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Unten auf der Landungsbrücke war eine Gesellschaft von Herren und Damen versammelt; es war die Gesellschaft, welche die Segelfahrt mit Agathens Yacht machen sollte; man wartete nur auf Paulsbergs, die noch nicht gekommen waren. Irgens war bereits ungeduldig und sagte Spitzfindigkeiten: ob es nicht am besten wäre, den Kutter selbst zu Paulsbergs hinauf zu schicken und sie ehrerbietigst holen zu lassen? Als Paulsberg und Frau endlich kamen, ging man sofort an Bord und kreuzte aus dem Fjord hinaus.
Tidemand hatte das Steuer. Ein paar von Oles Speicherleuten waren als Mannschaft mit. Ole hatte diese Fahrt wirklich aufs beste arrangiert und einen ausgesuchten Proviant mitgenommen; an alles hatte er gedacht, ja, nicht einmal den gebrannten Kaffee für Irgens hatte er vergessen. Coldevin zu finden, war ihm jedoch nicht möglich gewesen, und Gregersen einzuladen, hatte er absichtlich unterlassen; Gregersen hätte leicht irgend ein Telegramm aus Rußland gesehen haben können.
Tidemand sprach nicht, er sah aus, als hätte er eine durchwachte Nacht hinter sich, jetzt vielleicht zwei durchwachte Nächte. Als Ole fragte, wie es ihm gehe, entgegnete er, es gehe an, entgegnete lächelnd, es gehe an. Übrigens bäte er, den Platz am Steuer behalten zu dürfen.
Der Kutter steuerte nach den Scheeren hinaus.
Frau Hanka saß ganz vorn, ihr Gesicht war frisch, den Pelzmantel hatte sie ganz lose um sich geworfen, und Milde bemerkte, das sei malerisch.
»Wenn es übrigens doch schon Pjolterzeit wäre!« sagte er laut lachend.
Ole holte sofort Flaschen und Gläser hervor. Er ging zwischen allen umher und packte Schals und Decken um die Damen. Ja, sie sollten nicht lachen, die Sonne scheine allerdings, aber auf der See zöge es! Ole hielt sich meist im Achter, wiederholt bot er Tidemand an, ihn am Steuer abzulösen, aber Tidemand lehnte es ab. Nein, es sei eine wahre Wohltat für ihn, dort stehen zu bleiben, dann brauche er nicht zu plaudern; dazu tauge er heute so wenig.
»Verlier den Mut nur nicht gänzlich. Hast du etwas Näheres gehört?«
»Nur die Bestätigung. Morgen haben wir es offiziell. Ja, beunruhige dich jetzt nicht deshalb, ich habe mir über Nacht meine Linie klar ausgesteckt und bin mit allem im reinen. Ja, ich hoffe mich noch einigermaßen zu retten.«
Vorne kam man sehr bald in Stimmung. Öjen war seekrank und trank, um sich zu helfen; er konnte sich nicht aufrecht halten, er war sehr mitgenommen.
»Schön, daß Sie wieder nach Hause gekommen sind, Öjen,« sagte Frau Hanka, um ihn zu trösten. »Sie haben noch immer Ihr kleines Mädchengesicht, aber zum Glück ist es nicht mehr so bleich, wie früher …«
»Bitte um Entschuldigung,« rief Frau Paulsberg schonungslos, »ich habe ihn nie bleicher gesehen als jetzt.«
Nach dieser Anspielung auf seine Seekrankheit ertönte ein allgemeines Gelächter. Frau Hanka fuhr zu reden fort: Ja, sie kenne seine letzte Arbeit von Thorahus, dies Gedicht von den alten Erinnerungen. Man müßte jedenfalls zugeben, daß er nicht vergebens auf dem Lande gewesen sei.
»Sie haben mein Gedicht noch nicht gehört,« sagte Öjen mit schwacher Stimme, »es ist ägyptisch und spielt in einer Grabkammer …« Und krank und elend wie er war, suchte er in allen Taschen nach seinem Gedicht. Was hatte er nur damit gemacht? Er hatte es am Morgen zurechtgelegt, um es mitzunehmen, hatte gedacht, irgend jemand könne es vielleicht gern anhören wollen; er dürfe wohl sagen, es sei in seiner Art ziemlich merkwürdig. Aber er habe es vermutlich doch liegen lassen. Er könne doch nicht glauben, daß er es verloren, fortgeworfen habe?
Nein, sagte Frau Hanka, er habe es natürlich zu Hause vergessen, er würde sehen, es läge sicherlich auf dem Tische. Und sie tat alles mögliche, um die bösen Ahnungen des armen Dichters zu verjagen: er fühle sich gewiß wohler in der Stadt, als auf dem Lande?
Ja, ach ja. Kaum sei er wieder in den Straßen gewesen und habe die geraden Linien gesehen, als es in seinem Hirn zu wogen begann und er das ägyptische Gedicht in Prosa konzipierte: Nein, er hätte es doch wohl nicht verloren …
Jetzt war auch Milde auf Öjens Seite, er begann ihn vollauf anzuerkennen. Ja, jetzt sei ihm endlich der Blick für die feine Eigenart seiner Poesie aufgegangen. Irgens aber, der daneben saß und dies seltsame Lob hörte, beugte sich zu Frau Hanka hinüber und sagte gedämpft:
»Verstehen Sie? Jetzt hat Milde ja das Stipendium bekommen, er hat nichts mehr von seinem gefährlichen Mitbewerber Öjen zu befürchten.« Und Irgens kniff den Mund zusammen und lachte.
Frau Hanka sah ihn an. Wie bitter er fortwährend war, und wie schlecht es ihn kleidete! Er wußte es selbst nicht, sonst würde er den Mund nicht so zusammenkneifen und so gehässige Blicke werfen. Im übrigen beobachtete er während der ganzen Zeit sein gewöhnliches Schweigen; an Agathe richtete er nicht ein Wort, sondern tat, als ob sie gar nicht da sei. Was hatte sie ihm getan? Hätte sie anders handeln können, als sie getan? Weshalb überlegte er gar nicht?
Aber er sah sie nicht an.
Der Kaffee wurde an Bord gekocht, aber aus Rücksicht auf Öjen, der immer noch stark seekrank war, wurde beschlossen, ihn auf der ersten besten Scheereninsel zu trinken, bei der man ankam. Und der Kutter legte an. Man lagerte sich auf den Steinen, warf sich platt auf die harten Kiesel und lärmte. Dies war lustig, – dies war frisch! Öjen sah mit großen, verwunderten Augen auf alles, auf das Meer, auf die Wellen, die mit ihrem Brausen die Luft schwer machten, auf diese öde Insel, auf der nicht ein Baum wuchs, und wo Sonne und Seewasser das Gras verbrannt hatten. Wie war es doch wunderbar! Agathe ging mit Tassen und Gläsern umher, ihre winzigen Hände hatten allzu große Angst, daß sie etwas fallen lassen könnten; sie ging so vorsichtig, als ob sie balancieren müsse, und dabei steckte sie die Spitze der Zunge heraus.
Milde brachte eine Gesundheit auf sie aus. »Hast du keinen Champagner?« fragte er Ole.
Und der Champagner wurde gebracht, die Gläser gefüllt und die Gesundheit mit lautem Hurra getrunken. Milde war in bester Laune, er schlug vor, daß man die Flasche zukorken und mit einem Zettel ins Meer werfen solle, auf den alle ihren Namen schreiben müßten, Damen und Herren, bitte.
Alle schrieben, mit Ausnahme von Paulsberg, der sich entschieden weigerte. Ein Mann, der so viel schrieb, wie er, schreibe doch nicht zum Spaß noch auf Zettel, sagte er. Darauf erhob er sich und ging ganz allein weiter in die Insel hinein.
»Dann schreibe ich seinen Namen dazu,« sagte Milde und griff nach dem Bleistift.
Aber jetzt rief Frau Paulsberg ärgerlich:
»Was wollen Sie tun? Ich hoffe, Sie unterlassen das. Paulsberg hat gesagt, das er seinen Namen nicht dabei haben will, das muß uns genug sein.« Die Frau hatte geradezu eine beleidigte Miene aufgesetzt; sie legte ein Bein über das andre und nahm wie gewöhnlich die Kaffeetasse, als ob es ein Pjolterglas wäre.
Milde machte sofort eine Entschuldigung; es würde ja nur ein Scherz gewesen sein, meinte er, ein harmloser Schelmenstreich. Bei näherer Überlegung müsse er zugeben, daß die Frau recht habe; es sei ein dummer Einfall gewesen, Paulsberg könne dergleichen nicht tun, kurzum … Übrigens fände er, es sei gar kein Spaß mehr dabei; er schlüge vor, die Sache mit der Flasche zu unterlassen. Wenn Paulsbergs Namen nicht dabei sei, so … Was die andern meinten?
Aber Irgens war nicht mehr imstande, sich noch länger zurückzuhalten, er hielt sich die Nase zu und lachte Milde verbissen aus!
»Hehehe. Herr Stipendiat, du bist göttlich!«
Herr Stipendiat. Er konnte das Stipendium noch immer nicht vergessen.
»Und du,« entgegnete Milde aufgebracht und sah ihn mit seinen weinstarren Augen an: »es wird immer unmöglicher, mit dir zusammen zu sein.«
Irgens tat erstaunt:
»Wieso? Ich glaube an deinem Tonfall zu bemerken, daß meine Worte dir mißfallen haben?«
Jetzt mußte Frau Hanka vermitteln. Weshalb denn in aller Welt auch auf einer Segeltour zanken! Es sei nicht angenehm, nein, wirklich nicht. So, wenn sie jetzt nicht Frieden hielten, würden sie untergetaucht!
Und Irgens schwieg augenblicklich; er murmelte nicht einmal etwas zwischen den Zähnen, wie er zu tun pflegte, wenn er boshaft war. Frau Hanka versank in Nachdenken: wie hatte ihr Held und Dichter sich seit wenigen kurzen Wochen verändert! Woher kam dies alles! Wie gebleicht seine dunkeln Augen waren? Sein Schnurrbart hing schlaff herab, er hatte an Frische verloren, sein Gesicht war nicht so bezaubernd wie früher. Aber dann gedachte sie seiner Enttäuschungen, seines Kummers über das Stipendium, das er nicht erhalten hatte, über das Buch, diese schöne Gedichtsammlung, die man mit so boshafter Berechnung totschwieg. Sie beugte sich zu Agathe hinüber und sagte:
»Irgens ist leider bitter geworden; Sie haben es wohl bemerkt? Aber es wird wohl wieder vorübergehen.« – Frau Hanka wollte ihr Bestes für ihn tun, ihn einfach entschuldigen; in der Güte ihres Herzens sagte sie dasselbe, was sie Irgens selbst so oft unter vier Augen hatte sagen hören: es sei doch nicht zu verwundern, wenn er bitter würde; vor einer Bitterkeit, wie die seine, müsse man Respekt haben. Nun hatte er sich jahrelang trotz seines großen Talents abgemüht und gearbeitet, und das Land, der Staat trat nicht für ihn ein.
»Ja, denken Sie nur!« sagte auch Agathe. Mit einem Mal sah Fräulein Agathe ein, daß sie gegen diesen Mann nicht gewesen sei, wie sie hätte sein müssen und sein sollen, sie war unzart gewesen, ja grob; sie hatte ihn unnötig rücksichtslos abgewiesen. Sie hätte es so gern ungeschehen gemacht, aber jetzt war es zu spät.
Jetzt kam Paulsberg von seiner einsamen Wanderung zurück und meinte, man solle sehen, bald wieder nach Hause zu kommen. Man sei nicht sicher vor Regen, glaubte er, es sähe nach allem möglichen aus. Die Sonne sei übrigens beinahe schon untergegangen, und es wehe auch ziemlich stark.
Agathe ging noch einmal mit den Tassen umher und bot Kaffee an. Ganz unmerklich beugte sie sich zu Irgens nieder und sagte:
»Und Sie, Herr Irgens?«
Dieser beinahe flehende Ton machte, daß er zu ihr aufblickte. Er danke für Kaffee; aber er lächelte verwundert, als er sie ansah. Sie hätte jubeln mögen, sie wußte nicht, ob sie das Brett noch länger in den Händen halten sollte, und stammelte:
Er sah sie noch einmal an und sagte: »nein, danke.«
Auf dem ganzen Heimwege war Irgens wie ein andrer Mensch; er sprach, unterhielt die Damen, stand sogar dem armen Öjen bei, der wieder ganz steif vor Übelbefinden dalag. Milde hatte abermals eine Flasche vor sich unter dem Vorwand, daß es wieder die richtige Zeit sei, Pjolterzeit, und Irgens trank mit ihm, einzig und allein, um sich angenehm zu machen. Frau Hanka strahlte, auch sie war vergnügt wie ein Kind; mit einem eigentümlichen und raschen Gedankenübergang sagte sie plötzlich zu sich selbst, sie wolle bestimmt nicht vergessen, noch heute Abend wieder etwas Geld von ihrem Manne zu erbitten, einhundert Kronen, oder zwei.
Auch auf der Heimfahrt nahm Tidemand das Steuerruder und war nicht zu bewegen, es loszulassen; er achtete auf Segel und Wellen und sprach nicht ein Wort. Er nahm sich gut aus mit dem Ruder in der Hand; das leicht ergraute Haar kleidete ihn, seine Gestalt tauchte in der Luft auf und nieder. Seine Frau rief ihm einmal zu, ob ihm kalt sei, eine Aufmerksamkeit, an die er fast nicht glaubte, und deshalb tat er, als ob er es nicht gehört habe.
»Er hört nicht,« sagte sie lächelnd. »Friert dich, Andreas?«
»Frieren? Nein,« antwortete er.
Und bald stand die Gesellschaft wieder auf der Landungsbrücke.
Öjen war kaum an Land gestiegen, als er auch schon nach einem Wagen rief. Er müsse augenblicklich nach Hause, um nach seinem Gedicht zu sehen und sein Schicksal sich entscheiden zu lassen. Er habe keine Ruhe, bevor er Gewißheit habe, sagte er. Aber vielleicht könne er später mit der Gesellschaft zusammentreffen. Ob sie ins Restaurant gingen?
Man sah sich fragend an und wußte nicht, wohin. Dann sagte Ole Henriksen, er für sein Teil wolle nach Hause; er dachte an Tidemand und wußte, daß wenn jemand der Ruhe bedürfe, er es sei. Frau Hanka dachte an das Geld, um das sie bitten wollte, und begleitete ihren Mann. Die Gesellschaft trennte sich vor Tidemands Wohnung.
Frau Hanka ging direkt auf die Sache los, noch bevor der Mann die Tür geöffnet hatte.
»Willst du so freundlich sein und mir hundert Kronen geben?«
»Hundert Kronen? Hm. Jawohl. Aber willst du nicht mit ins Kontor kommen? Ich habe kein Geld bei mir.«
Sie gingen ins Kontor.
Er reichte ihr den roten Schein. Seine Hand zitterte stark.
»Hier,« sagte er.
»Danke … du zitterst so?« fragte sie.
