Walther Harich
Jean Paul
Walther Harich

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Idyllen und Humoresken

Seltsam verschlingen sich die Linien von Jean Pauls Schaffen. Schon frühzeitig hatte er sich als Prophet seines Volkes gefühlt, aber gerade aus seinem unproblematischen Dichtertum waren seine Hauptwerke herausgeflossen. Immer wieder jedoch bog er in die Linie eines prophetischen Sehertums ein, besonders seit er in Weimar mit der über dem Volke lagernden Bildungsschicht vertraut geworden war. Über zehn Jahre lang hatte ihn der Plan seines »Titan« beschäftigt, in dem er der Zeit den Spiegel vorhielt. Ein ganzes Jahrzehnt hatte er damit zugebracht, in die religiösen und philosophischen Kämpfe der Zeit einzugreifen. Von dem »Kampanertal« und dem »Jubelsenior« an hatte er den Kantianismus und den Fichteanismus aufs Korn genommen. Aus allen diesen Kämpfen war das Idealbild des deutschen Menschen bei ihm herausgewachsen, nicht nur durch den Helden des »Titan« verwirklicht, in dem gleichen Grade durch seine theoretischen Schriften, die »Vorschule der Ästhetik« und die »Levana«. In seinen ersten politischen Schriften endlich hatte er die Grundlinien einer deutschen Politik zu skizzieren versucht. Auf allen Gebieten war die Entwicklung anders verlaufen, als er es erstrebt hatte. Mußte er sich nicht selbst allmählich wie eine Don-Quichotte-Figur vorkommen, die einen aussichtslosen Kampf gegen Windmühlenflügel geführt? Schon in den »Flegeljahren« hatte er sein eigenes Wesen schonungslos analysiert, die beiden miteinander unvereinbaren Seiten seines 728 Charakters bloßgelegt. Der Schluß des Romans ließ Walt in einer Situation zurück, der er unmöglich gewachsen sein konnte, und sandte Vult in die Heimatlosigkeit hinaus. Es war das schonungslose Fazit eines vergeblichen Lebens, das er hier zog. Jean Paul war am Ende. Wir brauchen uns nur den Bericht des Erlanger Professors Le Pique vor Augen zu führen, um zu erkennen, daß dieser Mann auf der Höhe seines Schaffens bereits innerlich unterhöhlt war. Von dem Zusammenbruch Österreich-Preußens hatte er die Geburt eines neuen Deutschland erwartet. Sie war ausgeblieben. Was konnte jetzt noch kommen?

Eine Periode der resignierten Altersweisheit! Seltsam schattenlos und ohne Bitterkeit tritt diese dritte große Periode seines Schaffens ein, als wäre sie Krönung und nicht Verzicht. So groß war die seelische Kraft dieses Dichters, des Lebens Widersprüche zu versöhnen in dem einen alles Lebendige umfassenden Lebensgefühl. Und in gewissem Sinne war diese letzte Periode seines Daseins auch Krönung alles Bisherigen. Wonach sich der Jüngling und der Mann gesehnt hatte, das umgab ihn jetzt in Fülle. Ein Volk schaute bewundernd zu ihm auf. Ein heiter gemütlicher Familienkreis umfing ihn, nachdem das zunehmende Alter auch die Gegensätze zwischen ihm und Karoline ausgeglichen hatte. Weitab lagen Nahrungssorgen, besonders seitdem ihm Dalberg die Pension gewährt. Sein Leben umstanden die geliebten Gestalten seiner Jugend. Täglich sah er das Wunderland der Eremitage vor seinen Augen liegen, wenn er in der Rollwenzlei arbeitete. Nur im letzten und höchsten Sinne war alles irgendwie vergeblich gewesen. Nach außen hin hatte sich dieses Leben in Vollendung geschlossen. Was ihm versagt war: die letzte Wirksamkeit als Führer des Volkes, das mußte ihm mehr als ein allgemeines Schicksal alles 729 Lebendigen denn als persönliches Ungemach erscheinen. Und so war es in der Tat. Gab es denn überhaupt Leben, dem alle Blütenträume reiften? Die Unzulänglichkeit des Lebens überhaupt hatte er verspüren müssen, nicht seines besonderen Lebens. Vergeblich hatte er für menschliche und politische Ziele gestritten, aber gab es überhaupt restlose Erfüllungen? Lagen nicht immer Aufgaben in der Ewigkeit? War es nicht im tiefsten Grunde der Sinn des Lebens, daß immer noch so viel zu tun übrigblieb? Gewiß war er ein Dichter gewesen, aber war er nicht auch, wie er von seinem Herder geschrieben hatte, noch viel mehr als ein Dichter, nämlich ein Gedicht, ein »griechisch-indisches Epos, von einem reinsten Gotte geschrieben«? Eines, in dem Taten und Erfüllungen sich kreuzen und in dem doch schließlich alles in ein ewiges Geschehen einmündet, ohne selbst zu einem, jede Entwicklung abschließenden Ende gekommen zu sein? Kunstwerke höchster Potenz waren diesem Leben entquollen, und doch blieben sie alle irgendwie fragmentarisch, wie das deutsche Schicksal mit seinem ewigen Auf und Nieder ein Fragment blieb. Gerade darin erscheint er so unvergleichlich als Ausdruck seines Volkes, daß er wie ein Stück jener unendlichen Melodie ist, die sich durch Jahrtausende fortschwingt und sich nur in Jahrtausenden sättigt. Immer zum Höchsten strebend und es nie ganz erreichend, weil die Erde unter dem Fuß sich zwischen Beginn und Ende fortgedreht hat und neue Sonnen schon wieder mit Strahlen heranschießen, indes das Abendrot der alten noch den Horizont färbt.

Ohne Bitterkeit hatte Jean Paul resigniert und sich aus der Zeit in seine eigene poetische Welt zurückgezogen. Und wenn noch irgendeine Bitterkeit in ihm war, so löste sie sich in verstehendem Humor. Wonach er ein Leben lang gerungen hatte: seinen Ernst mit seinem Humor zu verschmelzen, das 730 gelang ihm jetzt in einem Grade, der ihm früher unerreichbar gewesen war. Wir wissen nicht, ob die Resignation in einem besonderen Augenblick über ihn gekommen war. Nur daß er sich mit der Unerreichbarkeit seiner höchsten Ziele abgefunden hatte, steht fest. Eine neue Art, sich selbst und das Leben anzuschauen, tritt mehr und mehr in den Vordergrund seines Denkens. Es war der Blickwinkel, aus dem heraus der alternde Cervantes seinen Don Quixote geschrieben hatte. Dieses Buch, in dem ein Feuergeist sich über den inneren Bankrott seines Lebens hinaushebt, nimmt ihn gefangen. Der Don Quixote ist die Symbolgestalt, die über der letzten Schaffensperiode Jean Pauls steht, bis sie sich zu der Gestalt seines Apothekers Marggraf verdichtet, dieser ins Deutsche übertragenen Don Quixote-Figur seines letzten Romans, des »Komet«. Aber auch schon vor diesem Roman kommt etwas Don Quixotisches in alle seine Gestalten hinein. Auch hier brauchte er nur ein längst schon angeschlagenes Thema fortzuführen. Schon das Schulmeisterlein Maria Wuz wie der Quintus Fixlein hatten in ihrem Leben Chimären nachgejagt. Diese idyllischen Naturen allerdings wußten sie klug zur Steigerung ihres Glücks zu benutzen. Wenn sie sich große Literaten dünkten, so kam von dieser Einbildung ein Hauch Glück mehr in ihr Leben. Aber diese Einbildung brauchte nur ein wenig gesteigert zu werden, so wuchs von hier etwas Don Quixotehaftes in das Leben hinein. Eine gemütliche und harmlose Schwäche wurde zum lebenfressenden Dämon. Wiederum tauchte auch hier das Motiv der »Einkräftigkeit« auf, das mit ernstern Ethos den »Titan« erfüllt hatte, jetzt ins Komische abgewandelt. Man sieht, hier schnitten sich die Linien eines ganzen Lebenswerkes. Wohl wurde auch jetzt noch diese »Einkräftigkeit« als lebenzerreißende und verwirrende Einstellung genommen. Darin lag ja für Jean Paul 731 das Wesen des Humors: daß er die unendliche Idee nicht verkleinert, sondern in ihrer ganzen Unbedingtheit bestehen läßt, sie aber zu dem Endlichen in einen feindlichen Gegensatz stellt und so beide: Idee und Leben einander verschlingen läßt. Die Tragik, die jedem echten Humor zugrunde liegt, wurde ins Transzendente hinausprojiziert. Subjektiv konnte der Held das Erlebnis letzter Erfüllung seines Daseins gewinnen. Nur hoch über ihm, in dem Bereich des ewigen Sinns, schlagen die Wellen der Tragik über ihm zusammen. Man sieht, wie gerade aus seiner Fassung des Humoristischen sich das Don Quixote-Motiv ganz von selbst einstellen mußte.

Die wesentliche Umstellung in Jean Paul war die, daß er sein eigenes Schaffen, soweit er mit ihm in die Zeitgeschichte hatte eingreifen wollen, unter diesem Gesichtswinkel des Don Quixotismus ansehen mußte. Der aussichtslose Gigantenkampf gegen einen widerstrebenden Zeitgeist mußte dem Humoristen schließlich unter der Form eines Kampfes gegen Windmühlen erscheinen. Der metaphysische Humor dieses Bildes allein konnte auch über persönliche Bitterkeit hinausheben, aber es bedurfte schließlich wieder der ganzen lebenverwandelnden Kraft eines echten Humoristen, um sich zu dieser Anschauung zu befreien. Es war also Verzicht, was Jean Pauls letzte Schaffensperiode einleitete, aber es war schließlich auch – und das war das Wesentliche dabei – Emporwachsen in die Region des absoluten Humors. Auch hier lebte der Dichter wieder seinem Volke eine in Ewigkeit gültige Lebensform vor, die gegenüber dem Zustand des Ringens um die Ideale des Lebens kein Zurückgleiten, sondern verklärte Steigerung bedeutete. Kein lässiges Gehenlassen ist das Kennzeichen dieser gereiften Einstellung, sondern noch einmal ein Ringen um ein Lebensganzes auf einer 732 neuen und erhöhten Ebene. Noch einmal war eine ganze Welt mit Gestalten zu bevölkern.

Wenn man lediglich die Seitenzahl der Werke nimmt, die in dieser letzten, fast zwanzig Jahre dauernden Periode geschaffen wurden, so erscheint sie gering neben den umfangreichen Werken der etwa ebensolange dauernden vergangenen Perioden. Nichts aber wäre falscher, als wenn man den Eindruck mitnähme, als hätte Jean Pauls Schaffenskraft abgenommen. Neben den neuen Arbeiten waren die alten Werke zu betreuen. Den Neuauflagen hat der Dichter eine bis ins einzelnste gehende Sorgfalt angedeihen lassen. Keine Neuauflage irgendeines seiner Werke – und sie alle erlebten jetzt solche – ging vorüber, ohne daß Jean Paul umfangreiche Veränderungen vornahm. Ganze neue Bände fügte er an, arbeitete alles stilistisch um, fügte Szenen und ganze Seiten hinzu. Sein Werk, wie es uns heute vorliegt, erhielt in dieser letzten Schaffensperiode erst seine endgültige Gestalt. Dazu kam eine geradezu unübersehbare Fülle von kleineren Arbeiten, die er in Cottas »Morgenblatt« oder im »Taschenbuch für Damen« des gleichen Verlages erscheinen ließ. Auch für das Wilmansche »Taschenbuch für Liebe und Freundschaft« und die Brockhaussche »Urania« lieferte er fortgesetzt Beiträge. Für die beiden letzteren Zeitschriften hauptsächlich, um seine Schwägerin Minna Spazier, die beide Blätter herausgab, zu unterstützen. Eine Menge von Rezensionen lieferte er für die Heidelberger Jahrbücher. Diese kleinen Arbeiten füllen eine Reihe von umfangreichen Bänden. Da sind die mehr wissenschaftlichen Abhandlungen, die er für die unter Dalbergs Leitung stehende Frankfurter Gelehrtengesellschaft schrieb, die ihn zum korrespondierenden Mitglied ernannt hatte. Er vereinigte sie in einem »Museum« benannten Band und widmete sie der Gesellschaft. Da sind 733 drei Bändchen voll kleinerer Dichtungen, die als »Herbstblumine« vereinigt wurden, und ein ganzer Band »Gesammelte Aufsätze und Dichtungen«. Sämtliche politische Schriften und Dichtungen wurden nach dem glücklichen Ausgang der Befreiungskriege unter dem Titel »Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche« zusammengefaßt. Und dies ist der Band, der Jean Pauls Umstellung seit den ersten politischen Schriften am deutlichsten sichtbar macht. Neben diesen zahlreichen Bänden kleinerer Schriften und Dichtungen brachte diese letzte Periode aber eine ganze Reihe größerer Idyllen und Humoresken hervor, die zum Teil den Umfang kleiner Romane haben, und einen Roman, der noch einmal eine große Konzeption aus den letzten Lebensjahren darstellt.

