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Im Herbst kreuzten sich die feindlichen »Xenien« Goethes mit Jean Pauls »Geschichte meiner Vorrede« wie Klingen in der Luft. Die Geister schieden sich. Jean Paul war ja nicht der einzige, den die kriegerischen Dioskuren angegriffen hatten. Besonders verübelte man ihnen im andern Lager die Bosheit gegen den alten würdigen Gleim. Der »Altvater«, wie er sich selbst gern nannte, war in den »Xenien« mit dem alten Peleus verglichen worden, dem leider die spannende Kraft und die Schnelle mangele, die »einst des Grenadiers herrliche Saiten belebt«. Gleim beklagte sich bei Herders und bezeichnete die »Xenien« als »reißende Wölfe, ärger als die Jakobiner«. »Ja! wohl recht Katz- und Katerbalgerei, solche! . . . wir haben mehr solcher Katzbalgereien durchlebt und wissen, was aus ihnen wird. Menschenfeindschaft, Unmenschlichkeit wird aus ihnen.« Karoline rät, »die verdorrten Gemüter in ihrem Talent übermütig und sich einzig fühlen zu lassen«. Herder bedauert, jemals nach Weimar gekommen zu sein, denn er sei nebenher tiefer von Goethe verwundet worden als durch alles, was in den »Xenien« stehe, und man kann ihm recht geben, wenn wir des Goetheschen Briefes anläßlich seiner Forderungen an den Herzog gedenken. Im Gegensatz zu Goethe wird nun Gleim als Seher Gottes, als Priester der Humanität und der Grazien erhoben. »Nur wer den Geist Christi hat, schreibt so wie er.« Gleim seinerseits erhebt Jean Paul in den Himmel. 442 Vor kurzem erst hat er ja unter dem Pseudonym eines Septimus Fixlein eine erhebliche Geldsumme an Jean Paul nach Hof geschickt, wofür dieser in den Blumenstücken dankt. Durch den »Siebenkäs« wird Gleim in seiner Meinung bestärkt, daß hier »mehr als Shakespeare« sei. Jean Paul wird ihm zum »Gottmenschen«, wächst aus der Ebene der Literatur und Dichtung für ihn empor in jene höheren Bezirke erlösten und erlösenden Menschentums.
Jean Paul selbst schreibt an Oerthel über die Angriffe gegen ihn: »Goethes Charakter ist fürchterlich: das Genie ohne Tugend muß dahin kommen.« Dennoch lehnt er es ab, Goethe zu antworten. »Ich antworte nie einem Menschen, der meinen Charakter nicht antastet; wiewohl G. nur satirisches Kurzgewehr hat und ich Langgewehr.« Man muß ihm recht geben. Neben der Art, wie Jean Paul Gegner durch Satire zu erledigen vermag, ist die Satire Goethes flach und witzlos. Kurze Zeit vorher hat ihn der Kapellmeister Reichardt aufgesucht und einige Tage in Hof mit ihm verbracht. »Von Goethe hat er mir viel Neues, aber lauter Schlimmes erzählt.« »Fürchterlich weh tat es meinem Herzen, daß G. ein so nahes wie das des guten Reichardts durchlöchern konnte.« An die Kalb schreibt er im November: »Schillers Furien-Almanach hat mehr Salz als Farben: alles darin ist klein, ausgenommen das Kleine, die Epigramme. Ich werde nie etwas darüber sagen, so sehr die Mißhandlung eines Reichardt, Hermes etc. einen Bluträcher aufruft; aber der genialische Egoismus, der heftigste unter allen, verdient im allgemeinen ätzende Farben und breite Striche. Doch habe ich gegen Goethe und Schiller ebensoviel Liebe als eigentliches Mitleid mit ihren eingeäscherten Herzen.«
Der Bruch zwischen Goethe und Reichardt war bekanntlich 443 dem mit Herder kurz vorausgegangen. Es war die verschiedene Stellung zur französischen Revolution, die die bisher innig befreundeten Männer auseinanderbrachte. Ein Sohn Reichardts hatte bekanntlich in Paris Dienste bei der Revolutionsarmee genommen, um bald darauf zu fallen.
Reichardt, der durch seine genialen Vertonungen Goethescher Lieder neben Zelter am meisten dazu beigetragen hat, daß Goethe als Liederdichter eine Stelle im Herzen des deutschen Volkes errang, hatte sich nach seinem Abschied als Königlicher Kapellmeister in Berlin auf dem Giebichenstein bei Halle niedergelassen, wo er mit seinem Familienkreis bald zum Mittelpunkt der jungen romantischen Schule wurde. Nebenbei bekleidete er das Amt eines Salzinspektors, und in dieser Eigenschaft hatte ihn eine Dienstreise nach Hof geführt. In seinem Journal »Deutschland« beschrieb er sein Zusammentreffen mit Jean Paul in fingierten Briefen an seine Frau. Er lernte ihn in einem Konzert im Hofer Rathaus kennen. »So wenig vorteilhaft auch der erste Eindruck war, den mir sein äußeres Wesen und sein, wie es mir im ersten Augenblicke schien, gesucht witziger Ausdruck machte, so ließ ich mich doch nicht abschrecken, sondern bat ihn um die Zusage, mit mir den Abend freundlich zuzubringen. Er willigte gern ein, versprach später zu kommen, und ich eilte wieder zu meinem Schreibtische.
»Gegen neun Uhr kam Richter, wie es schien, mit einer Reihe von humoristischen Einfällen ausgerüstet; indes paßte alles, was er sagte, immer sehr gut und witzig auf die augenblicklichen Veranlassungen, und ich ward bald gewahr, daß wirklich eine sonderbar rastlos wirkende Seele in ihm sei, die mit einer ganz eigenen Phantasie alles, was sie berührte, auf eine sonderbare Weise zuspitzte. Sein sonderbares äußeres Wesen setzte mich anfänglich fast in 444 Verlegenheit: er schlurrte in zu weiten Schuhen die Stube auf und ab, mit langem, geradem, fast hintenübergebogenem Rücken und in die Höhe geworfenem Kopfe, dessen kahle Glatze er mit der rechten flachen Hand oft bedeckte; sein ganzes Gesicht sah wie der personifizierte (englische) Humor aus. Über die Sonderbarkeit unseres Zusammentreffens gerade an jenem Orte, unseres Beisammenseins in einem Zimmer, das im Winter auch wieder gewöhnlich zu Konzerten angewandt würde, jagten sich witzige Einfälle und echt sentimentalische Ausdrücke.
»Das Essen kam, er wollte sich nicht zu Tische setzen; er hätte längst gegessen, er wäre keiner Abweichung von seiner gewöhnlichen Diät fähig; in Hof kämen die guten Leute nur abends nach Tische zusammen, um ein lustiges Glas Wein miteinander zu trinken. Wir setzten uns also zum Glase Wein gegeneinander über. Mit dem festen Sitz und der geraden Richtung mit Aug' in Auge schien mehr Ruhe in sein Wesen zu kommen. Ich brachte ihn auf Weimar, wo er sich in diesem Frühjahr einige Zeit aufgehalten hatte, und nun enthüllte sich immer mehr eine schöne gefühlvolle Seele und ein rein auffassender Geist in ihm. Die treffendsten Urteile über jene merkwürdigen Menschen, die ich seit vielen Jahren zu kennen glaube, und denen der unbefangene Mensch tief in die Seele geblickt hatte, setzten mich oft in Erstaunen. Bei ganz herrlichen Sachen, die er über Goethes göttliches Genie und über dessen moralischen Charakter sagte, fuhr mir durch die Seele, daß er ihn wie ich und Du zusammen beurteilen und damit gerade am richtigsten träfe. Es fiel ihm auf, daß ich eine lebhafte Rührung unterdrückte; er dringt in mich, ihm nichts zu verschweigen, und ich sage ihm ganz unbefangen, ich wünschte in diesem Augenblick, daß mein liebes Weib mit uns wäre und ihren schönen 445 Anteil an unserm Gespräch nähme – und nun stürzen dem Menschen die hellen Tränen aus den Augen; er springt auf, umfaßt mich, weiß sich nicht zu lassen, der schönste poetische Ausdruck einer überströmenden Empfindung ergießt sich aus ihm über die Seligkeit, einen Mann zu sehen, der in solchem Augenblick sich sein Weib zur Seite wünschen kann. – Ich müßte Bogen vollschreiben, um Dir nur einige Begriffe von seinem Enthusiasmus zu geben. – Er läßt mich nicht los, ich muß ihm von Dir erzählen; ich muß ihn etwas aus Deinen Briefen lesen lassen; er will Dir schreiben, gleich auf der Stelle, er muß nach Giebichenstein. – Wahrlich, ich kann mich in diesem Augenblick nicht genug wundern, daß ich die Szene so lange ohne Widerwillen habe ertragen können, und es ist mir der sicherste Beweis, daß sein Enthusiasmus ebenso wahr gewesen ist als die Liebe, die das Wort aussprach. Der ganze Mensch ist mir auch wieder ein Beweis für die alte Bemerkung, daß die verschiedensten Menschen sehr wohl miteinander existieren können, wenn bei beiden nur Wahrheit zum Grunde liegt.
