Heinrich Hansjakob
Der Vogt auf Mühlstein
Heinrich Hansjakob

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6.

Die Hochzeitsläder von Nordrach und Harmersbach steuerten, den Strauß auf dem harten, hohen Filzhut, lange Stöcke in den Händen, in der ersten Woche des Januars 1785 trotz Kälte und Schnee rüstig auf den Höfen umher und luden in des Vogts und des Hermesburen Namen freundlich zur Hochzeit ein, »zum Gottesdienst in der Kirche und zum Mahl im ›Hirschen‹ in Zell«.

Auch an der Rautschmühle ging einer vorbei, um die Klosterleute in der Fabrik, vorab den Farbmeister, zu laden in des Klostervogts Auftrag. Und als der Hochzeitsläder an die Mühle kam, und der Hans, Schritte hörend, an seinem Fensterchen stand, rief er lustig hinauf: »Kannst auch kommen, Hans, zu 's Vogts Magdalenens Hosig!«

»Ich komme«, erwiderte der Hans, »auch wenn der Vogt und der Hermesbur dich nicht zu mir geschickt haben.«

Es tat ihm weh, als er hörte, wie die Hochzeit immer näher kam; aber er verurteilte das Maidle keine Sekunde lang, seitdem sie im Stollengrund einander gesprochen. Auch wußte er ja alles, was seitdem geschehen.

Es tat ihm weh – und doch hatte er Augenblicke, in denen er sich wohl und gehoben fühlte. Auch in der Seele eines Naturmenschen, einer Schneeballe, macht sich jenes selige Bewußtsein geltend, das in jedem heldenhaften Opfer liegt.

Der Hans fühlte es, daß er Großes getan, da er im Walde der Magdalene zuredete, dem Vater zu folgen, und ihrer Zukunft sich selber zum Opfer brachte.

Ja, er hatte noch eine größere Tat vor, und der Gedanke an ihre Ausführung und an den Eindruck, den sie aufs Maidle 65 machen müßte, der Gedanke hob ihn zeitweise mächtig und verklärte ihm das Düstere der Gegenwart und der Zukunft.

Ganz anderer Art war die Seelenstimmung der Magdalene. Sie fand sich mit dem, was kommen sollte, zurecht wie wir Menschen alle mit dem Sterben. Sie sah, es sei nicht mehr auszuweichen, und ging mit jener ruhigen Gleichgültigkeit der Hochzeit entgegen wie die meisten Sterblichen dem Tod, den man erst in seinem ganzen Ernst fühlt, wenn er wirklich kommt.

Es ist merkwürdig, in was alles die Seele des Menschen sich schicken kann, solange sie nicht völlig entartet und sittlich verkommen ist. Es können Menschen, die im Reichtum und Wohlleben aufgewachsen und alt geworden sind, Hab und Gut verlieren und dann schwer arbeiten, darben, ja oft betteln müssen – und in kurzer Zeit fügen sie sich mit Gleichmut in ihr Schicksal.

Wie viele Menschen ertragen in Geduld und noch voller Lebenslust jahrelanges Siechtum nach blühender Gesundheit!

Im Volke geht deshalb das Sprichwort: »Glücklich ist, wer das vergißt, was einmal nicht zu ändern ist.«

Und im Volke heißt man es »hartschlägig werden«, wenn man schwere Heimsuchungen mit Gleichmut trägt.

Ich rede hier nicht von der religiösen Auffassung der Leiden, sondern nur von der rein seelischen. Und unsere Seele kann von Natur aus unendlich viel ertragen. Darum sind schon Kinderseelen so stark im Leiden, ja oft stärker als die der Erwachsenen.

Man besuche heute in einem großen Spital zwei Säle: in einem liegen kranke Kinder, im anderen Erwachsene. Die Kinder lächeln heiter nach den schwersten Operationen und benutzen jeden halbwegs schmerzlosen Augenblick zum fröhlichen Spiel mit ihren 66 Leidensgenossen. Die Erwachsenen liegen meist verbittert, mürrisch, jammernd und klagend da.

Ich habe noch kein Kind vom sechsten bis vierzehnten Jahre klagen hören und jammern darüber, daß es krank sei.