Eine ganze neue Welt war mit Gestalten zu bevölkern, und sie wurde bevölkert. Etwas grundsätzlich Neues springt bei allen diesen Gestalten ins Auge. In allen seinen bisherigen Arbeiten war Jean Paul im Bereich der Gegenwart geblieben. Er gab in seinen Dichtungen gewissermaßen Antwort auf die Probleme des gegenwärtigen Lebens, die auf ihn einstürmten. Wir hatten ihn begleitet, wie er aus bisher unberührten Schichten in die geistige Gegenwart hineinwuchs und sich in ihr heimisch machte. Unmittelbar wie sein Erleben mußte die Antwort sein, in der er auf das Erleben des Zeitgeistes als einer Gegenwart reagierte. Wir können uns seine Romane und Idyllen ebensowenig in einer andern Zeit spielend denken als etwa bei Dostojewski. Nun aber wird es anders. Er hatte zum Leben Distanz gewonnen, und in gleichem Grade rückt die Wirklichkeit in seinen Dichtungen zurück, wird zur Vergangenheit. Er betont es nicht ausdrücklich, ja er wird sich dieser Umstellung nicht einmal bewußt. Denn wo er Zeitkolorit geben muß, wie in 734 »Dr. Katzenbergers Badereise«, zeichnet er wiederum Gegenwart. Aber im allgemeinen haben jetzt seine Geschichten einen zeitlosen, vielleicht einen mittelalterlichen Charakter. Das kam nicht allein von der Einwirkung des Don Quichotte, sondern er tauchte tiefer in das Wesen seines Volkes hinein. Er ging an die Wurzel der Formen, die er vorfand, und ganz von selbst nahmen sie bei dem Bürger eines mitteldeutschen Duodezstaates, der noch die Staatsformen des ausgehenden Mittelalters bewahrt hatte, eine etwa die Mitte des 17. Jahrhunderts widerspiegelnde Färbung an. Das war nicht die romantische Beschwörung einer großen Vergangenheit, im Gegenteil. Das deutsche Volk hatte er zu neuer Beseelung aufrufen wollen. Es gelang nicht. Da zeichnete er das Bild des Volkes in seiner tiefsten Zerrissenheit und Ohnmacht, mit all den Spießbürgerlichkeiten, die sich einer großen Bewegung entgegenstellten, mit all der feigen Angst, hinter der ein halbes Jahrhundert des grausamsten und zerstörendsten Krieges stand. Dieses Volk, wie er es jetzt zeichnet, ist nicht mehr Träger eines welthistorischen Geschehens, es ist Objekt eines völkerverschlingenden Schicksals, Beute einer aus einem Jahrhundert voller Entsetzen aufsteigenden Angst. Die »Politischen Fastenpredigten« enthielten neben der »Friedenspredigt« und den »Dämmerungen« zwei Grotesken, wie »Die Belagerung der Reichs-Festung Ziebingen« und »Die Doppelheerschau in Großlausau und in Kauzen, samt Feldzügen«. »Jedes Volk vergeht wie ein faulender Schwamm, wenn es keinen Mut mehr hat«, hatte er in der »Friedenspredigt« geschrieben. Jetzt zeigte er dieses Volk ohne Mut, von der Angst geschüttelt. Eine groteske Grimmelshausen-Manier führt seine Feder. Anlaß gaben die übereilten Übergaben preußischer Festungen an die vordringenden französischen Heere. Das Bild des deutschen Volkes aber, das er hier entwarf, war 735 das des vom Dreißigjährigen Kriege um und um geschüttelten. Und das Ethos, das dahinterstand, war dieses: so sieht ein Volk ohne belebende Idee aus, ein Volk, dem die Territorialdynastien das Mark aus den Knochen gesaugt haben. Ein feiges Verkriechen vor den Gefahren der Schlacht oder höchstens ein willenloses Dem-Schicksal-den-Rücken-Hinhalten. Es war das Deutschland nach dem Westfälischen Frieden, das er hier zeichnete, das Deutschland der unzähligen Duodezfürstentümer ohne innere Idee und Größe. Und wenn das jetzt unter Napoleon zusammenbrechende Deutschland die gleichen Züge aufwies, dann um so schlimmer! Dann mußte dieses Deutschland vergehen wie faulender Schwamm, bis eine neue, belebende Idee das Volk zu seiner Größe aufrüttelte. Das ist der Sinn dieser in die »Politischen Schriften« eingestreuten Grotesken.

Aber in den Arbeiten selbst wird dieses Ethos kaum noch sichtbar. Hier wird nicht mehr wie in den Satiren an den Pranger gestellt, hier wird geschildert, und mit einer fast gefräßigen Freude an der Schilderung selbst. Die Angst der braven Reichsstädter aus der Reichsfeste Ziebingen wird mit einer Behaglichkeit vorgetragen, die Gottfried Keller vorwegnimmt. Das ist das ästhetisch Neue an der letzten Periode des Jean Paulschen Schaffens: diese zum Selbstzweck erhobene Schilderung. Erst jetzt, nachdem die großen Ziele dahingesunken, ist die Darstellung auf sich selbst gestellt. Ein heiteres Musikantentum der Sprache bricht los, eine Freude am Virtuosischen des Worts. Jetzt erst wurde die Ernte einer dreißigjährigen Bemühung um die Sprache eingebracht. Zuerst in der Groteske »Mein Aufenthalt in der Nepomukskirche während der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen«.

Der hier geschilderte Städtekrieg nimmt von der Gänsegemarkung ihren Anfang. Die Ziebinger haben zusammen 736 mit der Gemeinde Diebsfehra eine Gemeinhut, auf der die Gänse beider Städte geweidet werden. Unglücklicherweise fällt am 4. Mai ein starker Hagel auf die Wiese, so daß vierzig, teils Gänse, teils Ganter, erschlagen werden. Der Ziebingsche Gänsehirt läßt in edlem Patriotismus alles Erschlagene liegen und treibt alles Überlebende in seine Stadt ein, als hätte der Hagel nur Diebsfehrasche Gänse erschlagen. Beiderseits werden Gutachten über den Vorfall ausgefertigt, aber das Endergebnis ist, daß die Diebsfehraer die Reichsfestung mit Krieg überziehen. Die Festung wird in den Belagerungszustand versetzt. Zum Unglück wird Jean Paul mit dem Buchdrucker Peter Stöcklein gleichfalls eingeschlossen. Die Belagerer haben ein schweres Geschütz aufgefahren, das Schuß auf Schuß in die Festung hineindonnert. Der wackere, tüchtige Kommandant mit dem eigenartigen Namen »Ich sterbe täglich und mein Leben«, eine wahrhaft groteske Figur, wie aus einem Schildaer Chronikbuch herausgeschnitten, trifft die Gegenmaßregeln. Alles Wehrfähige wird auf die Beine gebracht, die Fenster und Türen werden mit Dung gegen das Geschützfeuer zugedeckt. Der einzig sichere Aufenthalt aber ist die bombensichere Nepomukskirche, die denn auch zum Hauptquartier erhoben wird. Von der Kanzel der Kirche herab hält der Kommandant Betstunden zur Entflammung des Muts ab und setzt Preise für die kühnsten Träume aus. Jedes Gewehr nimmt er erst selbst auf seine Schulter und verleiht es dann seinem Besitzer gewissermaßen als Ehrensäbel. Alle von früheren Belagerungen her in Gebäuden sitzenden Kanonenkugeln werden ausgebrochen, um von neuem verwendet zu werden. Leider hat der Stadtkämmerer das einzige Geschütz vor wenigen Monaten an die Diebsfehraer verkauft. Über dem schwächsten Tor wird eine Koppel Hunde postiert, unter denen sich ein halbtoller befinden soll. Mit 737 dem ersten feindlichen Kanonenschuß sammelt sich die gesamte Bevölkerung in der bombensicheren Kirche, einschließlich eines durchreisenden Elefanten, der mit Mühe durch die enge Kirchentür hindurchgezwängt wird. Sein Besitzer will klaglich vorgehen, da er nun das teure Tier ohne Geld der gesamten Bevölkerung zeigen muß. Dazwischen will der Buchdrucker Peter Stöcklein die gute Gelegenheit benutzen, um von dem mit ihm eingeschlossenen Jean Paul Manuskripte zu erhalten. Ein kühner Ausfall endet mit der Flucht beider Heere. Schließlich ergreift in der Kirche Jean Paul die Initiative und legt dem Kommandanten »Ich sterbe täglich und mein Leben« nahe, die Feinde zu begnadigen, indem er Friedensunterhandlungen anknüpft. Die Böttcher wollten nächstens ihren Reiftanz halten, in der Nachbarschaft würde nächstens ein wichtiger Viehmarkt abgehalten, in einem unter der Ziebinger Gerichtsbarkeit stehenden Dorfe prügelten sich bereits aus Mangel an Obrigkeit die Bauern, kurzum es bestünden die wichtigsten Gründe, Frieden zu schließen. Jean Paul und Peter Stöcklein wollen sich den Vorbeizug der beiden Heere, der die Feindseligkeiten beenden soll, von einer Tonne aus ansehen. Leider bricht der Deckel der Tonne entzwei und sie versinken in das leere Faß. Als sie endlich gerettet werden, ist alles vorüber.

Das Seitenstück zu dieser Groteske ist »Die Doppelheerschau in Großlausau und in Kauzen, samt Feldzügen«. Auch hier wird das Deutschland der Kleinstaaterei zu ergötzlichen und grotesken Schilderungen verarbeitet. Der dynastische, durch seine kleinen Verhältnisse lächerliche Pomp steht in schreiendem Widerspruch zu dem Ernst öffentlicher Angelegenheiten, die hier zur Farce erniedrigt sind. Diese beiden Grotesken bilden den Auftakt zu den Humoresken und Idyllen der letzten Periode. 738

In die »Belagerung von Ziebingen« hatte Jean Paul die eigene Person nach seiner alten Manier wieder miteingeflochten. Seit der »Unsichtbaren Loge« liebte er es, sich selbst in seinen Romanen und Erzählungen auftreten zu lassen. So sehr er sich selbst in dieser Weise mit wirklichen und angedichteten Eigentümlichkeiten preisgab, so wenig waren doch die Probleme, um die sich sein Denken bisher drehte, mit seiner eigenen Person verknüpft gewesen. Erst die »Flegeljahre« zeigen auch hierin eine neue Einstellung. Zum erstenmal hatte ihm hier das eigene Wesen mit seinen zwei miteinander unverbindbaren Teilen zum Vorbild gedient. In der letzten Periode seines Schaffens sollte sein Ich aber noch tiefer in seine Gestalten hineinbezogen werden. Objekt war ihm bisher das Leben in seiner Totalität gewesen, er selbst Subjekt, Träger und Schöpfer des Ganzen. Nun unternahm er es, dieses Verhältnis umzukehren, sich selbst im Verhältnis zur Welt zu sehen und darzustellen: sich, den Dichter, den Repräsentanten des Geistes auf dieser Erde. Auch das erschloß neues Stoffgebiet. Der Träger des geistigen Daseins in seinem Verhältnis zum Leben, zum biologischen Lebensprozeß des Werdens und Vergehens. Diese Einstellung (in unsern Tagen erst wieder von Thomas Mann als Ironie empfunden) war im tiefsten Sinne humoristisch, sie wetterleuchtete in die Abgründe und zeigte in befreiendem Lachen das Mißverhältnis zwischen Einsatz und Erfolg, zwischen Kraft und Bewegung auf. Auch hier war unendliche Idee gegen die Endlichkeit der Erscheinung gestellt. Der Schriftsteller als humoristische Gestalt, als Träger dieser »Don Quixotismus«, von dem wir sprachen, und diese Gestalt aus eigenen Schriftstellernöten, aus eigenen kaum zu belauschenden Lächerlichkeiten und Unzulänglichkeiten begriffen und in das Licht der Satire und seiner Sendung gerückt. Diese 739 Einstellung trug die epische Gestaltung noch um einige Grenzsteine vorwärts, da das letzte bereits in den »Flegeljahren« gesagt zu sein schien.