»Beim Scheiden gegen Mitternacht mußte ich ihm zusagen, daß ich heute bei ihm einige Stunden zubringen und dann einige liebe Familien des Orts mit ihm besuchen wollte, in deren Mitte er sein einfach-glückliches Leben verlebt. Und davon komme ich jetzt mit der angenehmsten Rührung und Befriedigung her. Ja, guter lieber Jean Paul, das hat dich zum Menschen gemacht, der du bist, daß du mit solchen lieben, herzigen, rein empfänglichen Menschen in traulicher Liebe lebst; daß du Raum hast in deiner weiten, ungeweißten Bodenstube mit deiner braven alten Mutter und dem jungen wackeren Bruder; daß dir der altväterische Stuhl und Tisch, an dem du vielleicht zuerst dich aufrichtetest und die ersten jugendlichen Züge hinmaltest, noch nicht zu 446 altmodisch geworden; und daß so deine ganze Umgebung dich durch nichts aus dir selber herauszieht, du so in seliger Abgeschiedenheit mit dir selbst wie mit deinem besten Freunde lebst. Wie du in Hof lebst, um jährlich daraus zu verreisen, so reise auch nur stets, um gerne und immer lieber wieder in dein Element, den lieben trauten Kreis, zurückzukehren und uns eine Welt aus deinem Innern darzustellen.«
Man spürt bei diesem Bericht die Feder des gewandten Journalisten, der mit leichter Mühe seine Eindrücke zu Papier bringt und im allgemeinen das richtige Bild trifft, wenn ihm auch die Dämonie einer starken Künstlerpersönlichkeit verschlossen ist. Niemand würde in dieser Beschreibung den Jean Paul wiedererkennen, dessen Persönlichkeit noch stärker auf die verwöhntesten Frauen seiner Zeit wirkte als seine Werke, und doch hat Reichardt richtig gesehen. Nur wenig später sandte Lavater den Porträtisten Pfenninger zu Jean Paul, um für seine physiognomischen Studien eine genaue Unterlage zu gewinnen. Das Bild Pfenningers ist erhalten, und man muß ihm um so größere Bedeutung beimessen, als es jeder rein künstlerischen Absicht fern sich streng an die Wirklichkeit hielt. Lavater schrieb an Pfenninger, als er ihm den Auftrag gab: »Also zeichnen Sie mir ihn im Profile . . . Ich möchte ganz mathematisch genau die Form und die Zurücklage der Stirn haben – besonders den Umriß des oberen Augenlids. – Hier liegt der Hesperus – dann die Mittellinie des Mundes – mit der Höhle der Unterlippe, wo die Humoristik ihr Rosenbette hat. Messen Sie mir genau – wie in einem Visum und Repertum von geschworenen Visitatoren – die Länge der Perpendikularlinie vom Aug' zur Lippe – und wie oft die Profilbreite des Mundes sich bis oben an das Auge umschlagen läßt – – alles bestimmt, getreulich und ohne Gefahr.«
447 Das Bild Pfenningers ist erhalten, aber welch einen andern Menschen zeigt es uns, als wir ihn uns noch vor kurzem unter dem dichterischen Jüngling vorstellen konnten! Schon seit einem Jahr liebte Jean Paul es, von seiner Glatze in seiner selbstironisierenden Art zu sprechen. Auf dem Bilde sehen wir es deutlich: er war über seine Jahre hinaus alt, und wir müssen Reichardt glauben, wenn er von der steifen Haltung und dem in die Höhe geworfenen Kopfe spricht. Die hohe Stirn ist stark zurückgebogen, aber kein blondes Lockenhaar weht über ihr. Eine streng nach hinten gezogene, in einen Zopf endende Frisur. Die Nase sticht spitz nach vorn. Harte Falten liegen um den Mund. Es könnte sein, daß er damals wie der »personifizierte englische Humor« ausgesehen hat. Wir fühlen: dies ist nicht mehr der feurige Jüngling, den wir nach Baireuth und Weimar wandern sahen. Die Probleme des Lebens und Schaffens haben ihn in ihre Walkmühle genommen. Und dennoch ging eine dämonische Kraft von ihm aus, und der Geist muß diese Züge wunderbar belebt haben. »Lächle nicht,« schreibt die Kalb ihm, »Du lächelst zu schön! Die Töne, die Dein Gemüt ohne Worte gibt, sind süßer wie Harmonikaklang – ich will still sein – still.« Das durchgearbeitete Antlitz, die korrekt steife Haltung und dieses berückende Lächeln – ein seltsamer Zwiespalt in der einen Person. Wir können daraus ersehen, daß es nicht kokettierende Sentimentalität ist, wenn Jean Paul immer wieder betont, daß er früh verbraucht ist, daß die Jahre des Elends seinen Körper zu früh ausgezehrt haben. Es war der flammende Geist, der dem müden Körper das letzte an Ausdrucksgewalt abpreßte und jeder begegnenden Seele das Äußerste an Enthusiasmus abnötigte. Er selbst war wie seine Schulmeisterlein Wuz und Fixlein zermahlen worden, indes sich sein Geist noch den »Titan« 448 mit seinem Überschwang der Kräfte abrang. Das dürfen wir bei dem Folgenden nicht vergessen, welchen Anblick er bereits in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr bot.
Die Veröffentlichung der Reichardtschen Aufzeichnungen konnte Jean Paul keineswegs angenehm sein. Aus dem Kreis seiner Freunde kamen mißliebige Äußerungen. Auch Reichardt hatte sehr scharf zwischen Goethes göttlichem Talent und seinem Charakter unterschieden, eine Unterscheidung, die damals allen Gegnern Goethes geläufig war. Goethe selbst wird diese Spitze im Zusammenhang mit Jean Pauls Person nicht gerade erfreut aufgenommen haben. Es sollte sich an Herder wie an Jean Paul schwer rächen, daß sie mit allerhand ephemeren Leuten in eine gemeinsame Parteistellung kamen. Das Publikum gewöhnte sich daran, diese beiden großen Männer im Zusammenhang mit Geistern niederen Ranges wie Gleim, Hermes oder Reichardt zu nennen, mit denen sie kaum etwas zu tun hatten. Besonders nach Äußerungen Herders konnte es den Anschein gewinnen, als ob hier eine im alten Sinne orthodoxe Haltung dem freigeistigen Heidentum Goethes gegenüberstände. Das mochte bei Gleim und seinen Freunden der Fall sein. Herder wie Jean Paul waren von jeder engen Orthodoxie weit entfernt. Aber ebensosehr waren sie sich des scharfen Schnittes bewußt, den das Christentum mit seinem ungeheueren Gefühlsreichtum zwischen die Antike und die neue nordische Zeit gelegt hatte. Jede Art von Materialismus mußten Herder wie Jean Paul ablehnen. Als sich einmal das Gerücht verbreitete, daß Herder Materialist geworden wäre, antwortete Jean Paul einer Freundin, die ihn darüber befragt hatte: »Herders Geist ist ein lebendiges Sternensystem, seine Wege sind Milchstraßen und sein Herz eine warme Sonne: wie könnte ein solcher Geist den Tempel der Schöpfung in eine 449 Begräbniskapelle des Geistes und den erhabenen Isisschleier der Geisterwelt in einen Leichenschleier verwandeln? Der Materialismus ist das Blutgericht der Geisterwelt: er könnte eher alle Irrtümer haben als den tödlichsten.«
