang es mir, sein Vertrauen zu gewinnen, und er sagte mir offen: »Macdonald hat sich mit Schotten umgeben, die wie Kletten zusammenhalten. Er taugt nicht viel und die anderen ebensowenig. Zwölf Menschen stecken in dem Maschinenzimmer, fünf könnten die Arbeit schaffen und besser noch«, erklärte Tibbett. »Zehn Pfund die Woche, statt fünfundzwanzig«, sagte ich mir; es war eine gute Ersparnis. Ich fragte Tibbett, ob er die Arbeit übernehmen würde, wenn ich Macdonald entließe. Er zögerte, stotterte Vorbehalte hervor, der verfluchte Korpsgeist hielt ihn zurück. Aber schließlich versprach er mir, sein Bestes zu tun, und willigte ein, mir die Namen der vier Arbeiter, die er behalten wollte, zu nennen.
Am nächsten Morgen rief ich Macdonald zu mir und entließ ihn und seinen Schwager. Ich zahlte ihm ein Monatsgehalt aus, seinem Schwager den Lohn für zwei Wochen und ließ die anderen bis zum nächsten Sonnabend arbeiten.
Eine Stunde später war in dem Maschinenraum die Hölle los. Die entlassenen Schotten ahnten, daß Tibbett ihr Spiel verraten hatte, und beschimpften ihn. Er schlug einen nach dem andern nieder, bis sie die Polizei holen ließen und Tibbett als Anstifter zur Schlägerei verhaftet wurde. Am nächsten Tage ging ich aufs Polizeigericht und gab mir alle Mühe, ihn zu befreien, aber der blöde Untersuchungsrichter ließ sich vom Arzt, der dem Macdonald das Zeugnis ausgestellt hatte, er sei ernsthaft verletzt, bestimmen und brummte Tibbett eine Strafe von einem Monat auf. Seine Frau war ganz in Tränen aufgelöst. Ich versicherte ihr, ich würde ihn in einer Woche frei bekommen, und dank Lord Folkestone, der bei dem Innenminister interveniert hatte, wurde er nach einer Woche mit einer Strafe von zwanzig Pfund entlassen. Tibbett kam gegen Ende der Woche zurück, und die Maschinen arbeiteten besser als früher. Ich gab jedem der vier Arbeiter zwei Pfund wöchentlich und Tibbett vier. Ein Geist äußerster Kraftanstrengung herrschte in dem Maschinenraum. Ich ließ mir auch von Tibbett den besten Mann in der Gießerei nennen, es war Maltby, der beste Arbeiter und der schweigsamste Mann, der mir je begegnet ist.
Auf diese Weise hatte ich die Ausgaben um zwei Drittel vermindert, sparte noch weitere fünfzehn Pfund in der Woche, während die Arbeitsproduktivität ungeheuer gesteigert wurde. Die Zeit zum Vorbereiten der Stereotypplatten ermäßigte sich von einer Stunde auf die beste amerikanische Dauer von zwanzig Minuten, und Maltby brachte sie allmählich auf zwölf Minuten mit verblüffenden Ergebnissen, wie ich bald erzählen werde.
Ich lernte an allen Ecken und Enden. Es war gerade Krieg in Ägypten, und als ich eines Morgens unten einen großen Krach hörte, ging ich in die Halle hinaus, wo die Zeitungsjungen auf die erste Ausgabe warteten. Sie sprachen laut und schienen unzufrieden, und ich fragte, was los sei.
»Dieser verdammte Quatsch von einer Überschrift«, rief einer der Jungen verächtlich. – Er war sicherlich nicht älter als zwölf und fuchtelte mir mit der »Evening News« vor den Augen. »Wie soll man da die Zeitung loswerden?«
»Was fehlt denn da?« fragte ich. – »Alles!« erwiderte er. »War da nicht irgendwo eine große Schlacht? Mit massenhaft Leichen? Sehen Sie sich den ›Daily Telegraph‹ an, das ist 'ne Überschrift. Die werden schon was los! Wir nicht!«
Selbstverständlich sah ich sofort den Unterschied, nahm meinen jungen Kritiker und seinen Freund in mein Zimmer mit, breitete die Zeitung vor uns aus und setzte mich hin, um neue sensationelle Überschriften zu machen. Dann schickte ich nach dem Redakteur Abbott und zeigte ihm den Unterschied. Zu meiner Verblüffung verteidigte er die alten ruhigen Schlagzeilen. »Es ist eine konservative Zeitung«, sagte er, »und darf einem nicht entgegenschreien.« Mein junger Kritiker grinste. »Machen Sie mal, daß Sie die Zeitung loswerden, und Sie werden schon schreien müssen.«
Ich gab dem Knaben zehn Schilling und seinem Freunde fünf und bestellte sie mir einmal die Woche, um mich auf die schlechten und guten Überschriften aufmerksam zu machen. Diese Jungen haben mir beigebracht, was das Londoner Halbpenny-Publikum verlangt, und als ich nach Haus ging, lachte ich über meine eigenen intellektuellen Voraussetzungen.
Das gewöhnliche englische Publikum wollte keine Gedanken, sondern Sensationen. Ich hatte die Zeitung mit meinen besten Kräften mit achtundzwanzig Jahren zu redigieren begonnen. Ich griff auf meine eigene Jugend zurück, und sobald ich sie im Geiste eines vierzehnjährigen Knaben redigierte, begann ich Erfolg einzuheimsen. Die einzigen Dinge, die mich damals interessierten, waren Küsse und Kämpfe, und wenn ich eines der beiden interessanten Themen in jede Spalte hereinbekam, wuchs die Zirkulation des Blattes von Tag zu Tag.