Am 16. November 1806, also bald nach Vollendung der »Levana«, wurde das »Leben Fibels« begonnen und damit die letzte Periode eingeleitet. Zwischen und neben den politischen Schriften drängten sich diese neuen Arbeiten ans Licht. Schon früher, im vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz wie im Quintus Fixlein, war die schriftstellerische Tätigkeit launig travestiert worden. Mochte Jean Paul die eigene Wichtigkeit noch so stark betonen, ein leiser Zweifel war doch immer mitgeklungen, wo er – wie etwa in seinen liebevoll ausgesponnenen Vorreden – von sich und seiner Tätigkeit sprach. Ein Schuß gesunder Skepsis, der er sich als genialer Beobachter und Einfühler nicht ganz hatte entziehen können. Jetzt wurden diese, bisher nur leise angedeuteten Zweifel zum Mittelpunkt seines Schaffens. Gerade angesichts der politischen Lage, der er trotz des ganzen Einsatzes seiner Persönlichkeit doch hilflos und einflußlos gegenüberstand, mußten sich diese Zweifel bei ihm verstärken. Peinliche Fragen mochten ihm aufsteigen: War das Schriftstellererlebnis als solches nicht fast unabhängig von Wert und Bedeutung des Werkes? Erlebte er es nicht an sich selber, von welchen Zufälligkeiten und Nichtigkeiten jeder Erfolg abhing? Sah er nicht an Herder, daß die höchsten Leistungen wirkungslos und einflußlos verpuffen können? War nicht von seinen ersten Romanen gerade der reifste, »Siebenkäs«, fast unbemerkt vorübergegangen? Hatte nicht gerade sein größtes Werk, der »Titan«, eine Periode allgemeiner Mißachtung gegen ihn eingeleitet? Diesem Mißverhältnis lohnte es, im Ernste, das heißt im Spaße, nachzugehen. Hier war für eine, ganz aus den Zeitproblemen abgelöste Dichtung ein stofflicher 740 Ansatzpunkt gefunden. Dieser Einstellung kam nun ein höchst eigenartiger Einfall zu Hilfe: der in den Schulen von Ansbach und Baireuth eingeführten Fibel für Abcschützen einen Verfasser unterzulegen, einen ganz richtigen Autor, der in inneren und äußeren Kämpfen seinem Werk, das hier ganz als schriftstellerisches Werk genommen wird, zureift, und an diesem Autor einer Schulfibel das Schriftstellerschicksal aufzurollen von der Besessenheit des ersten Einfalls bis zur Vollendung und dem Hinauswachsen über sich selber und das Werk und die irdische Gebundenheit überhaupt. Kein Stoff konnte mehr Jean Pauls Einstellung zu seinem eigenen Schaffen zu Hilfe kommen als dieser. In der »Erklärung der Holzschnitte zu den zehn Geboten« in dem Baireuther Katechismus hatte dieser Gedanke bereits einen Vorläufer gehabt. Aber erst jetzt wurde er zu voller Wirksamkeit ausgeprägt.

Doch schon nach wenigen Wochen drängte sich eine andere Arbeit dazwischen, die es zunächst wegzuräumen galt: »Des Feldpredigers Attila Schmelzle Reise nach Flätz.« Auch diesem Einfall lag die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geist und Wirklichkeit zugrunde, zwischen Schein und Wesen, Sein und Leistung. Der Feldprediger Schmelzle vom Regiment Schabacher hat den Abschied erhalten, und es geht das Gerücht, weil er in der Schlacht bei Pimpelstadt feige das Regiment verlassen habe und geflohen sei. (Wieder taucht hier das schon in der »Belagerung von Ziebingen« angeschlagene Motiv der Angst auf.) Schmelzle glaubt dieses Gerücht zerstreuen zu müssen. Er verfaßt eine Denkschrift über sein Verhalten an den General Schabacher, in der er bittet, die ihm ungerechterweise entzogene Feldpredigerstelle in eine katechetische Professur umzuwandeln. Diese Denkschrift dem General selbst aus besonderen Gründen am 23. Juli vor dem Markttage um 5 Uhr in Flätz eigenhändig zu überreichen, 741 macht er sich auf die Reise dorthin. Seine Abenteuer auf dieser Reise beschreibt er in einem »Zirkelbrief an meine Freunde«, der zugleich seinen Mut in den gefährlichsten Lagen erweisen soll, um so das Gerücht seiner Feigheit mit einem Schlage zu erledigen. Aber dieser Zirkelbrief enthüllt mehr von dem wahren Wesen des Verfassers, als beabsichtigt worden. Wie man sieht, ist Schmelzles Reise ein Gegenstück zu »Fälbels Reise«, die zur Zeit der »Unsichtbaren Loge« entstand. Dort wie hier ist es auf unfreiwillige Komik und Selbstenthüllung abgesehen. Jean Paul betont in der Vorrede, daß er nur ein »Porträt im französischen Sinne«, eine Charakterstudie habe liefern wollen. Aber welch eine Fülle von Leben ist in dieses Porträt eingeflossen! Was in der französischen Literatur an Charakterstücken nach dem Muster Theophrasts voranging, ist hier aus dem Bereich der Psychologie in die Ebene des Epischen erhoben worden. Aus dem »Charakter« ist ein Mensch geworden. Aus der Studie, die interessiert, ein Erlebnis, das erschüttert; und wenn es nur die Erschütterung des Lachens wäre.

Kein Zweifel: Schmelzle mit dem wilden Vornamen Attila und dem kriegerischen Amt, ist ein Feigling. Die Angst schüttelt ihn. Aus jeder Lage fließen ihm Gefahren: aus heiterem Himmel kann der vernichtende Strahl fahren, geschweige denn aus der drohenden Wolke. Sogar der friedliche Mond wirft tückisch mit Gestein nach der Erde. »Hat man mühsam Donnerkeile eingeschmolzen und Kometenschwänze anglisiert, so führt der Feind neues Geschütz im Mond auf oder sonstwo im Blau.« Einbrüche, Feuersbrünste lauern, Erhitzungen oder Erkältungen bedrohen mit tödlichen Krankheiten. Plötzlicher Wahnsinn kann aus dem Fenster stürzen machen, aus dunklen Wiesen können beim Spaziergang im Mondschein Selbstschüsse aufknattern. »Bei Gott! überall Klingenproben des 742 Muts!« Schmelzle besteht sie als ein Held, aber als ein vorsichtiger. Ein lückenloses System von Sicherungen umgibt ihn. Jede Viertelstunde pißt er, um der Bildung von Blasensteinen vorzubeugen, und wenn er die Postkutsche deswegen anhalten muß. Mit mitgenommenen Schrauben und Schlössern verriegelt er die Zimmertüre im Gasthaus und verbarrikadiert sie überdies mit Sesseln und Tischen. Sein linker großer Zeh ist nachts durch eine Schnur an den rechten Arm seiner Frau gebunden, damit der Mondschein ihn nicht etwa auf das Dach locke. Kein Glas, keine Flasche darf hingestellt werden, wo die Sonne hinscheinen könnte, damit nicht ein zufällig entstehender Brennpunkt eine Feuersbrunst mit ihren Gefahren herbeiführe. Eine Reihe der komischsten Situationen kann aus diesem Kampf Schmelzles mit der Tücke des Objekts gewonnen werden. Auch dieses Motiv des »Anti-Wuz«, wie Jean Paul es nennt, taucht hier also auf, ja es hat hier seit dem Rektor Freudel die höchste Steigerung erfahren. Aber mit dieser Tücke der Dinge ist der metaphysische Grund der Komik Jean Pauls noch nicht erfaßt. In der »Vorschule der Ästhetik« heißt es, daß nur die Narrheit zu ergreifen vermag, die unser aller Narrheit ist oder doch sein könnte. Und so ist es mit der Angst, die den Feldprediger schüttelt. Das Grausen, das jeden Menschen von Zeit zu Zeit packt und auf tausend Sohlen umschleicht, der panische Schrecken, der grundlos oder mit vorgespiegelten Gründen aus dem Weltraum bricht, das Entsetzen vor der Stille, Atavismen verdrängten Geisterglaubens, – das alles, dem jeder Mensch zu vielen Malen erlag, zwängt dem Feldprediger den Ring der Furcht um den Hals. Was wir teilweise und zuzeiten sind, das ist er ganz und immer. Und vielleicht können wir diese furchtbare Angst nur deshalb überwinden, weil wir die furchtbare Größe der Gefahren nicht 743 kennen, die jeden Augenblick über uns hereinbrechen können. Attila Schmelzle aber kennt sie. Sein Spürsinn wittert sie von weitem, und es ist kein Zweifel, daß sie da sind.

Jean Paul selbst hatte sich durch seine kleine Dichtung von Furchtvisionen zu befreien. Nicht daß er ängstlicher gewesen wäre als andere Menschen, aber seine größere Phantasiekraft mochte auch solche Augenblicke der Furcht auftreiben, und die Zeit war wohl dazu angetan, jeden sicheren Grund ins Wanken zu bringen. Zunächst wollte er dem Volk, das so hilflos den französischen Heeren unterlag, so wenig Widerstand aufzubieten vermochte, den Spiegel vorhalten, wie schon in der »Belagerung von Ziebingen« auf die rasche und unnötige Übergabe preußischer Festungen angespielt wird. Das Volk, das feige ist ohne den Antrieb einer belebenden Idee, sollte hier Gestalt werden. Die politischen Vorgänge über Europa konnten wohl das Entsetzen aus dem Grund aufrühren und jede feste Anschauung ins Wanken bringen. Seit der französischen Revolution war Europa nicht mehr zur Ruhe gekommen. Der Schrecken der Schlachtfelder war für die Zeitgenossen kein leerer Begriff mehr. Durch den halben Erdteil zogen sich die Kriegsschauplätze, und immer weiter fraß der Völkerbrand um sich. Quer durch Deutschland hatten sich gerade die kämpfenden Heere gewälzt. Die Unsicherheit aller staatlichen Formen und menschlichen Institutionen war erschreckend zutage getreten. Dazu kam bei dem freien Schriftsteller das Gefühl, daß er bei längerem Anhalten der Unsicherheit mit seiner ganzen Existenz in der Luft hing. Wir sahen, wie sich Jean Paul aus diesem Gefühl heraus um eine staatliche Sicherstellung bemühte. Noch im Jahr, bevor er den »Schmelzle« schrieb und den Feldprediger seine Bittreise nach Flätz tun ließ, war er selbst nach Wunsiedel gepilgert, um etwa von dem preußischen Königspaar eine 744 staatliche Präbende zu erhalten. Vielleicht ist diese seine mißglückte Reise nicht ganz ohne Zusammenhang mit der abenteuerreichen Fahrt Schmelzles. In mancher Beziehung hat er sich in dem Feldprediger selbst gegeißelt. Zum Beispiel die Pedanterie des Dichters in kleinen Haushaltsfragen, unter der Karoline nicht wenig gelitten hat, finden wir auch bei dem Feldprediger wieder.

Wie lose aber auch Jean Paul im übrigen mit seinem Helden Schmelzle verbunden sein mochte, sich selbst und dem Volke hatte er in jedem Fall die Hinneigung zum panischen Schrecken von der Seele zu schreiben, einen lastenden Druck in helles Gelächter aufzulösen. So mußte er in Schmelzle diese Furcht zur äußersten Größe aufpeitschen, mußte einen Virtuosen des Entsetzens aus ihm machen. Einen, der schon vor Angst schlottert, wenn sein Pferd »im Schritt« mit ihm »durchgeht«. Abwehrmaßregeln, ins Grandiose gesteigert, mußte er dem Helden an die Hand geben, daß sie wie bewehrte Mauern noch die Größe jeder auch nur möglichen Gefahr gigantisch überstiegen. Diese Einstellung zu den Gefahren des Lebens mußte selbst über die bloße Furcht noch hinausragen. Hier mußte schlotternde Angst zu einem fast heldischen Verzweiflungskampf gegen die Gefahr werden, mit wankenden Knien aber mit einem Feuergeist fast geführt. Diese Einstellung gibt dem Gebaren Schmelzles den metaphysischen Hintergrund. Sie erklärt die Notwendigkeit, sich in Furcht und Abwehr zu überschlagen. Auf die kürzeste Formel gebracht ist sie in jener burlesken Szene im Postwagen, da Schmelzle sich aus Furcht vor dem Gewitter zu fürchten fürchtet, da der Angstschweiß den Blitz auf sich ziehen könnte.