Weder zum aufgeklärten Materialismus noch zu einem Goetheschen Heidentum führte eine Brücke von Herder und Jean Paul. Die seelische Vertiefung durch ein fast zweitausendjähriges Christentum konnte er nicht in einem Fluge überspringen wollen. Er bejahte die Erschütterungen, die die Menschheit inzwischen erfahren hatte. »Es geht uns eben wunderbar damit«, schreibt ihm Karoline über seine Arbeiten. »Das ganze Gebäude ist mit lauter kleinen einzelnen Heiligenbildern erfüllt. Das Gemüt und der Geist verweilen dabei gerührt, gestärkt, belustigt, erhoben, wir möchten das Ganze erfassen und sind unwillig, daß wir unter den tausend Empfindungen nicht weiterkommen. Wenn Sie das Münster in Straßburg gesehen hätten, so würden Sie mich verstehen und mir dieses Gleichnis nicht mißdeuten. – Vielleicht ist der Geist jenes Baumeisters in Ihnen wiedergekommen, und weil wir der steinernen Bilder nicht so nötig haben als der geistigen, so baut er nun aus Materialien der jetzigen Zeit, was sie bedarf, im Geschmack der vorigen.« Gerade von Herders Seite konnte es am ersten erkannt und ausgesprochen werden: dieser gotische Charakter des Jean Paulschen Schaffens, der ihn von der gräzisierenden Richtung Goethes und Schillers immer weiter entfernen mußte. Gotisch, himmelan strebend, mit zitternder Seele nach Gott und der Unsterblichkeit langend und verlangend, war auch die »Geschichte meiner Vorrede«. Aber gerade dieser Grundakkord seines Schaffens sollte ihn nun mit der Person in Widerspruch bringen, die ihm damals am allernächsten stand: mit Charlotte von Kalb. Ihr hatte Jean Paul die der Vorrede angefügte Erzählung 450 »Mondfinsternis« übersandt in der Erwartung, daß gerade diese kleine Dichtung als Quintessenz seines Wesens sie aufs innigste berühren würde. Die »Woldemarin«, wie Jean Paul sie nach Jacobis Roman zu bezeichnen pflegte, empörte sich gegen das Gebot der Keuschheit, das hier erhoben wird. Sie schwieg einige Monate lang, um im Oktober endlich ihren stürmischen Gefühlen Worte zu geben: »Das Ködern mit dem Verführen! Ach, ich bitte, verschonen Sie die armen Dinger und ängstigen Sie ihr Herz und ihr Gewissen nicht noch mehr! Die Natur ist schon genug gesteinigt. Ich ändere mich nie in meiner Denkart über diesen Gegenstand. Ich verstehe diese Tugend nicht und kann um ihretwillen keinen heiligsprechen. Die Religion hier auf Erden ist nichts anderes als die Erhaltung und Entwickelung der Kräfte und Anlagen, die unser Wesen erhalten hat. Keinen Zwang soll das Geschöpf dulden, aber auch keine ungerechte Resignation. Immer lasse der kühnen, kräftigen, reifen, ihrer Kraft sich bewußten und ihre Kraft brauchenden Menschheit ihren Willen; aber die Menschheit und unser Geschlecht ist elend und jämmerlich! Alle unsere Gesetze sind Folgen der elendesten Armseligkeit und Bedürfnisse, und selten der Klugheit. Liebe bedürfte keines Gesetzes. Die Natur will, daß wir Mütter werden sollen; – vielleicht nur, damit wir, wie einige meinen, Euer Geschlecht fortpflanzen! Dazu dürfen wir nicht warten, bis ein Seraph kommt – sonst ginge die Welt unter. Und was sind unsere stillen, armen, gottesfürchtigen Ehen? – Ich sage mit Goethe und mehr als Goethe: unter Millionen ist nicht Einer, der nicht in der Umarmung die Braut bestiehlt.«
Einen solchen elementaren Ausbruch einer titanischen Weibsnatur hatte Jean Paul nicht erwartet. Von dieser Seite glaubte er an unbedingte Zustimmung zu allem, was ihm 451 aus der Seele kam. Diese Frau aber wollte ihr Schicksal. Zum erstenmal kam er mit ihrer Titanennatur in unmittelbare Berührung, und dieser bloße Brief Charlottens mußte den immer gehegten Plan zu dem »Titan« wieder ein Stück vorwärtsstoßen. Wie Titanen waren ihm Goethe und Schiller erschienen, Engel »mit dem Keime des Abfalls« im Antlitz. Ihnen zur Seite trat jetzt die titanische Frau, die ihrem Schicksal und dem Manne erliegen will. »Die Natur will, daß wir Mütter werden!« hatte sie ihm zugerufen. »Ich verstehe diese Tugend nicht und kann um ihretwillen keinen heiligsprechen!« Auch um eine solche Weibnatur mußte der Roman sich drehen, um eine Frau, die an der Überkraft ihrer Genialität und Phantasie erliegt. Auch diesem Geschlecht war der Spiegel vorzuhalten. Auch in seinen weiblichen Trägern der Handlung mußte aus dem »Titan« ein »Anti-Titan« werden. Charlottens Brief schuf die Gestalt der Titanide Linda, die im Roman an ihrer Überkraft zugrunde geht. »Ich habe der Kalb die ›Mondfinsternis‹ aus der Vorrede geschickt«, schreibt Jean Paul unmittelbar nach dem Empfang ihres Briefes an Otto. »Hier in diesem Briefe ist ihre ganze exzentrische Kraft. Aber über ihr Einmengen in mein ästhetisches Leben will ich ihr einmal für immer die entschiedenste Meinung sagen.« Es dauerte lange, ehe sich das alte Verhältnis mit Charlotte wiederherstellte. Inzwischen ging ein neuer weiblicher Stern am Himmel Jean Pauls auf.
Julie von Krüdner, damals im ganzen Zauber ihrer reifen Jugend stehend, hatte sich von ihrem Gatten, dem russischen Gesandten am Kopenhagener Hofe, scheiden lassen. Im August 1796 besuchte sie, 32 Jahre alt, den Dichter in Hof, vielleicht eine der merkwürdigsten Personen, die ihm auf seinem Lebenswege begegnet sind. Julie von Krüdner kannte alle Welt. Mit fast allen Größen der Zeit ist sie befreundet 452 gewesen. Eine fast welthistorische Rolle spielte sie später als Freundin und Beraterin des russischen Kaisers Alexander in den Befreiungskriegen, dessen religiöse Schwärmerei zum großen Teil auf ihren Einfluß zurückzuführen ist. An ihrem Leben wird besonders deutlich, wie der Sturm und Drang des 18. Jahrhunderts sich allmählich in den Geist der Heiligen Allianz umwandelte. Noch vor Ausbruch der Befreiungskriege spielte sie in Königsberg, in den Kreisen um Max von Schenkendorff, eine bedeutende Rolle, auch hier schon ganz Schwärmerin und Theosophin geworden, wie sie denn als christliche Bekehrerin durch die Lande reiste, bis sie endlich den russischen Kaiser in ihre mystisch schwärmerische Welt einspann. Eine Zeitgenossin nennt sie eine Madonna, eine Mater dolorosa. Sie wäre keine Schönheit, aber schön. Sie bewundert ihre ätherisch schlanke, wunderliebliche Gestalt voll Musik in allen ihren Bewegungen, ihr lockiges Haar, das feine Oval des Gesichts, oder »was immer sonst Holdseliges und Inniges in Schmerz und Liebe verklärt hienieden geblüht«. Kein Wunder, daß diese Frau auf Jean Paul den allerstärksten Eindruck machte. Eine Seele, wie er sie kaum im Pantheon seiner Ideale gesehen, schreibt er über sie an den Freund Oerthel. Er schreibt ihr Briefe voll schwärmerischer Entzückung. Sein Traum von Frauentugend ist wahr geworden. Sie kennt nur das Bedürfnis, Wahrheit zu hören und besser zu werden, fühlt das heiße Verlangen, Menschenglück zu fördern. Aufs wärmste empfiehlt er Julie nach Weimar an Karoline Herder. Oerthel warnt vor ihr. Aber nach dem Wiedersehen in Baireuth schreibt ihm Jean Paul: »Du hast Deinen Prozeß gegen die Krüdner verloren. Ich blätterte zwei Abende in ihrem Herzen. Den ersten warfst Du noch immer Schneeballen in mein Altarfeuer. Den zweiten sah ich die idealische Seele . . . Lasse mich nichts mehr sagen, sie hat meine 453 Seele erobert, ich sehe ihre Sonnen- und Sommerflecken des Weltlebens, ihre übertriebene Selbstachtung, ihre weiblichen Niederlagen, aber ich sehe auch den fliegenden glühenden Geist.« Von Baireuth fuhr sie nach der Schweiz. Die beiden sollten sich erst Jahre darauf in Berlin wiedersehen. Sie schreiben sich Briefe, wie damals alle Welt durch einen regen Briefwechsel miteinander verbunden ist. Wilhelmine von Kropff, Charlotte von Kalb, Julie von Krüdner, dazu die alten Hofer Freundinnen, die noch immer ihre Rechte auf den Jugendfreund geltend machten, ja damals erst die schönsten und zartesten Briefe von ihm empfingen, – eine Inanspruchnahme des Gefühls, die den Strom des Schaffens notwendig zurückdrängen mußte.