Ich wurde jeden Morgen um sieben geweckt, man brachte mir das Frühstück und die Zeitungen herein, ich konnte kaum früher aufstehen, da die Milch nicht vor sieben kam. Eines Morgens las ich im »Telegraph«, daß wirklich eine Schlacht in Ägypten stattgefunden hatte, in der die Engländer selbstverständlich den Sieg davontrugen. Auf dem Wege ins Bureau schnitt ich den Bericht im »Telegraph« aus, machte ihn zurecht und verbesserte ihn hier und da mit Nachrichten aus der »Daily Chronicle« und den »Times«. Ich war vor acht Uhr auf der Redaktion. Aber keiner der Redakteure traf vor neun ein. Das machte nicht viel aus, aber auch die Setzer begannen erst langsam gegen acht Uhr fünfzehn anzukommen. Ich hetzte sie sofort an die Arbeit, und um neun hatte ich schon die ganze Zeitung zusammengesetzt, mit einem kurzen Leitartikel, statt zweier langen, und guten Überschriften.
Die erste Ausgabe wurde in mehr als zehntausend Exemplaren verkauft. Ich schärfte den Redakteuren ein, daß sie früher erscheinen müßten, und befahl den Setzern, punkt acht bei der Arbeit zu sein.
Mein junger Kritiker beglückwünschte mich zum Erfolg der Zeitung und brachte mich auf einen neuen Gedanken. »Manchmal kommt die Nachricht von einem Sieg im ›Telegraph‹ zwischen vier Uhr morgens, wenn er schon im Druck ist, und zehn Uhr, und dann bringen sie eine Sonderausgabe. Mein Bruder ist Setzer im ›Telegraph‹, er kann mir den ersten Abzug von jedem Extrablatt geben, und ich bring's Ihnen dann. Wenn Ihre Zeitung fertig ist, können Sie die Nachricht nehmen und sind fast ebenso schnell raus wie der ›Telegraph‹. Das wird dann gehen, Donnerja! Es wär' ein Spaß!«
Ich ging sofort auf den Vorschlag ein, versprach ihm einen Sovereign, sooft es klappen sollte, und gab ihm meine Adresse. Er sollte sich einen Wagen nehmen, sooft er eine solche Neuigkeit bekam. Durch besondere Zulagen gelang es mir, drei Setzer schon vor sechs Uhr morgens zu bekommen, und Maltby mit seinem Assistenten und Tibbett waren schon unten um dieselbe Zeit zur Verfügung.
Eines Morgens kam der kleine durchtriebene Kerl zu mir; in einer halben Stunde war ich im Bureau und diktierte den Setzern fast Wort für Wort den Bericht der großen Schlacht aus dem ›Telegraph‹ Sie arbeiteten wie der Blitz. Es herrschte ein solcher Eifer, daß der Setzer, der mit der Nachricht nach unten gehen sollte, seinen zwei Kameraden befahl, den Strick zu halten, auf den Brieflift sprang und fast fünf Stockwerk heruntergefallen wäre, wenn nicht seine Kameraden mit blutenden Fingern die Rollen festgehalten hätten. In zehn Minuten wurde die »Evening News« auf den Straßen verkauft, und zwar noch vor der »Telegraph«-Sonderausgabe. Wir hätten Hunderttausende verkaufen können, wenn die Maschinen soviel herausgebracht hätten. So verkauften wir vierzig- oder fünfzigtausend, und die Fleetstreet erfuhr, daß eine neue Abendzeitung als Konkurrenz aufgetreten war.
Um die Mittagszeit bekam ich den Besuch von dem Besitzer des »Telegraph«, Levi Lawson, einem kleinen, dicken, rötlichen Juden von fünfzig oder sechzig Jahren, der vor Wut tobte, weil ihm der Donner gestohlen wurde. Ich sah bald, er hatte nur den Verdacht, und nicht die Gewißheit, daß wir vor seinem Blatt erschienen waren, denn er sagte mir, ich dürfte nie mehr als ein Drittel aus dem »Telegraph« reproduzieren, selbst wenn ich die Mitteilung vorausschickte, daß der Bericht aus seinen Spalten stamme. Ich zeigte ihm, daß ich schon in einem früheren Artikel geschrieben hatte, der Korrespondent des »Telegraph« sei gewöhnlich der beste. Er schien dadurch etwas besänftigt, und da ich fühlte, daß ich mich durch meinen Eifer zu weit habe verleiten lassen, versprach ich ihm, dem ursprünglichen Überbringer der Nachricht immer mindestens zwanzig Minuten Vorsprung zu geben.
