Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wiener Komödie

Er kam aus den Fernen zurück, zu den Menschen der Heimat. Das Futter für die Nerven, das aus den fremden Sonnen, aus den Künsten aller Völker, aus verwegenen Genüssen eingesogen war, drang jetzt erst ins Blut und wurde wirkliches Leben. Was der unruhige Geist früher, in Besorgnis, auch nur das Geringste von der Welt zu versäumen, auf tausend Wegen und Umwegen mühevoll aufgesucht hat, das nimmt er jetzt ganz leichthin und von ungefähr, wie sich's ihm eben bietet. Er kommt auf die höchst einfache Idee, seine kosmopolitische Lebenstechnik auch zu Hause zu verwerten: denn jeder Mensch ist eine ganze Welt, und jede Gesellschaft ist eine Welt von solchen Welten.

Die Bücher, die in der nächsten Zeit entstehen, behandeln fast alle Wien: den Glanz, die Luft, das Lachen, die Freude und die Rätsel von Wien. Besonders aber die Wiener Verliebtheit: denn aus dem Erotischen kommt allemal jede tiefere menschliche Erkenntnis. So heißt denn auch das erste dieser Bücher: »Neben der Liebe«; und es führt unter dem Titel den Vermerk: »Wiener Sitten«. Da spiegelt sich in der aufgeräumten Laune des erfahrenen Bummlers das gutbürgerliche Wien der neunziger Jahre. Und in der wohlvertrauten Atmosphäre wird auch der Blick für die bestimmende Sachlichkeit freudiger und schärfer: die Technik der Erzählung und der Darstellung nähert sich wieder dem Realismus an. Eine starke Plastik drückt Menschen und Dinge greifbar aus ihrem Milieu heraus. Wiener Sitten: Das zeigt sich im Caféhaus, bei den Gesellschaften und Bällen, bei den lauten Praterfesten. Das ist die leichte Art des Umgangs, der gefällige Witz, der mit sich selbst und mit dem Leben spielt; das ist die Mischung der Rassen aus deutschem und fremdem Blut; das ist die Beweglichkeit und Unverläßlichkeit der Menschen, in denen kein starkes Erlebnis haftet, weil sie keinem ganz gewachsen sind. Es ist ein Roman, der sein Wien auf Spaziergängen, bei Besuchen, im gemütlichen Plauschen ganz behaglich herzeigt; kein gründlich und groß gesehenes Abbild dieser Stadt. Seine Schilderungen führen durch eine Schichte, die sich zwischen den Traditionen eines üppigen, froh gelaunten Bürgertums und ungefährlichen künstlerischen Wallungen angenehm in Schwebe erhält. Das ist aber gerade die Schichte, die für den gewissen äußeren Wiener Glanz, für die Festlichkeit und Lieblichkeit von Wien, repräsentativ und verantwortlich ist. Sie hat vor allem das grundlose Lächeln und die geschäftige Indolenz, die überall als die wesentlichsten Elemente der besonderen Wiener Stimmung gelten. Aus dieser Schichte sind die meisten Figuren des Romanes; geradezu nach bestimmten Personen oder doch nach den auffälligsten Zügen damaliger Typen abgezeichnet. Noch fehlt die breite Behaglichkeit, die unbekümmert mit den Erscheinungen und Ereignissen geht. Vieles spitzt sich zu und wird Pointe; die meisten Gestalten sind chargiert. Dennoch ist auch schon eine merkwürdige Ruhe in dem Buch, wie ein großes Aufatmen nach der absichtsvoll geplagten Nervosität. Ein sanfteres Licht und ein viel besseres Lachen ist überall in dieser Welt. Und die menschlichen Dinge sind nicht mehr bloß auf die Nerven bezogen; sie haben wesentliche Tiefe und reichere Beziehung. Die große Figur in der Mitte, das lebendige Maß aller Erscheinungen, sozusagen das Subjekt dieser objektivierenden Darstellung, ist wiederum der Mann von internationaler Kultur, in den feinsten Genüssen erfahren; ist wiederum Hermann Bahr (unter irgendeinem anderen Namen). Aber die Physiognomie dieses oft verwandelten Ich hat sich wieder merklich geändert. Die sprungfertige Hast, die nie zufriedene Gier nach äußerem Erleben ist nicht mehr da; nur ein lässiges Schweben und eine latente Bereitschaft zur Ekstase. Die stolze Erinnerung mahnt noch, das Suchen nach dem Außerordentlichen nicht ganz aufzugeben. Aber es kann nirgends anders mehr als in ihm selbst zu finden sein, in einer jähen und unerwarteten Gabe seines Gefühls. Nur, wie das Gefühl aufblüht und bereit steht, ist es wieder allein, in Rätseln ohne Antwort. Die ewige Komödie geht, in anderen Breiten, auf anderen Höhen, einfach weiter.