Noch immer war er an die eigentliche Arbeit des »Titan« nicht herangegangen. Erst wollte er Eindrücke sammeln und selbst die Lebensstufen erreichen, die er seinen Helden in diesem »Kardinalwerk« hinanzuführen beabsichtigte. Über den vielfachen Beziehungen seines Lebens, die so plötzlich von ihm Besitz ergriffen hatten, dürfen wir den unentwegt feststehenden Plan seines größten Romanes nicht ganz aus dem Auge verlieren. In seinen Erlebnissen wuchs das Werk immer unsichtbar weiter. Der Gang seines Lebens entspricht dem Gang des Romans. In gewissem Sinne war es der Plan der »Unsichtbaren Loge«, der hier wieder aufgenommen wurde. Auch damals sollte der Held über eine Periode sentimentaler Schwärmerei und romantischer Liebe zu den höchsten menschlichen Aufgaben hingeführt werden. Jean Paul hatte nur den ersten Teil vollendet, nur die Geschichte dieser ersten schwärmerischen Liebe gegeben, nicht mehr den notwendigen Untergang der Heldin und das Emporsteigen des Helden auf eine höhere Ebene, obwohl auch das wohl schon in dem Plan des Romans gelegen hatte. Jetzt erst, nach den Eindrücken in 454 Weimar und der Freundschaft mit den Titanidennaturen Charlottens und Juliens, war es ihm möglich, diese nächste höhere Durchgangsstation näher zu bestimmen: Der Held mußte auch durch eine titanische Epoche hindurch, an titanischen Gestalten sich abklären. Der erste Teil des »Titans« konnte ungefähr dem Verlauf des »Hesperus« entsprechen. Dann aber mußten die Eindrücke der Weimarer Reise und der neuen Bekanntschaften bestimmend hervortreten, der Held seine Titanide finden. Aber auch die Verbindung mit ihr konnte nichts Endgültiges sein. Bei dem Standpunkt jenes angeführten Briefes von Charlotte von Kalb konnte Jean Paul nicht haltmachen. Auch die Titanide, die in frevelnder Überhebung die Gesetze der menschlichen und göttlichen Satzung übertritt, auch sie muß zugrunde gehen, und erst eine dritte Verbindung, dem ersten Ideal wieder verwandt (wie Liane und Idoine sich gleichen), dürfte als endgültig angesehen werden. Genau die gleichen Stufen, wie Jean Pauls eigenes Leben sie hintereinander zurücklegte. Zuerst die Verbindung mit den Höfer Freundinnen Renate, Amöne und Karoline. Sodann sein Verkehr mit den Titanengestalten wie Charlotte von Kalb und Julie von Krüdner. Darüber suchte er nach etwas Höherem: einer Verbindung, die in gewissem Sinne wieder an seine Höfer Verhältnisse anknüpfte aber, kräftiger und bedeutender als sie, auch über sie hinausragte. So arbeitete er sich durch die titanischen Frauengestalten, die seine Person in eigentümlich magischer Weise anzog, hindurch, um sich schließlich mit seiner Heirat in den bürgerlichen Kreisen endgültig festzusetzen.
Vor der Reise nach Weimar waren die Schläge dicht hintereinandergefallen. Nur wenige Jahre hatten die »Unsichtbare Loge« mit dem »Wuz«, hatten den »Hesperus«, den 455 »Quintus Fixlein«, den »Siebenkäs« gereift. In den »Biographischen Belustigungen« hatte sich der reiche Strom zum erstenmal in Beiwerk vergeudet. Die »Geschichte der Vorrede« war nach Weimar ein verheißungsvoller Auftakt gewesen. Man hätte erwarten können, daß der »Titan« in einem oder spätestens zwei Jahren folgte und zu neuen großartigen Schöpfungen überleitete. Aber es war nicht der Fall. Ein großer Teil der produktiven Kraft wurde durch die geradezu beispiellose Korrespondenz aufgesogen, die ihre Fäden über ganz Deutschland und in die verschiedensten Schichten hinzog. Dazu kam die Bearbeitung des »Hesperus«, des »Quintus Fixlein«, von denen Neuauflagen nötig wurden. Jean Paul feilte und besserte mit aller Kraft an ihnen. Er mochte das Gefühl haben, daß, was im ersten Ansturm Deutschland erobert hatte, einer späteren Kritik nicht standhalten würde, und fühlte den vorhandenen Werken gegenüber die Verpflichtung, sie gegen alle Stürme der Zeit zu sichern. Man kann nicht leugnen, daß seine Verbesserungen durchgreifend und wirklich Verbesserungen waren. Aber es bedeutete doch bereits ein Rückwärtsschauen, daß er sich mit 33 Jahren die Zeit zu Arbeiten nahm, die bei andern großen Dichtern erst die Altersjahre erfüllen. Vielleicht glaubte Jean Paul, daß er mit dem »Titan« einen unübersteigbaren Gipfelpunkt erklimmen würde, über den es kein Hinaus mehr gab, und vielleicht wollte er dieses wichtige Werk so spät wie möglich in sein Leben hineintreiben. Jedenfalls ist es auffallend, wie er immer wieder dem Beginn dieser Arbeit ausweicht und andere Pläne sich dazwischenschieben läßt.
Für alle diese Arbeiten, in die er gewissermaßen vor dem »Titan« hineinflüchtet, sei vorweg bemerkt, daß sie, wie alles, was er seit der »Unsichtbaren Loge« schrieb, reich an überwältigenden Schönheiten sind. Er hat eine Beherrschung der 456 Sprache erlangt, die für seine Zeit einzigartig ist, und in alle Partien bis in die kleinsten Metaphern hinein entlud er die Glut und große Liebe seines Herzens. Wie ein gewaltiger Strom rauscht auch diese Nebenproduktion dahin, und doch fehlt allen diesen Arbeiten etwas, das erst seine großen Werke geben: die einmalige große Konzeption, das Gerinnen eines Lebensabschnitts zum abgeschlossenen, gerundeten Werk. Das zu betonen, ist gerade heute wichtig, da man auf das Stilgeschichtliche und Typische einen durchaus gerechtfertigten, aber vielleicht doch allzu ausschließlichen Wert legt. Es sind die großen Werke, die das Profil eines Künstlers umreißen und die die Stufen seines Erlebens sichtbar machen. So bedeutet es für den Lebensabschnitt des Dichters keinen Fortschritt, daß seine Produktion nach allen Richtungen hin ausgreift und die Sammlung zum geschlossenen Werk vermissen läßt. Ebensowenig als es einen Gewinn bedeutet, wenn von jetzt ab jeder persönliche Einfluß, der ihm kommt, durch eine ganze Reihe von Personen ausgeübt wird. Die eine Charlotte von Kalb hätte ihm sicherlich mehr gegeben als die lange Reihe seiner adligen Anbeterinnen, die sich fortgesetzt verlängern sollte.