Man hat es für einen besonders feinen Zug der kleinen Dichtung erklärt, daß Schmelzle vor seiner Frau nicht als 745 Pantoffelheld dasteht, sondern als Tyrann. Wie aber sollte es anders sein! Ein Pantoffelheld ist unsicher in sich und beugt sich dem stärkeren Willen und der überlegenen moralischen Macht. Schmelzle aber ist ein Heros der Furcht und erfüllt die Atmosphäre mit seinem Heroenkampf gegen die Gefahr. Er kann niemandem unterliegen, und schreiendes Entsetzen wird immer noch zur Bestätigung seines eigenen Wesens. Die Pedanterie seiner Abwehrmaßregeln – denen ähnlich, die ein Schriftsteller zur Schonung seiner Nerven um sich aufrichtet – ist von bezwingender Gewalt. »Bergelchen« beugt sich ihnen, ohne nach dem Rechtsgrund seiner Tyrannenmacht zu fragen.

Im »Rektor Fälbel« war die Stimmung durch Zwischenbemerkungen des Dichters unterbrochen. Neben dem Schulgewaltigen stand als hilfloses Opfertier Kordula, seine Tochter. In die Sphäre des bornierten Pedanten ragte sie als eine andere Welt hinein und gab dem Autor Gelegenheit zu seinen ergreifenden Ausbrüchen über das weibliche Herz und Schicksal. Vielleicht pulst in solchen Ausbrüchen echter und voller das Blut Jean Pauls, künstlerisch reiner ist die Geschlossenheit des »Schmelzle«, die alle Gegensätze auf eine Ebene bringt und auch die unverfälschte Weiblichkeit Teutobergas, ohne ihr an Frische und Selbständigkeit zu nehmen, der Welt des Tyrannen stimmungsrein einfügt. In den anderthalb Jahrzehnten seit »Fälbels Reise« hatte sich das Weltbild Jean Pauls gerundet. Jetzt bedurfte er nicht mehr des lyrischen Ausbruchs, um sich auszudrücken. Mit wenigen Strichen zeichnet er seine Personen – so den trefflichen Schwager Dragoner –, daß sie voll in der epischen Komposition stehen und ausdrucksgewaltig sind ohne Lyrismen.

Jean Paul wendet seine ganze ungeheure Belesenheit an, um durch die Feder Schmelzles aus dem Weltraum ein 746 System von Gefahren und Abwehrmaßregeln aufzustellen. Die Einfälle überstürzen sich. Noch zum Schluß, als jeder Gefahr begegnet zu sein scheint, taucht die furchtbarste von allen auf: daß durch ein zufälliges chemisches Experiment die Erdatmosphäre zersetzt wird. Auf diese erhebende Aussicht sind alle Nöte Schmelzles hingetürmt. Unentrinnbar steigt hier die größte aller möglichen Gefahren auf. Aber wir ahnen es: er wird auch mit ihr den Gigantenkampf aufnehmen.

Nach dem »Schmelzle« kehrte Jean Paul nicht sogleich wieder zum »Leben Fibels« zurück. Dieser Vorwurf war inzwischen an Bedeutung und Tiefe gewachsen und verschmolz ihm zum Plan einer großangelegten Selbstbiographie. In diesen Zeiten des Übergangs und der Zerrissenheit vermied er es, sich in sich selber zu vertiefen. Er zog es vor, außerhalb des eigenen Seins liegende Gestalten zu beschwören, auch wenn er im Verkehr mit ihnen das eigene Sein immer wieder aufstörte. Fast unmittelbar nach der Reise des Feldpredigers begann er im August 1807 jenen humoristischen Roman, der noch heute zu Jean Pauls bezeichnendsten Werken gehört: »Dr. Katzenbergers Badereise«. »Friedenspredigt« und »Dämmerungen« waren vorausgegangen. Im »Katzenberger« löste sich Jean Paul vollkommen von der Welt seiner Ideale, riß sich von jeder Einwirkung auf die politische Wirklichkeit los. Wir treffen deshalb in diesem Roman nicht sein flammendes Herz an. Ja noch mehr: hier ist jeder Sentimentalität, ja jedem Gefühl überhaupt der Krieg erklärt.

Noch einmal wird eine Welt in ihrer Totalität gegeben. Aber jede Hülle vergoldender Phantasie ist von den Dingen weggerissen. Die Kehrseite, die unverhüllte Realität offenbart sich. Ein Zyniker, ein Virtuose des Zynismus, ist der 747 Held. Ein Dichter wird mit allen halben Lastern und Eitelkeiten seines Standes überhäuft gezeigt. Die sentimentale Schwärmerei eines jungen Mädchens erleidet an der Wirklichkeit kläglichsten Schiffbruch. Ein simpler Offizier, Mathematiker und gut gewachsen, trägt den Preis der Liebe davon, durch kräftige Gestalt und simple Treuherzigkeit über den berühmten Dichter triumphierend. Genie, Ruhm, Seele – alles das sinkt zurück, wird einfach lächerlich vor einem guten Brustkasten und einer gutsitzenden Uniform. Eigentlich ist es unerhört von dem Offizier, auf Grund eines ziemlich plumpen Mißverständnisses in die Vorlesung des Dichters Theudobach einzudringen. Ist Dummheit und Arroganz. Was aber tut's! Er macht die bessere Figur, und das sehnsüchtige Mädchenherz fliegt ihm zu und nicht dem bis dahin angebeteten Idol des großen Dichters. Die Welt Jean Pauls erscheint hier in umgekehrter Gestalt. Gustav, Viktor, Albano, sie alle waren Dichter oder standen doch dem Dichterischen nahe und siegten durch die Macht ihrer Poetenseele. Noch die »Flegeljahre« waren der Triumph des reinen Gemüts über das Raffinement. Hier aber siegt nicht etwa ein Vult über einen Walt, sondern irgendein hergelaufener Offizier über einen berühmten Dichter, dem die Welt anbetend zu Füßen liegt. Alles ist umgekehrt.

Dr. Katzenberger, berühmter Chirurg und Universitätslehrer, reist mit seiner Tochter Theoda nach dem Badeort Maulbronn, aber nicht um zu baden, sondern um den Badearzt Dr. Strykius für seine unverschämten Rezensionen seiner, des Dr. Katzenbergers, Bücher zu verprügeln. Dr. Katzenberger spricht klar und deutlich seine Absichten aus. Es gibt nichts, was er nicht ausspricht. Jede Delikatesse, jeder Ekel ist ihm fremd. Er streicht reife Spinnen auf seine Buttersemmeln und verzehrt sie. Er freut sich über jede Leiche am 748 Galgen und über jeden Hund, den er vivisezieren kann. Den Nachbarskindern schickt er als Delikatesse einen Pfefferkuchen, den er als Pflaster auf seinem Magen getragen. Seine Leidenschaft gehört den Mißgeburten. An ihnen glaubt er die Gesetze der Vollkommenheit am deutlichsten erfassen zu können. Für eine möglichst ekelhafte Mißgeburt würde er seine Seele hingeben. Eigentlich bedauert er es, daß seine Tochter nicht als Mißgeburt auf die Welt gekommen ist. Eine Haupteigenschaft seines Charakters ist sein ganz unverblümter und in seiner ganzen Schmutzigkeit zur Schau getragener Geiz. Theoda darf nur bei schlechtem Wetter Einladungen ergehen lassen, damit die Gäste nicht kommen können. Um Briefporto zu ersparen, erfindet er die unmöglichsten Gelegenheiten. Auf seiner Reise nach Maulbronn weiß er es so einzurichten, daß der mitgenommene Reisegefährte alles bezahlen muß.

Mit dem Inserat, das Katzenberger aufgibt, um einen solchen Reisegefährten für seine Tour nach Maulbronn zu finden, hebt die Geschichte an. Daß sich in der Universitätsstadt kein Mensch finden wird, der bereit ist, mit ihm unter dem Kutschenhimmel einige Tage zuzubringen, ist dem Zyniker natürlich bekannt. Aber er hofft auf die Dummheit irgendeines Durchreisenden. Und wirklich meldet sich ein Herr v. Nieß, der bereit ist, sich mit dem Professor in den Wagen zu teilen. Mit Herrn v. Nieß hat es aber eine besondere Bewandtnis. Er ist nämlich der berühmte Dichter Theudobach, der sich von Zeit zu Zeit seines wirklichen Namens als eines undurchsichtigen Pseudonyms bedient, um Abenteuer zu erleben. An den großen Theudobach hat Theoda einen Brief geschrieben, und der Dichter hat geantwortet, daß er selbst den Sommer in Maulbronn verbringen werde. Theoda ist überglücklich und erwartet von Maulbronn das 749 große Erlebnis ihres Lebens. Theudobach ist von ihrem Brief entzückt. Er beschließt, sich dem hübschen und reichen Mädchen bereits vor dem Badeort zu nähern, und führt sich als Teilhaber der Kutsche bei ihr ein. Herr v. Nieß oder der Dichter Theudobach wird nun mit einer Menge unsympathischer Eigenschaften behaftet gezeigt. Er ist maßlos eitel und unterscheidet überdies klar und bedacht zwischen den Stunden des göttlichen Schaffens und dem profanen Leben. Aber dennoch ist er keineswegs die übliche Karikatur eines minderen Dichters, sondern zeigt in nur wenig karikierter Weise die fast notwendigen Schattenseiten des Dichters, der nicht nur leben und essen, sondern auch gut essen und trinken will. Und seine Eitelkeit ist auch mehr Folgeerscheinung eines auf den Erfolg gestellten Berufs und kaum größer, als sie fast bei jedem in der Öffentlichkeit stehenden Künstler anzutreffen sein wird. Das gerade ist das Gelungene an dieser Gestalt, daß sie nicht über die Grenzen der Wirklichkeit hinausgeht. In seinem Pseudonym Theudobach ist zwar die skrupellose Ausnützung der altdeutschen und deutschtümelnden Konjunktur gekennzeichnet, die bald nach der Niederlage bei Jena als notwendiger Rückschlag eintrat, aber doch auch wieder durchaus verständlich gemacht durch des Dichters Hinneigung zu blonden und kriegerischen Helden. Wen Jean Paul als Vorbild seines Dichters im Auge hatte, ist nicht recht zu bestimmen. Vielleicht wollte er einen Dichter von der Art des Grafen Löben darstellen, den man ihm als Verkörperung seiner dichterischen Jünglingsgestalten genannt hatte. Gewiß ist in die Gestalt Theudobachs auch ein wenig von Fouqué, dem deutschtümelnden Verfasser von »Sigurd, der Schlangentöter« und des großen Völkerwanderungsromans »Der Zauberring« eingeflossen. Aus diesen Bestandteilen mischte Jean Paul die Gestalt eines vielgespielten 750 Dramatikers, dem er aber auch nicht undeutlich eigene Wesenszüge gab.

Natürlich hat sich Theoda unter ihrem Schwarm einen Dichter von der Art seiner Helden vorgestellt: groß und hünenhaft und voll heldischen Muts. Bei dem Reisebegleiter, der sich als Freund des Dichters bei dem Mädchen eingeführt hat, muß aber Theoda Anzeichen einer gewissen Ängstlichkeit feststellen, die zwar nicht über die Ängstlichkeit eines normalen Menschen hinausgeht, aber doch weit hinter den Mädchenträumen von ihrem Heldendichter zurückbleibt. »Ihr Freund ist gewiß ganz anders als Sie!« sagt sie zu Herrn v. Nieß. Seine Versicherungen, daß er dem Dichter auffallend gliche, helfen nichts. Wir ahnen, daß Theudobachs Erwartungen sich nicht erfüllen werden. Er leidet unter dem naheliegenden und gewöhnlichen Schicksal bekannter Dichter, daß man ihre Gestalten mit seiner Person verwechselt. Auch hier ist Jean Paul wiederum bei der Wirklichkeit geblieben, die er mit seinen Zügen ausstattet.