 

Die Frauen in diesem neuen Buch sind weich und lieblich, wie die Wiener Luft. Freilich auch von einer so zarten Empfindlichkeit, daß ihr kein Verständnis des Mannes beikommen kann. Die ewige Verschiedenheit im innersten Wesen, der unverrückbare dunkle Abstand zwischen den Geschlechtern hat auch hier verhängnisvolle Bedeutung. Aber diese Tragödie notwendigen Mißverstehens ist jetzt doch von jener bestialischen Gehässigkeit rein, die vordem jede Liebe zum blutrünstigen Unglücksfall gemacht hatte. Durch diese abgeklärte Trauer schimmert eine gewisse Heiterkeit; sie hat ihren Glanz von den Strahlen der Wiener Sonne, von dem freundlichen Lächeln dieser wohlgepflegten Gesellschaft und vor allem von einer beruhigten Anschauung des Daseins, die wohl fragen, staunen, verzeichnen mag, aber ohne Ingrimm und Ansturm. Und die gestockte Bitternis löst sich am Ende im frohen Rhythmus einer Militärmusik, die den trübe Sinnenden aus seinem unheimlichen Erlebnis wieder in die Wiener Welt hineinreißt. »Er fühlte sich getragen und bestimmt, vorwärts, ohne Frage, entwillt. Er freute sich, weil das andere gleich aus ihm verschwand und marschierte stramm, und ganz leise pfiff er mit. Er sah Buntes, hörte Helles und fühlte den Ruck der Trommel, vorwärts, immer vorwärts. Und er wußte nur noch: es ist ja alles ganz dumm … ganz dumm, sich irgendwie zu kümmern. Wir tun doch nichts, sondern es geschieht. Das Leben geht einfach weiter, immer weiter.«

Diese seltsam bewegliche Resignation, die nach Rhythmus und Farbe geht und das Dasein nur als einen undurchdringlichen Kreislauf bunter Erscheinungen ansieht, hat ihr lieblichstes und rundestes Werk in der kleinen Novelle »Dora« geschaffen. Es ist wieder von den Enttäuschungen der Liebe die Rede; diesmal mehr in den äußerlichen Dingen, die ebenso unzähmbar und heillos erfunden werden, wie die Gefühle selbst. Denn, wie man sichs immer einrichtet: Glück und Behagen können halt nie beieinander sein. »Es ist niemals so, wie man es möchte. Man mag es niemals so, wie es ist.« Aber gerade das macht ja den nie versagenden Reiz alles Erlebens und Beobachtens. Das gibt unaufhörlich Spannung, mischt Farbe in Farbe, fordert den trostreichen Witz heraus. Diese Zeit der herb-süßen Wiener Stimmungen und Gestaltungen ist tatsächlich die witzigste von Hermann Bahr. Der Stil behält seine Spannkraft und gesuchte Knappheit. Das Wort aber ist nicht mehr so zum Aufbrechen voll von impressionistischer Absicht. Es wird leichter, luftiger und hat vielfältige Beziehungen. Es wird witzig. Eine gut gelaunte Ironie gibt der Sachlichkeit, mit der die Menschen und die Dinge in diesen Erzählungen abgeschildert sind, eine so frische und fließende Grazie, daß alles immer in Glanz und Lächeln dasteht. Diese Anmut des Vortrages erhebt auch die geringeren Anekdoten des Buches zu kunstvollen Kostbarkeiten. Ähnlich Anekdotisches, worin aber nur die schärfere, nachdrücklich pointierende Form der Fin de siècle-Geschichten wiederholt wird, hat er um diese Zeit in »Caph« gesammelt. In den Novellen des Buches »Die schöne Frau« zeigt sich dann, ein paar Jahre später, zu welcher behaglichen Sicherheit seine gute Erzählerfreude gediehen ist. Hier sind, wie in »Dora«, die kleinen launigen Einfälle psychologisch verästelt und stilistisch auf das feinste durchgearbeitet. Und die Menschen, zierlich, sauber und doch kräftig gezeichnet, stehen immer auf ihrem bestimmten sozialen Boden; manche sogar politisch eingeteilt. Der künstlerische Blick sucht hinter den interessanten Oberflächen auch schon nach den Verbindungen und Beziehungen der Gesellschaftsgruppen. Noch ist ihm Wien in der Hauptsache nur ästhetischer Eindruck und ein Komplex psychologischer Themen; aber schon meldet sich auch, an der Schwelle des Bewußtseins, das politische Problem: Wien – Österreich und will erfaßt und behandelt sein.