»Hm! Das kommt wohl vom Steuer, das ich den ganzen Tag gehalten habe … Hm! Ich habe dir eine erfreuliche Nachricht zu bringen, Hanka: du hast mich so oft um Scheidung gebeten; jetzt muß ich darauf eingehen, in Gottes Namen … Ich gehe also darauf ein.«
Sie traute ihren eignen Ohren kaum. Er ging darauf ein, sich scheiden zu lassen? Sie sah ihn an, er war außerordentlich bleich und sah zu Boden. Sie standen jetzt zu beiden Seiten des großen Pultes.
Er sprach weiter:
»Die Verhältnisse machen es jetzt … Mein großes Roggengeschäft hat schlecht geendet, und ich bin, wenn nicht total bankrott, so doch ein armer Mann. Ich brauche vielleicht nicht zu schließen, das ist alles. Aber ich bin jetzt nicht mehr reich genug, um diese Lebensweise aufrecht zu erhalten. Ich kann es auch nicht mehr verantworten, dir wie eine Kugel an den Füßen zu hängen, wenn ich dir kein besseres Leben schaffen kann.«
Sie stand da und hörte diese Worte wie einen fernen Laut. Im ersten Augenblick hatte sie ein unbestimmtes Gefühl von Freude, sie war frei, sie konnte loskommen von allem, was ihr nun schon seit langer Zeit so grauenhaft zuwider gewesen war, sie konnte wieder Mädchen sein, Hanka Lange, ja, ganz einfach Hanka Lange! Und als sie hörte, daß der Gatte beinahe bankrott sei, erschütterte es sie nicht besonders; er brauche nicht einmal zu schließen; er besaß kein Vermögen mehr, aber er stand doch nicht da ohne Haus und Heim; es hätte noch schlimmer sein können.
»So –,« sagte sie nur, »so?«
Pause. Tidemand hatte seine Ruhe wiedererlangt und stand wieder da wie draußen auf der Yacht, gleichsam mit dem Steuer in der Hand, sein Blick haftete auf ihr. Sie sagte also nicht nein, sie hatte sich nicht anders entschlossen! Ach nein, das war auch wohl nicht zu erwarten gewesen!
»Weiter habe ich dir nichts zu sagen, Hanka,« sagte er dann.
Seine Stimme war ungewöhnlich ruhig, beinahe befehlend; und da fiel ihr auf, daß diese Stimme seit drei Jahren nicht zu ihr gesprochen habe. Seine Kraft war merkwürdig.
»Willst du es denn?« fragte sie. »Wollen wir uns also trennen? Ja, ja. Aber … du wirst es wohl überlegt haben, so daß du es nicht nur tust, um mir zu Willen zu sein.«
»Selbstverständlich tue ich es, um dir zu Willen zu sein; du hast mich so oft darum gebeten, und ich habe mich dem leider immer widersetzt, bis auf den heutigen Tag.« Und ohne Groll fügte er hinzu: »Ich bitte dich, verzeih mir, daß du so viel Zeit durch mich verloren hast.«
Nun wurde sie aufmerksam:
»Durch dich? Zeit durch dich verloren?«
»Nicht? Jedenfalls doch das ganze letzte Jahr.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst,« sagte sie ziemlich ungeduldig.
Hierauf achtete er nicht und antwortete auch nicht darauf. Hatte sie nicht unaufhörlich die Scheidung verlangt? Hatte sie also nicht die Zeit durch ihn verloren? Er knöpfte sich den Rock auf und machte mit vollkommener Seelenruhe ein Kreuz in seinen Taschenkalender.
Diese Beherrschung, die sie früher niemals an ihm wahrgenommen hatte, war ihr nicht entgangen; darum sagte sie:
»Mich deucht, du bist so verändert …«
»Ach ja, man wird grau, aber …«
»Nein, du mißverstehst mich,« unterbrach sie ihn.
Da sagte Tidemand langsam und blickte ihr dabei in die Augen:
»Aber wollte Gott, du hättest mich so gut verstanden, wie ich dich, Hanka! Dann hätte unsre Verbindung vielleicht nicht so geendet … Ja, ja, nun müssen wirs nehmen, wie es ist; jedenfalls weiß ich mir keinen Rat mehr.« Er knöpfte seinen Rock wieder zu, wie wenn er gehen wollte, und sagte: »Und was das Geld betrifft …«
»Ja, Bester, hier ist das Geld,« sagte sie und wollte ihm den Hundertkronenschein wiedergeben.
Zum erstenmal machte er eine heftige Bewegung mit dem Kopfe:
»Nicht von diesem Gelde rede ich. Sei so freundlich und gib dir jetzt wenigstens ein bißchen Mühe, mich zu verstehen … Das Geld, das du zum Leben haben mußt, soll dir zugeschickt werden, sobald du deine Adresse angibst.«
»Aber, mein Gott,« sagte sie verwirrt, »muß ich fortreisen? Ich kann doch wohl in der Stadt bleiben? Was soll ich denn tun?«
»Was du willst. Die Kinder müssen wohl hier bleiben, nicht wahr? Ich werde schon für sie sorgen, daraus kannst du dich ruhig verlassen. Aber was dich selbst betrifft, so … Du mietest dir irgendwo ein paar Zimmer, nicht wahr? Es sind drei Jahre, weißt du, drei Jahre.« Nach norwegischem Gesetz dürfen geschiedene Ehegatten sich erst nach drei Jahren wieder verheiraten.
Sie stand noch immer mit der roten Banknote in der Hand und sah sie an. Es war ihr unmöglich, einen Gedanken zu fassen; es schwirrte ihr vor den Augen; im innersten Herzen aber empfand sie etwas wie Freude darüber, daß sie frei geworden war. Sie sagte nichts; und er wollte ein Ende machen, um seine Gemütsbewegung nicht Herr über sich werden zu lassen.
»Nun will ich dir also danken, Hanka, für …« Er kam nicht weiter, sondern reichte ihr nur die Hand, die sie nahm. »Wir sehen uns wohl noch; aber ich will dir trotzdem jetzt danken, denn jedenfalls bleiben wir nicht mehr zusammen … Das Geld soll dir jeden Monat geschickt werden.«
Dann setzte er den Hut auf und ging zur Tür. Sie folgte ihm mit den Blicken. Und das war Andreas?
»Ja, ja,« sagte sie, du willst wohl gehen; ich halte dich hier nur auf. Ja, also machen wir es so … Ich weiß übrigens gar nicht, was ich sage …« Ihre Stimme zitterte plötzlich.
Mit bebenden Händen öffnete Tidemand die Tür und ließ sie vorausgehen. Dann blieb sie an der Treppe stehen und ließ ihn vorausgehen. Als er oben auf dem Flur stand, wartete er einen Augenblick, bis sie nachkam; dann öffnete er das Entree mit seinem eignen Schlüssel und hielt die Tür für sie offen. Als sie drinnen war, sagte er:
»Ja, ja, also gute Nacht.«
Und Tidemand ging die Treppe wieder hinunter, ins Kontor, wo er sich einschloß. Er stellte sich mit den Händen auf dem Rücken ans Fenster und starrte auf die Straße hinauf ohne etwas zu sehen. Nein, sie hatte sich durchaus nicht anders besonnen, wie es ja möglich gewesen wäre; sie schwankte nicht. Nein, wahrlich nicht. Ja, dort stand sie vorhin, den Ellbogen auf das Pult gestützt, sie hörte, was er sagte, und antwortete darauf: ja, dann machen wir es also so. Nein, kein Schwanken … Aber ebensowenig hatte sie vor Freude aufgeschrieen. O nein, das hatte sie ihm doch erspart, er mußte gestehen, s o rücksichtsvoll war sie gewesen. O, Hanka war stets fein, Gott sei ewig mit ihr! Just dort hatte sie gestanden, Hanka, Hanka! … Aber jetzt freute sie sich doch wohl. Ach ja, weshalb auch nicht? Sie hatte ihren Willen bekommen … Und die Kinder lagen wohl schon und schliefen beide, Ida und Johanne. Sie reichten noch nicht einmal ans Kopfkissen hinauf, so klein waren sie. Nun ja, Essen und Trinken wollte er ihnen schon schaffen; es war ja nicht zu Ende, man wurde wohl ein wenig grau, aber es war nicht zu Ende …
Und Tidemand trat vom Fenster fort und ging ans Pult. Hier stand er und arbeitete in den Büchern und Papieren bis zum hellen Morgen.
Ein paar Tage suchte Frau Hanka vergebens nach Irgens. Sie war zu ihm geeilt, um ihm von ihrem großen Glück, ihrer Freiheit, ihrer endlichen Freiheit zu berichten; aber sie fand ihn nicht zu Hause. Seine Tür war verschlossen, und wenn sie klopfte, wurde nicht geöffnet; er war also nicht zu Hause. Sie begegnete ihm auch nicht in den Restaurants. Schließlich mußte sie ihm schreiben, sich einen Tag, eine Stunde erbitten, sie habe etwas sehr Erfreuliches mit ihm zu besprechen.
Aber in diesen zwei Tagen, dieser langen Wartezeit, in der sie nichts ausrichten konnte, war ihre Freude über die Scheidung ein wenig verrauscht; sie hatte sich so oft gesagt und immer wieder gesagt, daß ihre Ehe jetzt zu Ende sei; ihre Gedanken gewöhnten sich daran, es brachte ihr Herz nicht mehr zu schnellerem Pochen. Sie sollte von ihrem Manne getrennt werden, – gut, aber sie war vorher ja auch nicht so fest an ihn gebunden gewesen. Der Unterschied war nicht so groß, daß sie sich fortwährend damit hätte beschäftigen können.
Und dazu kam, daß ein wehmütiges Gefühl sie quälte, ein Hauch von Kummer, eine gewisse Weichherzigkeit, als sie jetzt vor der Entscheidung stand und das Heim in jedem Augenblicke verlassen sollte; stärker war ihr Glück nicht geworden. Es fing plötzlich an, gleichsam wie ein wundersam starker und goldiger Geschmack, ihr Herz zu durchzucken, wenn die Kinder mit ihr plauderten oder die Arme nach ihr ausstreckten. Woher mochte das kommen? In der letzten Nacht war sie wieder aufgestanden und hatte die Kinder angesehen, während sie schliefen. Da lagen sie, jede in ihrem kleinen Bettchen; sie hatten die Decken fortgezogen, so daß sie bis zu den Armen hinauf nackt waren, aber sie schliefen trotzdem gut und bewegten Finger und Arme im Schlaf. Nein, solche Kinder! wie sie dalagen, so rosig, die Hemdchen auf der Brust, an den Armen und Beinen überall in die' Höhe gestreift! Sie packte sie vorsichtig wieder ein und verließ sie, das Haupt auf die Brust gesenkt, in stummer Erregung.
Wie würde es nun gehen, wenn sie fortzog? Wie sollte sie sich einrichten? Sie war frei, aber verheiratet, drei Jahre müsse sie warten, irgendwo zur Miete wohnen, monatlich bezahlen, Einkäufe machen. Und während dieser zwei Tage, wo sie an alles gedacht und gedacht, hatte sie niemand gehabt, mit dem sie sich hätte beraten können; Irgens war nie zu Hause gewesen, Gott allein mochte wissen, wo er war. Tidemand hatte sie nicht gesehen.
Sie machte sich auf den Weg zu Irgens, er würde ihr schon beim Zimmermieten behilflich sein und ihr auch auf beste Weise raten. Ja, ja, es war herrlich, daß dieser tägliche Zwang jetzt ein Ende hatte; ihre tiefe Unzufriedenheit hatte sie Monat für Monat, jahrelang mit sich herumgeschleppt, seit der Zeit, wo sie in die Clique gekommen war und ein andres Leben kennen gelernt hatte; jetzt war sie frei, frei und jung. Sie wollte Irgens mit dieser Freude überwältigen, er hatte so oft von Scheidung gesprochen, in stillen Stunden, wenn sie allein waren …
Und endlich war Irgens zu Hause.
Sie fing sofort an, ihm die Neuigkeit mitzuteilen, erzählte, wie es zugegangen sei, daß Tidemand jetzt nachgegeben habe, wiederholte seine Worte und rühmte seine Überlegenheit; sie beobachtete Irgens' Gesicht, ihre Augen funkelten. Irgens legte keine große Freude an den Tag, er lächelte, sagte ha und ja, fragte, ob sie nun zufrieden sei. Sie würde also geschieden? Sieh doch einer an! Ja, darin täte sie recht, es hätte auch keinen Sinn, sich das ganze Leben hindurch zu quälen … Aber er blieb auf dem Stuhl sitzen und sprach ganz ruhig über die Sache.
Sie wurde von bangen Ahnungen erfüllt; ihr Herz begann zu pochen.
»Aber es scheint dich nicht glücklich zu machen, Irgens?« sagte sie.
Er lächelte wieder:
»Glücklich? O doch. Natürlich. Liebste, glaubst du, ich sei nicht glücklich? Du hast so lange gewünscht, diese Verbindung gelöst zu sehen, sollte ich da nicht … Doch, davon kannst du überzeugt sein.«
Lauter schöne Worte, ohne Glut, ohne Begeisterung. Er tastete sich durch, sie hörte es sehr wohl. Was, in Gottes Namen, war denn geschehen? Liebte er sie jetzt nicht mehr? Sie saß da mit ihrem schweren Herzen und wollte versuchen, Zeit zu gewinnen, sich zu beruhigen. Sie sagte:
»Aber, Liebster, wo bist du die ganze Zeit gewesen? Dreimal habe ich hier vor der Tür gestanden und dich nicht zu Hause gefunden.«
Aber darauf antwortete er wieder suchend, überlegend, das müsse ein Zufall gewesen sein, ein reines Unglück; er sei dann und wann aus gewesen, aber meistens habe er sich doch zu Hause aufgehalten. Wo hätte er sonst sein sollen? Nirgends.
Nein, das glaube sie ja auch, aber –
Pause. Dann gab sie ihren Gefühlen vollständig nach und sagte atemlos:
»Ja, Herrgott, Irgens, jetzt bin ich aber dein, ich werde geschieden; ich bleibe nicht länger im Hause. Und du dankst mir doch wohl dafür, wie? Denn jetzt bleibe ich nicht länger im Hause. Es dauert noch drei Jahre, aber …«
Sie hielt von selbst inne; sie sah es seinem Gesicht an, daß er sich wand, daß er sich gleichsam darauf vorbereitete, den Sturm vor Anker auszuhalten. Ihr Entsetzen stieg, als er nicht antwortete, nicht ein Wort. Es entstand abermals eine Pause.
»Ja, Hanka, das ist nicht gut,« sagte er endlich. »Du hast mich also dahin verstanden, daß, wenn du geschieden sein würdest, so –; daß, wenn du nur geschieden wärest, dann … Ich gebe zu, buchstäblich genommen, hast du recht, ja, ich kann etwas Derartiges gesagt haben, das ist wohl wahr, einmal und viele Male …«
»Aber sag doch,« rief sie beklommen, »wir haben doch nie etwas andres gemeint, nicht wahr? Wie, Irgens? Denn du hast mich ja lieb, das muß ich glauben. Du bist heute so seltsam.«
»Leider, es ist nicht alles, wie es früher war.« Er blickte betrübt fort und suchte nach Worten, es durchfuhr ihn ein Zucken. »Ich will dir nichts vorlügen, Hanka, ich bin nicht mehr so verliebt in dich, wie ich es war. Es wäre unrecht, es zu verbergen, ich kann es auch nicht, vermag es nicht.«
Das verstand sie; es waren klare Worte. Und mit einem stillen Neigen des Kopfes, verloren, verzagt, flüsterte sie einige halbe Worte:
»Sa, ja, ja, ja, ja! Vermag es nicht. Nein. Denn es ist unwiderruflich vorbei …«
Und stumm saß sie da.
