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Am fünften April kam Ole von Thorahus zurück. Er führte seine Braut sofort in die Clique ein, stellte sie allen seinen Freunden vor und war den ganzen Tag mit ihr zusammen. Irgens und Advokat Grande hatte er sie übrigens noch nicht vorgestellt, weil er sie noch nicht getroffen hatte.
Sie war jung und blond, hatte eine volle Büste und trug sich sehr gerade. Ihr helles Haar und die Neigung, häufig zu lachen, gaben ihr einen Glanz von Kindlichkeit: aber sie hatte ein Grübchen auf der linken Wange und keins auf der rechten, und dies eine Grübchen machte sie zugleich eigentümlich, ja, merkwürdig. War es nicht eigen daß die eine Seite des Gesichts von der andern verschieden war? Sie war mittelgroß.
Jetzt war sie so außer sich über alles, was sie in der Stadt gesehen und gehört hatte, daß sie den ganzen Tag in einem Jubel herumging. Die Clique war ebenfalls für sie eingenommen und hatte ihr alle denkbare Liebenswürdigkeit erzeigt; Frau Hanka hatte sie einfach um die Taille gefaßt und sie dabei geküßt.
Sie war mit Ole im Geschäft, guckte in alle die sonderbaren Schubladen und Kisten im Laden, kostete alten, starken Wein unten im Keller und blätterte zum Spaß in den alten, dicken Hauptbüchern im Kontor. Besonders gern aber hielt sie sich unten im Lager auf, in dem engen Verschlage von einem Kontor, wo es so kühl und fremdartig nach allen den südländischen Waren duftete. Vom Fenster aus konnte sie Ausschau halten auf die Landungsbrücken, den Hafen, die Schiffe, die Waren herein- und hinausschleppten und so schwer keuchten, daß die ganze Luft davon erzitterte. Gleich draußen vor dem Lager lag der kleine Lustkutter mit der vergoldeten Mastspitze; er gehörte ihr, sie hatte ihn bekommen, er war wirklich ihr Eigentum, nach allen Regeln des Gesetzes; Ole war sogar in der »Veritas« gewesen, um den Namen des Kutters in »Agathe« umändern zu lassen. Sie selber hatte die Papiere darüber.
Und eine Tafel nach der andern wird ins Kontor gebracht, die Kreiderechnungen wachsen mit jedem Tag ein wenig, sie füllen die Rubriken ganz, wachsen zu höheren und höheren Summen an, die Frühlingssaison ist da, die reiche Zeit kurz vor dem Sommer, der Handel lebt und durchzittert die ganze Welt mit leidenschaftlicher Heftigkeit.
Wenn Ole zählt und notiert, beschäftigt Agathe sich auf eigene Hand an der gegenüberliegenden Seite des Pults. Oft begreift sie nicht, wie Ole alle diese Rechnungen in Ordnung bringen kann, ohne die Summen durcheinander zu bringen; sie selbst hat versucht, sich zwischen ihnen zurecht zu finden, ist aber nicht weit damit gekommen; das einzige, was man ihr überlassen kann, ist das Eintragen der unzähligen Bestellungen in Bücher, und das macht sie langsam und vorsichtig …
Ole sieht zu ihr hinüber und sagt plötzlich …
»Nein, du lieber Gott, Agathe, wie klein deine Hände sind! He-he, das ist ja rein gar nichts. Ich begreife nicht, wie du dich damit behelfen kannst.«
Das genügt. Agathe wirft die Feder hin und läuft auf die andere Seite des Pultes. Und dann sind sie beide vergnügt und unvernünftig, bis die nächste Tafel kommt.
»Kleines Frauchen,« sagt er lächelnd und sieht ihr ins Gesicht. »Kleines Frauchen!«
Die Zeit vergeht. Endlich ist die Arbeit fertig, die Rechnungen sind abgeschlossen, und Ole sagt, während er das Buch zuschlägt:
»Ja, jetzt muß ich also gehn und telegraphieren. Kommst du die Straße mit hinauf?«
»Ja, Liebster, wenn du willst,« antwortet sie. Und vergnügt hüpft sie mit.
Unterwegs fällt es Ole ein, daß er Irgens seiner Braut noch nicht vorgestellt hat. Sie müsse diesen Irgens wirklich sehen, sagt er, er sei ein großer Mann, mit tiefen Talenten – dieser Ansicht seien alle. Sie könnten ja beide bis zum »Grand« gehen, vielleicht säße er dort.