Gerade als Lawson versöhnt wegging, kam Lord Folkestone herein. Ich stellte ihm Lawson vor, der ihm die ganze Geschichte erzählte und hinzufügte: »Sie haben einen schneidigen Redakteur in diesem Amerikaner bekommen. Er wird schon was leisten.« Als Folkestone die ganze Geschichte hörte und erfuhr, daß der eine Arbeiter sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um eine halbe Minute zu ersparen, ließ er die Männer heraufkommen, dankte ihnen und nahm mich zum Frühstück mit, damit ich es Lady Folkestone erzähle. Er gestand mir unterwegs, daß Lady Folkestone Kennard nicht ausstehen könnte. »Er ist nicht sehr liebenswürdig, wie Sie wissen.«
Lady Folkestone war zu jener Zeit eine große, starke Dame von über vierzig Jahren, die ebenso gütig und klug wie groß und stark war. Ihr Bruder, Henry Chaplin, der Herr von Lincolnshire, wie er genannt wurde, war einer dieser außergewöhnlichen Charaktere, die nur England hervorbringen kann. Wenn er eine richtige Erziehung gehabt hätte, wäre er ein großer Mann geworden. Er war dadurch verdorben, daß er eine große Stellung und fünfzig- bis sechzigtausend Pfund im Jahr geerbt hatte. Er sah ausgezeichnet aus, groß und breitschultrig, mit einem Löwenschädel. In den achtziger Jahren erzählte man sich allgemein, wie er sich verzweifelt in ein hübsches Mädel verliebt hatte, das ihm am Vorabend der Hochzeit mit dem Marquis von Hastings durchbrannte. Chaplin stellte sich sofort auf dem Turf in Opposition zum Marquis. Einige Jahre später besaß er ein großes Pferd namens Hermit, dem zehn Tage vor dem Derby ein Blutgefäß gesprungen war. Der Marquis wettete um Hals und Kragen gegen Hermit. Zum ersten Male wurde das Derby im Schneesturm geritten (die Vorsehung kam der rechtschaffenen Empörung zu Hilfe), und Hermit gewann. Am Abrechnungstage jagte sich der Marquis eine Kugel ins Gehirn, oder was sonst als solches galt, und Chaplin war gerächt. Ich weiß nicht, was aus der Dame geworden ist. Aber Chaplin ging ins Unterhaus und entwickelte dort einen blumenreichen Stil der Rhetorik, der manchmal ein wirklich durchdringendes Verständnis des Lebens fälschte. Ich kannte ihn als einen großzügigen Verschwender. Er ließ Sonderzüge stellen, um seine Gäste in sein Landhaus zu befördern, und sein Rotspon war ebenso wunderbar wie sein alter Portwein. Er hatte viel gelesen, sich aber nie gezwungen, etwas zu lesen, was ihm nicht gefiel, und so war er zu egozentrisch in seinen Meinungen und wies merkwürdige Lücken einer verblüffenden Unkenntnis auf.
Er war durch und durch Engländer mit allen freigiebigen Instinkten einer siegreichen Erobererrasse und einer tief eingewurzelten Liebe für fair play und oberflächliche Sentimentalitäten, die man ebenso wenig erklären kann wie den englischen Geschmack in der Herrenkleidung, bei gleichzeitiger wirklicher Indifferenz für jede andere Kunst. Ich habe soviel über Henry Chaplin erzählt, weil seine Schwester ihm im wesentlichen sehr ähnlich war, ebenso großzügig und liebenswürdig, mit derselben ungeheuren Befriedigung über ihre privilegierte Lage im Grunde ihrer Seele. Sie hatte eine echte Liebe für Musik, aber als ich ihr von Wagners verblüffendem Genie sprach, schien ihr jedes Verständnis dafür zu fehlen.
Ihre Tochter war schlank und schön, auch die Söhne sahen ausgezeichnet aus, besaßen jedoch nicht die leiseste Ahnung von der, wie ich sie nenne, ersten Pflicht eines Menschen, die darin besteht, daß man den Geist ebenso harmonisch wie den Körper entwickelt. Diese Selbstentwicklung steigert die Macht, über die man verfügt, in ungeheurem Maße. Man darf es nur nicht übertreiben, wie man sich in acht nehmen muß, einen Muskel übermäßig zu entwickeln.
Durch die unveränderte Güte Folkestones lernte ich die englische Gesellschaft kennen. Sie berührte mich als oberflächlich und mittelalterlich in ihrer ewigen Bezugnahme auf christliche, oder besser gesagt, paulinische Moralgrundsätze, die sich so merkwürdig bei einer so kräftigen männlichen Rasse ausnehmen.
Als der Monat um war, konnte ich zeigen, daß ich die Leistungsfähigkeit des Personals der »Evening News« gesteigert, außerdem fünftausend Pfund von den jährlichen Ausgaben gespart und die Einnahmen um fast ebensoviel erhöht hatte.
Daraufhin wurde ich von den Eigentümern des Blattes für drei Jahre als Verwaltungsdirektor mit einem Gehalt von tausend Pfund jährlich und Spesen engagiert unter der Voraussetzung, daß, wenn die Zeitung bis dahin einen Gewinn abwerfen würde, ich zu fünf Prozent an den Nettoeinnahmen beteiligt werden und Anspruch auf eine zehnjährige oder lebenslängliche Anstellung, wie Kennard vorschlug, haben sollte.
Nun fühlte ich, daß ich gewonnen hatte. Ich konnte jetzt heiraten oder mit der Arbeit fortfahren. Warum suchte ich Laura nicht auf und heiratete sie? Aus dem einfachen Grunde, weil ich sie zweimal in verschiedenen Theatern mit demselben gut aussehenden, stämmigen Amerikaner getroffen hatte. Als er das letztemal mit ihr hinter ihrer Mutter ging, hatte er ihren bloßen Arm ergriffen, und sie belohnte seine Liebesgeste mit dem Geschenk eines Lächelns, das ich bei ihr so gut kannte und so liebte. Nein, ich war nicht eifersüchtig, sagte ich zu mir selbst. Aber ich beeilte mich auch nicht, meinen Kopf in die Schlinge zu stecken. Ich arbeitete weiter mit meiner ganzen Kraft an der Zeitung und ging nur abends in Gesellschaft. Folkestone hatte mir seinen Schneider Poole empfohlen, und ich sah ziemlich präsentabel aus. Ich war kein Salonlöwe, rief jedoch schon einiges Interesse hervor, hauptsächlich dank der ritterlichen Unterstützung von Folkestone.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie ich Arthur Walter von den »Times« kennenlernte. Aber wir freundeten uns bald an, und ich verbrachte die Hälfte meiner Sommerferien in seinem Landhause in Finchampstead. Frau Walter war auch sehr gut zu mir, und ich hing an dem Ehepaar mit wirklicher Zuneigung. Ich konnte ihnen bereits Geschichten aus dem Londoner Leben erzählen, dem Leben hinter den Kulissen, über das sie kaum etwas wußten.