Plötzlich wendete sie den Kopf und sah ihn an, die kurze Oberlippe war noch ein wenig aufgeworfen, und dahinter sah man die Zähne. Sie versuchte zu lächeln und sagte leise:
»Es ist doch wohl nicht ganz vorbei, Irgens? Bedenk, ich habe so viel aufs Spiel gesetzt …«
Und er schüttelte den Kopf.
»Ja, es ist wirklich schlimm, aber … Weißt du, an was ich jetzt eben gedacht habe, als ich dir nicht antwortete? Daß du sagtest: unwiderruflich vorbei. Ob man das sagen könne, ob es gut ausgedrückt sei. So wenig bin ich bei der Sache, dieser Abschluß ergreift mich nicht, ich bin nicht ergriffen. Du siehst also selbst ein …« Und als wäre ihm darum zu tun, diese Gelegenheit gut auszunützen, fuhr er fort: »Sagtest du, daß du dreimal hier gewesen wärest und mich gesucht hättest? Nun, daß du zweimal hier gewesen warst, das wußte ich. Ich muß es dir sagen, damit du sehen kannst, wie unmöglich es mir ist, den Zusammenhang zu verheimlichen. Ich saß hier drinnen und hörte, wie du draußen klopftest, und ich habe nicht aufgemacht. Jetzt kannst du begreifen, daß es Ernst ist … Aber, liebe, liebe Hanka, ich kann nicht dafür; du darfst nicht betrübt sein … Nicht wahr, du verstehst mich, wenn ich sage, daß unser Verhältnis mich auch ein wenig gedemütigt hat? Daß ich stets Geld von dir angenommen habe, hat mich tief gedemütigt, und ich sagte mir: dies zieht dich hinab! Nicht wahr, du verstehst, daß ein Mann mit meiner Natur – ich bin stolz, ob das nun eine Tugend oder ein Laster bei mir ist …« – Pause.
»Ja, ja,« sagte sie mechanisch, »ja, ja.« Und sie erhob sich, um zu gehen. Ihre Augen waren starr, sie sah nichts.
Aber jetzt wollte er sich erklären; sie dürfe nicht mit einem verkehrten Eindruck von ihm fortgehen, er wolle seine Gründe darlegen, sonst würde er ja eine lächerliche Persönlichkeit. So sprach er lange, erklärte alles aufs geschickteste, als ob er erwartet hätte, was kommen würde, und alles in seinem Kopf zurecht gelegt hätte. Ja, es seien eine Menge Kleinigkeiten, aber für einen Mann seiner Art bekämen die Kleinigkeiten ihre Bedeutung. Es habe überhaupt angefangen, ihm klar zu werden, daß sie nicht zueinander paßten. Sie schätze ihn allerdings, weit mehr sogar, als er verdiene, aber sie verstehe ihn vielleicht nicht ganz, er wolle ihr zwar keinen Vorwurf daraus machen, aber –, Sie sage, sie sei stolz auf ihn, sie fühle sich sehr stolz, wenn die Damen sich auf der Straße umdrehten und ihm nachsähen. Gut! Aber als Persönlichkeit schätze sie ihn vielleicht nicht genug, sie sei nicht ganz und gar von dem Gedanken beherrscht, daß er vielleicht ein nicht ganz gewöhnlicher Mensch sei. Nein, sie sei entschuldigt, ihr Verständnis für ihn gehe nicht tief genug. Sie sei nicht stolz auf ihn um das, was er gesagt oder gedacht oder geschrieben habe, nein, nicht in erster Reihe stolz darauf; aber sie merke sichs, daß die Damen ihm auf der Straße nachsähen. Und die Damen könnten doch jedem Beliebigen nachsehen, sowohl Leutnants wie Krämern. Sie habe ihm sogar einen Stock verehrt, damit er sich auf der Straße gut damit ausnähme …
»Nein, Irgens,« unterbrach sie ihn, »es war nicht deshalb, es war nicht deshalb …«
Nein, nein, vielleicht nicht deshalb, und da sie es sage … Er aber habe den Eindruck gehabt, daß es deshalb gewesen sei. Und er meinte, wenn er sich nun ohne Stock nicht gut ausnähme, so – denn Stöcke trügen ja auch die beiden armen kurzgeschorenen Schafe, mit denen Öjen immer herumzog. Kurzum, den Stock habe er dem ersten besten geschenkt … Aber es wären noch andre Dinge, andre Kleinigkeiten. Sie wollte in die Oper gehen, er konnte sie nicht begleiten, aber sie ging trotzdem, und er hätte sich gesagt: sie geht trotzdem in die Oper, trotzdem, sie besteht nicht auf meine Begleitung –, gut, es freute ihn in der Seele, freute ihn unermeßlich, und so weiter. Sie trüge ein helles Wollkleid, und wenn er mit ihr zusammengewesen sei, wären seine Kleider voll Haar und Wolle gewesen. Sie habe es nie gemerkt. Er bürstete und putzte sich noch eine lange Weile hinterher, er sähe immer aus, als habe er mit allen Kleidern im Bette gelegen; aber hätte sies gemerkt? Nie! Und er habe sich gesagt: daß sie es doch niemals merkt, es niemals sieht! So hätte sich eins nach dem andern zwischen ihn und sie gestellt, und zuletzt wäre es bis zur unüberwindlichsten Antipathie gekommen! In allem Möglichen sähe er Fehler bei ihr. Es wären hundert winzige Dinge! Vor gar nicht langer Zeit habe sie so aufgesprungene Lippen gehabt, daß sie nicht einmal hätte natürlich lachen können, und auch das habe unangenehm auf ihn gewirkt, ihm ihren Anblick gänzlich verdorben. Herrgott, sie solle nicht glauben, daß er ihr einen Vorwurf daraus mache, einen Vorwurf mache, weil sie aufgesprungene Lippen gehabt habe; das könne sie ja wirklich nicht verhindern, und so dumm sei er nicht, durchaus nicht so dumm. Aber … Und alles in allem stände es jetzt so schlimm mit ihm, daß ihm halb und halb vor ihrem Besuche gegraut habe: sie solle ihm glauben, er habe hier auf diesem Stuhl gesessen und gelitten, unsäglich gelitten, als er ihr Klopfen an der Tür vernommen habe. Aber kaum sei sie die Treppen hinunter gewesen, da habe auch er sich zum Ausgehen bereit gemacht, sei in ein Restaurant gegangen und habe mit gutem Appetit gespeist, recht gut und herzlos gespeist, ohne von Kummer über das ergriffen gewesen zu sein, was er getan hätte. Er wolle, daß sie dies wissen solle, damit sie ihn verstehen könne … »Aber, liebste Hanka, nun habe ich dir dies alles gesagt und dich vielleicht noch betrübter gemacht. Ich glaubte, es sei notwendig; du mußtest sehen, daß es wirklich seinen Grund hatte; daß ich nicht nur schwatzte. Das ist leider tief in meiner Natur begründet. Aber nimm es nicht so schwer, Liebste, laß es dir nicht allzu nah gehen, du weißt, daß ich dich trotzdem lieb habe und dir innig dankbar bin für alles; ich werde dich auch nie vergessen, das fühle ich allzu gut. Sag, daß du es mit Fassung trägst, so bin ich froh …«
Dann hielt er inne. Kein Zweifel, er hatte sich vorbereitet und ausgedacht, was er sagen würde, so genau hatte er sich der allerkleinsten Dinge erinnert. Und als er endlich schwieg, saß er noch und dachte nach, ob irgend etwas vergessen sei.
Ruhig und stumpf blieb sie auf ihrem Platz sitzen. Ja, ihre bösen Ahnungen hatten sie nicht betrogen, es war wirklich alles vorbei. Und da saß Irgens, und das und das hatte er gesagt, und an das und das hatte er sich erinnert, um sich so recht deutlich zu erklären. Er hatte so viel gesprochen, er hatte sich auch Blößen gegeben, ja, wie traurig hatte er alles zusammengescharrt, das ihn nur im geringsten rechtfertigen konnte! Nein, ihn konnte sie jetzt nicht um Rat fragen, er würde sie wahrscheinlich auf die Zeitungsannoncen, in denen zu vermietende Zimmer angeboten wurden, hinweisen, vielleicht würde er ihr raten, einen Dienstmann zu nehmen. Wie hatte er sich verloren! Er erlosch förmlich für sie, er glitt in die Ferne, sie sah ihn weit fort im Zimmer; er hatte zwei Knöpfe vorn in seinem Seidenhemd, und sein Haar war glänzend und gepflegt. Sie hatte die Empfindung, als habe seine lange Rede ihr die Augen so seltsam geöffnet; ja, er hatte sich nicht einmal gescheut, sie zu beschuldigen, weil sie im Frühling einen Sprung in der Lippe gehabt hatte. Dort saß er …
Sie war so stumpf, daß sie sich nicht einmal gleich erheben mochte, sie war leer, wie ausgehöhlt, die kleine Illusion, die sie noch aufrecht zu erhalten versucht hatte, war ebenfalls jämmerlich in Trümmer versunken. Jemand kam die Treppe herauf, und sie wußte nicht mehr, ob die Tür offen oder verschlossen sei, aber sie rührte sich trotzdem nicht; überdies gingen die Schritte vorbei, hinauf in die obere Etage.
»Liebe Hanka,« sagte er, um sie zu trösten, so gut er es vermochte, »du solltest Ernst machen und den Roman schreiben, von dem wir gesprochen haben. Kein Zweifel, du kannst es, und ich würde das Manuskript mit Freuden hinterher durchsehen. Du solltest ernstlich daran denken, es würde dich auch zerstreuen. Du weißt, ich will dir wohl.«
Ja, sie hatte auch einmal daran gedacht, einen Roman zu schreiben. Weshalb nicht? Jetzt tauchte eine Frau auf, dann tauchte eine andre Frau auf, und alle die Frauen konnten so hübsch schreiben. Ja, ihr war wirklich einmal die Idee gekommen, daß jetzt die Reihe an ihr sei! Und wie hatte man sie nicht dazu ermuntert! Gott sei Dank, sie hatte bis jetzt nicht wieder daran gedacht; Gott sei Dank!
»Du antwortest nicht, Hanka?«
»Doch,« sagte sie geistesabwesend, »doch, es liegt etwas in dem, was du sagst.«
Sie erhob sich mit einemmal und blickte gerade vor sich hin. Nein, wenn sie jetzt nur wüßte, was sie tun sollte. Nach Hause gehen? Ja, das sei wohl das beste. Hätte sie Eltern gehabt, so wäre sie vielleicht zu ihnen gegangen; aber Eltern hatte sie nicht, und sie hatte auch sozusagen niemals welche gehabt. Ja sie mußte sich zu Tidemand begeben, zu Großhändler Tidemand, wo sie gewohnt hatte …
Und mit einem gänzlich erstorbenen Lächeln reichte sie Irgens die Hand und sagte Lebewohl.
Er fühlte sich durch ihr ruhiges Benehmen so erleichtert, daß er ihre Hand sehr warm drückte. Sie war doch ein großartiges, vernünftiges Weib, das die Dinge nahm, wie sie genommen werden mußten! Keine Krämpfe, keine verzweifelten Vorwürfe; Lebewohl mit einem Lächeln. Er wollte sie in ihrem Schmerz noch weiter aufrichten und sprach, um sie nach bestem Vermögen zu zerstreuen, sprach von Dingen, die ihm selbst nahe lagen, von seinen dichterischen Plänen: ja, er würde ihr auch sein nächstes Buch schicken, darin würde sie ihn wiederfinden. Und wie gesagt, über den Roman solle sie nachdenken … Aber um zu beweisen, daß doch seine Freundschaft von Dauer sei, wenn auch ihr Verhältnis ein Ende habe, bat er sie noch einmal, mit Journalist Gregersen über eine Besprechung seiner Gedichte zu reden. Es wäre doch rein zum Teufelholen, daß nicht einmal die Besprechung käme! Aber das wäre wieder Paulsberg, der dahinter stecke; Paulsberg sei neidisch; er verhindere mit aller Macht, daß die Zeitungen sich mit andern beschäftigten, als mit ihm selbst. Ob sie ihm den großen Dienst erweisen wolle. Denn er selbst könne sich nicht herbeilassen, mit Gregersen zu reden, dazu sei er doch bei Gott zu stolz, er könne sich nicht herabwürdigen …
»Ja,« entgegnete sie mit ihrem starren Lächeln, »ich habe mit ihm gesprochen; ich besinne mich deutlich, daß ich einmal mit Gregersen über etwas Derartiges gesprochen habe.« Und ohne weiter nach rechts oder links zu blicken, ging sie durchs Zimmer zur Tür hinaus.
Aber sie war kaum draußen, als sie die Tür noch einmal öffnete und ohne ein Wort zu sprechen, wieder ins Zimmer kam. Sie trat an den Spiegel, der zwischen den beiden Fenstern hing und begann sich vor ihm zu drehen und zu wenden:
»Ja, bitte,« sagte Irgens, »hier ist der Spiegel; er ist vielleicht ein bißchen staubig, aber …«
Sie nahm den Hut ab und ordnete ihr Haar ein wenig, dann fuhr sie sich mit dem Taschentuch über den Mund. Inzwischen stand er nur und blickte sie an; sie setzte ihn in Erstaunen. Es war ja alles recht schön, große Seelenstärke zu haben und sich vom Kummer nicht niederdrücken zu lassen, aber diese Überlegenheit war nicht fein, durchaus nicht fein. Er hätte doch geglaubt, sie besäße so viel Tiefe, daß ein Bruch mit ihm ihr näher gehen würde. Und jetzt stand sie da und ordnete ihre Toilette mit der größten Sorgfalt der Welt. Er konnte diese Kaltblütigkeit nicht schätzen, sie beleidigte ihn, sie beleidigte ihn wirklich im Innersten, und tief verletzt, machte er die Bemerkung, daß er noch im Zimmer sei, merkwürdig, daß sie ihn ganz vergessen zu haben scheine …
Hierauf entgegnete sie nichts. Als sie aber vom Spiegel forttrat, blieb sie einen Augenblick mitten im Zimmer stehen, und den Blick irgendwo auf seine Stiefel geheftet, sagte sie müde und gleichgültig:
»Begreifst du denn nicht, daß ich gänzlich mit dir fertig bin!«
Aber unten auf der Straße, vom lichten Tag umschienen, mitten in dem starken Verkehr von Menschen und Wagen, brach sie zusammen und begann zu schluchzen. Sie schlug den Schleier herab und nahm den Weg durch die engsten Nebengassen, um sich zu verbergen, sie ging sehr schnell, gebeugt, gebrochen, und ihr Rücken zog sich vor Weinen zusammen. Nein, jetzt war es dunkel für sie geworden, ja, was sollte sie tun? Sie eilte weiter, verließ das Trottoir und hielt sich mitten auf der Straße, flüsternd und weinend. Konnte sie eigentlich wieder nach Hause zu Andreas und den Kindern gehen? Wie, wenn die Tür verschlossen wäre? Sie hatte zwei Tage gehabt, um Zimmer mieten zu können, und jetzt hatte Andreas vielleicht die Geduld verloren. Sie mußte sich beeilen; die Tür war vielleicht noch offen, wenn sie sich beeilte.