Das erste der kleineren Werke, wie sie jetzt in bunter Fülle entstehen, ist der »Jubelsenior«, den er im Herbst 1796 ausarbeitete. Wiederum sucht er hier die Idylle des deutschen Pfarrhauses darzustellen, nicht ganz unbeeinflußt von Vossens »Luise«, die er kurz vorher gelesen hatte. Wenn er in den letzten Werken die gerade Linie einzuhalten versucht hatte, so überschlug er sich jetzt förmlich in Einschiebseln und Unterbrechungen, von denen jede bedeutend ist und die man doch im Ganzen lieber missen würde. Bei dem Helden der Idylle, dem Senior von Neulandpreis, hat Jean Paul vielleicht ein wenig an Herder gedacht. Fünfzigjähriges Amtsjubiläum und zugleich 457 das Fest der fünfzigjährigen Ehe (hier entgegen unserm Sprachgebrauch als »Silberhochzeit« bezeichnet) stehen bevor. Das Zusammentreffen der beiden Jubiläen umreißt mit einem Schlage das rührende Leben des Seniors. Sein Lieblingswunsch, seinen Sohn Ingenuin als seinen Nachfolger zu begrüßen, scheint ebenfalls in Erfüllung zu gehen, denn nur wenige Wochen vor der Jubelfeier bringt der Konsistorialbote die lange erhoffte Vokation. Aber noch mehr häufen sich die Freudenfeste. Alithea, die Pflegetochter des Hauses, verrät, daß sie an Ingenuin ein mehr als geschwisterliches Interesse nimmt. In herrlicher, überquellender Hesperusstimmung offenbaren die beiden Liebenden unter den Birken des nahen Hügels einander ihr Herz. Zum Unglück stellt es sich jetzt heraus, daß der Konsistorialbote ein Betrüger war. In der Not wendet man sich an das ältliche Fräulein von Sackenbach, die einst Hofdame am Flachsenfingenschen Hofe war, sich dort in den Maître de plaisirs, einen Herrn von Esenbeck, verliebt hatte, von ihm aber im Stich gelassen war. Dieses ältliche Mädchen auf dem nahen Schlosse geht man um Hilfe an. Das Fräulein ist von der Not des liebenden Paares erschüttert und bittet ihren ungetreuen Liebhaber, sich beim Fürsten für Ingenuin zu verwenden. Jetzt tritt wie im »Quintus Fixlein« Jean Paul selbst auf den Plan. In langen Szenen, denen man eine verstaubte Rokoko-Sentimentalität nicht absprechen kann, bewegen sich das ältliche Fräulein und der Hofmann umeinander. Der Schluß steht wieder auf der Höhe Jean Paulscher Darstellung. Vor uns entrollen sich die Bilder des glücklichen Familienlebens. In prachtvoller Steigerung ersteht vor uns der Kirchgang des jungen Paares. Ergreifende Töne über das unglückliche Schicksal des armen verlassenen und unvermählt gebliebenen Fräuleins werden angeschlagen. Dieses vom 458 Leben übergangene Dasein steht als traurige Folie hinter dem Festjubel im Pfarrhaus. Den Höhepunkt bildet das Festmahl. Die Hochzeiten des Schulmeisterleins Maria Wuz und Fixleins stehen vor uns auf mit ihren so belanglosen und doch so köstlichen Entzückungen.
Ein »Appendix des Appendix«, »meine Christnacht«, schlägt die uns bereits bekannten Töne über das Elend der »befrachteten, gekrümmten Schulleute« und die Seligkeit entschwundener Jugend an, »wo die Wirklichkeit größer und lichter war als der gedrückte enge Wunsch in der Kinderbrust«.
Fast programmatisch steht diese kleine Dichtung in dem Durcheinander der Nachweimarer Zeit. Jean Paul wollte durchaus das, was in ihm durch den Verkehr mit den Titanen beiderlei Geschlechts aufgewühlt war, getrennt halten von seinem eigenen Lebensgebiet. »Erst im ›Titan‹ spielet meine biographische Truppe wieder auf dem kalten Montblanc der vornehmen Welt«, schrieb er an Charlotte. In Erkenntnis des untergeordneten Charakters der vorliegenden Idylle nannte er sie mit Absicht nicht »Biographie« wie seine Romane, sondern bezeichnete sie nur als »Appendix«. Gab die kleine Arbeit auch nicht einem seiner bekannten Verleger, sondern dem Leipziger Buchhändler Beygang, der ihn durch Vermittelung Oerthels um ein Buch gebeten hatte.
Obwohl sich Jean Paul darüber klar war, es hier nur mit einer Nebenarbeit zu tun zu haben, die hauptsächlich das Lesepublikum in Spannung auf seinen »Titan« erhalten sollte, ließ er doch sein volles Herz in die kleine Dichtung einströmen. »Großer Genius der Liebe!« spricht er angesichts des unbeholfenen jungen Paares, »ich achte dein heiliges Herz, in welcher toten oder lebendigen Sprache, mit welcher Zunge, mit der feurigen Engelszunge oder mit einer schweren es auch spreche; und ich will dich nie verkennen, du magst 459 wohnen im engen Alpental oder in der Schottenhütte oder mitten im Glanze der Welt, und du magst den Menschen Frühlinge schenken oder hohe Irrtümer oder einen kleinen Wunsch, oder ihnen Alles, Alles nehmen!« Schon Ludwig Börne hob diese Stelle als einen vom Dichter sich selbst geleisteten Schwur heraus, dem er nie untreu geworden wäre. Meisterhaft ist auch die Schilderung komischer Situationen, die zu reizvollen Genrebildern geballt sind. Man braucht nur an jene Szene zu denken, als der Verführer Esenbeck während des langen Kirchenliedes bei Alithea im Pfarrhause ist und die Zeit, die ihm für das Zusammensein mit dem schönen, unschuldigen Kinde bleibt, nach den durch das Fenster herübertönenden Strophen des Kirchenliedes berechnet. Entzückend sind auch die zahlreichen selbstbiographischen Stellen, so wenn Ingenuin die Rezension seines Buches, das er als »heterodox« vor dem Vater verbergen muß, immer wieder unterbrochen zu Ende liest. Hier bringt Jean Paul die Rezension über seinen »Hesperus« in der Allgemeinen Literaturzeitung hinein, die für Goethe der Anlaß zu jenem dritten von uns mitgeteilten Xenion wurde. Für seine damaligen Leser außerordentlich interessant mußten auch seine »Zirkel- oder Hirtenbriefe« sein, in denen er in den damals tobenden Streit über die kritische Philosophie eingreift. Wie in der »Geschichte der Vorrede« verheißt er auch hier bereits »kritische Briefe über den Humor, den Witz, den Roman und die Satire«, ein Versprechen, das er später durch seine »Vorschule der Ästhetik« weit überholen sollte. Seine Theatereindrücke in Weimar, wo er zum erstenmal einer richtigen Aufführung beigewohnt hatte, führten zu dem Einschiebsel »Gravamina der deutschen Schauspielergesellschaften, die mörderischen Nachstellungen der deutschen Tragiker betreffend«, zu dem es in der »Supplik der Schikanederschen Truppe« in 460 der Kreuzerkomödie bereits eine Vorstufe gab. In der satirischen Einkleidung verbirgt sich eine durchaus ernsthafte Abhandlung.
Schon dieser flüchtige Überblick zeigt, welche Fülle von Gedanken und Eindrücken in diese kleine Dichtung hineingearbeitet worden ist, und sie war auch keineswegs von seinem persönlichen Erleben losgelöst. Schon der Schlußausruf des Buches: »Freiheit, ferner Freiheit, endlich Freiheit!« gibt seine damalige Grundstimmung wieder, die von den unglücklichen Koalitionskriegen gegen das revolutionäre Frankreich bestimmt ist. Tiefer aber noch greift der Gegensatz zwischen dem armen Schloßfräulein und dem glücklichen Liebespaar in seine Vergangenheit. Gerade angesichts der günstigen Wendung, die sein Leben genommen hatte, kehrten seine Gedanken immer wieder zu den trüben Tagen des Elends zurück. Gerade damals schrieb er an Oerthel, alle die alten Qualen von neuem aufrührend: »Ich wollte Dir noch viel sagen, zum Beispiel, daß ich Hof und meiner Lage nichts zu verdanken hatte als Härte, daß ich hier die ersten zehn Jahre ganz allein und verachtet – nur meine Ottos ausgenommen, wovon mich besonders Christian vor 10 Jahren behandelt wie jetzt – lebte, daß kein Mädgen mich ansah, daß ich überall Haß, zumal im Heroldschen Hause fand, daß ich in Leipzig abends nie mehr zu essen hatte als für 6 Pfennige, daß ich in Hof samt meiner Mutter nichts zu essen immer zu fürchten hatte, und daß wir (aber sei Du die Göttin der Verschwiegenheit) vom Verkaufe alter Papiere für die Hofer zuletzt lebten – daß ich doch trotz der kalten literarischen Aufnahme meiner Satiren meinen Plan nicht änderte – daß ich unter Geizhälsen, Kleinstädtern stand, aber mein Herz nie beugen ließ – und daß ich doch, du gutes tröstendes Geschick, nie holdere, elysischere Tage 461 hatte (obwohl nur in meiner Brust und unter dem blauen Himmel) als damals. Die Augen treten mir über, welche vergebliche, nie gekannte Liebe damals in meinem jugendlichen Herzen verglühte und erstarb.«