Sie gingen ins »Grand«, kamen an den verschiedenen Abteilungen vorüber, wo die Leute saßen und tranken und rauchten, und fanden Irgens an einem der letzten Tische. Milde und Norem saßen bei ihm.
»Da sitzt ihr ja!« rief Ole ein wenig ungeniert.
Irgens reichte ihm die linke Hand und erhob sich nicht. Er kniff die Augen zusammen und sah einmal zu Agathe hinüber.
»Agathe, hier, das ist also der Dichter Irgens,« stellte Ole Henriksen gleich vor, indem er ein wenig mit seiner guten Bekanntschaft mit dem Dichter renommierte. »Meine Braut, Fräulein Lynum.«
Nun erhebt sich Irgens und verbeugt sich sehr tief. Er sieht Agathe noch einmal an und sieht sie sogar lange an. Sie blieb stehen und sah ihn ebenfalls an; offenbar war sie verwundert, den Dichter Irgens so zu finden. Es war über zwei Jahre her, seit sie sein Buch gelesen hatte, das lyrische Drama, das so berühmt geworden war; sie hatte sich unter dem Meister einen ältern Mann vorgestellt.
»Gratuliere!« sagte Irgens endlich und drückte Oles Hand.
Sie setzten sich alle an den Tisch. Jeder bekam ein Seidel Bier, und nun begann das Gespräch. Die Stimmung an dem kleinen Tische hob sich, selbst Irgens wurde mitteilsam und sprach mit. Er wendete sich quer über den Tisch an Agathe und fragte, ob sie früher schon in der Hauptstadt gewesen sei, ob sie im Theater, im Tivoli gewesen sei, ob sie das und das Buch gelesen und die Gemäldeausstellung besucht habe. »Ja aber, Fräulein, die Gemäldeausstellung müssen Sie sehen! Wenn Sie keinen Besseren haben, der sie Ihnen zeigen kann, so wird es mir ein Vergnügen sein, es zu tun …« Wohl zehn Minuten lang sprachen sie miteinander über den Tisch hin; Agathe antwortete schnell auf alles, oft lachend, dann und wann sich vergessend, indem sie den Kopf auf die Seite legte und nach diesem und jenem fragte, was sie nicht wußte. Ihre Augen waren geöffnet, keine Spur von Verwirrung war darin zu sehen.
Nun klopfte Ole nach dem Kellner, er müsse gehen, er wolle telegraphieren. Agathe stand ebenfalls auf.
Milde sagte:
»Aber Sie brauchen doch wohl nicht zu gehen, Fräulein? Du kannst ja wiederkommen, Ole Henriksen, wenn du telegraphiert hast.«
»Nein, ich will auch gehn,« sagte Agathe.
»Nein, wenn du bleiben willst, komm ich gern wieder und hole dich,« sagte Ole und nahm seinen Hut.
Sie sah ihn an und fragte beinahe flüsternd: »Nein, darf ich nicht doch lieber mit dir gehen?«
»Ja, ja, natürlich.«
Ole bezahlte.
»Ach,« sagte Milde, »willst du nicht so freundlich sein und auch für uns auslegen? Heute ist keiner von uns Kapitalist.« Dabei lächelte er und sah Agathe an.
Ole bezahlte abermals, nahm Abschied und ging mit Agathe am Arme fort.
Die drei Herren sahen ihr nach.
»Das ist doch der Teufel!« murmelte Irgens aufrichtig bewundernd.
»Habt ihr die Person angeschaut?«
»Ob wir sie angeschaut haben! Könnt ihr begreifen, wie so ein Ole zu einem solchen Prachtmädel kommt?«
Milde stimmte dem Schauspieler bei, es sei unbegreiflich. Was in aller Welt dachte sie sich dabei!
»Scht! sprecht nicht so laut, sie sind unten an der Tür stehen geblieben,« sagte Irgens.
Dort waren sie auf den Advokaten gestoßen. Dieselbe Vorstellung wie vorhin fand statt; auch jetzt ließ sich ein kleines Gespräch nicht vermeiden; sie saßen mit Hut und Handschuhen und waren in jedem Moment auf dem Sprung, zu gehen. Endlich gingen sie.