Aber ehe er diese bitteren Fragen in ihrer Weite und Tiefe gründlicher anschauen lernt, verweilt er noch mit Behagen in der äußeren Erscheinungswelt seiner Wiener Gesellschaft. Schärfer und schärfer prägen sich ihm die menschlichen Konturen, die Gestalten treten plastischer heraus; und das eigentlich Wienerische zeigt sich ihm nicht allein als Stimmung und Atmosphäre, sondern mehr und mehr als ein wesentlicher Zug bestimmter Charaktere, als Schicksal, als dramatisches Motiv. Das Theater greift nach seiner Kunst und nimmt sie auf lange hin für sich. Anregung gab es genug; in der Wiener Luft zunächst, die trotz allem immer noch voll war – voll ist – von Theatersehnsucht, Schauspielerei, echtem und künstlichem Komödiantentum. Dann aber auch in seiner persönlichen Entwicklung, deren berufliche Linie jetzt durch mehr als ein Jahrzehnt im Journalismus verläuft, zu Kritik, Essay, Feuilleton hinüberführt. (»Deutsche Zeitung«, Wochenschrift »Die Zeit«, »Neues Wiener Tagblatt«). Vor allem beschäftigt ihn da das Theater: die bewegte Spiegelung heimischer und entfernter Kulturen, die verworrene und überlaute Sprache eines gesellschaftlichen Geschmackes, die Psychologie einer launisch-unverläßlichen, aber im Grunde doch einheitlich orientierten Menge; am intensivsten aber das geheimnisvolle Wesen der Schauspielerei selber. Ihm sucht er in unzähligen kritischen Versuchen gedanklich beizukommen, aber auch in künstlerischen Gestaltungen zu dienen. Er war eine Zeitlang von dieser mysteriösen Kunst, sich nach einem fremden Willen persönlich zu offenbaren, so sehr fasziniert, daß er auf die Idee verfiel, Stücke zu schreiben, in denen dem Schauspieler sozusagen nur die Stichworte und knappsten Anlässe für seine darstellerische Phantasie gegeben werden. Also ganz einfach ausgeführte Szenarien, die möglichst unvermittelt von Effekt zu Effekt springen, ohne besondere Charakteristik oder verbindende Psychologie (»Juana« und »die Nixe«). Selbstverständlich konnte derartiges für ihn nur die Bedeutung eines ganz zufälligen und vorübergehenden Experimentes haben. Sein Material an Wiener Stimmung und Wiener Zeichnung war lange nicht aufgebraucht; ausgiebige Teile davon verlangten jetzt dramatische Verwertung. Auch verlangte das Theater von Wien, dem ja der Naturalismus im Grunde nichts hatte geben können und das zum Stil einer intimen Psychologie absolut nicht hinüberfinden wollte, irgendeine Zwischenform, die das kaum mehr brauchbare alte Salonstück doch irgendwie modernisierte. Es handelte sich um den Übergang vom Salonstück zur modernen Komödie.

 