Unter allerhand Abenteuern in Wirtshäusern, kleinen Städten, sogar auf einem Kirchhof, entwickeln sich die verschiedenen Charaktere in Szenen von übersprudelndem Humor. Katzenberger wird immer unflätiger und geiziger, aber heldenmütig, wo es die Erwerbung einer Mißgeburt gilt. Endlich kommt man in Maulbronn an. Der Badearzt Strykius, den zu verprügeln Dr. Katzenberger die ganze Reise gemacht hat, empfängt den berühmten Gelehrten in kriechender Demut. Katzenberger ist im Zweifel, ob diese unterwürfige Natur wirklich die gemeinen Angriffe unter dem Schutz der Anonymität gegen ihn unternommen habe. Aber seine Beweise sind zu sicher. Mit Behagen umkreist er das Opfer, das ihm nicht entgehen kann. Strykius wittert bald, was ihm droht. Ein herrliches Spiel zwischen den beiden beginnt, 751 unterbrochen durch den Herzensroman Theodas, die auf ihren Dichter wartet, und das Werben des Herrn v. Nieß um das schöne Mädchen. Unter seinem wirklichen Namen veranstaltet Nieß einen Vorleseabend von Theudobachs Dichtungen. Am Schlusse der Vorlesung, wenn die Dichtungen alle Anwesenden in Bann geschlagen haben, will er sich als den Verfasser zu erkennen geben, seine ganze Liebeshoffnung auf diesen Augenblick setzend. Aber etwas Unerwartetes geschieht. Schon während der Vorlesung ist eine hochgewachsene Gestalt in den Saal getreten, die aller Blicke auf sich lenkt. Besonders Theoda ist nicht einen Augenblick darüber im Zweifel, daß der Ankömmling nur der göttliche Dichter selber sein könne. Und in der Tat heißt er auch Theudobach, ist aber nicht Dichter, sondern Offizier, und als solcher mit einigen Publikationen über Fortifikationswesen aufgetreten. Auf der Durchreise durch den Badeort las er zu seinem Erstaunen, daß ein Herr v. Nieß eine Abendakademie mit seinen Büchern abhalten wolle. Neugierig geht er hinein, um festzustellen, welcher Betrüger sich seines Namens bediene. Als Herr v. Nieß gerade im Begriff ist, sich als den Dichter Theudobach zu erkennen zu geben, tritt der Hauptmann Theudobach hervor und macht alle Rechte dieses Namens und der unter ihm veröffentlichten Bücher für seine Person geltend. Der Dichter verteidigt sich, aber die Mehrheit ist gegen ihn und nimmt für den blonden Recken Partei. Insbesondere ruft Theoda in die Versammlung das Bekenntnis, daß sie nur in dem Hauptmann den angebeteten göttlichen Dichter zu sehen vermöge und nicht in diesem Herrn v. Nieß, der von geborgtem Ruhm lebe und offenbar ein Betrüger sei. Nieß muß unter dem Gelächter der Anwesenden aus der Versammlung weichen. Theoda aber sitzt abends neben dem Recken, ihn noch immer für den Dichter und die Erfüllung 752 ihrer Träume haltend. Was er auch über seine Werke sagen möge, sie nimmt es für Metapher und bescheidene Abwehr. Allgemein gilt der Hauptmann für den berühmten Dichter.

Der nächste Tag klärt freilich alles auf, aber, wie es so geht, hat diese Aufklärung nicht den gewünschten Erfolg. Der Dichter Theudobach zieht nicht jubelnd in das Herz Theodas ein, sondern der Hauptmann Theudobach nistet sich in diesem Herzen nur desto fester ein. Der Dichter muß vor dem Recken den Rückzug antreten. Inzwischen kommt auch Dr. Katzenberger an das Ziel seiner Wünsche. Unter Zuhilfenahme von Wein schläfert er das Mißtrauen des hinterlistigen Rezensenten ein. Dieser nimmt ihn sogar in seine Wohnung mit, um ihm eine besonders interessante Mißgeburt zu zeigen. Hier aber tritt Katzenberger auf einmal mit seinen wahren Absichten hervor, und es fehlt nicht viel, daß er den Badearzt selbst in eine abscheuliche Mißgeburt verwandelt. Fürchterlich nimmt er Rache an dem hinterhältigen Ehrabschneider, und nur die Überlassung der Mißgeburt läßt ihn von dem Äußersten absehen. Nachdem Katzenberger sich auf diese Weise gerächt hat, fährt er noch in der Nacht nach der Universitätsstadt zurück. Am Tage folgen Theoda und der Hauptmann, der sich der abreisenden Dame unter einem Vorwand anschließt. Aller Zauber der Postkutschenromantik ist über diese Fahrt ausgegossen, die denn auch aus Theoda und dem Hauptmann ein glückliches Paar macht. Noch erscheint es ausgeschlossen, daß der Professor seine Einwilligung zu der Verbindung geben wird. Theoda kennt die ganze Rücksichtslosigkeit ihres Vaters, der an ihr hängt und sie nicht von sich lassen wird. Schließlich gibt Katzenbergers Sucht nach wissenschaftlichem Material den Ausschlag. Auf Theudobachs Gut befindet sich eine alte Höhle mit Knochen. Für die 753 Erlaubnis, diese Knochen zu untersuchen, gibt Katzenberger die Tochter hin. Der Schluß vereint eine glückliche Familie. –

Der Schwerpunkt der Dichtung liegt aber nicht in dieser Liebesgeschichte, sondern in der rigorosen Abwendung von jeder Sentimentalität. Gewiß sind die Liebenden mit allen Vorzügen redlicher und prächtiger Menschen ausgestattet, aber nicht mehr. Keine Welten brausen in ihnen ineinander. Sie werden sich heiraten und Kinder zeugen und sich ihres Findens wie eines schönen Traums erinnern. Aber gerade weil ihrer Liebe jeder romantische Überschwang fehlt, werden sie glücklich sein. Jean Pauls gewohnte Welt ist hier vollkommen umgekehrt. Man könnte fast diese Dichtung eine Travestie auf seine Romanhelden nennen. Jean Paul nimmt sich hier einmal ganz ernst. Schon im »Titan« hatte er als Bildungsideal nicht den empfindenden Dichter, sondern den im Wohl des Gemeinwesens aufgehenden praktischen Menschen aufgestellt. In der »Levana« hatte er geradezu die erziehende Kraft der Mathematik gepriesen. Der Hauptmann aber ist Mathematiker. Ebenso wird Theoda von einer sentimentalen Backfischschwärmerei für das Idol eines Dichters zu dem gemeineren, aber gesünderen Gefühl der Wirklichkeit hingeführt. Seid Alltagsmenschen! scheint die Forderung Jean Pauls hier formuliert. Laßt euch durch eine verblasene Romantik nicht von euerm euch vorgezeichneten Lebensweg abbringen. Verachtet diese zweifelhafte Größe eines Dichters, der in Wahrheit ja eigentlich kein ganzer Mensch ist. Und gewiß schallt diese Predigt aus dem Werk heraus. Aber doch sind gegen diesen Alltag deutlich erkennbare Grenzen gesetzt. Herr v. Nieß ist schließlich doch nur ein Dichter niederen Grades, eine Eintagsfliege des herrschenden Modegeschmacks, und wenn auch Jean Paul einige Züge des eigenen Wesens und des allgemeinen Dichtertums in diese 754 Gestalt hineingegeben hat, so identifiziert er doch sich oder eine Erscheinung wie etwa Herder keineswegs mit diesem Dichter Theudobach. Nicht gegen die Poesie richtet sich das Werk, nur gegen die Pseudopoesie, wie sie allerdings häufig auch von berühmten Namen vertreten wird. Den Ruhm macht er lächerlich, der nicht aus dem tiefen Wesenskern einer großen schöpferischen Persönlichkeit kommt, sondern nur infolge verschiedener äußerlicher Umstände zufällig auf ein Haupt gesammelt wird. Hier fallen Streiflichter auf die ungleiche und ungerechte Verteilung des Ruhms überhaupt. Er stellt Schiller in Gegensatz zu Herder und schreibt, daß der frühere, höhere, vielseitigere Genius Herders eine Stellung über Schiller verdiene; daß aber demungeachtet Schiller viel mehr Ruhm habe, weil er Dramatiker sei und deshalb alle Komödianten zu Verbreitern seines Ruhms habe, während der vielseitige Genius, nur von wenigen verstanden und ganz auf sich selbst gestellt, keine solche Helfer habe. Es ist entschieden etwas Wahres daran, und diese Feststellung gehört gewissermaßen zum Thema der vorliegenden Dichtung selbst, die skeptisch den Ruhm als eine Zufallserscheinung darstellt, hier auf einen dichtenden, wenn auch begabten Windbeutel gefallen. Gerade diese leicht eingängigen Modedichter wollte Jean Paul mit seiner Satire treffen, nicht den wahren Dichter, dessen Werk aus tiefer Herzensnot quillt. Ehe man in solchen Zufallsgrößen ein Idol sieht, dann solle man sich lieber an die tüchtigen Alltagsmenschen vom Schlage des Hauptmanns halten. Das ist die wahre Tendenz dieser Dichtung, und sie kommt klar genug heraus.

Aber damit haben wir noch nicht das eigentliche Leben von »Dr. Katzenbergers Badereise« oder »Badgeschichte«, wie in den späteren Auflagen der Titel heißt, berührt. Dieses Leben liegt in dem urgesunden, derben Humor der Dichtung. Die 755 Geschichte von Theodas Liebe zu dem unbekannten Dichter und zu dem Hauptmann ist nur die Nebenlinie des Werks. Seine eigentliche Fülle kommt ihm von der Hauptfigur, dem Dr. Katzenberger selber. Wir deuteten seinen Charakter bereits an. Ein scheußlicher Kerl, sicher einer der scheußlichsten, die je geschaffen wurden. Und dennoch schuf ihn der Dichter mit einem unbeschreiblichen Behagen, und dieses Behagen greift unmittelbar in das Herz des Lesers über. Worin liegt nun der eigentümliche Zauber dieser Gestalt, die nicht nur selbst das Ekelhafte am meisten liebt, sondern auch ein Sammelsurium ekelhafter Charaktereigenschaften ist? Man hat versucht, hinter dieser rauhen Hülle einen goldenen Kern entdecken zu dürfen. Dr. Katzenberger wäre gar nicht so schlimm, er machte sich selbst schlechter, als er in Wirklichkeit ist. Hinter seinen Eigentümlichkeiten stecke doch ein großes Herz. In Wirklichkeit liebte er seine Tochter und erfüllte ihr jeden Wunsch. Und sein Enthusiasmus für die Wissenschaft mache auch seinen Zynismus und selbst seinen stinkenden Geiz wieder gut. Deshalb lasse einen diese Gestalt ohne Ekel und gefalle sogar mit der Zeit. Aber das ist es nicht. Dr. Katzenberger würde es sich selbst ernstlich verbitten, so angeschaut zu werden. Er ist wirklich ekelhaft in jeder Beziehung, soweit es ein großer Gelehrter überhaupt sein kann. Er züchtet seinen Egoismus in Reinkultur. Kein Mittel ist ihm zu schlecht, um sich zu bereichern und seine Mißgeburtensammlung, für die er lebt und stirbt, zu vergrößern. Er würde vor nichts zurückschrecken, und darin allein erkennt er Grenzen an, daß er nichts unternimmt, was seiner Laufbahn ein vorzeitiges Ende setzen würde. Er steckt also seinen üblen Eigenschaften nur Grenzen, um recht lange übel sein zu können. Das ist aber auch alles. Das Gefallen an dieser Gestalt kommt von einer andern Seite her: Es ist die virtuose Kraft, 756 mit der er seinen Zynismus bis zum Äußersten ausgestaltet hat. Ein gewöhnlicher Mensch könnte sich noch so große Mühe geben, er bekäme es gar nicht fertig, diesen Grad von Zynismus zu erreichen. Nicht aus moralischen Hemmungen, sondern aus Mangel an Können. Welch eine unerhörte Kraft der Phantasie in der Ausmalung ekelhafter Situationen und Gegenstände! Wie ist hier auch gar keine Spur irgendeines Bedenkens mehr vorhanden! Mit einer tödlichen Sicherheit tut dieser Mensch das in jedem Fall Allergemeinste und Niederträchtigste. Wenn der arme Umgelder Mehlhorn sich müde die Chaussee entlang schleppt, so denkt Katzenberger auch nicht einmal entfernt daran, diesen guten Freund in seinem bequemen Wagen aufzunehmen. Er empfindet nicht die mindeste Scham über sein Verhalten, im Gegenteil, es amüsiert ihn. Mit welch herrlicher Rücksichtslosigkeit beträgt er sich, als der Wagen umgeschlagen ist! Mit welcher edlen Unverfrorenheit schlägt er bei Tisch die greulichsten Gespräche an, nicht einmal weil es ihm Spaß macht, sondern nur, um den Mitessern den Appetit zu nehmen. Rücksichtslos steckt er sich die jungen Kätzlein in die Tasche, um sie für seine Versuche an lebenden Tieren zu verwenden. Er wird sie gewiß nicht unnötig quälen, aber soweit es irgend nötig ist, wird er es ohne jeden Skrupel tun. Er ist ganz aus einem Guß. Immer wieder überrascht er uns durch die Ungeschminktheit seines Charakters. Er benimmt sich dem Fürsten gegenüber, der ihn im Bad gnädig in ein Gespräch zieht, so unflätig, als es ihm nur erlaubt ist, wühlt mit Wollust in ekelhaften Vorstellungen, die nur eine schöpferische Phantasie in diesen Farben ausmalen kann.