Jedesmal, wenn sie ihr Taschentuch hervorzog, fühlte sie, daß sie einen Brief in der Tasche hatte. Es war das Kuvert mit ihrem Hundertkronenschein; sie hatte es noch, es lag unten in ihrer Tasche und knisterte … Aber, Herrgott, wenn sie jetzt nur jemand hätte, zu dem sie gehen könnte, wenn auch nur eine gute Freundin! Und von allen den Bekannten, die sie in der Clique hatte, wollte sie niemand sehen; o nein, sie hatte genug von ihnen! Jahr und Tag war sie zwischen ihnen gewesen und hatte ihre Reden gehört und ihr Tun gesehen! Und da war Milde, und da war Paulsberg, und da war Schauspieler Norem, und Irgens und Gregersen, alle miteinander sprachen sie von ihren Angelegenheiten, und der eine saß über den andern zu Gericht und biß nach den Worten des andern. Nein, nein, mit der Clique war sie fertig; nichts würde sie wieder dorthin ziehen … Und zu Ole Henriksen könnte sie doch auch nicht gehen und um Rat bitten? Nein, nein, das konnte sie nicht …
Jetzt war Andreas wohl im Kontor und arbeitete; sie hatte ihn seit zwei Tagen nicht gesehen; es hatte sich nicht so getroffen, er war wohl beschäftigt. Und da hatte sie noch hundert Kronen von ihm angenommen, obgleich er ruiniert war. Aber nein, nein, daß sie daran nicht früher gedacht hatte! Hundert Kronen hatte sie von ihm erbeten. Ja, hatte er gesagt, sei so gut und komm mit ins Kontor, denn ich habe kein Geld bei mir. Und dann hatte er den Schrank aufgeschlossen und die hundert Kronen gefunden, vielleicht der Rest in der Kasse. Nein, Andreas, vergib das! Dann hatte er ihr den Kassenschein gereicht und nicht vergessen »bitte« zu sagen, obgleich er vielleicht kein Geld mehr besaß. Sein Haar war leicht ergraut, und er sah übernächtig aus, aber trotzdem hatte er über nichts geklagt; stolz und ruhig hatte er gesprochen. Sie war verwundert über ihn, es war, als sähe sie ihn zum erstenmal … Nein, diese hundert Kronen wollte sie wirklich nicht behalten; wollte Gott, sie hätte ihn nie darum gebeten! Vielleicht, wenn sie sie Andreas zurückbrächte, würde er es ihr verzeihen? Ach, wenn er das täte! Ob sie ihn wohl allzusehr störte, wenn sie jetzt ins Kontor ginge? Sie würde sich kurz fassen …
Frau Hanka trocknete sich die Augen unter dem Schleier und setzte ihren Weg fort. Als sie vor dem Kontor ihres Mannes stand, zuckte sie einen Augenblick zurück. Wenn er ihr nun die Tür zeigte? Er merkte vielleicht obendrein, woher sie kam. Nein, o nein, wenn er das nur nicht merkte, so mochte er ihr die Tür zeigen … Von den Kontoristen erfuhr sie, daß Tidemand in seinem Kontor sei.
Sie klopfte und lauschte. Ja, er sagte herein. Ganz still trat sie ein. Dort stand er am Pult und blickte auf; sofort legte er die Feder aus der Hand.
»Entschuldige, ich störe dich wohl,« sagte sie hastig.
»Nein,« erwiderte er wartend, »nein, durchaus nicht.« Ein Haufen Briefe lag vor ihm; hoch und aufrecht stand er da; den einen Arm auf das Pult gestützt. Nein, er war nicht sehr grau, und jetzt waren seine Augen auch nicht müde.
Sie holte ihren Hundertkronenschein hervor und sagte:
»Ich wollte ihn dir zurückgeben. Du mußt verzeihen, daß ich dich jetzt um Geld bat, wo du selbst es so sehr brauchst; es ist mir gar nicht eher eingefallen. Es war so furchtbar unrecht von mir.«
»Nein, Liebste,« sagte er und blickte sie überrascht an, »behalt du das Geld nur. Hundert Kronen mehr oder weniger machen im Geschäft doch nichts aus.«
»Aber sei so gut … Ich möchte dich bitten, es trotzdem zurückzunehmen.«
»Ih, ja, wenn du keine Verwendung dafür hast. Aber ich danke dir.«
Ach, er dankte ihr! Wie froh war sie jetzt, daß sie das Geld noch hatte und es ihm geben konnte. Sie unterdrückte ihre Erregung und sagte in ihrer Verwirrung ebenfalls Dank, indem sie ihm den Kassenschein hinlegte.
Sie blieb stehen. Als sie sah, daß er wieder nach der Feder griff, sagte sie lächelnd und kleinlaut:
»Du mußt entschuldigen, daß es so lange dauert … es geht so langsam mit dem Zimmermieten, aber …«
Dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen, die Stimme versagte ihr vollständig, und sie wandte sich um und holte das Taschentuch hervor.
»Es eilt doch auch wohl nicht so sehr mit dem Zimmer,« sagte er. »Du kannst dir ja Zeit dabei lassen, nicht wahr?«
»Ja, ja, danke, wenn ich das darf!«
»Wenn du darfst? Das verstehe ich nicht recht. Ich bin es doch nicht gewesen, der dir … Ich will dir ja nur bei der Erreichung deiner Wünsche behilflich sein.«
Sie fürchtete, ihn verstimmt zu haben, daher beeilte sie sich zu sagen:
»Gut denn! Ich meinte auch nicht … Nein, ich störe dich, du mußt wirklich entschuldigen.«
Und damit ging sie schnell zur Tür hinaus.
Tidemand hatte nicht viel Ruhe gehabt, seitdem ihn das große Unglück betroffen hatte. Früh und spät war er auf den Füßen, Papiere, Rechnungen, Wechsel, Aktien wirbelten um ihn auf, und der Reihe nach brachte er in alles eine leidliche Ordnung. Ole Henriksen hatte ihn zu jeder Zeit auf das erste Wort hin unterstützt, hatte ihm den Kaufschilling für das Landhaus ausbezahlt, mehrere von seinen auswärtigen Geschäften übernommen; jetzt kam mehr Ruhe in die Sache.
Es trat zutage, daß die Firma Tidemand kein grundfestes Vermögen gehabt hatte, um damit zu arbeiten, obgleich sie eine weit verzweigte Geschäftstätigkeit hatte und großen Umsatz machte; die Leute hatten auch noch nie von einem so wahnsinnigen Handel in Roggen gehört, wie der, in welchen Andreas Tidemand sich gestürzt hatte; jetzt hinterher war alle Welt weise und beklagte ihn oder verspottete ihn, – wie es gerade kam. Und Tidemand ließ den Lärm sich austoben, er arbeitete, balanzierte und hielt sich fortwährend auf den Füßen. Allerdings hatte er eine übertrieben große Masse von Roggen auf Lager, die er allzu teuer gekauft hatte; aber Roggen war doch immer Roggen, er blieb nicht damit sitzen, er verkaufte davon gleichmäßig und ruhig zu den Tagespreisen und verlor sein Geld mit voller Fassung. Sein Mißgeschick hatte ihn nicht niedergedrückt.
Jetzt hatte er seinen letzten Stoß mit dem amerikanischen Hause auszuhalten, und dazu mußte er Ole Henriksens Hilfe annehmen; späterhin würde er schon suchen, die Sache allein in Gang zu halten. Es war sein Traum, das Geschäft zu vereinfachen, es wieder auf eine Art ersten Anfangs zurückzuführen, um es vorsichtig wieder in die Höhe zu arbeiten. Es würde ihm schon gelingen; in seinem Kopfe gab es noch Pläne, er war nicht umsonst von Kindesbeinen an Kaufmann gewesen.
Tidemand nahm eine Menge Papiere zusammen und ging zu Ole hinüber. Es war Montag; beide hatten am Vormittag ihre Post expediert, und jetzt hatten sie nichts weiter zu tun; Tidemand mußte nachher nur nach der Bank, um 5 Uhr wurde sie geschlossen.
Sobald er sich in der Tür zeigte, legte Ole die Feder hin und ging ihm entgegen. Es war immer noch ein Fest, wenn die beiden zusammen waren; Wein und Zigarren wurden wie früher herbeigeholt, nichts hatte sich verändert. Tidemand wollte nicht stören, im Gegenteil, er erbot sich zu helfen, wenn er könne; aber Ole schlug es aus, er habe durchaus nichts vor, das eilte.
Tidemand hatte also seine gewöhnlichen Papiere mit. Er fange jetzt an, ziemlich unverschämt zu werden und komme, sobald nur die geringste Veranlassung …
Ole unterbrach ihn lachend.
»Du darfst durchaus nicht vergessen, dich jedesmal wieder zu entschuldigen.«
»Ich hoffe, künftighin etwas seltener zu kommen; jetzt werde ich Gott sei Gott sei Dank Amerika los.«
Ole unterschrieb und sagte:
»Wie steht es sonst?«
»Ja, alles beim alten.«
»Ist deine Frau noch nicht fort?«
»Nein, noch nicht; es wird ihr wohl schwer, eine Wohnung zu finden. Ja, sie soll sich nur Zeit lassen; irgendwo wird sie schließlich wohl was finden … Was ich sagen wollte: Wo ist Fräulein Agathe?«
»Ich weiß es nicht genau. Sie geht spazieren, Irgens war hier und hat sie abgeholt.«
Pause.
»Den Gedanken, dein Geschäft einzuschränken, hast du doch wohl aufgegeben,« sagte Ole wieder, »du hast ja noch alle deine Leute.«
»Nein, aufgegeben habe ich ihn nicht, und ich werde ihn auch nicht aufgeben. Ich war ja gezwungen, meine Leute noch eine Zeitlang zu behalten, ich konnte sie doch nicht so plötzlich hinaussetzen; sie müssen Zeit haben, sich nach einer Stelle umzusehen. Jetzt aber gehen sie bald, ich behalte nur einen Menschen im Kontor.«
»Ich wiederhole dir, es ist sehr die Frage, ob du in dieser Beziehung das Richtige tust, Andreas. Nicht, daß ich versuchen möchte, dich zu belehren. Aber fängt man erst an, die Arme einzuziehen, wenn man gewöhnt gewesen ist, etwas zu umspannen, so verliert man den Kredit und wird beiseite geschoben. Es ist nun einmal so.«
Tidemand grübelte.
»Ja,« sagte er, »mein Kredit ist im Augenblick nicht groß, das mag schon sein; aber vielleicht arbeite ich ihn wieder in die Höhe, da ich doch niemand betrogen habe. Nein, daß ich mich einschränken will, steht fest; ich will eine Zeitlang etwas weniger auf den Händen haben, gewissermaßen wieder von vorn anfangen, mich auf wenige Dinge konzentrieren. Es ist so eine Idee von mir, daß es gut gehen wird … Früher war es mehr im großen bei mir, das Geschäft war für eine ganze Familie, jetzt ist es nur für die Kinder und mich; aber ich hoffe, es wird ebenso solide bleiben wie früher.«
Sie sprachen weiter über das Geschäft, Tidemand hatte eine große Partie Roggen mahlen lassen, um den Absatz zu erleichtern; jetzt ging es doppelt so schnell, er verkaufte und verlor, aber es ging Geld ein. Es war nicht mehr die Rede davon, zu schließen; er hätte außerdem einen kleinen Plan, der in ihm zu gären angefangen habe, aber bevor er nicht ganz reif sei, lohnte es nicht, davon zu reden. Man stünde ja nicht tagaus, tagein bis an die Hüften in Geschäften, ohne daß einem dann und wann ein bescheidener Gedanke in den Kopf gekommen wäre. Plötzlich sagte er:
»Wenn ich wüßte, daß es dich nicht beleidigt, möchte ich mit dir über eine Sache reden, die dich selbst angeht … Ja, du mußt entschuldigen, daß ich es sage, aber ich habe nun so meine eignen Gedanken. Ihn, Irgens … Du solltest Agathe nicht so viel spazieren gehen lassen, Fräulein Agathe spaziert recht oft mit ihm; es wäre etwas andres, wenn du selbst mitgingst. Das Spazierengehen ist ja nichts Unrechtes, aber … Ja, das ist so meine Ansicht, sei nicht böse, daß ich es gesagt habe.«
Ole starrte ihn mit offnem Munde an, dann lachte er laut auf:
»Lieber Andreas, lieber Andreas, wo willst du hinaus? Du fängst also an, die Leute mit Mißtrauen anzusehen?«
Tidemand unterbrach ihn:
»Ich will dir nur sagen, Ole, daß es nie meine Gewohnheit war, mich mit Klatschereien zu befassen,« sagte er ernst.
Pause. Ole sah ihn noch immer an. Was fehlte Tidemand? Seine Augen waren förmlich scharf vor Zorn, und während er sprach, stellte er das Glas hin. Klatschereien? Nein, gewiß nicht, Tidemand befaßte sich nicht mit Klatschereien, aber jetzt war er verrückt, ganz verrückt.
»Fern sei es von mir, irgendwelchen Schatten auf jemand werfen zu wollen,« sagte er, »um Fräulein Agathe ist mir nicht bange, sie wird schon wissen, was sie zu tun hat, wenn es nötig sein wird; aber trotzdem … Nun, nimm es nicht übel; ich werde nichts mehr darüber sagen.«
»Du hast im Grunde recht, es kann Gerede und Geklatsche daraus entstehen, wenn die Spaziererei zu weit getrieben wird,« sagte auch Ole. »Ich habe bis jetzt wirklich nicht daran gedacht; aber jetzt, wo du es sagst, so – ich danke dir, Andreas. Ich werde Agathe bei Gelegenheit einen kleinen Wink geben.«
Dann wurde nicht mehr davon gesprochen; das Gespräch kam wieder auf Tidemands Verhältnisse. Wie er sich jetzt einrichte; ob er immer noch im Restaurant speise?