Lohnt es sich, erst sorgfältig festzustellen, was eigentlich unter einem Salonstück verstanden werden soll? Das Ding erklärt sich ungefähr aus seinem Namen. Eine theatralische Angelegenheit, die zwischen gut gekleideten Leuten spielt, in Zimmern nach dem Geschmack der Reichen. Schneider und Tapezierer haften mit ihrer Ehre für die lebendige Wahrheit aller äußeren Erscheinung. Milieu bedeutet hier Fasson. Und nicht nur an der letzten Oberfläche. Auch hinter den Falten der Kleider, auch außerhalb des Stoffes der Möbel bleibt das Muster eines bestimmten Zuschnittes in Geltung. In normalen Temperaturen hat das Leben seine Gesetze aus zweiter Hand. Erst an einem Schmelzpunkt der Gefühle kann es diese starre Form auf Momente verlassen und flüssig werden, wie alles Leben ringsum, in der Welt jenseits der vier Wände. Aber die vier Wände sehen immer zu; in ihnen ist alles eingeschlossen, was geschieht. Und was geschieht, ergibt sich darum immer aus Familie, Besuch, Zusammenkunft, Unterredung, Auseinandersetzung. Das Salonstück ist das Stück der vier Wände; das Salonstück ist das Stück der erweiterten Familie, der Menschen unter denselben Gesetzen des Verkehres. Das verschmitzte Wagnis, diese Normen listig und ungefährdet zu umgehen, wird zur Komödie; der Versuch, sie frank und mutig zu durchreißen, wird zum Drama. Darum ist die Salonkomödie so reich; darum ist das Salondrama so arm. Denn die Schleichwege und Durchlässe in diesem Vierwändedasein sind mannigfach und unabsehbar, wie der menschliche Witz; aber die tragischen Widerstände sind so wenig hart und ernsthaft, wie die Unterschiede zwischen Mensch und Bürger. Wir genießen es froh, zu sehen, wie ein Kluger akrobatisch und mit höhnendem Respekt durch jene Gesetze schlüpft; oder wie dem Dummen von Dümmeren mit ahnungslosem Eifer hindurchgeholfen wird; oder wie sie sich, vor irgendeinem harmlosen Ungefähr, in nichts auflösen können. Aber wir glauben es den vier Wänden nicht gerne, daß sie Tod und Verderben drohen. Das ernste deutsche Salonstück hat also nie eine starke Berechtigung gehabt und ist auch immer nur recht spärlich gediehen. Das Salonlustspiel hat schon ein etwas kräftigeres Leben. Ihm können sich auch rein künstlerische Möglichkeiten bieten: zum Beispiel, wenn in einer solchen Komödie ein starkes Temperament vor aller Augen über die Schranken seines Kreises wegspringt und lachend die anderen verhöhnt, die ihm lachend nachgeben müssen.

Daß gerade diese Art einem fröhlichen Raufer, wie Hermann Bahr, besonders gelegen sein muß, ist verständlich. Von seinen leichten lustigen Spielen fürs Theater hat so manches diesen gedanklichen Grundriß. Schon sein erster Versuch einer Komödie »La Marquesa d'Amaëgui«, aus dem Jahre 1888, gibt eine geistreiche Abwandlung dieses Schemas: Die konventionellen Charaktermasken, die das öffentliche Vorurteil (und die eigene Eitelkeit) dem düsteren Poeten, dem stürmischen Volksmann für immer aufzwingen möchte, werden, dem persönlichen Behagen zuliebe, im günstigen Augenblicke einfach weggeworfen. Man atmet auf, ist gemütlich und spielt Tarock. Der nette Scherz ist – als Dokument eines Anfanges – auch stilistisch interessant, weil er in seiner naiv französierenden Plaudertechnik unwillkürlich die Herkunft der deutschen Gesellschaftskomödie aus dem französischen Salonlustspiel anzeigt. Er trägt deutliche Spuren der epigonischen deutschen Schriftstellerei, die sich in geistreichem Herumgerede äußerst französisch oder franzosenähnlich gefühlt hat. Diese Art des witzigen Plauderns war eben überlieferte Konvention und kein begabter Anfänger hätte sich ihr zu jener Zeit entziehen können. Das ernste Drama von Schillers Gnaden, der heitere Dialog nach Pariser Muster; das waren die deutschen Klischees vor den Modernen, von da aus ging die Entwicklung weiter. Bahrs Erstlinge sind kräftige Beispiele dafür.

Später aber, als er selbst so viel echtes, neues, lebendiges Franzosentum in sich genommen hatte, sah auch sein deutsches Lustspiel anders aus. Die heitere Empörung des einzelnen gegen die gesellige Sitte wird nicht mehr vom stärkeren Esprit, sondern von den feineren Nerven bewirkt. »Die häusliche Frau« (1893) kommt unmittelbar aus der Zeit des nervösen Dandysmus, der bewußten und sorgsam gepflegten sinnlichen Raffinements. Der Libertin wird gegen den Philister ausgespielt: nicht nur als der feinere, reichere, sondern auch als der wesentlich sittlichere Mensch. (Das Motiv erscheint zur selben Zeit auch in »Dora«.) Das Stück enthält sonst nichts als diese Gegenüberstellung, – die den jungen Leuten von damals so ungeheuer wichtig war. Das Maß für alle Beziehung und Bewertung der Männer ist natürlich in ihrem Verhältnis zur Frau gegeben. Der Grundriß der Handlung ist das normale Ehebruchsdreieck; das aber diesmal gar nicht geschlossen wird, weil der Libertin im Innersten eigentlich doch ein sehr anständiger guter Kerl ist. Freundschaft, Treue, mannhafte Aufrichtigkeit: das sind die Motive, die am Ende hier entscheiden. Libertinage, mit den Allüren französischer Boheme und den Instinkten des deutschen Korpsstudenten. Diese Mischung kennzeichnet den dreißigjährigen Bahr.