Ich lernte auch durch meine Zeitung Sir Charles Dilke kennen, und ich möchte hier die Geschichte erzählen, denn ich hatte durch ihn Chamberlain und die radikale Partei kennengelernt.
Ein gewisser Crawford, ein Mann in einer nicht unbeträchtlichen Stellung, reichte plötzlich eine Scheidungsklage ein, wobei er den radikalen Baronet Sir Charles Dilke des Ehebruches mit seiner Frau bezichtigte. Die bloße Beschuldigung wirkte zu meiner Verblüffung wie ein Erdbeben. London sprach von nichts anderem. Durch Folkestone erfuhr ich den aristokratischen Standpunkt. »Dilke«, sagte er, »ist als Windhund bekannt. Der Skandal würde ihn bei seinen Wählern ruinieren, aber kein Mensch in der Gesellschaft wird darum schlechter von ihm denken.« Ich sah die Gelegenheit für eine journalistische Sensation gekommen, und so schrieb ich sofort Dilke und sagte ihm, ich würde ihm gern die »Evening News« zur Verfügung stellen, falls ich ihm einen Gefallen damit täte, um seinen Fall der Öffentlichkeit objektiv darzustellen. Er erwiderte mir umgehend mit der Bitte, ihn in seinem Hause in Sloane Street aufzusuchen. Er kam mir am nächsten Morgen mit ausgestreckten Händen entgegen. »Ihr Glaube an meine Unschuld war für mich die größte Ermutigung – – –«
»Großer Gott,« rief ich aus, »Unschuld! Selbstverständlich halte ich Sie für schuldig wie alle Leute. Es ist der Politiker, dem ich helfen wollte, und nicht der Unschuldige.«
Er lächelte. »Dann können wir offen miteinander sprechen!« Ich merkte bald, daß er die ganze Sache viel ernster nahm als Lord Folkestone. »Eine Verurteilung bedeutet den Ruin meiner parlamentarischen Karriere«, erklärte er.
»Aber als Fanny dem Herzog von Wellington drohte, seine Briefe zu veröffentlichen, schrieb er ihr: »Liebe Fanny, veröffentliche sie und scher' dich zum Teufel!«
»Die damalige aristokratische Gesellschaft hatte an einem Skandal noch ihren Spaß,« erwiderte Dilke, »heute herrscht der Mittelstand vor, für den Ehebruch so schlimm wie Mord ist.«
»Dann wollen wir die Sache auf die leichte Achsel nehmen, sie als Witz behandeln und so die Konsequenzen abschwächen.«
»Sehr nett von Ihnen,« meinte Dilke, »es mag vielleicht etwas helfen – aber es wird mich nicht retten – – –«
In den nächsten Wochen lernte ich Dilke näher kennen. Er war einer der wenigen Menschen in London, die eine gründliche Kenntnis des Französischen besaßen. Er sprach es fließend wie ein Franzose und mit einem perfekten Akzent. Aber trotz dieser Gabe wußte er sehr wenig von französischer Literatur und Kunst, er lebte nur für die Politik, und obwohl er schwer arbeitete, war er selbst im Englischen nicht sehr belesen und konnte nicht mit Kenntnissen glänzen. In seinem Hause traf ich von Zeit zu Zeit Menschen verschiedenster Art, wie z. B. Jusserand, den späteren französischen Botschafter in Washington, Harold Frederic, den ausgezeichneten amerikanischen Journalisten und Schriftsteller, und Edward Grey, Dilkes Nachfolger im Ministerium des Äußeren, Rhoda Broughton und andere. Dilke war reich, hatte viele intellektuelle Interessen und, wie ich schon sagte, gerade einen Hauch französischer Kultur. Er hatte nicht nur die Zeitschrift »Athenaeum« von seinem Vater geerbt, sondern auch Miniaturen von Keats, die ich sehr hoch schätzte. Meine Bewunderung verblüffte ihn, und er bot mir ein sehr schönes Exemplar an. Ich nehme sie »gern, aber nur, wenn Sie mir gestatten, Ihnen etwas dafür zu geben«, zögerte ich. – »Was kann sie denn wert sein?« fragte er. – »Ich würde Ihnen gern hundert Pfund geben«, erwiderte ich. – »Ist sie denn soviel wert?« rief er aus.
»Wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht für tausend hergeben.« »Wirklich?« meinte er und drang nicht weiter in mich ein, denn er war alles andere als freigebig.
Die große Frage für Dilke in der Scheidungssache war: Sollte er auf der Zeugenbank erscheinen und den Ehebruch leugnen oder nicht? Er besprach es mit mir erst an dem Tage, an dem der Prozeß begann. Er suchte mich in meinem Bureau auf und legte mir die ganze Angelegenheit dar. Ich sagte ihm selbstverständlich, daß er als Zeuge erscheinen müßte, um die Beziehungen zu leugnen. »Jeder Gentleman würde es für eine Dame tun, selbst wenn das Verhältnis so bekannt wäre, daß Leugnen nur ein Lächeln hervorriefe.« Darauf sagte mir Dilke, er hätte die Sache in einem Zimmer auf dem Gericht mit Joseph Chamberlain besprochen, und Chamberlain rate ihm dringend ab, als Zeuge zu erscheinen.