Ja, zurzeit noch. Was sollte er tun? Er müsse wohl noch einige Zeit im Restaurant speisen, sonst würde das Gerede Hanka gänzlich abtun. Die Leute würden sagen, es sei ihre Schuld, sie habe in den letzten Jahren keinen Haushalt geführt, denn jetzt zeige es sich ja, kaum sei sie fort, da mietete er, Tidemand, auch schon eine Köchin und bliebe vernünftig zu Hause. Wer könnte denn wissen, auf was die Verleumdungssucht nicht verfiele; Hanka besäße gewiß nicht viele Freunde. Nein, solange es an ihm läge, sollten die Menschen keine Gelegenheit haben, zu lästern … Tidemand lachte bei dem Gedanken, daß er der Verleumdungswut eine Nase drehen würde. »Sie war vor ein paar Tagen bei mir, sie kam ins Kontor,« erzählte er. »Ich glaubte, es sei wieder eine Rechnung, abermals ein unglückseliger Mahnbrief, der an meine Tür klopfte – und da war sies. Es ist nicht mehr als ein paar Tage her. Weißt du, was sie wollte? Sie kam mit hundert Kronen zu mir. Ja. Sie hatte sie wohl zusammengespart. Allerdings kann man vielleicht sagen, daß es eigentlich mein eignes Geld gewesen sei, zur Not könnte man das sagen; aber trotzdem, sie hätte es ja auch selbst behalten können. Aber sie sah ein, daß es mir jetzt knapp geht … In den letzten Tagen ist sie übrigens nicht aus gewesen; das wundert mich, ich begreife es nicht; aber das Dienstmädchen sagt, sie speise dann und wann ein wenig oben in ihrem Zimmer. Außerdem arbeitet sie; sie tut immer etwas.«
»Hör mal, Andreas, es sollte mich nicht wundern, wenn zwischen euch alles bald wieder gut würde. Es kann sein, daß sie gar nicht fortzieht.«
Tidemand maß seinen Freund mit den Blicken:
»Und das glaubst du? Warst du es übrigens nicht, der einmal gesagt hat, ich sei kein Handschuh, den man nach Belieben von sich werfen und wieder aufnehmen könne? Siehst du, ich meine wie du damals gemeint hast. Allerdings, die Frage liegt nicht vor; aber selbst, wenn sie vorläge, so habe ich eine lange Qual nicht bloß zum Spaß durchgemacht, Ole. Ich entschloß mich, ihr die Freiheit zu geben, und sie hat sie angenommen. Ach ja, auf ihrer Seite war durchaus kein Hindernis, sie nahm sie bereitwillig an. Als ich arm wurde und ruiniert war, löste ich das Band sofort und sagte: jetzt kann ich es dir leider nicht mehr so gut schaffen, wie ich möchte, Hanka; ich kann es nicht länger verantworten, dich festzuhalten, du bist frei. Und dazu sagte sie ja und ging. Aber es war auch nicht anders zu erwarten; deshalb erwähne ich es nicht. Es ist vorbei. Sie denkt gewiß ebensowenig daran, zurückzukommen, wie ich daran denke, sie wiederzunehmen … Ja, ja, sie meidet mich nicht ganz und gar, und das macht mich glücklich, es war ein feiner Zug, das mit dem Gelde; das werde ich ihr immer danken.«
Jetzt aber erhob Tidemand sich plötzlich und nahm Abschied, er müsse nach der Bank und sich daher beeilen.
Ole blieb am Pult stehen. Tidemands Schicksal hatte ihm zu denken gegeben. Und wo blieb Agathe? Sie hatte versprochen, in einer Stunde zurück zu sein, und jetzt war sie über zwei Stunden fort. Nein, allerdings war das Spazierengehen an und für sich nichts Böses, aber – darin hatte Tidemand recht – aber! Tidemand hatte seine eignen Gedanken, hatte er gesagt, was meinte er damit? … Plötzlich geht Ole ein Licht auf: vielleicht war es Irgens, der Tidemands Glück vernichtet hatte? Man sollte es nicht verschwören. Die Stadt sprach allerdings nicht davon, nein, Ole hatte absolut nichts gehört; man war so daran gewöhnt, Frau Hanka bald mit diesem, bald mit jenem aus der Clique zu sehen; und sie setzte sich über jegliche Klatscherei hinweg. Aber es konnte sehr wohl Irgens sein. Eine rote Krawatte? Ja, trug er nicht einmal eine rote Krawatte?
Ole begriff jetzt auch, was Tidemand gemeint hatte, als er mit einer gewissen Betonung von den gefährlichen Inselfahrten im Juni geredet hatte. Sieh doch einer an, Agathe hatte so ganz die Lust verloren, ihn in die Kontors zu begleiten, fing an, ausgehen zu wollen, in angenehmer Begleitung spazieren gehen und in eben dieser angenehmen Begleitung Dinge und Orte besehen zu wollen. Nein, du lieber Gott, es war doch wohl kein Grund zum Verdacht? Tidemand sagte ja auch, daß Agathe wissen würde, was sie zu tun hätte, wenn es nötig wäre. Ja, um Agathe hatte Ole keine Angst, es wäre unrecht, einen Schatten auf sie fallen zu lassen; aber dennoch, diese Spaziergänge gaben Veranlassung zu Gerede … Hatte sie nicht bedauert, daß nicht auch er Dichter sei? Wie schade, Ole, daß nicht auch du Dichter bist, hatte sie gesagt. Aber hinterher hatte sie so zärtlich und niedlich erklärt, es sei nur Scherz gewesen; nein, sie war so unschuldig, das reine Kind. Aber diese fortwährenden Spaziergänge mit Irgens konnten wirklich dann und wann unterlassen werden, um seinetwillen …
Erst nach einer weitern vollen Stunde kam Agathe. Ihr Gesicht war frisch und warm, ihre Augen strahlten. Sie hing sich sofort an Oles Hals, das tat sie stets, wenn sie mit Irgens ausgegangen war. Ole strahlte wieder; konnte er es nun übers Herz bringen, sie zu betrüben? Er wollte sie nur fragen, ob sie ihm zuliebe nicht ein wenig mehr zu Hause bleiben wolle; es sei nicht zum Aushalten, wenn sie so lange fortbliebe, es ginge beinahe über seinen Verstand; er denke an nichts andres, als an sie.
Agathe hörte still zu und versprach, es sich zu merken. Ja, ja, er habe recht.
»Und wenn ich dich vielleicht noch um etwas bitten dürfte, so wäre es dies: willst du nicht etwas weniger häufig mit Irgens zusammen sein, nur etwas. Ich meine nichts Schlimmes damit, Agathe; aber nur etwas weniger oft, damit die Leute nichts zu reden haben. Irgens ist mein guter Freund, und ich bin der seine; aber … Ja, ja, laß dirs nur nicht nahe gehen, was ich gesagt habe.«
Da drehte sie seinen Kopf zu sich herum, faßte ihn mit beiden Händen und wendete sein Gesicht zu sich her, blickte ihm in die Augen und sagte:
»Du glaubst wohl nicht, daß ich dich liebe, Ole?«
Jetzt aber wurde er verwirrt, er war ihr allzu nahe, er stotterte und trat einen Schritt zurück:
»Lieben? Haha, nein, Agathe! Glaubst du, ich wollte dir einen Vorwurf machen? Du hast nicht verstanden, was ich sagte, der Leute wegen ist es, der Leute wegen. Aber es war furchtbar dumm; ich hätte es gar nicht erwähnen sollen; du fängst an, darüber nachzudenken, zu reflektieren, du willst vielleicht gar nicht mehr mit Irgens zusammentreffen. Ich bitte dich, laß es beim alten bleiben, du sollst nicht mit ihm brechen, das würde noch größeres Aufsehen machen. Nein, er ist ein feiner und bedeutender Mensch, auch du sollst ihn so recht anerkennen. Und was ich gesagt habe … ich habe nichts gesagt, gar nichts! Ist das ein Wort?«
Aber sie hatte das Bedürfnis, sich zu erklären: sie ginge gerade so gern mit jedem andern, wie mit Irgens, es habe sich heute nur so getroffen. Sie bewundere ihn, das wolle sie nicht leugnen, und darin stehe sie auch nicht allein da; dazu käme noch, daß sie Mitleid mit ihm habe, denn er hätte sich um ein Stipendium beworben und es nicht erhalten. Er täte ihr leid, sonst wäre es nichts, durchaus nichts …
»Genug!« rief Ole. Ob sie denn ganz und gar … Hätte er irgend etwas Schlimmes gemeint? Kurzum, alles solle beim alten bleiben, sie wollten nicht mehr darüber reden … Ja, und nun wegen der Hochzeit, man müsse sich doch endlich wegen des Zeitpunkts einigen; er habe nur seine Reise nach England zu machen, darauf sei er für sein Teil bereit. Und dann wäre es am besten, wenn sie wieder nach Hause reise, während er fort sei; und wenn alles bereit sei, würde er hinaufkommen und sie holen. Ja, es würde nicht an ihnen liegen, wenn nicht alles in Ordnung käme, sobald sie beide erst anfingen, ihre Köpfe anzustrengen, wie? Und wenn. die Hochzeit vorüber wäre, würden sie wieder nach der Stadt reisen. Zu einer Hochzeitsreise würde er vielleicht einmal im nächsten Frühjahre Zeit finden.
Agathe lächelte vergnügt und ging auf alles ein. Ein seltsamer, vager Wunsch war in ihr aufgetaucht: Am liebsten wäre sie geblieben, wo sie war, bis er wieder aus England zurückkam; dann hätten sie zusammen nach Thorahus reisen können. Sie wußte selbst nicht, wie dieser heimliche Gedanke in ihr entstanden war, und schließlich war er auch nicht so stark, daß sie seiner erwähnen mochte; es sollte alles nach Oles Willen geschehen. Sie machte die allernotwendigsten Bemerkungen, daß er sich beeilen möge, nach England zu kommen; ihre Augen waren offen und unschuldig; sie hatte den einen Arm auf seine Schulter gelegt, der andre ruhte auf dem Pult, während sie mit ihm sprach.
Und ihr hatte er einen Wink geben wollen! Tidemand hatte recht, sie würde schon wissen, was sie zu tun habe, wenn es nötig werden sollte.
Mehr als eine Woche verging, bevor Irgens sich wieder sehen ließ. Hatte er Unrat gemerkt? Oder war er der Spaziergänge müde geworden? Dann kam er eines Nachmittags zu Ole ins Kontor; es war klares Wetter mit Sonnenschein, aber es wehte stark, und der Staub zog durch alle Straßen. Er zweifelte, ob Fräulein Agathe in diesem Wetter ausgehen würde, und deshalb sagte er:
»Es weht heute so herrlich, ich möchte Sie mit auf die Hügel hinaufnehmen, auf die höchsten Punkte, Fräulein Lynum. Sie haben vielleicht nie einen solchen Anblick gehabt, der Staub steigt wie Rauch über der Stadt auf.«
Ole sagte schnell dasselbe; das sei allerdings interessant zu beobachten, sie müsse es einmal sehen … Ole würde unter andern Umständen nein gesagt haben; all der Staub war ja sowohl ungesund, wie trübselig; aber Irgens wollte nun einmal hinauf, in die Höhe, es war, als sei der Wind sein eigentliches Element; ob man denn von dem bißchen Luftzug reden könne, der vom Meer und den Landungsbrücken herauf heulte und die Marquisen vor den Fenstern erzittern machte? Außerdem wollte er Agathen auch zeigen, daß er seinerseits nichts dagegen habe … Gut! Sie solle den Spaziergang doch machen.
»Ich habe Sie seit einer Ewigkeit nicht gesehen,« sagte Irgens.
»Nein,« erwiderte sie, »ich bin jetzt immer zu Hause, ich bin fleißig. Binnen kurzem reise ich in meine Heimat.«
»Wie?« fragte er hastig und blieb stehen.
»Ja ja … Ich komme allerdings bald zurück, aber …«
Sie gingen wieder. Irgens war nachdenklich geworden.
»Hören Sie,« sagte er, »es ist heute doch zu viel Wind, wir können ja nicht einmal hören, was wir einander sagen; gehen wir lieber hinauf in den Schloßpark. Ich weiß eine Stelle …«
»Ja, wie Sie wollen,« sagte sie.
Sie fanden eine Stelle, wo es geschützt war, und wohin keine Menschen kamen.
Irgens sagte: »Aufrichtig gesagt war es heute auch gar nicht meine Absicht, Sie auf die Berge zu schleppen. Ich hatte nur Angst, daß Sie nicht mitkommen würden, deshalb habe ich gesagt, was ich da unten sagte. Ich mußte Sie wiedersehen.«
Pause.
»So? … Ach ja, ich habe aufgehört, mich über Sie zu wundern,« entgegnete sie.
»Gut, Fräulein Agathe. O mein Gott, es sind auch zehn Tage, seitdem ich zum letztenmal mit Ihnen gesprochen habe; so lange ist das her.«
»Das ist doch nicht allein meine Schuld … Nun ja, sprechen wir nicht mehr davon,« fügte sie hurtig hinzu. »Sagen Sie mir übrigens, weshalb Sie mir gegenüber noch auftreten, wie Sie es tun? Das ist wirklich nicht recht von Ihnen. Denn ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß es unrecht ist. Ich möchte so gern, daß wir gute Freunde bleiben, aber …«
»Aber nichts mehr, nein. Verstehe schon. Aber sehen Sie, das ist nicht genug für einen, der leidet. Nein, das wissen Sie übrigens nicht, Sie haben es nie gewußt. Es treibt einen unaufhörlich und unaufhörlich, das Verbotene zu umkreisen, das ist der Drang in einem, seinem Schicksal ins Gesicht zu blicken. Wenn ich zum Beispiel jetzt alles für diesen Augenblick einsetzen müßte, so würde ich es einsetzen. Ich will hier lieber eine kurze Stunde mit Ihnen, Fräulein Agathe, zusammen sein, als noch weitere Jahre leben.«
»Ja, ja, ja, Herrgott, es ist zu spät, Sie wissen es; was nützt es also, daß wir darüber sprechen? Sie machen es so viel schlimmer für uns beide.«
Da sagte er fest und langsam:
»Nein, zu spät ist es nicht.«
Jetzt sah sie ihn an und erhob sich; er stand ebenfalls auf; sie gingen wieder ganz in ihre eignen Gedanken vertieft; ohne zu wissen, was sie taten, schlenderten sie im Parke umher, ohne die Leute anzusehen, die ihnen begegneten, ohne zu grüßen. Sie gingen in der Runde und kamen wieder an ihre geschützte Stelle, beide setzten sich wieder.
»Wir gehen im Kreise,« sagte er. »So umkreise ich Sie.«
»Hören Sie,« sagte sie mit nassen Augen, »es ist wohl das letzte Mal, Irgens, daß ich mit Ihnen gehe; seien Sie doch gut, ja? Denn ich reise nun doch bald.«
Aber gerade jetzt, wo er ihr aus seiner Liebe heraus eine überwältigende Antwort geben wollte, mußte jemand an ihrer Bank vorüberkommen. Es war eine einzelne Dame, sie trug nur einen Zweig in der einen Hand, und mit diesem Zweig schlug sie sich bei jedem Schritt, den sie tat, gegen das Kleid. Sehr langsam kam sie näher, sie war jung, Irgens kannte sie, er grüßte, erhob sich von der Bank und nahm den Hut tief ab.
Und errötend ging die Dame vorüber.
Agathe fragte:
»Wer war das?«
»Nur eine Tochter meiner Wirtin,« antwortete er … »Sie sagten, ich solle gut sein. Ja, Beste …«
Aber Agathe wollte genauem Bescheid über die Dame haben: sie wohne also mit ihm im Hause? Was sie täte? Seine Wirtin, was für eine Art von Person wäre sie?
Und Irgens beantwortete alles. Ganz wie ein Kind, dessen Neugierde durch einen Zufall geweckt worden ist, ließ Agathe sich von diesen wildfremden Menschen in Thranes Weg Nr. 5 erzählen. Sie wunderte sich darüber, daß die Dame errötet war, daß Irgens sie so ausgesucht höflich gegrüßt hatte; sie wußte nicht, daß Irgens seine Wohnungsmiete stets auf diese stille Art bezahlte, indem er seine Wirtsleute auf der Straße grüßte.