Es wurde aber auch in der Kindeszeit der Menschheit jener wunderbare Gedanke von einem altheidnischen Dichter ausgesprochen: »Eine Lust liegt selbst im erstarrenden Schmerz.« –

So ging auch die Magdalene auf Mühlstein ruhig und gefaßt der Zukunft entgegen.

Eines nur erbat sich das Maidle, daß kein »Schäpelhirschen«Am Vorabend einer Hochzeit pflegen im Schwarzwald die ledigen Freunde des Bräutigams und dieser selbst und die Freundinnen der Braut in das Haus der letztern zu kommen und unter anderem einen mit einem Rosmarinkranze (altfranzösisch chapel) gezierten Hirsebrei zu essen, daher der Name »Schäpelhirschen«. stattfinde. Sie fürchtete, die jungen Burschen der benachbarten Höfe, ihre einstigen Singkameraden, kämen dann noch am Vorabend vor ihrem Opfertag, und sie wollte nicht die kaum verharschten Wunden fließen machen in der Lust und dem Sang eines Schäpelhirschen. Und Hans, der Einzige, durfte und wollte sich dabei doch nicht sehen lassen.

Sie erreichte ihren Wunsch leicht, um so leichter, als der Ulrich ein Witmann und deshalb jenes Fest am Vorabend nicht üblich war. Der Vogt wollte dann die Morgensuppe um so üppiger gestalten.

Der 17. Januar kam und mit ihm der Namenstag des Vaters und der Hochzeitstag der Tochter.

Der Himmel hatte in der Nacht noch zum alten Schnee neue Flocken gesandt und Berg und Tal in ein großes Leichentuch gehüllt.

Schon vor Tag hatten die Knechte und die Buben des Vogts einige Gewehrsalven von der Haldeneck ins Tal geschickt, das 67 Zeichen zur Morgensupp' für die drunten in den Schottenhöfen und im Hambe.

Die Lindacher, drüben im anderen Tal, hielten Morgensupp' auf dem Hermeshof.

Bald nach den ersten Gewehrschüssen stampften die nächsten Buren und Bürinnen auf den Schottenhöfen im Schnee dem Mühlstein zu. Etwas später kamen die Reichsburen auf dem Hambe, hoch zu Pferd, um ihrem Versprechen gemäß die Braut zu begleiten.

Sie hatten gesehen, wie der Klosterknecht von Gengenbach am vergangenen Samstag ein Faß Wein auf Mühlstein spedierte, und der »Prälatewi« zog die durstigen Zecher noch mehr an als die sonstige Morgensuppe.

Zuletzt kam Breig, der Bauernkönig, dahergeritten; er hatte am weitesten aus dem Kürnbach herunter. Breig war auch bei den Klosterbauern beliebt, weil diese den Streitigkeiten unter den zwei Reichsständen Zell und Harmersbach als die unbeteiligten Dritten mit einigem politischen Vergnügen zuschauten und alle Bauern der Welt es gerne hören, wenn einer über die »Herren« schimpft und ihnen opponiert, und das besorgte, wie wir aus der Geschichte des »letzten Reichsvogts« wissen, der Gabriel meisterhaft.

Der Klosterwein gab ihm gleich Gelegenheit, einige Hiebe auszuteilen. Dem Reichsvogt von Harmersbach, meinte er, habe man, solange er Wirt gewesen, die Schoppen abkaufen und bezahlen müssen, und die ganze Zeller Herrlichkeit lebe von den Buren, der Prälat aber schicke seinen Klosterburen den Wein faßweis, und was für einen! »Der Kaiser in Wien«, rief der Bauernkönig, »sufft keinen besseren!«

Während die Buren beim Klosterwein zechten, wurde das Maidle in der Stubenkammer ausstaffiert. Die Klosternäherin 68 aus dem »Katzenschrofen« war unter den ersten gekommen, zog ihm das »Hochzitshäs« selber an und machte alle Maschen und Falten von Kopf bis zu Fuß.

Das Maidle schwieg still. Stumm wie ein Lämmlein, das die Buben an der Hambacher Kirchweih herauskegeln wollen und vorher mit Bändern schmücken, ließ sie alles an sich geschehen.