Dieser Brief kam nicht von ungefähr. Neben ihm stehen andere, in denen er auch den Freundinnen über alte Zeiten schreibt. Vielleicht hatte er, der alle empfangenen Briefe sorglich zu sammeln pflegte, alte Briefe an die Höfer Freundinnen wieder vorgenommen. Dann war ihm wohl auch jener an Helene Köhler aus dem Sommer 1792 in die Hände gefallen, in dem er ihr ihre Ehefeindschaft auszureden versuchte, fast mit den gleichen Worten, die er im »Jubelsenior« für das Leid des armen sitzengebliebenen Schloßfräuleins fand. Für Helene Köhler hatte er auch bereits in dem gleichen Sommer 1792 einen »Beweis für die Unsterblichkeit der Seele« niedergeschrieben. Auch an diese Gedankenskizze sollte er jetzt eine größere Arbeit anschließen, die ihn für den Rest des Winters beschäftigte. Es war »Das Kampanertal oder über die Unsterblichkeit der Seele«. Die kleine Dichtung, denn um eine solche und nicht um eine Abhandlung handelt es sich, führt uns in die französischen Pyrenäen, in das herrliche Tal des oberen Adour, das nach dem Marktflecken Kampan benannt ist. In diesem Naturparadies feiert Baron Wilhelmi seine Vermählung mit Gione. Nach der Trauung wandelt die Hochzeitsgesellschaft durch das Tal. Unter den Wandelnden befinden sich Jean Paul selbst, Giones Schwester Nardine, Jean Pauls Freund, der Titularrittmeister Karlson, der Hauskaplan und ein kritischer Philosoph. Schon in einem Briefe an Emanuel hatte Jean Paul den Gang seiner Gedanken angedeutet: »Gerade das Bessere im Menschen, das heißt sein Hunger nach einer hier unsichtbaren Tugend, Freude und Weisheit verbürgt ihm seine 462 Verpflanzung in eine reichere Welt.« Und genau so heißt es im Schluß der Gespräche über die Unsterblichkeit: »Die innere Welt in uns ist das Universum der Tugend, der Schönheit und der Wahrheit; sie ist aber nach keinem Vorbilde von uns erschaffen, sondern wir erkennen sie; sie braucht eine höhere Welt, als sich an einer Sonne wärmt, eine andere jenseits des Universums, eben diese aber ist unsere wahre Heimat, in welche wir nach dem Tode versetzt werden.«
Schon dieser Gedanke zeigt, daß Jean Paul hier keineswegs daran denkt, in der kleinen Dichtung Philosophie zu treiben. Er will nicht durch Gründe überzeugen, sondern überreden, die in ihm wohnende Anschauung zum Erlebnis bringen. Es ist eine Schrift für Frauen, die von der wissenschaftlichen Philosophie nicht erfaßt, deren Zweifel von erkenntniskritischen Systemen nicht behoben werden. Jean Paul, für den die Unsterblichkeit der Grundakkord seines Lebens und Schaffens war, wußte aus seinem Verkehr mit zahlreichen Frauen, wie gerade in dieser wichtigsten aller Fragen Zweifel und Skrupel ein Menschenleben vergiften können, ohne daß die Schulphilosophie das erlösende Wort fände. Ja, im Grunde richtete sich die kleine Dichtung gerade gegen das Abstrakte und Abstruse des kantischen Denkens und der kantischen Schule, zu der Jean Paul jetzt mehr und mehr in Kampfstellung geraten sollte. Diese Stellungnahme gegen Kant, d. h. gegen eine Philosophie, die das ganze kommende Jahrhundert beherrschte, war im tiefsten Grunde auf den Einfluß Herders zurückzuführen. Nicht in dem Sinne, daß die Freundschaft mit Herder, dem alten Kantgegner, Jean Pauls Einstellung zu philosophischen Fragen bestimmt hätte, sondern es war Herder, der im Anschluß an seinen großen Lehrer Hamann das Erlebnis- und Wirklichkeitsfeindliche des kantischen Denkens herausgefühlt und 463 ihm die Totalität des ungebrochenen Lebensgefühls entgegengestellt hatte. Kant zerlegte den menschlichen Geist in Denken, Fühlen und Wollen. Aber nicht auf künstlich isolierte Geistesfunktionen glaubte Herder die Erkenntnis gründen zu dürfen, sondern allein auf den einheitlichen Geist und seine Erkenntniskraft. Und genau so ging Jean Paul in seiner Dichtung über die Unsterblichkeit der Seele nicht vom kritisch begrifflichen Denken aus, sondern von dem inneren Schauen des Menschen. Mochte diese Art dem ganzen neunzehnten Jahrhundert naiv und unwissenschaftlich erscheinen, wie ihm der ganze Gedankenbau Hamanns und Herders naiv und unwissenschaftlich erschien – Jean Paul tat doch nichts anderes, als den Sinn sprechen zu lassen, auf den alle großen Weltanschauungen gegründet sind: die intuitive Erkenntniskraft der Seele.
Es ist bezeichnend für ihn, daß er gerade umgekehrt schloß, als es gewöhnlich geschieht. Er geht von dem Grunderlebnis aus, daß nicht die Seele abhängig vom Körperlichen ist, sondern umgekehrt der Seele eine die Materie aufbauende Kraft innewohnt. Er zeigt, wie der innere Mensch durch sein Wollen die Einwirkungen des Körpers zu überwinden vermag, wie ein zerstörter Körper durch eine ihm zugeführte frappante Idee auch in seinem zerstörten Geistesleben wieder hergestellt werden kann. Gerade das Dasein geistig freier und ausgebildeter Menschen mache die Idee gänzlicher Vernichtung unsinnig und widerlich, während man sonst eher geneigt ist, in der irdischen Hinfälligkeit und Trostlosigkeit auf den Ausgleich in einer höheren Welt zu schließen. Nicht aus Unzulänglichkeit und Verzweiflung läßt er die Notwendigkeit einer höheren Welt aufsteigen, sondern aus Schönheit und Kraft, und ganz für diese Anschauung bezeichnend ist der Beweis oder vielmehr nicht der Beweis – 464 denn zu beweisen lehnt er ja gerade ab –, sondern gewissermaßen die Versinnlichung dieser seiner Anschauung. Es verbreitet sich das Gerücht von dem Tode eines herrlichen, der Hochzeitsgesellschaft bekannten Menschen, einer körperlich schönen und geistig edlen Jungfrau. Als alle sie tot glauben, erscheint sie plötzlich selbst und überzeugt die Anwesenden durch ihre Erscheinung von dem Gräßlichen und Abscheulichen einer Vorstellung, die diese herrliche Bildung vernichtet denkt.
Durch den schönsten Tag und das herrlichste Tal der Erde hat uns der Dichter hindurchgeführt. Am Abend besteigen Dichter und Heldin die Mongolfiere in überbrausendem Lebensgefühl, um den Sternen näher zu sein, die die Pyrenäen bekränzen. In diesem zauberischen Bilde das Vernichtungsgefühl der Kreatur in siegreicher Schönheit und Kraft überwindend.
Der Schwerpunkt der kleinen Schrift aber liegt in der Überwindung des Kantianers, der in die Handlung eingeführt ist. Hier kommt der Denker Jean Paul zu Wort, der immer noch Dichter ist und den gerade deshalb sein Denken weiter trägt als den Schulphilosophen. Die »Clavis Fichtiana«, in der er einige Jahre später gegen die äußerste Zuspitzung des kantischen Systems polemisierte, ist hier bereits in nuce vorhanden. Diese immer mehr in den Vordergrund tretende Feindschaft gegen Kant und seine Schule ist für Jean Paul im höchsten Grade schicksalhaft. In dem Kantianismus hat er, gleich Hamann und Herder, eine größere Gefahr für die Zeit gesehen als in jedem Un- oder Aberglauben, weil sie die Frage nach dem Ding an sich, d. h. nach der lebendigen Wirklichkeit an der Wurzel abschnitt.
Das »Kampanertal« ist auf seltsame Weise verflochten mit einer andern Dichtung Jean Pauls, die zu seinen abruptesten 465 und willkürlichsten gehört: der »Erklärung der Holzschnitte unter den zehn Geboten des Katechismus«. An den Holzschnitten zu den zehn Geboten in dem in Ansbach und Baireuth eingeführten kleinen Katechismus schildert er in humoristisch satirischer Form, offenbar in Anlehnung an die Lichtenbergschen Erklärungen zu Hogarths Holzschnitten, die Beförderung eines Salzrevisors (man denkt an Reichardts Besuch) zum Bettmeister. In einer späteren Periode hat der Dichter im »Leben Fibels« diesen Gedanken wieder aufgenommen, indem er der in den Baireuther Schulen eingeführten Schulfibel einen Verfasser unterlegte und dessen Leben humoristisch und dichterisch abwandelte. In der Erklärung der Holzschnitte wollte er wohl zunächst den sinnlosen Religionsunterricht geißeln, wie er damals an den Schulen gehandhabt wurde. Die Holzschnitte stellen die Verbrechen dar, gegen die die Gebote sich wenden. Sie sollten abschrecken, verführten aber durch die sinnliche Darstellung geradezu zu ihrer Übertretung. Gleichzeitig konnte er in der Satire seine gegnerischen Kunst- und Bilderdiener polemisch geißeln, wie es bereits in der »Geschichte meiner Vorrede« geschehen war. Auch hier erscheint wiederum der Kunstrat Fraischdörfer, und wie dieser auch hier wieder als Verkörperung der Weimarer Kunstanschauungen fungiert, zeigt der fingierte Hinweis, daß er die Erklärungen zu den Holzschnitten in Weimar erhalten habe. Im Ganzen völlig verfehlt, enthält die kleine Schrift doch eine Menge vortrefflicher Einzelheiten, die gerade auf dem Gebiet der politischen Satire liegen.