»Aber lieber Dilke,« rief ich aus, »es ist doch ein Irrsinn, den Rivalen um Rat zu fragen. Chamberlain und Dilke – die beiden radikalen Führer! Man stelle sich vor, daß Dilke Chamberlains Rat annimmt!« Dilke stotterte und zögerte und ging wie eine Katze um den heißen Brei herum, bis er endlich gestand:
»Sehen Sie, mein Name wurde in meiner Jugend häufig mit dem Namen von Frau Crawfords Mutter in Verbindung gebracht, und die Menschen werden sich vielleicht über den Gedanken entsetzen, daß ich mit meiner eigenen Tochter ein Verhältnis haben könnte.«
»Großer Gott, das kompliziert die Sache, aber kein englischer Richter würde auch nur im Kreuzverhör eine Frage zulassen, die auf so etwas hinweist.«
»Sind Sie denn nicht darüber entsetzt?« fragte Dilke. »Ich dachte, Chamberlain kriegt einen Schlaganfall, als ich's ihm erzählte.«
»Ich hätte es ihm an Ihrer Stelle nicht erzählt«, sagte ich. »Aber glauben Sie wirklich, daß sie Ihre Tochter ist? Gibt es irgendeine Ähnlichkeit oder Anziehung?«
»Nein, nichts,« erwiderte er, »übrigens haben die Griechen den Inzest ganz leicht genommen. Manche sagen sogar, daß der höchste Typus griechischer Schönheit aus Beziehungen zwischen Vater und Tochter, Bruder und Schwester hervorgegangen ist –.«
»Wir können das ein anderes Mal besprechen,« unterbrach ich ihn, »und es würde mir Freude machen, weil ich einige seltsame Tatsachen aus diesem Gebiete kenne. Die Bluteinheit erzeugt zwar eine größere Schönheit, aber sicherlich weniger Stärke und einen geringeren Intellekt. Aber jetzt kann ich Sie nur bitten, sich auf die Zeugenbank zu begeben. Wenn Sie's nicht tun, werden Stead und die anderen radikalen Journalisten auf Ihre Spur gehetzt werden und erklären, daß Ihr Nichterscheinen ein Beweis Ihrer Schuld ist. Es ist auch möglich, daß der Richter dieselbe Meinung vertreten wird, und dann haben Sie sich erst recht etwas eingebrockt. Das nonkonformistische Gewissen wird sich auf den Hinterbeinen aufrichten und losheulen.«
Trotz meiner guten Ratschläge, die ich mit meiner ganzen Eindringlichkeit vertrat, scheute Dilke die Zeugenbank, der Fall wurde gegen ihn entschieden, und der Richter hielt sein Nichterscheinen für ein Schuldbekenntnis. »Jeder Gentleman würde eine solche Beschuldigung mit Entsetzen zurückweisen!« Und doch hatte der rechtschaffene Richter gehört, daß Frau Crawford in ihren Zeugenaussagen erklärte, Dilke hätte darauf bestanden, eine Frau Rogerson mitzubringen, als sie im Bett lag. »Frau Rogerson war eine alte Frau und Dilkes alte Flamme.« Britische Prüderei tat so, als ob sie nicht wüßte, was diese zweite Sehne zu Dilkes Bogen bedeuten könnte, aber in der besten Gesellschaft wurde die Sache weit und breit diskutiert.
Während ich Dilke nach Kräften verteidigte, erschien bei mir John Corlett vom »The Pink Un«, dem Londoner Blatt, das sich durch seine ungeschminkte Tonart auszeichnete, und sagte mir: »Sie kennen wohl Dilke und die ganze Crawford-Affaire.« Ich gab zu, daß ich ziemlich genau orientiert war. »Haben Sie etwas Spaßiges für mich dabei? Sie wissen ja, wir können uns manches leisten, wir dürfen nur nicht über die Stränge schlagen.« Ein Einfall schoß mir durch den Kopf, und ich teilte ihn Corlett mit. »Machen Sie einen beliebigen Kommentar zu der Sache,« sagte ich, »und dann lassen Sie ein kleines Feldbett in dem einfachsten, schmalen Schlafzimmer zeichnen, denn Dilke behauptet, so sieht seine Schlafgelegenheit aus. Legen Sie dann zwei Kissen auf die Schlafrolle und lassen Sie für die erste Woche die Skizze mit der Unterschrift ›Genaue Reproduktion des Schlafzimmers von Sir Charles Dilke‹ erscheinen.« – »Das wird die Themse nicht gleich in Flammen setzen,« meinte Corlett, »aber die Idee ist ganz pikant.«
»Aber denken Sie daran, was Sie in der nächsten Woche tun können, wenn Sie in Fettdruck veröffentlichen, daß dem Zeichner von Dilkes Schlafzimmer in der letzten Woche ein Irrtum unterlaufen ist und die Redaktion sich nun freut, in der Lage zu sein, ihn in dieser Woche korrigieren zu können. Daraufhin reproduzieren Sie genau das Bild, lassen jedoch statt der zwei Kissen drei auf die Schlafrolle legen.«
»Ich schicke Ihnen fünfzig Pfund dafür,« sagte Corlett, »es ist der beste Witz, den ich seit einer verdammt langen Zeit gehört habe.« Und er hielt sein Wort. Ich hatte John Corlett immer sehr gern. Es war keine Spur von Schaumschlägerei in ihm, und er zahlte ausgezeichnet.