»Die junge Dame sah gut aus, aber sie hatte Sommersprossen,« sagte sie. »Sie war geradezu hübsch, als sie errötete, nicht wahr?«
Und Irgens sagte ja, sie sei niedlich, aber sie hätte nicht ein einziges Grübchen; es gäbe nur eine, die Grübchen hätte …
Agathe warf ihm einen schnellen Blick zu; seine Stimme wirkte, seine Worte trafen gut, sie schloß die Augen halb. Im nächsten Augenblick fühlte sie, daß sie zu ihm hinsank, und daß er sie küßte; keiner von ihnen sprach, alle ihre Unruhe schwand, sie ruhte im Genießen.
Und niemand störte sie; der Wind sauste gedämpft und schwächer werdend über den ganzen Park. Dann kam endlich wieder ein Mensch vorüber sie ließen sich los, sahen beide auf den Kies nieder, während der Mensch vorüberging, und Agathe war so unmittelbar und behende, sie verriet keine Verwirrung. Sie erhob sich jetzt und ging, und jetzt erst kam sie zum Nachdenken; Tränen tropften ihr aus den Augenwinkeln, und dumpf, wie abwesend murmelte sie:
»Nein, Gott tröste mich, was habe ich getan!«
Nun ging es, wie es schon einmal gegangen war, Irgens wollte etwas sagen, wollte reden, den Schlag mildern: dies sei gekommen, weil es kommen mußte; erhübe sie so leidenschaftlich lieb; sie müsse doch begreifen, daß dies nicht nur Scherz seinerseits sei … Er sah auch wirklich nicht aus, als wenn er jetzt scherzte.
Aber Agathe hörte nichts, sie wiederholte und wiederholte verzweifelte Worte und nahm den Weg instinktmäßig nach der Stadt hinunter. Es war, als eilte sie heim.
»Liebe Agathe, hören Sie mich …«
Sie unterbrach ihn heftig:
»So schweigen Sie doch, schweigen Sie doch!«
Und er schwieg.
Beim Ausgang vom Park riß der Wind ihr den Hut vom Kopf, sie griff danach, erreichte ihn jedoch nicht, am Staket entlang flog er wieder in den Park hinein. An einem Baum bekam Irgens ihn endlich zu fassen.
Eine Weile stand sie untätig und sah zu, dann fing auch sie zu laufen an, und als sie sich beide unten an dem großen Baum trafen, war ihre frühere Verwirrung fast verflogen. Irgens reichte ihr den Hut, und sie sagte danke. Sie sah ganz verschämt aus.
Dann gingen sie weiter.
Sie waren ein Stück Wegs über den kiesbestreuten Platz gekommen. Agathe drehte sich um und ging des Windes wegen einen Augenblick rückwärts; plötzlich blieb sie stehen, sie hatte Coldevin entdeckt. Er kreuzte am Park entlang und ging in der Richtung auf Tivoli, eilig, vornübergebeugt, als ob er sich verstecken wollte. Er war also noch nicht nach Hause gereist.
Und mit Grauen dachte Agathe: wie, wenn er im Park gewesen wäre und sie gesehen hätte! Eine Sekunde lang war ihr Gehirn wie von einem Funken erleuchtet: er kam vielleicht aus dem Park, hatte warten wollen, bis sie außer Sicht waren; nun hatte er sich verrechnet, der Hut war ihr vom Kopf geweht und hatte sie mehrere Minuten aufgehalten; jetzt war er zu früh hervorgekommen. Wie er sich bückte! Auf dem offnen Platz konnte er sich ja nirgends verkriechen.
Agathe rief ihn an, aber der Wind trug ihr Rufen fort; sie winkte mit der Hand, und er tat, als sähe er es nicht, er grüßte auch nicht. Und ohne Irgens ein Wort zu sagen, lief sie den Schloßhügel hinunter, hielt ihren Hut fest und lief; unten bei der ersten Straße holte sie Coldevin ein. Wie hatte sie laufen müssen! Und der Wind wehte ihr die Röcke bis an die Kniee in die Höhe.
Er blieb stehen und grüßte, wie er zu tun pflegte, linkisch, mit einem Ausdruck kummervoller Freude, bewegt von Kopf bis zu den Füßen. Er war elend gekleidet.
»Sie – Sie dürfen mir nicht nachspionieren,« sagte sie atemlos und heiser. Keuchend stand sie vor ihm, zornig, kindisch erzürnt darüber, daß sie sich so arg hatte anstrengen müssen, um ihn zum Stillstehen zu bringen.
Er öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor, er wußte sich nicht zu helfen.
»Hören Sies?«
»Ja … Sind Sie vielleicht wieder krank gewesen, Sie sind gar nicht ausgewesen, zwei Wochen nicht … Nein, ich weiß es ja nicht, wie?« …
Da stand er. Seine vollständig hilflosen Worte rührten sie; dem Weinen nahe, in ihrem Innersten gedemütigt, schlug sie vollständig um:
»Lieber Coldevin, Verzeihung!«
Sie bat ihn um Verzeihung. Er wußte nichts darauf zu antworten, dann sprach er so ins Blaue hinein:
»Verzeihung? Nein, davon reden wir nicht … Aber warum weinen Sie? Wäre ich Ihnen doch nur nicht begegnet, dann …«
»Nein, das war gerade gut,« unterbrach sie, »ich wollte Ihnen begegnen. Ich denke immer an Sie, sehe Sie aber nie; ich sehne mich so manches Mal nach Ihnen.«
»Reden wir nicht davon, Fräulein Agathe; Sie wissen, wir haben abgerechnet. Ich wünsche Ihnen alles Gute, alles Gute.«
Coldevin war augenscheinlich wieder ruhig; er begann sogar, von einigen ganz gleichgültigen Dingen zu reden: wäre es nicht ein fürchterlicher Sturm? Gott mochte wissen, wie es heute den Schiffen auf dem Meer erging …
Sie hörte zu und antwortete; seine Ruhe wirkte auch auf sie, leise sagte sie:
»Also Sie sind noch nicht nach Hause gereist Coldevin? Ich bitte Sie nicht mehr, zu uns zu kommen; es nützt ja doch nichts. Sowohl Ole wie ich hätten Sie vor einiger Zeit so gern mit auf einer Segelpartie gehabt, aber Sie waren nicht zu finden.«
»Nein, ich habe seitdem schon mit dem Herrn Großhändler gesprochen und ihm erklärt, daß ich an jenem Sonntag anderweitig in Anspruch genommen war, eine kleine Gesellschaft, Mittagessen … Es geht Ihnen also gut?«
»Ja danke … Und Ihnen geht es ebenfalls wohl?«
»Mich däucht, ich habe Sie so lange nicht gesehen. Ja, ich meine … in der letzten Zeit sind Sie nicht täglich ausgewesen, meine ich.«
»Nein, ich bin jetzt fleißig, ich bleibe zu Hause. Übrigens reise ich bald heim! Und noch einmal wurde sie von Unruhe erfaßt: wie, wenn nun dieser Mann, mit dem sie hier stand und sprach, im Park gewesen wäre und alles gesehen hätte! Sie fragte so gleichgültig, wie sie vermochte: »Nein, sehen Sie wie die Baumkronen im Park sich beugen. Aber trotzdem ist es dort oben wohl ganz geschützt?«
Im Park? So. Ich war nicht dort … Nein, ich sehe, daß Ihr Begleiter auf Sie wartet; Sie müssen wohl gehen. Irgens, wenn ich recht sehe?«
Gott sei Dank, sie war gerettet, er war nicht im Park gewesen! Sie hörte nichts andres, antwortete auf nichts andres. Und jetzt kam Irgens heran, er war des Wartens müde geworden; aber daran kehrte sie sich nicht. Sie wendete sich wieder zu Coldevin.
»Sie haben also seit der Segelfahrt mit Ole gesprochen? Warum hat er mir gar nichts davon gesagt?«
»Ach, wie kann er an alles denken! Er muß viel im Kopfe haben, Fräulein Agathe, sehr viel im Kopfe haben. Das Geschäft ist weitläufig; ich habe einmal einen Einblick in dasselbe gehabt, als ich dort war. Großartig! Nein, der Mann ist entschuldigt, wenn er Kleinigkeiten dieser Art vergißt. Wenn ich Ihnen eins sagen dürfte: er hat Sie inniger lieb, als irgend ein andrer. Er … Ja, vergessen Sie das nicht. Das wars, was ich sagen wollte.«
Und diese wenigen Worte gingen ihr zu Herzen; im Moment trat das Bild ihres Verlobten ihr vor Augen, und sie rief hingerissen:
»Ja, nicht wahr? Ach ja, er ist so wunderbar gut gegen mich. Nein, wenn ich alles bedenke … Ja, ich komme schon,« rief sie Irgens zu und winkte ihm ab. »Und wann sehe ich Sie wieder, Coldevin? In nicht allzu langer Zeit, nicht wahr? Nun will ich einmal sehen.«
Sie gab ihm die Hand, sagte adieu und ging.
Mit einemmal hatte sie es sehr eilig; sie bat Irgens um Entschuldigung, weil er so lange hatte warten müssen, beeilte sich jedoch nach Kräften.
»Wie eilig Sie es haben!« sagte er.
»Ja, ich muß ja wieder nach Hause. Hu! Wie windig!«
»Agathe.«
Sie blickte ihn an, seine Stimme hatte gebebt; es durchfuhr sie mit einem heißen Ruck. Nein, sie vermochte nicht länger, sich ruhiger zu zeigen, als sie war; ihre Augen fielen wieder halb zu, es zog sie zu ihm, sie streichelte seinen Arm mit dem ihren und ging dicht neben ihm.
Er nannte sie abermals zärtlich bei Namen, und sie antwortete hingebend:
»Lassen Sie mir jetzt nur ein wenig Zeit für mich. Aber was soll ich tun? Ich will Sie so lieb haben, wenn Sie mir jetzt Ruhe lassen.«
Er schwieg.
Sie kamen immer weiter nach der Stadt hinunter; am Ende der Straße sahen sie Henriksens Haus. Sie erwachte gleichsam zur Besinnung; was hatte sie gesagt? hatte sie etwas versprochen? Nein, nein, nichts. Und mit abgewendetem Blick sagte sie:
»Das, was heute geschehen ist … Sie haben mich geküßt. Ich bereue es, bei Gott! Ja, ich traure darüber …«
»Belieben Sie die Strafe zu bestimmen,« sagte er feurig.
»Nein, ich kann Sie nicht strafen. Aber hier ist meine Hand darauf, daß ich es Ole sage, wenn Sie noch einmal etwas Derartiges wagen.«
Und sie reichte ihm die Hand.
Er nahm sie, drückte sie; er beugte sich in demselben Augenblick nieder und küßte sie mehrmals, gleichsam vor ihrem eignen Fenster. Und ganz wirr im Kopf vermochte sie endlich die Tür zu öffnen und die Treppen hinaufzugelangen.
Ole Henriksen erhielt ein Telegramm, das seine Reise nach London beschleunigte. Vierundzwanzig Stunden arbeitete er ununterbrochen wie ein Sklave, um fertig zu werden, schrieb und ordnete, war in den Banken, gab seinem Personal Bescheid, instruierte seinen ersten Kommis, der dem Geschäft inzwischen vorstehen sollte. Der Huller Dampfer lag jetzt im Hafen und nahm Ladung ein, in ein paar Stunden ging er ab. Ole Henriksen hatte nicht viel Zeit zu verlieren.
Agathe begleitete ihn von Kontor zu Kontor, getreulich und traurig, mit unterdrückter Bewegung, sie sprach kein Wort, um ihn nicht zu stören, aber während der ganzen Zeit blickte sie ihn mit tränenbenetzten Augen an. Sie waren übereingekommen, daß sie am nächsten Tage mit dem Vormittagszuge nach Hause reisen solle.
Der alte Henriksen ging schweigsam und ruhig umher; er merkte, daß es für den Sohn galt, sich zu beeilen; jeden Augenblick kam ein Mann von der Schiffsbrücke herauf und brachte Bescheid über den Huller Dampfer; jetzt hatte er nur noch eine Partie Tran einzunehmen, dann war er fertig. Das würde dreiviertel Stunden in Anspruch nehmen. Und endlich konnte Ole lebewohl sagen. Agathe hatte Mantel und Hut in Bereitschaft und fuhr hinein; sie wollte ihn nach der Landungsbrücke begleiten.
Aber gerade im letzten Augenblick trat Öjen in die Tür. Er hatte sich eine rote Schnur am Lorgnon zugelegt, und diese rote Schnur hing ihm auf der Brust. Während der letzten Wochen hatte seine Nervosität neue Arten ihn zu quälen, gefunden, er konnte nicht mehr anders als paarweise zählen, zwei, vier, sechs; er hatte sich einen dunkeln Anzug mit hellen Knöpfen angeschafft, die in die Augen fielen: und das schaffte ihm einige Erleichterung. Und nun diese schwarze, unsichtbare Schnur am Lorgnon – konnte man überhaupt sicher sein, daß man eine Schnur daran hatte, wenn man sie nicht sah? Man mußte in beständiger Angst sein, daß man das ganze Lorgnon zu Hause habe liegen lassen. Jetzt wußte er endlich, was er hatte, die Idee mit der roten Schnur hatte ihm Ruhe verschafft …
Der junge Mann kam atemlos daher. Er bat viele Male um Entschuldigung; ob er störe?
»Ich höre, du willst reisen, Ole Henriksen?« sagte er. »Ich erfuhr es eben jetzt auf der Straße, und es ging mir geradezu wie ein Stich durchs Herz. Es nützt mir wahrhaftig nichts, wieviel Mühe ich mir auch gebe und mich ins Zeug lege, es bringt mir keinen Bissen Brot ein. Offen gesagt, vorläufig darf ich nicht hoffen, mein neues Buch fertig zu bekommen, und nun stehe ich da. Ich sollte nicht so offen reden; auch Milde hat mir das heute gesagt. ›Sprechen Sie nicht darüber,‹ sagte er, ›im Grunde genommen, heißt es ganz Norwegen und sein Verfahren gegen Sie bloßstellen.‹ – Aber was soll ich tun? Kannst du mir aus dieser Klemme helfen, so mußt du es tun, Ole. Wenn du so viel entbehren kannst?«
Ole faßte in die Tasche nach den Schlüsseln und ging an den Geldschrank. Aber er hatte die Schlüssel schon abgegeben, der Vater hatte sie bekommen. Er wurde ein wenig ungeduldig und wünschte, Öjen wäre einen Augenblick früher gekommen, jetzt sei er im Begriff abzureisen. Öjen gab keinen Laut von sich. Wieviel er brauche? – Gut! Und Ole gab seinem Vater eine kurze Anweisung.
Der alte Henriksen öffnete den Schrank allerdings und hatte das Geld vor sich, aber er wollte genauen Bescheid haben, er begann zu fragen. Und außerdem, wo sollte dieser Posten aufgeführt werden? Ole selbst mußte kurzen Prozeß machen und das Geld aufzählen.