Hatte sie in den letzten Tagen sich gefaßt aufs Opfer, so preßte ihr der Tag des Opferns doch das Herz zusammen in krampfhaftem Weh. Sie war leichenblaß. Um so schöner und vornehmer aber schaute sie aus dem schwarzen, feinen Mieder heraus. Und als ihr endlich die »Klosternajere« die Brautkrone aufsetzte, sagte die alte Marianne, die mit den Mägden dem Anziehen bewundernd zugeschaut hatte, leise zu den anderen: »Ich hab's ja immer gesagt, unser Maidle ist ein Edelfräule.«

Dieses trat nun in die Stube und gab allen Anwesenden die Hand. Dann nahm das Maidle Abschied von Vater und Mutter, Abschied aus dem Elternhause mit einem »Vergelt's Gott für alles, was es von Kindestagen an in demselben genossen«.

Hierauf trat einer der Hochzeitsläder vor und sprach die üblichen Worte: »Geehrte Hochzeitsgäste! Wir haben jetzt gegessen und getrunken und danken für das, was wir empfangen haben. Jetzt wollen wir aufbrechen und die Brautleute in die Kirche begleiten vor den Altar, wo sie das heilige Sakrament der Ehe miteinander beschließen vor dem Priester. Wir wollen es ihnen helfen bestätigen, den Segen und den Tau des Himmels auf sie herabflehen von Gott dem Allmächtigen, daß er sie an zeitlichen und ewigen Gütern segnen wolle und daß auch die Brautleute an ihren Kindern Freude erleben. Dazu verhelfe uns Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist.«

69 Diesem Spruch folgten die üblichen fünf Vaterunser und »der Glaube« und zwei Vaterunser für die »nächstversterbenden« Verwandten der Brautleute.

Unter der Stubentür gab jedes der Anwesenden der Magdalene das Weihwasser aus dem Gefäß am Türpfosten.

Tränenden Auges geschieht dies allezeit, und nun hatte auch die Magdalene das Recht zum Weinen, das sie seither aus Furcht vor dem Vater zurückgehalten. Sie weinte, als wollte es ihr die Brust zersprengen, und die »Göttle« aus dem Stollengrund mußte sie an der Hand zur Türe hinausziehen auf den kalten, schneeigen Hochzeitsweg.

Die Knechte hatten gleich nach ihren Salutschüssen den Bahnschlitten geführt und bis ins Tal hinab gebahnt. Der Zug setzte sich in Bewegung. Voraus die Magdalene und die »Göttle«, dann Vater und Mutter, hinter ihnen die Gäste von der Morgensupp' und die »Völker« des Hofes auf Mühlstein. Den Schluß bildeten die berittenen Bauern.

Die Bäuerin aus dem Stollengrund wußte wohl, warum das Maidle, welches sie im Hochzeitsstaat an der Hand über den glatten Schnee hinabführte, nicht aufhören wollte zu weinen und zu schluchzen. Sie schwieg aber, denn unmittelbar hinter ihr schritt die große, harte Gestalt des Vogts, und vor dessen Ohren wollte sie nichts reden von »dummem Liebesschmerz«.

Nur die Mutter sprach unterwegs wiederholt: »Maidle, hör jetzt auf mit Schreien!« Und das Maidle hatte in der Tat aufgehört, als sie dem Talgrund sich näherten, und die gleichgültige, »hartschlägige« Opfermiene der vergangenen Wochen wieder angenommen.

Im Tal, beim »Adler«, stand der Hochzeiter auf der Straße und mit ihm die Lindacher Bauern und die Nachbarn aus dem 70 Nordracher Tal, der Grafenberger, der Bäumlisberger und andere, alle hoch zu Roß. Der Ulrich allein stand neben seinem Charabänkle und ringsum zahlreiche »Völker« aus den umliegenden Höfen des Reichstales. Es war Winterszeit und jung und alt beim »Adler« zusammengelaufen.

Alle staunten mehr den Wagen an als den Hochzeiter, denn jener war etwas Neues für einen Bur, ein Hochzeiter nicht.

