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Die junge Lebenskraft hat mit der Welt leidenschaftlich Abrechnung gehalten; das Ergebnis ist eine kalte Freude am errechneten Genuß, ein gewisser Dandysmus der Sinnlichkeit. Nach dem starken Erlebnis und seiner Lehre die Erholung in kundigen Scherzen. Nach dem tragischen Roman der guten Schule die heiteren Geschichten aus dem »Fin de siècle«. Erlebnisse, Einfälle, Stimmungen aus einem ganzen Jahrzehnt dieses jungen Lebens sind in dem Buche aufgereiht. Es fängt mit sozialistischen Parabeln an. Bald aber geht der Geschmack aus dem Sozialen ins Mondäne über. Der größte Witz des Lebens ist, daß man die Weiber braucht, aber nicht fassen kann; daß man diese seltsam schönen Tiere immer noch für unseresgleichen hält; daß die Liebe, dieses böseste Unglück, den Menschen immer noch süß und begehrenswert erscheint. Anschauung und Ausdruck sind noch ganz auf Sensualismus und Impressionismus gestellt. Die Sprache ist wandlungsfähig bis an die verwegensten Grenzen. Von ihren gefährlichen Verlockungen erzählt die Fabel von »Niklas, dem Verräter«. Das ist einer, der ohne anderes Gewissen, als nur das sprachliche, von der Kraft und dem Wurf seines eigenen Ausdruckes durch alle möglichen Standpunkte, Überzeugungen, politische Programme hindurch getrieben wird, nie mit seiner Innerlichkeit, sondern nur mit der Kunst seines Ausdrucks dabei ist und sich so an jeder wirklichen Entwicklung und an jedem ehrlichen Erfolg unfehlbar vorbeiredet. Ein starkes, reizvolles Beispiel für die schauspielerische Funktion des begabten Menschen; ein paar Striche zu einem Selbstporträt, worin Bahr seine eigene Wandlungsfähigkeit aufzeichnet. Aber in jedem Werk und in jeder Wendung dieser Epoche, die so leidenschaftlich der äußeren Mannigfaltigkeit des Daseins hingegeben ist, zittert das Gefühl: daß Verwandlung der Sinn alles Lebens ist.
Ihr muß endlich auch diese ganze Anschauung und ihr künstlerischer Stil unterliegen. So gierig und so kundig der Mensch auch die Sensationen an sich gerissen und ins Bewußtsein eingeordnet hat, er muß zuletzt spüren, daß hinter alledem etwas unberührt, unbereichert und unbewegt geblieben ist. Man nennt es Seele, freut sich der neuentdeckten Unterschichte des Erlebens und sucht nun, durch alle Erfahrung und Verkündigung der Nerven, nur diesen unabänderlichen Grund der Persönlichkeit.
In Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung geübt, hat Bahr diesen Übergang in einem ganz eigenen Buch notiert; es ist die »Russische Reise«. Ein Tagebuch, in seiner äußerlich technischen Anlage; im Gehalt ein besonderes Stück Autobiographie, worin sich Erfahrung der Welt und Erforschung des Ich auf eine seltsame Art ablösen, ergänzen, widerspiegeln und – in Frage stellen. »Ich muß wieder reisen«, so beginnt er. »Es ist kein Futter mehr auf den Nerven. Der gallische und spanische und afrikanische Proviant ist lange aufgezehrt. Das ewige Wiederkäuen wird verdrießlich … Reisen, nach neuen Sensationen botanisieren.« Seine bewußte Absicht geht immer noch auf die Sensation. Aber die Reise wird nicht, wozu sie bestimmt war. Die Impressionen versagen. Es ist deutlich zu merken, daß die Kraft des Eindrucks eine andere Richtung annimmt. Überall offenbaren sich neue Ziele, die früher kaum gegolten haben. »Ich habe manchmal das Gefühl, als ob hinter der vergnügten Nervengymnastik und allen lebemännischen Schlauheiten noch irgend etwas in der Seele wäre, irgend etwas ganz anderes, das sich spröde zurückhält und in stummer Hoheit wartet, bis seine Zeit gekommen sein wird.« Aber diese Zeit ist schon da, und nur die Erkenntnis zögert noch.
Sie wird auch diesmal von einem erotischen Erlebnis aufgeweckt; aber ganz leise, gütig und zart, ohne Riß an den Nerven und ohne Sturm im Gemüt. Die lebendige Seele dieses Buches und seiner ganzen Stimmung ist eine liebe junge Person, die immer nur »das kleine Fräulein« genannt wird. Ihr wirklicher Name, ihre ganze bürgerliche Existenz erscheint auf allen diesen Blättern gar nicht. So wirkt sie, von aller nüchternen Deutlichkeit losgelöst, nur als das leicht hinschwebende Element der Beruhigung, Güte und stillen Einkehr. Es gibt wieder eine schönere, friedlichere Art, das Wesen der Welt zu erleben. Noch balgt er sich heftig und in immer erneuten Widerständen mit dem, was er den Philister, den sentimentalen Deutschen, den hausbackenen Banausen in seiner Seele nennt. Aber er kann ihn doch nicht niederringen; denn das eingeborene Gefühl ist stärker als die angenommene – und fast schon überwundene – Form der Persönlichkeit. Endlich klärt es sich bis zu hellem sicheren Bewußtsein.
Die kleine verliebte Geschichte ist zu Ende. Als Gewinn bleibt die Einsicht, daß es hinter dem reizvollen Wechsel der Sensationen und Impressionen die Möglichkeit dauernden, höher gearteten Erlebens gibt. Aus den Formen der romanischen Verfeinerung und der keltischen Wandelbarkeit bricht nun die deutsche Sehnsucht nach dem Übersinnlichen nur um so stärker und bewußter hervor. Aber darum muß der Erwerb der sinnlichen Lebenskünste noch nicht vergessen und verworfen sein. Das neue Bild der Welt baut sich aus Eindruck und Gefühl, aus Sinnlichem und Seelischem auf, in einheitlichem Gleichgewicht. Die Rückkehr in menschliche Gemeinschaften ist erobert, Entdeckungen in lange vertrauten Bezirken, die schon abgegrast und unfruchtbar zu sein schienen, bereiten sich vor. Eine ungeduldige Freude, wieder nach Wien, dem alten, lustigen, unerschöpflichen Wien zurückzukommen, stößt zuletzt ihren hellen Ruf aus: »Und wer weiß, wenn ich erst wieder in Wien bin, – mein liebes süßes Wien, … wo der Tanz niemals verstummt und die Küsse nicht rasten … und es ist, über den hellen, stolzen, festlichen Palästen, ewig zwischen Rosen und Jasmin wie ein holder Reigen loser, runder Liebesgötter durch die milde, buhlerische Luft! Wer weiß, ob es mir den neuen Menschen nicht gleich am ersten Tage auf fächelnden Walzern wieder verweht?«
Aber der neue Mensch, der eigentlich der alte war, hielt aus. Und sah das alte Wien neu.