 

Nun war das auch schon wieder hinter ihm. Seßhaft geworden und fröhlich eingewienert, in den Rhythmen des beruflichen und des geselligen Lebens mitgeführt, von den Wundern und Wunderlichkeiten des Theaters umstrickt, bekennt er sich gern zu gefälligerer Weisheit; er gibt sich abgeklärt und hält was auf seine große Reife. Aber seine Natur, die ihn überwältigt, ist eben immer noch anders, heiß und stark und eigenwillig. Und die Welt, die er zeigt, hat die Bewegtheit und den Wärmegrad seines Temperamentes. Wie überlegen er auch seinen Gegenstand angeht, mit dem bestimmten Vorsatz, ja nur der Wirklichkeit zu folgen, ohne Anteil und Aufregung: sein blinder Wille stößt ihn gleich immer in die gefährlichen Zentren, wo persönliche Art und persönliche Kraft sich wehren und halten muß, wenn sie nicht unterliegen will. Wie er möchte, wird es nie; es wird, wie er muß. Weil er gar nicht so lebensfertig ist, wie er meint, sondern immer noch recht jung und brausend.

Was er für seine Philosophie hält, ist im Grunde nur kühner, stolz aufgerichteter Witz, der Kraft und Gelenkigkeit genug hat, auch mit den großen und wichtigen Dingen wie mit Kleinigkeiten zu spielen. Er hat weite, ernsthafte Pläne, aber allzu feine, fesche, liebe, lustige Einfälle dabei. Sein Vorsatz ist etwa, die große ironische Schicksalskomödie aufzubauen: »Eine Trilogie des menschlichen Lebens, die drei Teile unseres Daseins enthaltend: Wie der Mensch für sich zu leben glaubt, aber dann vom Schicksal zu seiner Bestimmung eingefangen wird, bis er sein Amt getan, sein Geschäft verrichtet, seine Rolle ausgespielt hat, und nun wieder vom Schicksal entlassen werden kann. Jeder fängt an, indem er glaubt, frei zu sein, sich selber bestimmen und sich, wie man es nennt, ausleben will. Dann wird er inne, trotzend, sich wehrend, mit Schmerz, daß er nicht allein und nicht um seinetwillen da ist, sondern bloß als ein Gehilfe oder Instrument des Schicksals. Er lernt gehorchen; sich selber gibt er auf: das Werk, das er bereiten, die Tat, die er vollenden, der Gedanke, dem er dienen soll, werden stärker als seine Launen, Absichten oder Wünsche. Hat aber das Schicksal endlich erreicht, was es mit ihm vorhat, ist sein Werk geschehen oder die Tat seines Lebens getan, hat er den Gedanken des Schicksals vollbracht, dann gibt es ihn los, es kümmert sich nicht mehr um ihn, er ist frei. Dies sind die drei Teile unseres Daseins … Als ich mich entschlossen hatte, das Merkwürdige unseres Lebens, was ich als das Geheimnis des Menschen empfinde, in seinen drei Teilen an einem besonderen Fall darzustellen, war die Frage nach meinem Helden. Er mußte ein drastisches Beispiel sein, wie uns das Schicksal narrt, indem es uns, während wir die Welt von uns aus zu bestimmen glauben, seinen geheimen Plänen dienen läßt. Ich habe zuerst an Shakespeare gedacht … Aber ich habe mich dann doch für den Napoleon entschieden. Niemals ist das Schicksal burlesker gelaunt gewesen. Es braucht einen Franzosen, der sein Volk über alle erheben soll, und es nimmt einen Korsen, der Frankreich haßt; es braucht einen Tyrannen und nimmt dazu einen Troubadour. Wie klein sind unsere Wünsche, wie groß ist das Schicksal! Dies habe ich darstellen wollen; in der »Josephine«, wie die unbekannte Macht ihn einfängt, den Träumer in den Krieg schickt und den Poeten zum Helden werden läßt, ob er sich auch wehrt und von seinem Heldentum nichts wissen will; im zweiten Teil …, und im dritten Teil …«