Sir Charles Dilke hatte einen Hauch von Größe in sich, eine Eigenschaft, die in England selten ist und unter amerikanischen Politikern kaum vorkommt. Er beurteilte die Menschen erstaunlich unparteiisch. Er kannte das Unterhaus besser als irgendein anderer mit der einzigen Ausnahme von Lord Hartington, und ich konnte es wirklich beurteilen, denn von dem Augenblick an, in dem ich Herausgeber der »Evening News« geworden war, ging ich mindestens drei- oder viermal wöchentlich in das »House of Commons«, um den Debatten von der Fremdengalerie aus zuzuhören. Dort und in den Couloirs traf ich die verschiedensten Menschen vom Hauptmann O'Shea und Biggar an bis zu Parnell und dem Grafen Herbert von Bismarck.
Ich muß noch eine kleine Geschichte über Dilke erzählen. Sobald das Ergebnis seines Prozesses bekannt war, telegraphierte ihm Frau Mark Pattison, die Witwe des berühmten Rektors des Lincoln College in Oxford, aus Indien: »Ich bin von Ihrer vollkommenen Unschuld durchdrungen und kehre sofort zurück, um Sie zu heiraten.«
Das erinnerte mich an eine Anekdote, die man in Oxford ausgebrütet hatte über Mark Pattison, den berühmten Gelehrten, und seine schöne, junge, blonde Frau, die sich mit einer Schar von jungen Studenten als Gegengewicht zu dem pedantischen Ton ihres alternden Gatten umgab. Eines Tages fand ein Freund Pattison in Gedanken verloren im Garten des College. »Ich hoffe, daß ich Sie nicht störe«, sagte er, nachdem er vergeblich versucht hatte, den Rektor zu interessieren. – »Nein, nein, mein Lieber,« erwiderte Pattison, »aber ich habe Grund zum Nachdenken. Meine Frau sagt mir eben, sie glaube, sie sei schwanger«, und er spitzte die Lippen voller Selbstzufriedenheit.
»Großer Gott,« rief der Freund aus, »wen haben Sie denn im Verdacht?«
Als wir Frau Pattisons Telegramm im Morgenblatt lasen, rief Folkestone aus: »Jetzt habe ich wirklich Mitleid mit Dilke. Seine Sünden werden an ihm heimgesucht.« Und Harold Frederics Wort klang ähnlich: »Ein Blaustrumpf auf einem losen Strick ist sogar für London etwas Neues!«
Ich hatte keinerlei Sympathie für Lady Dilke. Als ich sie das erstemal sah, war sie eine Frau von über vierzig Jahren, dick, gedrungen, mit braunem Haar, blauen Augen, gewöhnlichen Zügen und hellem Teint. Sie war der wahre Pedantentypus, der einzige Blaustrumpf, den ich je in England getroffen habe. Ich möchte nur ein typisches Beispiel ihrer Pedanterie anführen und sie in Frieden ruhen lassen. Als ich mir schon einen gewissen Ruf als Shakespearekenner gemacht hatte und ihre Einladungen jahrein, jahraus ausschlug, schrieb sie mir einmal, daß der französische Diplomat Jusserand, der eine große Shakespeareautorität sei, mich gern treffen würde. »Wollen Sie nicht zu uns zum Essen kommen, um ihn kennenzulernen? Bitte, kommen Sie um sieben, dann können Sie noch eine Stunde vor Tisch mit ihm sprechen.«
Ich schrieb ihr dankend und kam pünktlich um sieben an. Ich wollte sehen, ob irgendein Franzose überhaupt etwas Eigenes über Shakespeare wußte. Lady Dilke stellte mir sofort Jusserand in dem kleinen Salon vor und sagte: »Nun will ich die beiden Autoritäten einander überlassen, damit sie sich verständigen, denn ich glaube, daß Sie beide ja der Ansicht sind, daß Shakespeare Shakespeare und nicht Bacon war. Obwohl ich mich erinnere ...«, und die gesprächige Dame begann eine lange Geschichte, wie sie einmal einen Verfechter der Bacontheorie im Lincoln College getroffen hatte, »den selbst mein Gatte respektieren mußte, und zwar entwickelte er die Frage folgendermaßen ...«
Jusserand und ich sahen uns an und hörten mit höflicher, geduldiger Unaufmerksamkeit zu. Die Dame ratterte die ganze Stunde hindurch, und die Tischglocke fand uns noch beim Zuhören. Keiner von uns war zu Worte gekommen. Bis zum heutigen Tage habe ich keine Ahnung von Jusserands Ansichten.
Seit Dilke geheiratet hatte, pflegte er mit mir einmal in der Woche in diesem oder jenem Restaurant zu Mittag zu essen, und neun Zehntel meiner Kenntnisse über das Unterhaus und die englischen Politiker verdanke ich ihm. Er zeigte mir die beste Seite des englischen Puritanismus, seine Schätzung des Benehmens und der genauen Erfüllung aller Verpflichtungen. Ich habe immer den aristokratischen Standpunkt, der zugleich großzügiger und nachsichtiger ist, vorgezogen, aber die halbreligiöse Anschauung des Mittelstandes ist vielleicht ausgesprochener englisch, denn sie hat sich fast ausschließlich über die Vereinigten Staaten und die ganzen britischen Kolonien verbreitet.