Als die Braut herankam, gab der Ulrich die Zügel des Braunen seinem Knecht, trat dem Maidle entgegen und reichte ihm die Hand, ebenso der »Göttle«, dem Vater und der Mutter.

Dann führte er das Maidle zum Wagen und lud es ein, Platz zu nehmen, als die erste Hochzeiterin im Tal, die zur Kirche fahre. Doch diese neue Ehre war nicht imstande, der Braut ein Lächeln oder einen Dank abzugewinnen. Sie stieg ein, der Ulrich setzte sich neben sie und hatte Mühe, den Braunen im Schritt zu halten, damit die Fußgänger nachkämen. Den Zug eröffneten die Zeller Hochzeitsmusikanten, und die Reiterschwadron der Hambacher, Lindacher und Schottenhöfer Bauern schloß ihn.

Hochzeitsgang

Der Bauernkönig und seine Anhänger waren seit dem berühmten Überfall von Zell nie mehr so sieghaft oder gar zu Pferd in der Reichsstadt gewesen. Still waren sie an Sonntagen in die Kirche gegangen und wieder heim. Aber heute – nach dem reichlichen Genuß des Prälatenweins – ritten sie stolz und herausfordernd mit dem Hochzeitszug zum Tor hinein. Und als der Turmwächter und der Stadtkommandant, Korporal Kapferer, und viele Bürger am Tore neugierig dem Zug zusahen und der Gabriel an ihnen vorbeiritt, rief er ihnen zu: »Wollt ihr den Breig heut auch wieder einsperren, ihr großmuligen Zeller!?«

71 Die Reichsstädter hingen als Kleinbürger in ihrem Gewerbe vielfach von den Buren ab. Hätten sie bei der Hochzeit eines der größten und reichsten Buren durch Verhaftung einiger Reichstäler Spektakel gemacht, so würden sie die sämtlichen Klosterburen und die Nordracher zu den Harmersbachern gegen sich aufgebracht haben. Die alle hätten das Städtchen gemieden, ihre Schoppen anderswo getrunken, ihre Halstücher, Hüte, Nägel anderswo gekauft – z' Hasle oder z' Gengenbach – und die reichsstädtischen Gewerbsvettern wären trocken gesessen.

Drum ritt Breig, der das schlau berechnete, heute kühn und spottend ins Städtle ein, kühn durch den Prälatenwein und kühn bei dem Gedanken an die gezwungene Ruhe der Zeller.

Beim »Hirschen« wurde abgestiegen, und unter dem Geläute aller Glocken begab sich der Festzug in die Pfarrkirche.

Am Altare erwartete sie der damalige Pfarrer Pater Pirmin Haan, ein Konventuale des Klosters Gengenbach. Der Vogt stellte sich unmittelbar hinter seiner Tochter auf, damit sie unter dem Eindruck seiner nächsten Nähe das rechte Wort finde, wenn der Pater sie fragte, »ob sie aus reifer Überlegung, auf freiem, ungezwungenem Willen den Ulrich Faißt zum Ehemann annehmen wolle«.

Das »Ja« zitterte denn auch, leise genug, von den Lippen der Magdalene, die, mit der Zukunft gar nicht mehr rechnend, eben ihrem Schicksal sich ergab.

Pater Haan trug ins Ehebuch in lateinischer Sprache ein, daß er »am 17. Januar 1785 die Magdalene Muser, Tochter des Präfekten Anton Muser von Mühlstein, mit dem Witwer Ulrich Faißt von Lindach getraut habe«. Unter den Zeugen wird genannt der Vogt selbst, der aber nicht schreiben kann, sondern sein Handzeichen mit dem üblichen Kreuz hinmalt.

72 Glückliche Zeiten, in denen einer Vogt sein und als solcher jahrzehntelang amten konnte, ohne schreiben zu können! In unserer papiernen Zeit, wo die Welt im kleinen und im großen mit Feder und Tinte regiert und bureaukratisiert wird, könnte keiner Bürgermeister sein, der des Schreibens und Lesens völlig unkundig wäre. Und doch waren die alten Buren im Durchschnitt viel einfacher regiert und besser daran als heute. – 73

 


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