Darin liegt der unbeschreibliche Zauber seines Wesens. Sobald er nur den Mund aufmacht, wissen wir, daß wir etwas Ungeheuerliches an Unflat zu erwarten haben, aber 757 was dann herauskommt, ist noch viel ungeheuerlicher, als wir es uns denken konnten. Weil wir eben nicht Virtuosen wie er sind. Ein ganzes Leben war nötig, um diese unsterbliche Gestalt auszumalen. Wo ihr Urbild zu suchen ist, wissen wir: bei dem Jugendfreund Hermann, mit dem Jean Paul ja in Zynismus wetteiferte. Wir entsinnen uns einiger Briefstellen, die schon wie aus dem »Dr. Katzenberger« entnommen erscheinen. Über Ottomar bis zu Leibgeber-Schoppe hatte Jean Paul die Gestalt seines Jugendfreundes nach der einen Seite hin ausgebaut. Hier trieb er den medizinischen Zynismus Hermanns bis zur äußersten Grenze.

Aber über diese Virtuosität des Zynischen hinaus hat Katzenberger doch auch noch im Haushalt der Kultur eine besondere Sendung. Er ist eine Naturkraft, und wie eine solche wirkt er belebend auf seine Mitmenschen ein. Wie der Städter immer wieder zu den Bergen oder zum Meer pilgern muß, um sein Verhältnis zur ewigen Mutter nicht ganz zu verlieren, so müssen solche ungeschminkte Kraftnaturen sein, um unser immer absterbendes Empfinden neu zu durchbluten. Sie sind das Stahlbad, dessen die Menschheit immer wieder bedarf, um sich nicht in Verschwommenheit und Unnatur aufzulösen. Sicher beabsichtigt Katzenberger nicht mit seinen Unflätigkeiten, die menschliche Gemeinschaft in der Richtung auf das Natürliche hin zu entwickeln. Er beabsichtigt überhaupt nichts, aber er tut es. Seine Tischnachbarinnen beben erschrocken auf, wenn er vom Nähren der Kinder spricht, und gewiß ist seine Art, dieses Thema zu behandeln, nicht gerade delikat. Aber daß man heute bei Tisch ruhig ein solches Thema anschneiden kann, ohne daß alle Menschen erschrocken aufspringen, ist doch wieder das Verdienst solcher Katzenberger-Naturen. Ohne sie hätte die Zimperlichkeit der Menschen einen beängstigenden Grad erreicht. 758 Die Zivilisation neigt dazu, sich immer weiter von Natur und Natürlichkeit zu entfernen. In Katzenberger ruht ein Reservoir von natürlicher Kraft. Er treibt immer von neuem die natürlichen Dinge in das menschliche Dasein hinein. Auch diese seine Notwendigkeit im Plan des Lebens fühlen wir dunkel, wenn wir uns an der Ungebrochenheit seiner Natur erfreuen. Katzenberger ist eine der großen Gestalten der Weltliteratur, wie der Ritter Falstaff oder der Richter Walther. Was in jedem Menschen dunkel schläft, tragen sie in ungeheurer Potenz in sich: Durst, Lüge oder Unflat, und sorgen dafür, daß die Reservoire der natürlichen Kräfte sich nicht erschöpfen. Katzenberger ist vielleicht Jean Pauls genialste Gestalt. In ihm erstieg sein reiner Humor seinen Gipfelpunkt.

Die Technik der Dichtung ist die gleiche wie in »Schmelzles Reise nach Flätz« und in der »Reise des Rektors Fälbel« aus der ersten Schaffensperiode. An französische Charakterstudien anknüpfend, hat Jean Paul diese intime Porträtkunst zur großen dichterischen Form erweitert. Das Große an dieser Art, in ein Charakterbild eine ganze Welt zusammenzudrängen, ist, daß es vollkommen im Bereich des reinen Humors bleibt. Die andern Gestalten von »Dr. Katzenbergers Badereise« erhalten von der Hauptfigur erst ihr Leben und ihren Sinn. Ein reiner künstlerischer Monismus liegt in dieser Form. Fast alle große Dichtung der zerrissenen Gegenwart führt zwei Welten gegeneinander. Hier aber ist aus einer Wurzel eine ganze Welt entwickelt. Wir sprachen bereits bei der Form von Jean Pauls ersten Romanen über seine Verwandtschaft mit der unendlichen Melodie Bachscher Musik. Auch hier wieder zeigt sich diese Verwandtschaft. Ein einziges Thema wird angeschlagen und durch die verschiedensten Atmosphären hindurchgetrieben.

759 Die Gestalt des Dichters Theudobach zeigt, daß in Jean Paul der Strom der Selbstironisierung seiner Person und seines Berufs fortrann. Eine minderwertige Tagesgröße hatte er in dem Dichter Theudobach geschaffen, aber trotzdem sind allgemeine Schriftstellermerkmale und Eigenheiten bei ihm deutlich erkennbar. Hier schimmert wiederum der Plan einer Selbstbiographie, die Jean Paul während der ganzen letzten Periode seines Schaffens innerlich beschäftigt, deutlich hindurch. Alles Don Quixotehafte hatte er in dieser Dichtung allerdings auf die Gestalt Dr. Katzenbergers selbst gehäuft. Nicht Theudobach, sondern der Professor erliegt der fixen Idee der Mißgeburten, unter deren Aspekt er sein Leben ansieht. Aber ursprünglich war die Einstellung des Don Quixotehaften mit der Figur des Schriftstellers, mit der eigenen Gestalt, in dieser Schaffensperiode verbunden gewesen. Mit dem »Leben Fibels« hatte diese Periode eingesetzt. Immer wieder war der eigenartige Einfall, diesen Don Quixote der Literatur durch Dichtung zu bannen, gewissermaßen einen seltsamen Doppelgänger der geplanten Selbstbiographie auf die Beine zu stellen, durchgebrochen. Gerade dieser Blick für die Don Quixoterien des Daseins hatte dann im »Schmelzle« und in »Dr. Katzenbergers Badereise« zum humoristischen Porträt geführt. In diesen beiden Arbeiten erschöpfte sich Jean Pauls Vorliebe für diese Gattung noch nicht völlig. Noch einmal griff er diese Form in dem »Briefwechsel zwischen dem Rektor Seemaus und Jean Paul« auf. Wiederum ist hier unter Zuhilfenahme einer fixen Idee ein Leben aus der Idylle bis zur tragischen Spannung getrieben. Die Einkleidung der kleinen Arbeit in Briefe nimmt ihr von der Unmittelbarkeit der Darstellung, sonst könnten wir die Gestalt des Rektors Seemaus unbedenklich dem angstgejagten Feldprediger an die Seite stellen. Mit 760 herzzerreißendem Humor schildert Seemaus das Elend des kleinen Schulmeisters. Statt eines Notpfennigs gibt es nur Pfennignot, und Küchenlatein ohne Küche. Die ganze Familie ist lungensüchtig. Seemaus und die Schwiegermutter keifen gegeneinander. Er und der Kollege wünschen sich wechselweise fort. In dieses Idyll bricht mit einem Schlage die große Hoffnung: In Bayern sollen zwei große Herrschaften mit Schlössern, Waldungen, Fischereien zur Verlosung kommen. Es werden 36 000 Lose zu je 12 Gulden ausgegeben. Seemaus rechnet sich aus, daß unter den 36 000 Losen eines gewinnen muß. Er verkauft die Patenlöffel seiner sechs Kinder und kauft sich ein Los dafür. Die Familie gibt sich den größten Hoffnungen hin. Chimärische Luftschlösser werden gebaut. Statt eines einzelnen bemächtigt sich der ganzen Familie die fixe Idee des sicheren Gewinnes. Seemaus schaltet und waltet bereits auf seinen Gütern, und wenn er eine Sorge hat, so ist es einzig und allein die, daß ihn die Freudenpost töten könne und seine Hinterbliebenen um das Riesenerbe in Streit geraten. Da er gerade bei einem Baireuther Kollekteur das Los genommen, bittet er Jean Paul, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, daß die Nachricht ihn unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln erreiche. Ein ganzes System von Sicherungen wird ausgearbeitet, um den Glücksumschwung ohne Schaden aufnehmen zu können.

Die Hauptwirkung liegt auch bei dieser kleinen Arbeit in der Ausmalung der komischen Situation. Die ungeheuren Hoffnungen, die das Los erweckt, stehen in einem fast gespenstischen Gegensatz zu der Wahrscheinlichkeit der Erfüllung. Überdies brandmarkt die Schrift das Verderbliche der noch dazu staatlich geförderten Lotterien. Hierin schließt sie sich wiederum an die älteren Satiren Jean Pauls an. Doch der Fortschritt liegt auch hier in der phantastischen Ausgestaltung 761 des Charakters. Auf dem gleichen Boden sollte nun endlich diejenige Dichtung erwachsen, die fünf ganze Jahre hindurch immer wieder vorgenommen und immer von neuem zurückgestellt wurde, um schließlich 1811 vollendet zu werden: »Das Leben Fibels«. Wenn der »Dr. Katzenberger« den Höhepunkt des rein humoristischen Schaffens bedeutet, so bildet auch das »Leben Fibels« einen Höhepunkt im Schaffen Jean Pauls. Auch hier herrscht reiner Humor, aber er ist nicht nach der Seite der kalten und unromantischen Vollendung hin ausgeschliffen, sondern hier triumphiert noch einmal hinter allem Grotesken der Darstellung die Poesie des Herzens. In gewissem Sinne beschreibt Jean Paul in Fibel sein eigenes Leben mit allen Hoffnungen, Besessenheiten und Schmerzen. Wenn er hier den grotesken Anschein erweckt, den Verfasser einer Schulfibel ganz ernst zu nehmen und dessen dichterisches Produkt, eine Reihe von Abc-Versen, als Lebenswerk eines großen Dichters auffaßt, so war er sich wohl des humoristischen Widerspruchs in sich vollkommen bewußt, und dennoch liegt dieser Einstellung etwas Wahres zugrunde. Kommt es nicht letzten Endes doch nur auf die Summe angewandter Energie an? Ist es im Grunde nicht bedeutungslos, ob ein Lebenswerk sich in Form einer Fibel oder von sechzig und mehr Bänden darstellt? Ja kann man in dem großen Haushaltsplan der Ewigkeit überhaupt von bestehenden Werten sprechen? Immer haben wir das leise Gefühl, daß Jean Paul selbst seiner eigenen Dichtung hier bitter-skeptisch gegenübersteht. Das »Leben Fibels« wird auch für ihn und sein Werk gewissermaßen zu einer Bilanz. Was bleibt am Ende? Nicht das Werk, ist die Antwort, die bittere und lösende Antwort zugleich, sondern das Hinauswachsen über die engen Formen der menschlichen Gesellschaft, das Wiedereingehen in das Blühen und Sein der Tiere und 762 Pflanzen. Diese ganze Lebenskurve, von den Blütentagen der Kindheit bis zum Verdämmern des Greisentums, wird hier durchschritten. Ein grotesker Einfall gibt diesem Leben die Form, Höhepunkt und Abklingen. Aber ist der Einfall, eine Fibel zu verfassen, wirklich so verschieden von dem Gedanken, einige sechzig Bände Papier vollzuschreiben? In tiefer Nachdenklichkeit über die wahren Werte des Lebens läßt uns die Dichtung zurück.

Aber noch nach einer andern Seite hin ist die Satire gewandt. Jean Paul gibt seiner Dichtung die Form einer überschwenglichen Dichterbiographie. Wie das Zerrbild eines Philologen geht er vor, dem nichts an seinem darzustellenden Gegenstand zu unwichtig ist. Die kleinsten Züge werden ausgewertet, um aus ihnen wichtige Wesenszüge des Dichters abzuleiten. Wieder steht hier die aufgewandte Mühe mit dem kümmerlichen Erreichten in einem komischen Kontrast. Es ist ungemein reizvoll zu lesen, wie Jean Paul, von den scheußlichsten Fibelversen aufs tiefste beeindruckt, sich auf die Suche nach dem Verfasser dieser Verse begibt, wie er schließlich in einem Dorf auf allerhand Spuren stößt, die auf den Verfasser der Bienrodischen Fibel hindeuten. Wie er erst dadurch in die Irre geleitet wird, daß er eine Reihe uralter Bücher findet, die den Verfassernamen Fibel tragen, bis sich schließlich das Rätsel löst: Fibel war vom literarischen Ehrgeiz gepackt und hatte allen Büchern, die er irgendwo auftrieb, seinen Namen als Autornamen vorgedruckt. Endlich ergeben sich genaue Anhaltspunkte. Auf Haubenmustern, Leibchen, Tüten, Zwirnwicklern, Papierdrachen, Patronen finden sich die Reste einer eingehenden Biographie Fibels, und Jean Paul kann die Geschichte niederschreiben, während Gänsejungen, alte Weiber, zufällige Funde ihm noch immer neuen Stoff zutragen.