Bei Dilke merkte ich, woher Dickens seinen Gradgrind nahm: der Mensch der Tatsachen, »der deutsche Einschlag im Engländer«, wie ich es nannte. Dilke war gut informiert in der Politik und arbeitete seine Reden im Unterhause mit großer Sorgfalt aus. Aber er sprach monoton und ohne eine Bewegung auszulösen. Gladstone hat einige Zeit vor der Crawfordschen Scheidung Dilke feierlich zum Nachfolger in der Führung der liberalen Partei ernannt. Eine mühsame Bildung wird in England sogar mehr als das Genie geschätzt, weit über ihren eigentlichen Wert hinaus. Daran muß Goethe gedacht haben, als er die Engländer Pedanten nannte.
Eines Abends, beim Essen, korrigierte Dilke Harold Frederic in einer kleinen, unwichtigen Tatsache. Aus irgendeinem Anlaß hatte Frederic behauptet, daß nur die Hälfte der Einwohner der Salt Lake City Mormonen seien. Dilke verbesserte ihn gleich. »Neunzig Prozent, mein lieber Freund, und achtzig sind darunter Kommunikanten.« Auf Harolds Gesicht spiegelte sich die Verstimmung, aber er sagte kein Wort. Auf unserem gemeinsamen Heimwege verbreitete er sich über diesen Tick Dilkes, und wir verabredeten uns, ihm eine Falle zu legen. Harold wollte sich die Zahl der Kopten in Unterägypten verschaffen. Dilke würde selbstverständlich behaupten, er könnte die Zahl aus dem Handgelenk schütteln, und Frederic würde ihn eines Besseren überführen. Ich für mein Teil unternahm, die Zahl der Buren in Transvaal im Verhältnis zu andern Nationalitäten herauszufinden, und ich verschaffte mir die Unterlagen.
Bei unserem nächsten Essen in Sloane Street brachte ich das Gespräch auf Kairo und sagte, wie erstaunt ich über die Anzahl der verschiedenen Nationalitäten in diesem seltsamen Lande war. »Ich habe dort Scharen von Kopten getroffen«, sagte ich, und Dilke fiel prompt in die Falle. »Sicherlich gibt es nicht mehr als einige Hundert Kopten in Kairo«, meinte er. – »Was meinen Sie«, fragte ich Frederic über den Tisch hinweg, um mir das richtige Auditorium zu verschaffen. – »Kopten in Kairo?« wiederholte Frederic. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Dilke. Es gibt ihrer ungefähr elftausend.«
Dilke war überwältigt. »Wirklich? Elftausend?« wiederholte er, »Kopten? Wirklich?« Er war anscheinend über die Berichtigung erschüttert.
Einige Minuten später verwickelte er sich in die Behauptung, daß es verhältnismäßig wenig Buren in Johannisburg gäbe, und fiel auf diese Weise in meine Hände. Ich habe noch nie einen so erschütterten Menschen gesehen. Die Genauigkeit war sein Fetisch, und ihm zweimal an einem Abend untreu geworden zu sein, war selbst für seinen Gleichmut zu viel.
Ich erwähne diese Sachen nur, um eine Rassenbesonderheit der Engländer zu beleuchten, die sich leider auch in der amerikanischen Gedankenwelt dokumentiert, wie ich glaube, jedoch ohne diese unerträgliche Einbildung der Engländer, daß Wissen und Weisheit Synonyma sind.
In meinem ersten Jahre an der »Evening News« lernte und wandte ich fast jeden journalistischen Trick an. Als die Ruderregatta zwischen Oxford und Cambridge entschieden werden sollte, merkte ich, daß die Sachverständigen gewöhnlich schon vorher wußten, welche Mannschaft siegen würde. Manchmal irrten sie sich auch, aber sehr selten. In diesem Jahre waren sie sich jedoch alle einig, daß Oxford den Sieg davontragen würde. An dem großen Tage ließ ich frühmorgens fünfzigtausend Exemplare mit der Überschrift: »Der Sieg Oxfords« drucken, neben den letzten Berichten über Training usw. Sobald ich telegraphisch die Nachricht bekam, daß Oxford gewonnen hatte, ließ ich meine Jungen auf die Straße und wurde auf diese Weise die fünfzigtausend los. Ich tat dasselbe auf dem Turf mit einem Rennen nach dem andern, und es wurde bald bekannt, daß die »Evening News« die frühesten Rennberichte gab. Ich erwähne diese Sachen nur, um zu zeigen, daß ich wirklich täglich mit Volldampf arbeitete.
Zeit und auch Glück waren mir günstig. Eines Morgens kam die Nachricht, daß die Verlobung zwischen Lord Garmoyle und May Fortiscue aufgelöst worden sei und die Braut eine Klage wegen gebrochenen Eheversprechens eingereicht habe. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich ihre Adresse bekommen und fuhr in einer Droschke heraus, um sie zu interviewen. Ich fand ein sehr hübsches und intelligentes Mädel vor, die die ganze Schuld dem Earl of Cairns, einem der konservativen Führer, dem Vater Lord Garmoyles zuschrieb, der selbstverständlich seinen einzigen Sohn verhindern wollte, eine ziemlich unbekannte Schauspielerin zu heiraten. Ich machte mir aus den Beschreibungen von Fräulein Fortiscue ein Bild Cairns, der Nordire war, ein großer Anwalt, jedoch sehr religiös und prüde, einer, der noch den Sonntag »Sabbat« nannte und die Bühne als Vorzimmer der Hölle betrachtete. Als Fräulein Fortiscue sah, daß ich für sie kämpfen wollte, gab sie mir Briefe sowohl von Lord Cairns als auch von Lord Garmoyle, die sehr interessant waren, und gestand mir, daß, obwohl sie »wirklich an Lord Garmoyle hinge«, sie den Schaden für das gebrochene Eheversprechen auf zehntausend Pfund beziffert habe, »weil es doch sein Vater wird zahlen müssen«.