In diesem Augenblick erhob sich ein Mann an einem der allerletzten Tische und näherte sich der Tür. Der Mann mochte vierzig Jahre alt sein, er hatte einen graugesprenkelten Vollbart und dunkle Augen; sein Anzug war ziemlich abgetragen; außerdem war der Mann auch ein wenig kahlköpfig.
Er ging direkt zu dem Advokaten, grüßte und sagte:
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze? Ich habe bemerkt, daß der Großhändler sich mit Ihnen begrüßte, Sie kennen ihn also; ich für mein Teil kenne Fräulein Lynum, die Ihnen vorgestellt wurde. Ich bin Hauslehrer bei ihren Eltern; mein Name ist Coldevin.«
An dem Fremden war etwas, was den kleinen, feinen Advokaten Grande neugierig machte; er räumte ihm sofort einen Platz ein und bot ihm sogar eine Zigarre an. Der Kellner trug dem Fremden das Glas nach.
»Sehen Sie, ich bin nur dann und wann mit langen Pausen dazwischen hier in der Stadt,« sagte Coldevin, »ich lebe immer auf dem Lande; während der letzten zehn Jahre bin ich nicht im Auslande gewesen, wenn ich einen Ausflug nach Kopenhagen zur Ausstellung abrechne. Jetzt bin ich wieder hereingekommen und gehe den ganzen Tag herum und sehe mir alles an. Ich finde große und kleine Veränderungen, die Stadt wird größer und größer, wie ich sehe; es ist ein Vergnügen, sich unten am Hafen herumzutreiben und den Verkehr zu beobachten.«
Er sprach mit gedämpfter Stimme, angenehm und ruhig, wenn es in seinen Augen auch dann und wann aufloderte.
Der Advokat hörte ihm zu und antwortete hm und ja. Allerdings, es ließe sich nicht leugnen, die Stadt mache sich; jetzt würden sie auch noch eine elektrische Trambahn bekommen, mehrere Straßen sollten asphaltiert werden, die letzte Volkszählung hätte ein enormes Wachstum ergeben … Es müsse übrigens sonderbar sein, so für ganz auf dem Lande zu wohnen. Nicht? Aber im Winter doch? In Dunkelheit und Schnee?
Nein, das sei herrlich. Überall der Schnee des Herrn, stille, wilde Wälder, Schneehühner und Hasen und Füchse. Weißer, ganz weißer Schnee. Aber der Sommer sei allerdings schöner. Wenn er jetzt wieder nach Hause käme, würde es voller Sommer sein, er hätte gedacht, zwei, drei Monate Ferien zu machen, vielleicht noch etwas länger. Das müsse doch genügen, um in der Stadt das Wesentlichste zu sehen und zu hören? Was denn jetzt eigentlich im Vordergrund stünde? Die politische Lage zum Beispiel, wie die sei?
Ja, erwiderte der Advokat, die Lage sei ernst. Aber man habe noch immer das Storthing. Mehrere Führer hätten ihr letztes Wort gesprochen; wenn nicht alle Zeichen trögen, würde diesmal kurzer Prozeß gemacht werden.
Ach ja, wenn die Zeichen nicht trögen, so …
»Sie scheinen Ihre Zweifel zu hegen?« fragte der Advokat lachend.
»Ich meine nur, daß man zu sehr auf die Führer und ihr Wort zu bauen scheint. Ich komme vom Lande; da draußen hegen wir unsere Zweifel, es ist nicht so leicht, sie los zu werden. Die Sache könnte ja auch zurückschnappen, wie schon einmal. Ja, das ist nicht ausgeschlossen.«
Coldevin trank aus seinem Glase.
»Ich kann mich nicht entsinnen, daß es eigentlich schon einmal zurückgeschnappt hätte?« meinte der Advokat. »Haben Sie einen bestimmten Fall im Sinne, wo die Führer uns im Stiche gelassen hätten?«
O ja. Worte, die gebrochen worden, Worte, die beiseite geschafft worden seien, Worte, von denen man ruhig und offen abgegangen sei. Ja, die sollten wir nicht vergessen … Auf die Führer sollte man sich nicht allzu fest verlassen; dagegen sollte die Jugend unsere Hoffnung sein. Nein, die Führer knickten so manches Mal zusammen. Es sei ein altes Gesetz – wenn der Führer ein gewisses Alter erreiche, so bleibe er stehen, ja, er mache sogar kehrt und stimme fürs Gegenteil. Dann müsse die Jugend gegen ihn ziehen, ihn vor sich her treiben oder ihn niedertreten.