Öjen sagte hastig:
»Ich will dir eine Quittung geben. Wo hast du eine Feder? Eine neue Feder; ich schreibe nur mit neuen Federn.«
»Ja, schon gut, laß das bis auf ein andermal.«
»Aber ich möchte dir doch eine Quittung geben, weißt du. – Du hasts ja mit einem ehrlichen Menschen zu tun.«
»Natürlich. Lieber Öjen, wie kannst du so reden! – Ja, ja, also noch einmal adieu!«
Jetzt aber holte Öjen ein Papier aus der Tasche und sagte:
»Ole, dies ist mein letztes Gedicht. Es spielt in Ägypten. Es wird sich lesen lassen. Du sollst eine Abschrift davon haben, denn du hast mir wirklich getreulich beigestanden. Hier, bitte. O, durchaus keine Ursache; es ist mir ein Vergnügen.«
Endlich kam Ole fort; Agathe begleitete ihn.
»Hast du gesehen, wie Öjen sich freute, daß er mir dies Gedicht geben konnte?« fragte er. »Es ist sehr schade um ihn, er ist ein feines Talent, ja, ein großartiges Talent. Ich war ziemlich ungeduldig gegen ihn, es tut mir leid. Na, es ist aber gut, daß er mich noch rechtzeitig getroffen hat … An was denkst du, Agathe?«
»An gar nichts. Aber wenn du nur erst wohl behalten wieder hier wärst, Ole!«
»Liebe, gute Agathe, ich reise ja nur nach London,« sagte er ebenfalls bewegt. »Sei ganz ruhig, ich bleibe nicht lange fort.« Er legte den Arm um ihre Taille und streichelte sie, streichelte sie, während sie die Straße hinaufgingen, und gab ihr die gewohnten Kosenamen: kleines Frauchen, liebes, gutes Frauchen. Nun pfiff ein Dampfschiff. Ole sah auf die Uhr, ihm blieb noch eine Viertelstunde. Er mußte noch bei Tidemand hineinsehen.
Und kaum trat er bei Tidemand ein, so sagte er:
»Ich reise nach London. Ich möchte dich um eins bitten, Andreas: hab die Güte und sieh dann und wann zum Alten hinüber. Ich habe ihm allerdings gute Hilfe gegeben, aber dennoch.«
»Soll geschehen,« antwortete Tidemand. »Wollen Sie nicht Platz nehmen, Fräulein? Sie reisen doch wohl noch nicht?«
»Ja, morgen,« erwiderte Agathe.
Da fielen Ole die letzten Börsennotierungen ein. Roggen fing wieder an zu steigen, er beglückwünschte seinen Freund, drückte ihm die Hand.
Der Roggen stieg ein wenig, die Ernte in Rußland hatte den Markt trotzdem nicht ganz heben können; das Steigen war gering, aber für Tidemands Masse hatte es eine große Bedeutung.
»O ja, ich balanciere nach Möglichkeit,« sagte er fröhlich, »und das habe ich zum größten Teil dir zu danken. Ja, so ist es. Wenn aber nicht alle Anzeichen trügen, so wirst du nicht daran verlieren.« Und er erzählte, daß er gerade mitten in einem kleinen Geschäft in Teer stehe, Teer zum Export, zum Schiffsbau; er solle eine Bilbaowerft versorgen. Es sei ihm eine große und liebe Befriedigung, daß er wieder anfangen dürfe, die Arme ein bißchen zu rühren …
»Aber das Nähere davon besprechen wir, wenn du zurückkommst. Glückliche Reise, Ole.«
»Und wenn irgend etwas sein sollte,« sagte dieser, »so telegraphiere.«
Tidemand begleitete das Paar bis an die Tür, sowohl Ole wie Agathe waren gerührt. Dann stellte er sich ans Fenster und winkte ihnen zu, als sie vorübergingen; gleich darauf stand er wieder am Pult und arbeitete in seinen Büchern und Papieren. Es verging eine Viertelstunde; dann sah er Agathe allein von der Schiffbrücke zurückkommen. Ole war abgereist.
Tidemand ging einmal durchs Zimmer, murmelnd, zählend, alle Möglichkeiten für seinen Teer berechnend. Sein Blick fiel auf ein langes Konto in dem aufgeschlagenen Hauptbuche auf dem Pulte, es war Irgens' Konto. Tidemand warf einen gleichgültigen Blick darauf; es war eine alte Schuld, Wein und bare Darlehne, wiederum Wein und bare Darlehne; es datierte um Jahre zurück, im letzten Jahre war er ganz ausgeblieben. Er hatte niemals etwas bezahlt, die Kreditrubrik stand leer. Tote Schuld, tote Schuld! Tidemand erinnerte sich noch, wie Irgens von seiner Schuld zu reden pflegte; er verheimlichte gar nicht, daß er gegen zwanzigtausend schuldete, er gestand es ehrlich und lächelnden Angesichts. Was solle er machen? Er müsse doch leben. Es sei bedauerlich, daß die Verhältnisse ihn in solche Zustände hineinzwängen, das Land sei klein und das Volk arm; er hätte es selbst gern anders gewünscht, und er würde es dem Manne innig gedankt haben, der gekommen wäre und seine Schulden bezahlt hätte. Aber der Mann kam nicht. Es sei da nichts zu machen, pflegte er zu sagen, er würde sein Joch schon weiter tragen müssen. Nun hätten allerdings die Mehrzahl der Gläubiger so viel Bildung und Zartgefühl, daß sie wüßten, wen sie vor sich hätten; sie mahnten ihn nicht gern um Geld, sie besäßen Achtung vor dem Talent; aber dann und wann passiere es, daß ein Schneider, ein Weinhändler ihm wirklich eine Rechnung schickte und ihm dadurch vielleicht die beste Stimmung zerriß. Er müsse ja aufhören, selbst wenn er mitten in der köstlichsten Dichtung sei, müsse antworten, Bescheid geben. Wie, man käme mit der Rechnung zu ihm? Bitte sie dort hinzulegen; er würde sie ansehen, wenn er Papier brauche. Ach so, quittiert sei sie? Ja, dann müsse er sich ehrlich weigern, sie anzunehmen, quittierte Rechnungen habe er nie im Hause gehabt. Nehmen Sie sie nur wieder mit; ich lasse grüßen und danken …
Tidemand ging wieder auf und ab. Durch eine Ideenassoziation begannen seine Gedanken sich mit Hanka und der Scheidung zu beschäftigen. Gott mochte wissen, was sie abwartete, sie war noch nicht fortgezogen, sie hielt sich ruhig und verborgen in der zweiten Etage auf, war bei den Kindern und nähte ihnen den ganzen Tag kleine Röckchen. Einmal war er ihr auf der Treppe begegnet, sie trug ein Brot und mehrere kleine Päckchen unterm Arm; sie war zur Seite getreten und hatte eine Entschuldigung gemacht; aber sie hatten nicht miteinander gesprochen.
Ja, was mochte sie eigentlich denken? Er wollte sie nicht forttreiben, aber so konnte es auf die Dauer nicht weitergehen. Das sonderbarste war, daß sie zu Hause speiste, sie hatte aufgehört, in die Restaurants zu gehen. Mein Gott, sie hatte vielleicht nicht einmal Geld dazu; eines Tages hatte er ihr mit dem Mädchen ein paar hundert Kronen hinaufgeschickt; damit konnte sie aber keine Ewigkeit auskommen. Es fehlte ihr doch wohl nicht an Geld, und sie wollte nichts davon sagen? Er schlug in seinem Taschenkalender nach und sah, daß mehr als ein Monat vergangen war, seitdem er den Abschluß mit Hanka gehabt hatte; jetzt mußten die lumpigen paar Kronen doch längst ausgegeben sein; gewiß hatte sie auch von ihrem eignen Gelds Zeug und verschiedene Dinge für die Kinder gekauft.
Mit einemmal wurde Tidemand heiß vor Erregung. Nein, fehlen sollte es ihr an nichts, Gott sei Dank, gänzlich verarmt war er doch nicht! Er raffte alles Geld zusammen, das er entbehren konnte, verließ das Kontor und stieg in die zweite Etage hinauf. Vom Mädchen hörte er, daß Hanka in ihrem kleinen Zimmer sei, das Mittelzimmer auf die Straße hinaus. Es war vier Uhr.
Er klopfte an und hörte, daß Herein gerufen wurde. Er trat ein.
Hanka saß am Tisch und war im Begriff zu speisen. Sie sprang auf.
»Nein … ich glaubte, es sei das Mädchen,« stotterte sie. Eine dunkle Röte flog über ihr Gesicht, und sie blickte verzagt nach dem Tische. Darauf begann sie zusammenzuräumen, Papier auf die Speisen zu decken, die Stühle zu rücken, und immer und immer sagte sie wieder: »Es sieht hier so unordentlich aus, ich erwartete nicht … ich wußte nicht …«
Er aber bat sie zu entschuldigen, daß er so unversehens gekommen sei, er habe nur ein kleines Anliegen; sie müsse ja schon seit lange ohne Geld sein; natürlich, selbstverständlich, er wolle nichts mehr davon hören. Hier bringe er ihr etwas, eine Kleinigkeit … Und dabei legte er das Kuvert auf den Tisch.
Sie weigerte sich, das Geld anzunehmen; sie habe noch vollauf, sie zeigte ihm, daß sie Geld, viel Geld habe, die letzten zweihundert Kronen unberührt. Diese wollte sie ihm sogar zurückgeben.
Er sah sie verblüfft an. Ihre Ringe hatte sie doch wohl noch? Nein, an der linken Hand hatte sie keinen Ring mehr; wo hatte sie ihn gelassen? Er bekam eine Falte auf der Stirn und fragte:
»Wo hast du deinen Ring gelassen, Hanka?«
»Es ist nicht der, den ich von dir bekommen habe,« erwiderte sie schnell, »den habe ich noch, sieh her! Es ist der andre, das schadet nichts.«
Er entgegnete:
»Ich wußte nicht, daß du zu etwas Derartigem genötigt warst, sonst hätte ich schon längst …«
»Nein, ich war auch nicht dazu genötigt, Andreas, ich tat es ganz aus freiem Antrieb. Nein, dazu genötigt gewesen? Ich habe Geld, viel Geld liegen, ich kann nicht alles verbrauchen … Aber es tut ja gar nichts, denn deinen Ring habe ich.«
»Ob es nun dieser oder jener Ring ist … Nein, mir hast du keinen Dienst damit erwiesen; ich wünschte, daß deine Sachen unberührt blieben. Ich bin gar nicht so übel dran, wenn ich auch einen Teil meiner Leute entlassen mußte.«
Sie ließ den Kopf sinken. Er sah zum Fenster hinaus; als er sich wieder umkehrte, merkte er, daß sie ihn von der Seite beobachtete; ein voller, offner Blick ruhte auf ihm, er wurde verwirrt, hustete und kehrte sich wieder dem Fenster zu. Nein, jetzt konnte er nicht auf den Umzug anspielen; lieber sollte sie noch kurze Zeit bleiben, wo sie war, das war ihre Sache. Er wollte sie nur bewegen, ihrer seltsamen Haushaltung auf eigne Hand ein Ende zu machen; das hatte ja keinen Sinn; sie hatte in ganz kurzer Zeit auch sehr verloren.
»Nimm mirs nicht übel, aber du solltest doch … wenn auch wegen nichts anderm, so doch um deiner selbst willen …«
»Ja, du hast recht,« unterbrach sie ihn, um ihn nicht aussprechen zu lassen. »Ich weiß wohl, ein Tag nach dem andern geht hin, und ich ziehe nicht fort. Ich danke dir früh und spät dafür, daß du nicht ungeduldig geworden bist, ich bin dankbar für jeden Tag, den ich hier bleiben kann …«
Nun aber vergaß er, was er über ihre Haushaltung hatte sagen wollen, und beachtete nur ihre letzten Worte:
»Ich verstehe dies nicht. Nun hast du es ja, wie du es haben wolltest; es steht dem nichts mehr im Wege; du kannst Hanka Lange sein, soviel du magst, ich halte dich ja nicht zurück, nicht wahr?«
»Nein,« erwiderte sie. Dann erhob sie sich, trat einen Schritt auf ihn zu und streckte ganz absichtlos die Hand aus; als er sie nicht nahm, ließ sie sie verzagt und errötend niedersinken. Dann sank sie wieder aus den Stuhl zurück. »Nein, du hältst mich nicht … Andreas, und dennoch wollte ich dich fragen, ob ich hier bleiben darf … ich erwarte es nicht … aber ob ich noch eine kurze Zeit hier bleiben darf, eine kleine Weile? Ich würde ja anders sein als früher, ich fühle, daß ich ganz anders sein würde; mit mir ist eine Veränderung vorgegangen – und mit dir ebenfalls. Ich kann nicht so sprechen, wie ich möchte …«
Seine Augen trübten sich plötzlich. Was sollte dies alles bedeuten? Seine Festigkeit kam einen Augenblick ins Schwanken, er knöpfte seinen Rock zu und richtete sich hoch auf. Nein, hatte er denn alle diese Leiden während der langen, schweren Tage und Nächte vergebens durchgemacht? Kaum. Jetzt mußte sichs zeigen. Was konnte er tun? Jetzt war Hanka überreizt; durch sein Kommen hatte er sie in die höchste Erregung versetzt.
»Beruhige dich, Hanka. Du sprichst so unklar, du weißt vielleicht selbst nicht, was du sagst.«
Eine lichte, wilde Hoffnung stieg in ihr auf.
»Doch, doch,« rief sie, »jedes Wort weiß ich. Ja, wenn du vergessen könntest, was ich früher gewesen bin! Andreas, wenn du Gnade üben wolltest, dies eine Mal, und nie mehr! Nimm mich in Gnaden auf, nimm mich in Gnaden auf! Einen ganzen Monat hindurch habe ich mich zu dir hingewünscht, hier hinter den Gardinen habe ich dir nachgesehen, wenn du ausgegangen bist. Ich sah dich zum erstenmal auf der Segelfahrt; erinnerst du dich an jene Segelfahrt? Da sah ich dich zum erstenmal. Ich hatte dich früher nie gesehen. Du standest am Steuer, ich sah dich gegen den Himmel, gegen die Luft, dein Haar war hier ein wenig grau. Ich wurde mit einemmal so bewegt, als ich dich sah, und ich fragte, ob dir kalt sei, nur damit du zu mir sprechen solltest. – Und dann verging die Zeit. Aber während dieser Wochen habe ich nichts andres gesehen als dich; gar nichts; nein, ich bin vierundzwanzig Jahre alt, und habe bisher niemals so empfunden. Alles, was du tust, alles, was du sagst … und ich verfolge dich mit den Blicken; … hier habe ich ein paar Maschen in der Gardine ausgeschnitten, um das Loch ein wenig größer zu machen; nun kann ich dir bis an das Ende der Straße nachsehen, und wenn du die Kontortür auf- und zumachst, höre ich, daß du es bist. Straf mich, straf mich, nur verwirf mich nicht, tu es nicht, Andreas, aber straf mich. Es ist tausendfache Freude für mich, hier zu sein, ich will auch so ganz anders sein, ja …«
Sie hielt fast gar nicht inne, sondern fuhr fort, die wunderlichsten Worte in einer Bewegung zu sagen, die ihr fast die Sprache raubte. Sie erhob sich lächelnd unter hellen Tränen, sie jubelte mit bebender Stimme, es waren nichts als unterdrückte Laute.