Ich schrieb einen zwei Spalten langen Artikel über die ganze Geschichte unter dem Titel: »Hochmut und Liebe«, in dem ich alle möglichen Sympathien für Fräulein Fortiscue mobilisierte und die ganze Schuld dem Earl Cairns in die Schuhe schob. Der Artikel rief eine ungeheure Sensation hervor. Daß eine konservative Zeitung einen solchen Angriff auf einen konservativen Aristokraten und Parteiführer veröffentlichen konnte, war etwas Unerhörtes.
Kennard war um diese Zeit in Brighton, erfuhr jedoch in wenigen Stunden von dem Artikel und telegraphierte mir sofort, um weitere Veröffentlichungen dieser obszönen Geschichte, wie er sie nannte, zu verhindern. Ich wandte mich an Lord Folkestone um Hilfe und fand, daß er sich bloß über die Geschichte amüsierte. Er mochte Cairns nicht, fand ihn eng und bigott, ermutigte mich, fortzufahren, und versprach mir, Kennards gesträubtes Gefieder zu glätten. Ich blieb daher dabei und veröffentlichte am nächsten Tage einen noch sarkastischeren Artikel. Um es in Kürze zusammenzufassen: Lord Cairns hielt diese Enthüllungen nicht aus, zahlte die zehntausend Pfund, und man schrieb mir und der »Evening News« das Verdienst am Siege zu.
Der journalistische Triumph verdoppelte den Absatz der Zeitung, mehrte die Inserate um ein Beträchtliches und gab uns allen einen Vorgeschmack des Erfolges. Ich säuberte auch die Redaktion und ersetzte die Zeilenschinder durch meine eigenen Freunde, entließ auch die alten Leitartikler und gab ihre Arbeit Cluer und anderen Freunden. Die ganze Redaktion war von Leben und Kraft durchpulst.
Aber ich hatte auch einige Mißerfolge. Das Bureau der »St. James's Gazette« lag gegenüber dem unsrigen in der Whitefriars Street, und als ich um die Mittagszeit herauskam, sah ich ein Dutzend ihrer Wagen auf der einen Seite der Straße aufgestellt, während unsere fünfzehn oder zwanzig auf der andern Seite warteten, um möglichst schnell die Zeitungen zu bekommen und sie über die Geschäfte in ganz London zu verteilen. Ich überlegte mir die ganze Sache und fand, daß wir jährlich sechstausend Pfund für unsere Wagen zahlten. Ich ließ mich bei Greenwood, dem Herausgeber der »St. James's«, einführen und bot seiner Zeitung, die einen Penny kostete, die Gelegenheit unserer viel größeren Verteilung an, ungefähr um die Hälfte dessen, was er für seine Wagen zahlte. Zu meiner Verblüffung schlug er es jedoch aus und blieb bei seiner Weigerung, obwohl sie so offensichtlich dumm war.
Drei Jahre später, als meine Geschichten in »The Fortnightly Review« erschienen, pries Greenwood sie in alle Himmel und gab offen zu, er hätte ein Vorurteil gegen mich gehabt, weil man mich den »amerikanischen Geschäftsmann« nannte, und nun bedauerte er seine Feindseligkeit. Ich schätzte und liebte den Mann und wir freundeten uns bald an.
Lord Folkestone ließ sich oft von mir im Carlton Club abholen, und eines Tages erzählte er mir dort eine Anzahl von Witzen über das Klubleben, die mir ganz amüsant schienen. Der Carlton Club ist, wie allgemein bekannt, der offizielle Klub der konservativen Partei. Und eines Tages ließ ein vor kurzem eingetretenes, einflußreiches Mitglied einen Zettel an das schwarze Brett schlagen, in dem es »den Adligen, der seinen Schirm gestohlen hätte«, bat, ihn sofort zurückerstatten zu wollen. Nachdem dieser Zettel eine Woche angeschlagen war, ging ein empfindlicher Adliger zum Sekretär und machte ihn darauf aufmerksam.
»Es ist eine Verleumdung gegen unsern Stand,« sagte er, »und ich bestehe darauf, daß entweder der Name des Adligen genannt oder der Zettel heruntergenommen wird.« Darauf ging der Sekretär zu dem Mitglied, das den Zettel ausgehängt hatte, und stellte es zur Rede. »Ich kenne ja den Namen nicht«, sagte das Mitglied. »Warum glauben Sie denn,« fragte der Sekretär, »daß es ein Adliger ist.« – »Ja, dieser Klub besteht nach Ihrer eigenen Behauptung aus Adligen und Gentlemen. Kein Gentleman würde meinen Schirm stehlen, und so muß es ein Adliger gewesen sein.«
Es gibt noch eine Geschichte über den Athenaeum Club, die auf ihre Weise fast ebenso amüsant ist. Das Athenaeum besaß jahrelang einen berühmten und höflichen Portier, namens Courtney, der Hüte, Schirme und Spazierstöcke immer identifizieren konnte, ohne sich je zu irren. Eines Tages händigte der Portier einem ehrwürdigen Bischof beim Weggehen die Sachen aus.
»Dieser Schirm gehört mir nicht, Courtney«, sagte der Prälat. »Möglich, Mylord,« erwiderte Courtney, »aber es ist jedenfalls der, den Sie in den Klub gebracht haben.«
Solche Geschichten kursieren in Hülle und Fülle in London und geben dem Leben in England einen besonderen, charakteristischen Duft. Und aus diesem Grunde führe ich hier einige der besten an, auch selbst die in Newyork geprägten.