763 Im einsamen Walde wird der künftige Autor geboren, und zwar kommt er erst im zehnten Monat zur Welt, schon durch die verspätete Ankunft ungeheure Erwartungen weckend. Sein Vater ist ein alter Invalide und Vogelsteller, ganz mit dem Walde und seinem Getier verwachsen. Kein bequemer Ehemann, barsch und schweigsam, immer alles finster in sich herumtragend. In der Mutter Engeltrut hat Jean Paul noch einmal die eigene Mutter gezeichnet. Ein hilfloses Weib, beschränkt, ungebildet, aber von einer rührenden Liebe zu dem Sohn. Selige Kindheitserinnerungen sind in die Kindheit des Helden eingeflochten. Der Sommer mit seinen Freuden, der Winter mit seiner erhabenen Stille. »Das Erdenstockwerk hat ein Zimmer und einen Stallfußboden, und Mauern sind mit Sang- und Girrvögeln bedeckt und behangen – ein ganzer Frühling schreiet durcheinander.« Alle Stimmen des Waldes bietet Jean Paul auf. Er kennt alle Laute der Vögel und führt sie uns vor in einer minutiösen Kenntnis der Einzelheiten, die er aus seiner Kinderzeit hinübergerettet hat.

Die schönsten Zeiten sind die, wenn der Vater Siegwart, wie er es von Zeit zu Zeit liebt, wochenlange Fahrten unternimmt, von denen niemand Ziel und Zweck kennt. Ein herrliches Weihnachtsfest verlebt so der kleine Helf, wie er genannt wird, mit der Mutter allein. Aus dem ruhigen Ablauf der Tageszeiten brechen tausend Freuden in das Leben. Seligkeit ist es, ganz spät schlafen zu gehen, durch das Fenster den Christbaum in der Pfarrerstube schimmern zu sehen – die Bauern bescheren erst des Morgens – und sich dann in Vaters Bett auszustrecken, was alles die Mutter im Gegensatz zum strengen Vater duldet. Als Weihnachtsgeschenk erhält Helf ein kleines, geheftetes Buch, in dem allerdings nichts darinsteht, das aber gerade deswegen dem Knaben alle Bücher der Welt ersetzt. Als er erst lesen und schreiben 764 kann, liest er, genau wie der kleine Fritz Richter, alles, was ihm in die Quere kommt: die Bibel, einen alten Druckbogen, der weiß Gott wie in das Häuschen des Voglers gekommen, einen alten Markgrafen-Hof- und Staatskalender. Die Mutter sieht in dem Sohn den künftigen Gelehrten und wohl gar einen Rector magnificus, weil ein Pate von ihm einer ist. Der Vogler aber will Helf zum Soldaten machen. In Helf aber regt sich schon frühzeitig das Autorenblut. Da er von einer gelehrten Feder hört, aus der viele Werke geflossen, rupft er dem Star, der von dem Vater ein gelehrter Vogel genannt worden, eine prächtige Schwanzfeder aus und glaubt nun, auch gelehrte Werke schreiben zu können, und er tut es nach Art seiner Vorgänger, der Wuz und Fixlein in ihrer Kindheit.

Ungemeine Aufregung kommt in sein Leben durch den Besuch eines richtigen Rektors, der auf der Durchreise seinen Verwandten, den Pfarrer, im Dorfe aufsucht. Der Rektor will einen Star erwerben, wie ihn der Vogler meisterhaft abzurichten versteht. Helf hat Gelegenheit, vor den großen Gelehrten zu treten. Der hält soeben dem Pfarrer einen Vortrag über die Teleologie in der Natur und wie Gott so herrlich dafür gesorgt hat, daß sich die einzelnen Geschöpfe den Bedingungen ihrer Umgebung anzupassen vermögen. So lebten auf schwarzen Köpfen nur dunkle Läuse, wie auf blonden nur helle, und er ist glücklich, in dem blonden Schopfe Helfs wirklich einige dieser liebreizenden Tierchen von dem herrlichsten Blond aufzufinden. Unvergeßliche Eindrücke für den Knaben, der von da ab einen neuen Abschnitt seines Lebens rechnet, besonders da ihn der Rektor auf Bitte des Vaters in Weinlaune auf einem Makulaturbogen zum Studenten inskribiert. Selig teilt er seine Standeserhöhung seiner kleinen Freundin Drotta mit, der Tochter des benachbarten Wildmeisters.

765 Bald darauf macht der Vater im Walde einen kostbaren Fund. Ein großer grüner Vogel läßt vor ihm einen goldenen Ring mit einem großen Smaragd fallen. Siegwart nimmt den Ring nach Hause, versteckt ihn nach seiner Art stillschweigend, ohne irgend jemand etwas zu sagen. Als ein Kleiderjude durch den Ort kommt, zeigt er ihm den Stein, den er aus dem Ring gebrochen. Der Jude bietet zwei, drei und noch mehr Taler und verschluckt schließlich vor Siegwarts Augen das kostbare Stück, um ihn zum billigen Verkauf zu zwingen. Der Alte aber faßt den Handelsmann an der Kehle und zwingt mit Hilfe einer Feder den Stein wieder an die Oberfläche der Erde hervor. Jedenfalls ist bei dieser Gelegenheit dem Vogler klar geworden, daß der Stein wirklich eine Kostbarkeit ist; er geht in die Stadt, um dem Markgrafen den Stein anzubieten. Der Markgraf, der sich über den alten Waldesel amüsiert, zahlt ihm 366 halbe Souverains in die Hand aus. Siegwart versteckt die Summe, wiederum ohne etwas verlautbaren zu lassen, in einem alten Spinde.

Bald nach diesem Ereignis fühlt Siegwart, daß er sterben würde. Der Tod des alten Vogelstellers gehört in seiner schlichten Waldseligkeit zu den schönsten Dichtungen, die die deutsche Sprache hervorgebracht hat. Durch das ganze Buch geht ein Waldzauber wie durch die Parzivaldichtung von Jean Pauls großem Landsmann Wolfram von Eschenbach. In dem Sterben des Voglers kommt dieser Zauber am stärksten zum Durchbruch. Aus Urzeiten scheint dieses Sterben genommen, so groß und heroisch ist es in seiner ganzen Schlichtheit. Siegwart bestellt selbst im Dorf die zum Eingraben nötige Mannschaft und besoldet sie mit den halben Souverains des Markgrafen. Auch einen Sarg bestellt er sich. Er kommt so matt nach Hause, daß er kaum einen Rosenstock in ein Wandschränkchen seiner Kammer 766 hinuntertragen kann. Dem Schulmeister, der als Notar mit Testamentszeugen kommt, trägt er auf, das Wandschränkchen zu versiegeln. An Helfs sechzehntem Geburtstag solle das Schränkchen erbrochen und das Testament gelesen werden, das er sterbend dem Schulmeister diktiert. Sieben halbe Souverains gibt er der weinenden Engeltrut, damit sie bis zur Eröffnung des Schränkchens zu leben habe. Dem Sohn aber befiehlt er, ein Skribent zu werden. Er meint einen Schreiber, Helf und die Mutter aber übersetzen es in ihren kühnen Träumen in einen Schriftsteller und Gelehrten. Dann dingt der Sterbende dem Tischler noch ein Drittel des Preises für den Sarg ab und läßt sich in den viel zu engen und kurzen Sarg betten, um darin zu sterben. Der Pfarrer darf erst kommen, nachdem man den Alten noch eine halbe Stunde allein gelassen. In dieser halben Stunde fängt der Vogelsteller an zu fluchen und zu schreien. Er stellt sich zum Abschied seines Lebens vor, daß er als Korporal vor seinen Leuten auf einem Schlachtfeld stehe und sie zum Sterben anfeuere. Dann erst nimmt er das Abendmahl. Zum Sterben läßt er sich seinen Lieblingsvogel, ein Kanarienmännchen, auf die Brust setzen. Der Frau befiehlt er, ein christliches Lied zu singen, und der Sohn muß die alte Soldatentrommel rühren, damit die Vögel alle anfangen zu singen. Da »legten die Sangvögel ihren ganzen Tonmarkt aus, die Sprachvögel warfen ins harmonische Wettrennen alle Schimpfworte der Menschen, und der Kanarienvogel sprang auf der untergehenden Brust umher«. Die Mutter singt tapfer fort. Mit der Hand drückt sie die sterbenden Hände des Mannes dem Sohn zum Segnen ins Gesicht, da dieser seine Hände zum Trommeln braucht. Immer lauter rauschen die Wogen, »womit der Raubfisch ankommt, welcher den Menschen verschlingt«. Der Alte träumt sich in die Schlachten seiner Jugend 767 zurück. »Drauf und dran!« ruft er und drückt den Kanarienvogel auf der Brust entzwei. »Sie pfeift«, sagt er endlich, und man weiß nicht, ob er den sterbenden Vogel oder die Kugel meint, die ihn in seinem Traum durchbohrt. Dann stirbt er. In der Stube aber trompeten alle Vögel fort, während Engeltrut das Abendessen besorgt.

Eine stille Zeit beginnt für Mutter und Sohn. Langsam werden die sieben Goldstücke eingewechselt. Immer kleiner wird das Häuschen. Helf wird zum kleinen Hausvater, weil doch jedes Haus einen solchen haben muß. Um die Goldstücke zu wechseln, geht er jedesmal in die Stadt und kehrt mit Neuigkeiten beladen zurück. Tagüber arbeitet er als kleiner Student, der er seit seiner Inskription durch den reisenden Rektor ist. Abends aber geht er oft »zur Wildmeisterin«, zu seiner Freundin Drotta, die in ihm ihren Ehgemahl heranwachsen sieht. Auch über dieser wachsenden Liebe liegt der ganze Zauber des Waldes. Drotta sitzt tagüber allein in der Wildmeisterei, oft bis in die langen Winterabende nur vom finsteren Sturm und vom krachenden Walde umgeben, bis der Vater frostrot und trinkrot hineinschnaubt und alle Hunde springen. Ein ganzes Jahr ist noch hin bis zum sechzehnten Geburtstag, der über das Leben entscheiden wird. In einer Nacht endlich überkommt den Knaben seine Sendung. Im Traum geht ihm der ungeheure Gedanke auf, ein Abc mit Versen zu versehen und mit bunten Bildern zu begleiten. Eine maßlose Geschäftigkeit befällt ihn. Tag und Nacht lebt er in seinem Werk. Die ersten Verse stellen sich ein. Das unglückliche alte Abc, das er beim Schulmeister einsieht, gibt ihm die Idee zu tausend neuen Verbesserungen. Mit einem unvergleichlichen Behagen läßt Jean Paul die Fibel unseres Helf vor uns erstehen, zeigt das allmähliche Werden der Verse. »Der Adam gar 768 possierlich ist, – Zumal wenn er vom Apfel frißt«, heißt es in der ersten Fassung. In schwerem Ringen läßt er diesen Vers durch die verschiedensten Verwandlungen endlich seine vollendete Form finden, indem der »Adam« schließlich durch den »Affen« ersetzt wird und nun jedes Wort wie für die Ewigkeit dasteht, und so durch das ganze Alphabet hindurch.

Endlich ist das Werk fertig. Stolz trägt der junge Autor es in die Stadt zum Drucker. Aber wie erstaunt er, daß er für einen Druck nichts erhalten, sondern noch schweres Geld hinzuzahlen solle. Geld hat er nun freilich keines, aber er hofft auf den sechzehnten Geburtstag, der es ihm in Fülle bescheren soll. Hämisch rät der Drucker ihm, das Werk in Selbstdruck und Selbstverlag zu nehmen und bietet ihm eine kleine Handdruckerei an, mit der er die schwierigsten Werke selbst drucken könne. Kniefällig bittet der Autor den Drucker, ihm die Handdruckerei doch nur ja bis zu seinem Geburtstag aufzuheben, wo er sie bestimmt kaufen und bezahlen wolle, und geht heim in dem sichern Gefühl, nun den Weg gefunden zu haben, der ihn zu den höchsten Staffeln des Ruhms tragen wird.