»Nein, halt ein!« sagte er plötzlich, und Tränen tropften auch aus seinen Augen. Er wand sich, schnitt Grimassen vor Zorn, daß er sich nicht beherrschen konnte. Da stand er nun und haschte nach Worten, es wurde ihm schwer:
»Du hast es stets verstanden, mich zu überreden, ich besitze nicht viel Geschick, auf dergleichen zu antworten, nein, ich habe keines. In der Clique weiß man gut für sich zu reden, aber ich habe den Kniff nicht erlernt … Nein, verzeih mir, ich wollte dich nicht verletzen. Wenn du aber meinst, daß ich jetzt den Platz eines andern übernehmen soll, – wenn es das ist, was du meinst … Willst du mich etwa zum Stellvertreter machen, Hanka? Nein, ich weiß es ja nicht. Ist es deine Absicht, jetzt zurückzukommen? Doch wie kommst du zurück? Nein, ich will es nicht wissen, geh in Gottes Namen.«
»Du hast nur recht, ich fühle alles; ich habe mir selbst auch nichts andres gesagt, als daß es unmöglich sei. Ich wollte dich aber trotzdem bitten. Und ich bin untreu gewesen, sowohl dir wie allem andern, ja, es gibt nichts, was …«
»Ich meine, wir können dieser Szene ein Ende machen; du brauchst auch Ruhe.«
Tidemand ging zur Tür. Sie ging ihm nach, ihre Augen waren weit geöffnet.
»Straf mich!« rief sie. »Ich bitte dich darum, sei barmherzig. Ich will dirs danken. Geh noch nicht fort; ich sehe nichts, als nur dich allein; ich habe dich lieb. Wenn ich dir hier vom Fenster aus nachsehe, stehe ich noch und warte, nachdem du schon um die Ecke gebogen bist; und wenn ich meine Näharbeit längst wieder aufgenommen habe, wende ich mich noch einmal nach dem Fenster, um zu sehen, ob du verschwunden bist. Verwirf mich nicht, Andreas, verwirf mich nicht gänzlich! Werde nicht ungeduldig, weil ich dich festhalte, ich habe niemals solche Angst gehabt wie jetzt, höre mich nur einen Augenblick an, ja, ich bin dir untreu gewesen, ich weiß, daß es keine Hoffnung für mich gibt … Ja, wenn du doch wolltest, nur zur Probe, zur Probe … sags doch … Nein, nein, nein, nun gehst du …«
»Es gab eine Zeit, wo du nicht zu allererst zu mir kamst, wenn du in Not warst …«
»Nein. Ach, aber jetzt doch. Du hast mirs angetan. Aber darf ich jetzt dein sein, Andreas?
Pause.
Er öffnete die Tür. Sie stand noch da mit der Frage in den Augen.
»Nein, weshalb siehst du mich so an? Wozu willst du mich bringen?« sagte er, indem er schon ging. »Komm wieder zu dir, denk nicht mehr daran. Du weißt, daß du während der letzten Jahre all deinen Trost anderswo gesucht hast, du hast immer andre gefunden, an die du dich gewendet hast, ich war nicht reich genug ausgestattet. Aber auch nicht ärmlich genug, Hanka, um noch länger dein Waschlappen zu sein. Ich werde versuchen, alles für die Kinder zu tun, mehr verlangst du doch wohl nicht.«
Dann gab sie es auf. Und als er ging, griff sie stumm mit den Händen hinter ihm her und blieb stehen. Sie hörte seine Schritte im Entree, dann die Treppen hinunter; einen Augenblick blieb er unten im Flur stehen, wie wenn er überlegte, wohin er gehen solle, Hanka lief hurtig ans Fenster, aber gleich darauf hörte sie, daß er ins Kontor ging. Dann wurde alles still.
Vorüber! War es auch anders zu erwarten gewesen? Du guter Gott, war es das? Wie hatte sie denn auch hoffen und sich in dieser Hoffnung so einfältig freuen können, Tag und Nacht, einen Monat hindurch! Nein, nein, alles war unmöglich. Er ging, er sagte, was er zu sagen hatte, und ging; er wollte sie hier auch wohl nicht länger mit den Kindern zusammen lassen …
Am nächsten Tage zog Frau Hanka fort. Sie nahm ein Zimmer, das in der Zeitung angezeigt war, das erste beste Zimmer unten in der Nähe der Festung. Sie verließ ihr Heim am Vormittag; Tidemand war ausgegangen, sie küßte die Kinder und weinte viel; dann packte sie ihre Schlüssel in ein Kuvert und schrieb einen Brief an ihren Mann; als Tidemand nach Hause kam, fand er diese Schlüssel zu Schränken und Laden, sogar den Türschlüssel hatte sie nicht vergessen abzuliefern. Und neben den Schlüssel lag dieses Lebewohl, ohne Bitterkeit, ohne Klage; jedes Wort war ein Dank an ihn, eine Bitte um Vergebung. Daher leb wohl, und ich werde dir jeden einzigen Tag danken …
Tidemand ging wieder aus. Er wanderte durch die Straßen, kam an den Hafen hinunter und ging die Schiffbrücke entlang, so weit er konnte. Ein paar Stunden später war er umgekehrt und kam denselben Weg zurück. Er sah auf die Uhr; es war ein Uhr. Längs des Hafens ging er dem Meer zu. Da stieß er zufällig auf Coldevin.
Coldevin stand unbeweglich an einer Ecke und steckte nur den Kopf hervor; als er Tidemand gerade auf sich zukommen sah, trat er auf die Straße und grüßte.
Tidemand sah mit abwesendem Blick auf.
Und Coldevin fragte:
»Entschuldigen Sie, ist das nicht Herr Irgens, der dort unten geht, der Herr in Grau?«
»Wo? Ja, es scheint so, vielleicht ist ers,« erwiderte Tidemand. Aber er blickte wieder auf das Pflaster.
»Und die Dame? Er geht mit einer Dame, ist das nicht Fräulein Lynum?«
»Eine Dame? Ja, mir scheint auch, es ist Fräulein Lynum.«
»Aber wollte sie nicht heute abreisen? Mir ist, als hätte ich gehört … Dann hat sie sich wohl anders entschlossen.«
»Ja,« meinte Tidemand, »dann reist sie heute wohl nicht.«
Coldevin warf ihm einen hastigen Blick zu. Er war gewiß ungelegen gekommen, Tidemand war mit den eignen Gedanken beschäftigt. Er grüßte also höflich und bat um Verzeihung, wenn er vielleicht gestört haben sollte.
Und Tidemand wanderte weiter.
Nein, Agathe kam nicht zur Abreise, wie sie bestimmt hatte. Es fiel ihr ein, daß sie noch ein paar Kleinigkeiten für ihre kleineren Geschwister zu Hause kaufen müsse; sie konnte nicht mit leeren Händen kommen, und es gehörte Zeit dazu, die rechten Sachen zu finden. Außerdem war es auch sehr unterhaltend, auf eigne Hand umherzugehen und in die Ladenfenster zu sehen; sie brauchte den ganzen Nachmittag dazu, und erst gegen sechs Uhr abends, als sie endlich fertig war, traf sie Irgens auf der Straße. Er nahm ihr die Pakete ab und begleitete sie. Schließlich nahmen sie einen Wagen und fuhren zur Stadt hinaus. Es war hell und milde.
Nein, sie dürfe am nächsten Tage nicht reisen. Wozu wäre das nötig? Ein Tag mehr oder minder hätte doch nichts zu bedeuten. Und Irgens sagte ihr ehrlich ins Gesicht, es sei für den Augenblick traurig mit seinen Geldmitteln bestellt, sonst würde er sie begleitet haben … nein, nein, wenn auch nicht in demselben Coupé, so doch in demselben Zuge, um bis zum letzten Augenblick in ihrer Nähe zu sein. Aber, wie gesagt, er sei zu arm dazu.
Dies hörte sie an. Es war doch eine Schande, daß es diesem Manne so armselig ging! Sie würde ihn ja nicht mitgenommen haben, – deshalb war es nicht. Welchen Eindruck machte es auf sie, daß er ihr so offen sagte, wie es mit ihm bestellt sei! Er machte sich nicht besser, als er war; falsche Scham hatte er nicht. Aber da war nicht zu helfen.
»Ich weiß übrigens nicht, wie lange ich hier drinnen meines Lebens sicher bin,« sagte er lächelnd. »Haben Sie meinem Freund Ole erzählt, daß ich unartig gegen Sie gewesen bin?«
»Dazu ist es noch nicht zu spät« erwiderte sie.
Nein, nichts hätte sie erzählt, sie sei doch kein Kind. Und außerdem, jetzt reise sie nach Hause, dann wäre die Geschichte aus.
Sie ließen den Kutscher halten und stiegen aus dem Wagen; sie gingen weiter den Weg entlang und sprachen lachend und scherzend zusammen; er bat sie, ihm seine Unbesonnenheit von letzthin zu verzeihen; aber damit wolle er nicht sagen, daß er sie vergessen habe oder vergessen könne. Er trat äußerst ruhig auf und sagte nichts, was man als übereilte Worte hätte auffassen können.
»Ich liebe Sie,« gab er zu, »aber ich begreife, daß es nutzlos ist. Doch eins ist mir geblieben, woran ich mich fürs Leben halten kann, das ist meine Feder. Ich werde dann und wann ein Gedicht an Sie machen, aber das dürfen Sie nicht übel aufnehmen. Ja, kommt Zeit, kommt Rat, und in hundert Jahren ist auch das vergessen!«
»Es steht nicht in meiner Macht, daran etwas zu ändern,« antwortete sie.
»Das tut es doch. Ja, es kommt darauf an … Jedenfalls steht das bei keinem andern Menschen, als bei Ihnen.« Und zugleich fragte er sie: »Sie sagten vor kurzem, ich solle Ihnen Zeit lassen, Sie baten um ein wenig Zeit, was meinten Sie damit? Oder waren das nur Worte?«
»Ja.«
Sie gingen weiter und kamen auf eine Wiese. Und nun sprach Irgens mit Interesse von dem fernen, blauen Walde, den Hügeln, einem angeschirrten Pferde, einem Arbeiter, der sich in einiger Entfernung bückte und einen Zaun aufrichtete. Agathe fühlte sich dankbar; sie sah ein, daß er sein Bestes tat, um sich zurückzuhalten, er wollte sie nicht beunruhigen, sie erkannte das an. Er sagte sogar mit mattem Lächeln, daß, wenn er sich nicht schämte, er gern ein paar Zeilen aufschreiben möchte, die ihm gerade einfielen; sie solle nicht glauben, daß es nur Affektation sei.
Und Irgens schrieb die paar Zeilen auf.
Sie schaute ihm über die Schulter, wollte sehen, was er schrieb, lehnte sich über ihn und bat lächelnd und neugierig, es sehen zu dürfen.
»Ja, gern! Es sei übrigens nichts, sie könne es sehen. Es würde nichts Gescheites daraus, ehe er nicht nach Hause käme und am Tische säße; dann könne es ihm möglicherweise glücken, wenn alles gut ging. Nein, wenn er nicht ganz allein sei, würde nichts daraus.
Aber ob er denn nichts andres habe, etwas, das er vorlesen könne?
Nein, nichts. Übrigens läse er niemals vor, niemals. Das hätte noch kein Mensch gehört; es widerstrebe ihm; das möchten andre tun!
Und sie gab ihm recht.
»Wissen Sie übrigens,« sagte er, »jetzt, als Sie mir so nahe standen und Ihren Kopf fast an mich lehnten, da bat ich Sie still in meinem Herzen, so stehen zu bleiben, und deshalb weigerte ich mich so lange, Ihnen zu zeigen, was ich geschrieben hatte.«
»Irgens,« sagte sie plötzlich mit weicher Stimme, »wie würde es gehen, wenn ich ja sagte?«
Pause.
Sie blickten einander an.
»Es würde so gehen, daß … daß Sie ihm dann nein sagen müßten, einem andern.«
»Ja … Aber jetzt ist es zu spät, ja, es ist zu spät. Daran ist nicht zu denken … Wenn es Sie jedoch trösten kann … Sie sind nicht allein betrübt … ich meine, ich halte auch sehr viel von Ihnen; aber dennoch …!«
Diese Antwort nahm er sehr hübsch auf. Er ergriff ihre Hand und drückte sie schweigend, mit einem glücklichen Blick, und in demselben Augenblick ließ er die Hand auch wieder los.
So gingen sie des Weges; niemals waren sie einander näher gewesen; als sie den neuen Zaun erreicht hatten, blickte der Arbeiter auf und nahm die Mütze ab. Dann standen sie vor einer Pforte, sie sahen sich einen Augenblick an, und ohne etwas zu sagen, kehrten sie um. Ohne etwas zu sagen.
Sie stiegen wieder in den Wagen. Auf der Heimfahrt hielt Irgens alle die kleinen Pakete in seinen Armen, er rührte sich nicht und war nicht mehr zudringlich, sie wurde immer gerührter über diese gezwungene Zurückhaltung, er hatte sich sogar die Hände gebunden, und als er sie aufs neue bat, am nächsten Tage nicht zu reisen, versprach sie schließlich zu bleiben.
Als aber der Wagen bezahlt werden sollte, suchte er vergebens in allen seinen Taschen und fand kein Geld, schließlich mußte er sie bitten, den Kutscher selbst zu bezahlen. Und sie tat es mit dankbarem Herzen; sie hatte nur nicht gleich daran gedacht; das war sehr ärgerlich, er hatte ganz unglücklich ausgesehen. Sie freute sich wie ein Kind darüber, daß sie in die Tasche greifen und statt seiner den Wagen bezahlen konnte …
Am folgenden Tage trafen sie sich bereits am Vormittag. Sie gingen am Hafen entlang, plauderten in gedämpftem Ton, in beider Brust arbeitete die unterdrückte Bewegung und machte ihre Augen zärtlich, sie sahen sich an und streiften einander. Und als Irgens schließlich Coldevin gewahrte, der an seiner Ecke stand und lauerte, erwähnte er seiner Entdeckung nicht mit einem Worte, um sie nicht zu beunruhigen. Er sagte nur:
»Es ist dumm, daß wir beide jetzt nicht ganz gewöhnliches Arbeitervolk sind, man gafft uns so stark an, nirgends wird man in Ruhe gelassen. Es ist mein Schicksal nicht, ein ganz unbemerktes Dasein zu führen, aber es hat seine Unannehmlichkeiten.«
Und sie gab ihm abermals recht. Sie erinnerte sich, daß der Arbeiter auf dem Lande gestern ebenfalls mit der Mütze in der Hand vor ihm gestanden habe; sicher hatte er Irgens gekannt; so weit außerhalb der Stadt wußte man sogar, wer er sei.
Sie besprachen, daß sie am Abend ins Grand gehen wollten; es war jetzt schon so lange her; in der letzten Zeit war sie wirklich nicht allzuoft ausgewesen. Plötzlich sagte er:
»Nein, kommen Sie mit zu mir hinauf. Dort können wir in aller Ruhe und Gemütlichkeit plaudern.«
»Können wir das?« fragte sie.
Gewiß. Weshalb nicht? Am hellen Tage. Sie würden gar keine Umstände machen, einfach hinaufgehen. Und dann würde er immer, immer daran denken, daß sie dort gewesen sei, und diese Erinnerung für ewig bewahren.
Und ganz zaghaft vor Freude und Furcht ging sie mit.