»Das Ganze ist ein flüchtiger Spaß, ein Vehikel von Einfällen, keine Biographie«, schrieb Jean Paul an Otto. »In das öde katechetische Bilderkabinett ist keine biographische Succession zu bringen, außer wenn man, wie du rätst, die zehn Bilder bloß so unzusammenhängend gebraucht wie die 466 Romanciers die chodowieckischen.« Wie man sieht, war der Dichter selbst dieser Arbeit bald überdrüssig. Er gab das Buch dem Geraer Verleger Hennings, der ihm durch Spangenberg empfohlen war.
Das »Kampanertal«, für die Zweifel zarter weiblicher Wesen zunächst gedacht, wurde sehr rasch zum Lieblingsbuch seiner Verehrerinnen, deren Schar immer noch wuchs. Ein derartiges Ausgeben des Gefühls in einen umfangreichen Briefwechsel, ein derartiges Fortschenken persönlicher Energien an so zahlreiche Persönlichkeiten, von denen eine oder zwei genügt hätten, um dem Dichter das Erlebnis der großen Welt zuzuführen, konnte natürlich für Jean Pauls Produktion nicht günstig sein. Wenn er dennoch fortgesetzt neue Damen der großen Welt an sich heranzog und sich ihnen widmete, mußte ein Erlebnis besonderer Art dahinterstecken. Schon der Leipziger Student hatte diese Hinneigung zur eleganten Welt. Wenn er seitenlange Beschreibungen des Pariser Gesellschaftslebens aus Rousseaus Schriften auszog, wenn er immer wieder Versuche machte, in der Leipziger Gesellschaft festen Fuß zu fassen, wenn es ihn ganz offensichtlich immer wieder zu dem Verkehr mit adligen Personen drängte, so war das nicht nur eine Reaktion auf seine untergeordnete gesellschaftliche Stellung, sondern mehr. Es hing mit seiner Auffassung des Dichterberufs zusammen. In ihm lag die Anschauung, daß der Sänger nicht nur mit dem König gehen solle, sondern selbst eine Art Herrscher ist. Ja man kann geradezu sagen, daß in diesen Seiten Jean Pauls ein verdrängtes Wunschbild der eigenen Person durchbricht. Im Schluß des »Hesperus« läßt er sich selbst als Prinz offenbar werden und führt diese, vielleicht nur anscheinend satirisch aufgefaßte Rolle auch in 467 den nächsten Werken fort. Als Prinz erscheint er in den »Biographischen Belustigungen«, und im »Titan« läßt er seinen Lieblingshelden Albano auf den Thron gelangen. Einen Thron konnte Jean Paul nun freilich für seine Person nicht erringen, aber einzelne Embleme des Herrscherberufs waren ihm zugänglich, und diese ergriff er in voller Freude über das Erreichte. Ein Psychoanalytiker würde vielleicht sein Spielen mit Potentatenbildern in früher Kindheit zur Stützung dieser Auffassung heranziehen können. Auch die überragende Stellung des Vaters, der immer der Erste, wenn auch nur in Wunsiedel, Joditz oder Schwarzenbach war, mochte in diesen Königsträumen weiterschwingen. Im Schaffen entlud sich dieses verdrängte Wunschbild keineswegs ganz glücklich etwa im Schluß des »Hesperus«. Im Leben setzte es sich in ein eigentümliches Repräsentationsbedürfnis um. Wer Jean Pauls Haltung seit seinen großen Erfolgen aufmerksam beobachtet, der fühlt es deutlich, daß er nicht nur das Bedürfnis, sondern geradezu die Pflicht empfindet, zu repräsentieren. Das tritt nicht allein in seinem Verkehr mit den adligen Anbeterinnen seiner Person und seiner Werke hervor, sondern selbst gegenüber seinem Werk, soweit es damals vorhanden ist. In seinen Romanen hatte er eine Welt ins Leben gerufen, seine Helden und Heldinnen waren gewissermaßen seine Vasallen. Immer wieder läßt er sie in neuen Werken auftreten. Der Hofstaat von Flachsenfingen ist gewissermaßen sein eigener Hof, der immer wieder in Erscheinung tritt, genau wie seine eigene Person immer wieder als Deus ex machina in seinen Arbeiten auftaucht. Die hochgestellten Personen, die ihm begegnen, sind gewissermaßen Figuren seiner Werke. Er empfindet eine lebhafte Freude daran, wenn Wilhelmine von Kropff sich als Klothilde bezeichnet. Wo die ihm bekannten Damen der großen 468 Welt noch nicht als Individuum oder als Charakter in seinen Werken vorhanden sind, wie Charlotte von Kalb, da wird er sie bei der nächsten Gelegenheit seinem Werk einverleiben. Er ist es gewohnt, über Minister und Kammerherren in seinen Romanen zu verfügen. So müssen sie auch in seinem Leben dastehen. Er wird mit dem Regierungspräsidenten von Völderndorf befreundet und faßt ihn sofort als Typus eines idealen Staatsmannes in sein Leben ein, wie er es in der Folgezeit noch mit mehreren machte. Er scheut keine Mühe, alle Personen der herrschenden Kaste an sich heranzuziehen und zu halten. Unter dem ausgebreiteten Briefwechsel leidet seine Produktion, und doch führt er ihn fort, zum Teil mit Personen, die er nicht gesehen hat oder denen er erst in Jahren wieder flüchtig begegnen wird. Es ist kein Zweifel, daß das verdrängte Wunschbild des Herrschers von ihm seit der Weimarer Reise mehr und mehr Besitz ergreift und daß ein großer Teil seiner Arbeitsenergien in die Scheinbefriedigung dieses Wunschbildes abströmt.
Aber die Psychoanalyse rührt doch nur an den mechanischen Ablauf der äußeren Maschinerie der Triebe, nicht an den Kern der metaphysischen Persönlichkeit. Gewiß können wir mit ihrer Methode die Entwickelung Jean Pauls auf einige interessante Formeln bringen, aber in Wirklichkeit wurde doch die Erscheinung Jean Pauls aus tieferen Gründen als aus seinem Triebleben gespeist. Mochte ein verdrängtes Wunschbild der eigenen Person einige Seiten seiner Dichtung schärfer hervorkehren, so war es doch ein metaphysisch bestimmtes Idealbild, das er der deutschen Jugend vorhalten wollte, wenn er seine Helden zur höchsten menschlichen Aufgabe: zum Herrscherberuf, hinanführte. Und die jahrelange Entspannung nach dem Weimarer Aufenthalt war ein notwendiger Rückschlag nach der gesteigerten Produktion der 469 letzten Jahre. Wohl hatte er ein erobertes Reich zu repräsentieren und auszubauen, aber zugleich legte er in diesen Jahren, da er nach allen Richtungen hin die Fäden spann, den Grund zu seiner größten und umfassendsten Dichtung. Aber viel mehr noch: alles, was er bis dahin geschaffen hatte, stand ja nicht um seiner selbst willen da. Immer wieder betonte er es, und zuletzt noch in seiner großartigen Apostrophe zu dem Geist der Liebe im »Jubelsenior«, daß er mehr und Höheres erstrebte als nur Dichterwerk, daß er Menschen erlösen und Leid mindern wollte. Noch eben hatte das »Kampanertal« ganz im Dienst dieser Aufgabe gestanden. Mochten sich vorwiegend Frauen der Adelsklasse an ihn herandrängen, auch sie brauchten ihn und bedurften seines klärenden Wortes und seiner lösenden Persönlichkeit. Für die alten Höfer Freundinnen sorgte er nicht weniger als für diese entfesselten Naturen. Auch der Barbiergehilfe Roltsch hatte ja nicht vergeblich an ihn geschrieben, und er erlebte wohl überhaupt die größte Freude, wenn Mühselige und Beladene ihm nahten. Ein Konrektor Fischer überbrachte ihm ein zerlesenes Exemplar des »Hesperus«, das drei Gefangenen auf den preußischen Festungen Glatz, Spandau und Magdeburg, Namens Leipziger, Contessa und Serboni, Stunden der Tröstung und Rührung verschafft hatte. Ein Königsberger Ehepaar, das das einzige Kind verloren hatte, bat ihn um ein Wort des Trostes und schrieb, daß sie schon während des Schreibens an ihn und in der Aussicht auf den Empfang eines Blättchens von seiner Hand sich unendlich beruhigt fühlten. Für ein von einem Soldaten des Herrn von Kropff verführtes Mädchen verwandte er sich und erwirkte wenigstens die Zahlung von Alimenten. Das alles geschah im Sinne seines Dichtertums, wie er es erstrebte. Zum inneren Erlebnis hätte er der Fülle seiner ganzen Beziehungen nicht 470 bedurft, ja er war sich darüber vollkommen klar, daß er durch diese persönliche Inanspruchnahme auch von seiner Arbeitskraft opferte. Dennoch gab er sich immer wieder hin, eine höhere Mission in sich fühlend als eine bloß literarische.