Indes ist kurz vor dem Geburtstag der letzte Souverain angebrochen. Bittere Zweifel überkommen Engeltrut, wie es nun werden soll. Zwar hofft auch sie, daß aus dem Wandschränkchen das sichere Glück hervorbrechen werde, aber diese Hoffnung ist doch allzu unsicher. Endlich kommt der schicksalsschwere Tag. Der Schulmeister und Notar treten ein. Die Siegel des Schränkchens werden geprüft, der Schrank geöffnet. Darinnen ist aber nur der Rosentopf, den der Vogler kurz vor seinem Sterben in seine Kammer trug. In der Aufregung läßt Helf den Blumentopf fallen, und siehe da: über den Boden rollen an 300 halbe Goldsouverains. Alle Träume 769 sind in den Bereich der Möglichkeit gerückt, Drotta als Braut und das Abcbuch in greifbarer Nähe.

Es kostet Mühe, den Wildmeister zur Einwilligung zu bewegen. Mit unendlicher Zartheit ist die Vereinigung des jungen Paares geschildert. Endlich wird die Hochzeit festgesetzt. Alle Register Jean Paulscher Darstellungskunst werden zu diesem Freudentage gezogen. Aber das höchste Glück soll dem überglücklichen Bräutigam doch nicht von seiner Braut und jungen Frau kommen, sondern von einem seltsamen Hochzeitgast, der sich überraschend einstellt. Es ist der Studiosus Pelz, ein bemoostes Haupt, das schon so manchen Sturm erlebt hat. Mit geräuschvoller Lustigkeit führt er sich ein. Aber gleich versteht er das Interesse des Bräutigams, sehr zum Kummer der Braut, zu erregen. Er entwickelt die kühnsten Pläne zur Ausnutzung des genialen Abcbuches. Als er die Verse gelesen, fragt er, weshalb der Dichter nicht zum Beispiel bei dem ersten Verse den Affen und den Apfel in Holzschnittmanier darüber gezeichnet habe? Selig greift der Autor diesen Gedanken auf. Aber der Studiosus hat noch ganz andere Pläne.

Wie anders verlaufen die Flitterwochen, als Drotta sie sich vorgestellt. Mancherlei Reminiszenzen an die eigenen Flitterwochen mag Jean Paul hier eingeflochten haben. Auch ihn wird wahrscheinlich die Arbeit nicht losgelassen haben, und manche Träne Karolinens wird während der Flitterwochen über ihre Wangen gelaufen sein. So hält auch den Dichter des Bienrodischen Abcs sein Werk gefesselt. Es wird in Holz geschnitten. Pelz gibt keine Ruhe. Er selbst schneidet die leblosen Sachen sauber aus, Helf aber alle lebenden Wesen, ob sie nun Vieh, Affen oder Menschen sind. Endlich sind drei Exemplare fertig, und nun kommt Pelz mit seinem »Fundamentalrat« heraus, nämlich das Werk dem Markgrafen zuzueignen und die drei Exemplare den drei kleinen Markgrafen 770 submissest zu überreichen. Gedacht – getan. Helf macht sich auf, in die Stadt zu dem Markgrafen zu gehen. Seine Abenteuer im Schloß sind nicht gerade rühmlich. Er muß einer Sitzung des Tabakskollegiums beim Markgrafen beiwohnen, und die erste Pfeife in seinem Leben erfordert ihr Opfer. Aber der Markgraf ist entzückt von der Fibel und gibt dem überglücklichen Autor die Zusicherung, daß er seine und keine andere Fibel in sämtlichen Schulen seiner Markgrafschaft einführen und daß er ihm einige Zimmer des Schlosses als Werkstätte anweisen würde. Als Helf die Einweisungsakte gesiegelt und unterschrieben in der Hand hält, läuft er spornstreichs zu Fuß nach Hause.

Ein neues Leben und Treiben entwickelt sich nun in dem Dorf und dem markgräflichen Schloß, das in dem Dorf gelegen ist. Außer Pelz hat sich noch ein Franzose namens Pompier als zierlicher Vergolder des Buchschnitts eingefunden. Ein Drucker Fuhrmann kommt mit einer Presse angezogen. Nun werden die Fibeln in Riesenauflagen hergestellt. Die »großen Geschäfte« beginnen, denn alle Schulkinder weit und breit müssen die Fibel kaufen. Fibels Ruhm wächst ins Ungeheure. Kein Autor weit und breit, der solche Auflagen aufzuweisen hätte. Und von außen her wächst nun der Ruhm auch in Helfs Inneres hinein. Er gewöhnt sich an den Gedanken, ein großer Mann zu sein. Pelz wird zum eigentlichen Ohrenbläser seines Ruhms. Er gründet eine Akademie, in der nur Vorlesungen über das Leben Fibels gehalten werden dürfen. Er selbst und Pompier sind die Mitglieder dieses Instituts, das alle Nachrichten über das Leben des großen Mannes sammelt. In seiner Vergangenheit wird nachgeforscht, sein Aufwachsen in dem kleinen Vogelstellerhäuschen Tag für Tag festgelegt. Fibel selbst merkt, daß er noch zu wenig geschrieben habe und, um dem abzuhelfen, druckt er seinen 771 Autornamen in sämtliche Bücher, die sich nach dem kleinen Dorf verirren. Aber es bleiben dem berühmten Autor auch bissige Angriffe nicht erspart. Der Schulmeister des Orts, schon lange auf Fibel neidisch, widmet seinem einstigen Schüler in der oberdeutschen Literaturzeitung eine gehässige Kritik. In diesem Teil der Dichtung hat Jean Paul die Satire vielleicht länger als nötig ausgesponnen. Es sind die Angriffe gegen seine Person, die er hier travestiert. In einer Anmerkung zitiert er wörtlich einen Angriff des streitlustigen Ernst Moritz Arndt gegen ihn, und die gleich darauf folgende Kritik des Schulmeisters gegen Fibel ist eine Verhöhnung der Arndtschen Kritik. Durch den spottlustigen Pelz läßt sich Fibel immer weiter in die Eigenheiten eines großen Mannes hineintreiben. Nur mit der Zerstreutheit, die Pelz von ihm verlangt, will es nicht recht fort.

An diesem Punkte hören die umfassenden Nachrichten über Fibel auf. Nur an einem stillen Kämmerlein des Dorfes findet Jean Paul noch einige abgerissene Fetzen, die zeigen, wie die ganze kleine Kolonie allmählich auseinanderläuft. Mutter Engeltrut ist bald nach einem Geburtstag des Sohnes verstorben, ebenso Pompier. Der Drucker Fuhrmann hat das Weite gesucht, begleitet von einigen kräftig ausgefallenen Segenswünschen der energischen Drotta. Allein Magister Pelz schreibt noch und druckt das Ende von Fibels Biographie, das aber nicht mehr aufzufinden ist. Hiermit versickern die Nachrichten. Da wird dem Forscher Jean Paul gesagt, daß ein alter Mann im Dorfe Bienroda ihm vielleicht noch einige Nachrichten geben könne. Er fährt dorthin und trifft in einem verfallenden Gehöft einen uralten, mehr als hundertjährigen Greis an. Der Alte sitzt in einem Obstwäldchen voller Gesang, umgeben von den verschiedensten Tieren. Die sechs markgräflichen Rosse, mit denen Jean Paul vorfährt, machen auf ihn 772 nicht den geringsten Eindruck. Er antwortet auf keine Frage, und redet schließlich ein wunderbares Kauderwelsch, untermischt mit falsch verstandenen lateinischen Phrasen. Schließlich aber gibt er zu erkennen, daß er selber jener Fibel ist, der sich einstmals wegen eines mittelmäßigen Abcbuches für einen »Literator – exzellentes Genie – Man of geniushomme de lettresautor clarissimus« gehalten. Hundertfünfundzwanzig Jahre ist er inzwischen alt geworden. Seinen schönen guten lateinischen Namen Fibel hat er abgelegt, um dem Hochmutsteufel, der ihn gepackt hatte, zu entfliehen, und nennt sich jetzt nur noch mit dem Namen des Dorfes, in dem er lebt. Auf die verwunderten Fragen Jean Pauls antwortet er mit Milde und Bescheidenheit, und eine seltsame Weihe liegt über seinen Worten und seinem Tun und Wesen. »Es ist mir jetzo vieles auf der Erde gleichgültig, ausgenommen der Himmel darüber«, sagt er einmal und spricht damit wohl Jean Pauls eigenes Glaubensbekenntnis aus. In einer verträumten Idylle schließt sich die Dichtung. Wir sehen den Alten, von jeder Autoreneitelkeit befreit, in sein Gartenhäuschen gehen. Auf seinen Pfiff kommt ein schwarzes Eichhörnchen von seinem Baum und setzt sich ihm auf die Schulter. Nachtigallen, Drosseln, Staare fliegen in die Fenster zurück. Ein alter Gimpel trabt im Stübchen umher. Ein Hase trommelt auf Hinterfüßen den Abend mit seinen Vorderfüßen aus. Ein Pudel kommt mit einem Korbe um den Hals, um aus dem Wirtshaus das Abendessen für seinen Herrn zu holen. Das Gemälde dieses milden Greises wird zu einem verklärten Bild Jean Pauls selber, den auch die Besucher im Frieden seines Getiers fanden und bewunderten.

In seiner abgerissenen Weise, nach Greisenart die Hälfte verschüttend, berichtet Fibel von seinem hundertsten Geburtstag, wie ihm in der Nacht wie einem einjährigen Kind neue 773 Zähne wuchsen und er in Krämpfen der Entwicklung zu vergehen drohte. Drotta erschien ihm im Traum. Neugeboren erwachte er mit der Sonne in Händen. Noch mehrere Male sucht Jean Paul den seltsamen Alten an den nächsten Tagen auf. Immer trifft er ihn im frohen Einklang mit der Natur und seinen Tieren. Einen hübschen Seidenspitz namens Alert macht der Alte seinem Besucher und Biographen zum Geschenk. Um Gott zu preisen, hat sich der Greis eine kleine Drehorgel angeschafft. Mitten in seinem Garten steht er und dreht sie und singt dazu ein Lied:

Noch läßt der Herr mich leben.
Mit fröhlichem Gemüt
Eil' ich, ihn zu erheben;
Er hört mein frühes Lied.

Jean Paul wartet, bis der Alte alle zwölf Verse seines Liedes ausgesungen hat. Nach dem zwölften Vers zieht er langsam und in Gedanken seine Straße weiter. –

Man hat an der Dichtung getadelt, daß weder die Satire noch das Dichterische rein durchgehalten sind, und in der Tat wird man im »Leben Fibels« nicht die straffe Durcharbeitung des »Dr. Katzenberger« etwa finden. Man tut aber dem Buche Unrecht, es mit dieser glänzenden und rein humoristischen Charakterstudie auf eine Formel bringen zu wollen. Das »Leben Fibels« ist ein Bekenntnisbuch des Dichters aus einer Zeit, da sich sein Leben schon reißend bergab senkte. Wir bemerkten schon, daß er neben dieser Dichtung beständig an eine Selbstbiographie dachte, von der er dann später nur die Jahre seiner Kindheit geschrieben hat. Die eigene idyllische Jugend hat er hier mit den Farben eines großen Dichters gemalt, noch einmal sein Hervortreten in die Welt des Ruhmes beschworen, mit ätzender Satire die eigene Autoreneitelkeit 774 in seinem Herzen ausgebrannt und den Helden den Frieden des Alters finden lassen. Gewiß ist Jean Paul nicht Fibel selber, wie er ja auch nicht der Dichter Theudobach war. Aber dennoch ist es auffällig, daß diese beiden Gestalten als Verkörperungen der Schriftstellereitelkeit so dicht nebeneinanderstehen. Es war eine Abrechnung, die hier der Dichter mit sich selber hielt, und wenn er in Theudobach wie in Fibel nur grotesk verzerrte Bilder der eigenen Person und der eigenen Leistung gab, so ist das nur ein Zug seiner verehrungswürdigen Bescheidenheit und des ganzen Ernstes, mit dem er sein bisheriges Leben unter die Lupe nahm. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen, seit die Entwicklung so ganz anders verlief, als worum er gekämpft hatte. Wohl mochte er damals Stunden haben, in denen ihm sein ganzes Werk nicht belangvoller als eine Kinderfibel vorkam. Gerade dieser Einstellung war im »Dr. Katzenberger« seine größte Satire und im »Leben Fibels« seine schönste und tiefste Idylle erwachsen. Die Abrechnung, die er mit sich und seinem Werke hielt, offenbarte ihn als den großen Dichter, der er war. 775

 


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