Aber es gibt gar keinen zweiten und dritten Teil. Und auch der erste ist, wie wir ihn jetzt haben, keineswegs ein Spiel des Schicksals mit einer Persönlichkeit, sondern nur ein Spiel verwirrter Gefühle und unverläßlicher Leidenschaften. Ein zierlich witziges, anmutreiches, helles und kluges Spiel. Freilich, der große geheimnisvolle Geist, der den Weg des menschlichen Lebens bestimmt, offenbart sich kaum darin; sondern nur wieder einmal das tückische Rätsel einer Frau, die liebt und betrügt, verlockt und entgleitet, sich der innigen Anbetung versagt und der klirrenden Gewalt nachläuft. Nach ihrem Namen heißt dann auch die Komödie »Josephine«; denn Bahr muß doch, trotz jener Vorrede, schließlich verspürt haben, wie ihn seine Art und sein Talent von der vorgefaßten Absicht weggeführt und in eine viel jugendlichere Schönheit verlockt haben. Die weltweise Absicht, die nicht ganz so kann, wie sie möchte, entschließt sich bald zu leichtsinniger Verwegenheit und löst sich endlich in allerkecksten Witz auf. Eine Szene von so übermütiger Ironie, wie das Gespräch zwischen Napoleon und Talma, findet sich nicht bald wieder in einem deutschen Lustspiel. Das ist die helle, freche Wiener Stimmung aus der Zeit der hitzigen Kämpfe und der lauten Erfolge. Das ist die theaterfrohe Geschmeidigkeit, die in Masken denkt, in Pointen empfindet und das ganze Leben als eine schön verschlungene Kette von sinnreichen Antithesen und dialektischen Auflösungen ansieht. Denn dieses Stück mit seinen Namen und Behelfen aus der großen französischen Geschichte ist nur eine kostümierte Wiener Komödie; freilich eine der feinsten und gefälligsten, die wir überhaupt haben.

Wiener Stimmung und Theaterfreude; das verfließt ihm an seinem hohen Lebensmittag nicht selten in eins; und seitdem liebt er es auch, die Menschen und Dinge des Theaters in dichterischer Gestaltung auszudeuten. Mit angespannter Lust ergibt er sich der Betrachtung dieser sonderbaren Welt, in der sich die Wirrsal, Gemeinheit und Erhabenheit unseres ganzen Daseins so unheimlich verzerrt widerspiegelt. Das seltsam unregelmäßige und wechselnde Verhältnis von Geist zu Talent, von Talent zu Erfolg, von äußerem Erfolg zu persönlicher Würde, von persönlicher Würde zu menschlichem Gefühl reizt ihn immer wieder und immer unter anderen Masken. Von diesen Dingen handelt das »Tschaperl«. (Es war das erste Stück von Bahr, das an einem regulären Theater aufgeführt wurde.) Ein paar auffallende Ereignisse und spaßhafte Erscheinungen unter den Leuten der Wiener Theater gaben den Stoff, in den Bahr nun seine spöttischen oder lehrhaften Betrachtungen über den Austausch der künstlerischen und der menschlichen Kräfte zwischen Schaffenden und Führenden, zwischen Naivität und Routine, zwischen Weibern und Männern einsenkt. Natürlich hat er auch hier wieder seine Theorie: daß nämlich gewisse unberatene Talente eine Zeitlang Vorspann brauchen, so eine Art Manager, der sie hinaufbefördert, wo sie der Allgemeinheit erst sichtbar werden. Dann aber, wenn der letzte, steilste Aufstieg anfängt, gilt es im rechten Augenblick die erschöpfte Hilfskraft zu entlassen und den Vorspann zu wechseln; sonst kommt man nicht weiter. Aber diese Theorie, die sich so kühl und klar zu geben meint, kann sich gegen den freundlich lächelnden Dialog, gegen die behagliche Führung der Szene nicht zur Form durchsetzen. Und die Komödie, deren erregende Idee so stark nach Berlin schmecken möchte, hat endlich das liebe, breite Gesicht eines guten Wiener Volksstückes. Denn hieher, ins Volksstück, reicht die andere Wurzel der modernen Wiener Komödie. Dieses gab dem kleinen Bürgertum, was das Salondrama der großen Bourgeoisie zu geben hatte: Trost und Rechtfertigung in den Kämpfen um den Bestand seiner sozialen und moralischen Unterlagen. Nur, weil diese Bestände noch viel unsicherer sind als die Sitten und Ideen der großbürgerlichen Welt, mußte auch das Volksstück, solange es trostreich und versöhnlich blieb, von den dicksten Lügen leben. Als aber der Spießer von Wien alle Gemütlichkeit verloren und die verzweifelte Brutalität zum Programm seines Lebens und seiner Politik gemacht hatte, da brachten die Theater auch für ihn eine neue Form: das rücksichtslose Volksstück. Es achtet nicht mehr auf einen guten Ausgang, arbeitet lieber in Verzweiflung und Verdammung, kann aber doch, im Strich der Figurenzeichnung, im episodischen Beiwerk, im lässigen Gang der Auftritte selbst, seine frühere Gutmütigkeit nicht ganz verleugnen. Auch auf diesen Ursprung der modernen Wiener Komödie deutet einiges in Bahrs dramatischem Schaffen zurück. Mit hellem Sinn seinem Volkstume wieder zugewendet, konnte er natürlich auch an dem erneuten volkstümlichen Theater nicht völlig achtlos vorbei. Er hatte sich vorher schon, zusammen mit Karlweis, dem glücklichsten Erneuerer, darin versucht (»Aus der Vorstadt«, Volksstück von Bahr und Karlweis, 1893). Und spielt nun im »Tschaperl«, das doch in Stoff und Geist von ganz anderer Art ist, gerne wieder mit den Elementen dieser Form, auf die er übrigens, in Andeutungen und unbewußten Reminiszenzen, auch später und bis in die letzte Zeit noch zurückkommt.