Durch Julie von Krüdner hatte er ihre Freundin Henriette von Schuckmann, die Schwester des späteren preußischen Ministers, kennengelernt. War es zunächst nur die Verehrung der gemeinsamen Freundin, die die beiden zusammenführte, so knüpfen sich doch bald auch starke persönliche Verbindungen an. Henriette war eines jener unglücklichen alternden Mädchen, wie Jean Paul gerade eines im »Jubelsenior« dargestellt hatte. Auch ihr, da sie zu ihrem sterbenden Vater nach Mecklenburg fahren mußte, sandte der Dichter Briefe voll erhebenden Trostes. Auch dieser Briefwechsel zog sich durch einige Jahre hindurch. Die bedeutendste und einschneidenste Freundschaft war aber die mit Emilie von Berlepsch.
Jean Paul hatte gerade mit der Ausarbeitung des »Titan« begonnen, als diese neue Freundin dazwischenfuhr. Anfang Juli 1797 traf Emilie in Hof ein. In Weimar hatte sie mit der Herzogin Amalie wie mit Herders freundschaftlich verkehrt und unter lebhafter Zustimmung namentlich Herders Dramen und andere Dichtungen von sich vorgelesen. Das gleiche hatte sie in Göttingen getan. Von Karoline Böhmer, der späteren Gattin A. W. Schlegels und Schellings, haben wir einen Bericht über ihr dortiges Auftreten. Karoline spottet darin, daß sie für ihre Vorlesungen junge Herren werbe und die alten mit aristokratischen Zauberkünsten zwinge. Auch über ihre »Elisabethstracht aus dem Carlos« spottet sie. An diesem Spott mochte manches berechtigt erscheinen. Emilie von Berlepsch hatte bereits eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Im Jahre 1755 geboren, war sie mit siebzehn Jahren mit dem hannöverschen Hofrichter und Landrat von Berlepsch 471 verheiratet worden. Die Ehe wurde sehr bald unglücklich. Den Sommer verbrachte Emilie regelmäßig auf Schloß Berlepsch, während ihr Gatte in Hannover wohnte, verbrauchte Unsummen Geldes und hatte für alle Schöngeister der Zeit stets ein offenes Haus, so daß schon damals Gerüchte über ihren Lebenswandel sich verbreiteten. Seit Anfang der neunziger Jahre befand sie sich regelmäßig auf Reisen, wurde jedoch erst 1797 von ihrem Gatten endgültig geschieden.
Trotz der hämischen Urteile der Frau von Stein und anderer über sie muß der Zauber dieser Frau sehr stark gewesen sein. Jean Paul erlag ihm vollständig. Seine Mutter war gerade in dieser Zeit schwer erkrankt. »Jetzt geb' ich ihr mit Wissen des D. Rheinwein. Meine Sache ist jetzt, mehr für ihren Gaumen als Magen zu sorgen: denn ich errate das Schicksal«, schreibt er in diesen Tagen an Otto. Trotzdem widmete er seine ganze Zeit der neuen Freundin. Gerade für seinen »Titan« versprach er sich von diesem neuen Titanidenerlebnis Ungeheures. Trotz des bedenklichen Zustandes der Mutter reiste er zu Emilie, die nach Eger und Franzensbad gefahren war. Dort schreckte ihn schon am nächsten Tage die Nachricht vom Tode der Mutter empor. Er reiste nach Hof, um die beklagenswerte alte Frau, die gerade an der Schwelle einer besseren Zeit hinweggerafft wurde, zu begraben. Schwer lag es ihm auf der Seele, daß er, der allen zu helfen gewohnt war, gerade im Sterben die Mutter allein ließ. Und mit unendlicher Rührung erfüllte ihn ein kleines Büchlein, das er in ihrem Nachlaß fand. »Was ich ersponnen«, hatte die Mutter auf die Vorderseite geschrieben, und der Inhalt bestand aus der Aufzählung der wenigen Pfennige, die die ärmste durch Spinnen in der Zeit vom März 1793 bis zum September 1794 verdient hatte. Drei Tage lang nach dem Begräbnis trug er »dem Schmerze die schwersten Steuern« ab, 472 dann kehrte er nach Franzensbad zurück, um im Verkehr mit Emilie über den Verlust hinwegzukommen. »Du hast vielleicht schon gelesen,« schrieb er kurz darauf an Oerthel, »daß das Geschick meine gute Mutter, deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wollte, mit einer langsamen stumpfen Sense von meiner Seele und von diesem Leben abgeschnitten. Ach ich würd' ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die Arme sie früher gehabt, ohne das Grab. Nunmehr ist Hof düster, eng und ein drückender umschließender Schacht für mich.«
Mit der Mutter war der Faden durchgeschnitten, der ihn noch an Hof gefesselt hatte. Wohin sollte er nun seine Schritte lenken? Das Nächstliegende war Weimar, aber die dortigen Verhältnisse hatten sich immer trüber entwickelt. Herder hatte sich nach dem Bruch mit Goethe von aller Welt zurückgezogen, und vielleicht mochte Jean Paul sogar ein näheres Zusammensein mit dem verehrten Manne fürchten. Sicher ging er auch Goethe aus dem Wege, wenn er den Gedanken, nach Weimar zu ziehen, endgültig verwarf. In den letzten Monaten des Höfer Aufenthalts selbst setzte er sich noch einmal in einem Brief an Karoline Herder mit Goethe auseinander. Herders hatten ihm die dritte Sammlung der »Christlichen Schriften« übersandt. »Goethe dichtete früher so,« schrieb Jean Paul ihnen zurück;»aber nun liebt er den Stoff nirgends mehr als an seinem Leibe und quälet uns mit seinen ausgetrockneten Weisen à la grec. Ich hoff' es irgendwo einmal darzutun, daß wir das Maximum in den bildenden und zeichnenden Künsten, das erreichbar ist von Einem Volk und von Wenigen, mit dem Maximum der Dichtkunst vermengen, das die Kenntnisse und die Jahrhunderte erhöhen und erschweren müssen. Eine Apollos Gestalt ist für die Erde vollendet; aber kein Gedicht kann es sein, da unsere mit den 473 Jahrhunderten wachsende Rezeptivität wenigstens an den Stoff höhere Forderungen macht: unsere Augen bleiben für die Statuen, aber unsere Geister wachsen höhern Gedichten entgegen.«
Auch Jean Paul wollte höhern Gedichten entgegenwachsen, als sie ihm noch in Hof werden konnten. Die Anläufe zum »Titan«, die aus den letzten Hofer Monaten stammen, mißglückten, wie er selbst bemerkte. Den Herbst hatte er für den Fortzug aus Hof und aus seiner Jugend festgesetzt. Seine Wahl fiel auf Leipzig. Das »Leipzig vult exspectari!«, das ihm so oft während seiner Studentenzeit in den Ohren geklungen hatte, wollte er noch einmal versuchen. Zudem mußte sein jüngster Bruder eine Universität besuchen, und welche andere konnte er dafür ausfindig machen als die, die ihn selbst so schwer enttäuscht hatte und die er nun noch einmal auf die Probe stellen wollte!
Am 29. Oktober führte ihn der Wagen aus Hof und aus dem Lande seiner Jugend hinaus. 474