 

Nun hat er einmal vom lebendigen Theater geschmeckt und ist ihm auf Jahre verfallen; er steht, als hitzig verehrter und grimmig beschimpfter Autor, mitten im Betrieb und findet auch da seinen eigenen Weg und seinen eigenen Ausdruck. Die neue Wiener Komödie erobert sich ihre Geltung im frischbegüterten, wohlgelaunten Bürgertum, so zwischen konservativem Patriziat und ängstlichem Kleinvolk. Sie hat im Wiener Deutschen Volkstheater Pflanzstätte und Heim, die Odilon, Kutschera und Kramer sind ihre stärksten schauspielerischen Repräsentanten; Hermann Bahr ist ihr lebhaftester schöpferischer Geist, ihr witzigster und. formenreichster Könner. Er atmet jetzt Theater ein, schreibt, spricht, denkt, fühlt Theater. Es ist sein liebstes und lockendstes Thema. Und wird ihm natürlich auch Thema einer lieben, leichten, leichtsinnigen Wiener Komödie, die aber im innersten Kern doch wieder voll Glut und Schwung ist. Diese Komödie, »Der Star«, kommt unmittelbar nach der »Josephine«. Damals wollte er ein wenig ironische Geschichtsphilosophie treiben – und es ist ein Drama starker Leidenschaften geworden. Jetzt möchte er, nicht minder ironisch, die Menschen des Theaters betrachten und ihr (unmögliches) Verhältnis zur Welt der bürgerlichen Gefühle gelassen feststellen. Aber es wird ihm wieder eine Komödie aufgereizter und irregeführter Leidenschaften. Denn selbstverständlich sind die Beispiele, die er gibt, um den brennendsten Mittelpunkt aller Lebendigkeit gestellt, um die Narretei der Liebe. Eine große Schauspielerin und ein kleiner Postbeamter: so ist das starke Gegenbeispiel konstruiert. An diesem soll gezeigt werden, daß es beim Theater nicht angeht, ganz bürgerlich verliebt zu sein. Er ist ein sehnsüchtiger Spießbürger und sie, von ihren Triumphen überfüttert und überreizt, hätte gerade Appetit auf so was Hausbackenes. So möchte man sich in aller Stille ein festes Glück einrichten, mitten unter den Narren und Gauklern, den Wüstheiten, Lächerlichkeiten, Abnormitäten des Theaters; an denen natürlich die gut bürgerlichen Absichten elend scheitern müssen. Der Beamte wird an irgendeine vernünftige Ehe, die Künstlerin wieder ganz an Rolle, Schminke, Komödie zurückgegeben. Ein wenig Wehmut bleibt; Philosophie des letzten Aktes. Aber im lebendigsten, menschlichsten Kern des Spieles steht die flammende Liebe dieser beiden als ein völlig losgelöstes Drama hoher Leidenschaften. Gegen diese Gewalt der Innerlichkeit kann die kluge Absicht rein sachlicher Darlegung nicht an. Sie zerflattert in Witz und Spott und groteske Illustration; die freilich wieder von einem so leuchtenden Geist belebt, in so zierliche Form gebracht sind, daß sich am Ende die leidenschaftlichen und die ironischen Kräfte der Komödie zu einer hochhinschwebenden Heiterkeit ausgleichen.

In diesem hellen Übermut lacht er einmal auch seinem eigenen Theaterpublikum ins Gesicht, den gutgelaunten wohlhabenden Bürgern. Die waren damals von ihm und ein paar starken jungen Künstlern in einen solchen Taumel ästhetischer Erneuerung hineingerissen worden, daß sie sich bald gar nicht mehr zurechtfanden. Das war die Zeit der durchbrechenden Sezession, die wunderschöne Zeit, da Klimt eine Losung, Olbrich ein Schlachtruf, und sein weißes Haus mit der Krone aus goldenem Lorbeer wie eine trotzige Burg der Neuen und Zeitgemäßen war. Und Hermann Bahr war in diesen Kämpfen wieder einmal Vorposten, Schlachtenlenker und Trompeter zugleich. Er organisierte und erläuterte, er überzeugte oder verblüffte, er regte an oder reizte auf; er wirkte. Und die Art der Wirkung ergab sich dann je nach den Menschen, die von ihr getroffen waren. Aufklärung, Tatfreude, Zusammenschluß; oder Abwehr, Hohn und Wut; zumeist aber – aus dem Geblüt dieses üppigen und beweglichen Bürgertumes – ein fanatischer Snobismus, der um jeden Preis bis ans äußerste mitmußte, ohne zu wissen, warum und wohin. Begreiflich, daß dem Verständigen diese geschwätzige Hohlheit, so tüchtig sie zuzeiten auch für die neue Kunst Reklame machte, auf die Dauer doch sehr zuwider war.

Das mußte er ihnen einmal ins Gesicht sagen. Und weil sich ihm damals fast alle wichtigen menschlichen Beziehungen gleich in szenischen Witz und pointierten Dialog ausformten, so machte er auch daraus eine Wiener Komödie; das sind die »Wienerinnen«. Da steht ein echter und starker Mensch, ein Wille und eine Kraft, gegen die albernen Posen und unsicheren Launen der anderen. Eine harmlose Anekdote von Verlobung, ehelichem Zank und Aussöhnung wird in drei Akte zerlegt; zugleich aber die Stellung des instinktiv Zeitgemäßen zu den armseligen Mitläufern, des Tüchtigen zu den unfruchtbaren Schwätzern, des Geraden zu den Gebrochenen und putzig Verzierten an manchem kräftigen Beispiel lebendig ausgedrückt. Und natürlich auch das Verhältnis dieses Mannes zu seiner Frau; denn es geht im Kern der Handlung wieder nur um Liebe, um die Anziehung und Feindseligkeit der Geschlechter. Zwischendurch und drüberhin treibt der Wirbel dieser satten Wiener Gesellschaft, mit ihren Typen und Fratzen und modischen Narrheiten, sezessionistisch verzerrt bis in die empfindlichsten Gefühle hinein. Sie möchten alles, was ihnen nahekommt, in ihren Schwindel hineinreißen und zu sich herunterkriegen; aber der eine, der stärker ist, lacht ihnen ins Gesicht und behauptet sein Eigenes gegen sie. Dieser typische Grundriß der neuen Gesellschaftskomödie tritt wieder in scharfer Klarheit hervor, sowie sich Bahr aus der weltweisen Ruhe geschüttelt und in die Echtheit seiner kampffrohen Natur zurückgefunden hat. Das ganze Stück handelt ja von einem Kampfe um Echtheit und Eigenheit; er wird hier als ein Spiel lustiger Masken lustig geführt.

Die Form ist jetzt entwickelt, in die Bahr späterhin und bis zuletzt noch seinen Witz und seine Weisheit dramatisch umzugießen liebt: die dreiteilig zerlegte Anekdote, deren technischer Mechanismus sich dann noch in so vielen seiner leichteren Komödien nachweisen läßt. In diesem gefälligen Wiener Stück ist also ein Typus der modernen Salonkomödie reinlich ausgeprägt und eine dauernde Form persönlichen Schaffens zum ersten Male angezeigt. In ihm ist aber auch der Wille zu gesellschaftlicher Umgestaltung, ist auch der politische Sinn des rastlos beweglichen Mannes wieder wach geworden; er blinzelt und tappt noch, um sich später ganz aufzurichten. Dieses Spiel von wienerischen Menschen weiß doch schon von dem schweren Ernst der Kämpfe, die er jetzt für die wesentlichen und entscheidenden im heutigen Österreich hält. Da redet, in hastigen ersten Bekenntnissen, der Glaube, auf dem Bahr seither unerschütterlich steht: daß es den wirklichen Menschen, die so lange bei uns verheimlicht und entstellt worden sind, endlich gelingen muß, diesem alten, absterbenden Österreich die neue Heimat zu entringen, die Heimat ihrer Kraft, ihrer Lust und ihrer Tat.


 << zurück weiter >>