Die Tür ging auf, und Lars Paulsberg trat ein. Er begrüßte den Advokaten, der ihm dankte. Der Advokat deutete auf einen Stuhl neben sich, Paulsberg aber schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein, ich suche Milde. Er hat heute gar nicht an meinem Bilde gemalt.«
»Milde sitzt in der Ecke,« antwortete der Advokat. Und dann wendete er sich wieder zu Coldevin und flüsterte: »Das war nun einer von den wichtigsten unter unseren Jungen, sozusagen der Führer von allen, ihre Autorität, Lars Paulsberg. Kennen Sie ihn? Wenn nur alle wären wie er, dann …!«
Ja, Coldevin kennte ihn. Das also sei Paulsberg! Man könne wohl sehen, daß das ein bedeutender Mann sei, denn er bemerke, wie die Leute ihm nachblickten und die Köpfe zusammensteckten.
Ach ja, Schriftsteller seien ja genug da, es wäre unrecht, das bestreiten zu wollen … »Da kam gerade einer nach Thorahus, bevor ich abreiste; ich glaube bestimmt, er hieß Stephan Öjen; ich habe zwei Bücher von ihm gelesen. Er sei nervös, sagte er und sprach davon, daß er voll neuer Pläne sei, eine Art neuer Pläne, in Bezug auf die Literatur. Er trug seidengefütterte Kleider, im übrigen machte er nicht viel Wesens von sich; die Leute waren ja neugierig und wollten ihn sehen, aber er nahm das sehr bescheiden auf. Ich war einen Abend mit ihm zusammen; er hatte seine ganze Hemdbrust beschrieben, Verse, lange und kurze Zeilen, ein Gedicht in Prosa. Er erzählte, am Morgen sei er erwacht und in Stimmung gewesen, und da er kein Papier zur Hand gehabt habe, sei er nicht ratlos gewesen, sondern habe den Brusteinsatz beschrieben. Wir möchten es nicht übelnehmen, er habe noch zwei Hemden, aber die seien schmutzig, er müsse dieses also tragen, wie es sei. Er las uns auch etwas vor, stimmungsvolle Sachen. Er machte einen gescheiten Eindruck.«
Der Advokat wußte nicht, ob das Ernst oder Scherz war, denn Coldevin lächelte zum erstenmal; aber es mußte doch wohl Ernst sein.
»Ja, Öjen ist einer unserer Bedeutendsten,« sagte er; »er fängt schon an, in Deutschland Schule zu machen. Kein Zweifel daran, daß seine Poesie neu ist.«
»Ganz richtig. Den Eindruck habe ich auch empfangen. Ein wenig kindlich vielleicht, auch ein wenig ungesammelt; aber trotzdem …«
Dann fragte der Advokat, ob er Irgens kenne?
Gewiß, Coldevin kannte auch Irgens. Er habe wohl nicht recht viel geschrieben?
»Er schreibt nicht für die Massen, nein,« entgegnete der Advokat, »er schreibt nur für die wenigen, für die auserwählten. Aber wer ihn kennt, weiß, daß er viele herrliche Gedichte liegen hat. Zum Donnerwetter, das ist ein Meister! Man könnte nicht auf eine einzige Stelle bei ihm deuten und sagen, das sei schlecht … Er sitzt jetzt dort in der Ecke; wünschen Sie, ihm vorgestellt zu werden? Das kann ich schon besorgen, wir können einfach hingehn, wir können einfach hingehn, ich kenne ihn gut.«
Aber Coldevin bat, ihn zu entschuldigen. Nein, das müsse auf ein andres Mal verschoben werden, dann wolle er gern mit Paulsberg und auch mit den andern zusammenkommen … »Also das war Paulsberg!« sagte er wieder. »Allerdings, ich merkte es deutlich, als er durch das Lokal ging, die Leute steckten die Köpfe zusammen, es mußte ein hervorragender Mensch sein. Wegen des Großhändlers steckte nämlich niemand die Köpfe zusammen, als er ging … Apropos, Großhändler Henriksen wird sich jetzt wohl verheiraten?«
»Das wird er wohl … Sagen Sie mal, ist es interessant für Sie, Hauslehrer zu sein? Ist es nicht manchmal ein ziemlich saures Stück Arbeit?«
»Ach nein,« entgegnete Coldevin lächelnd. »Es hängt ja davon ab, zu was für Leuten man kommt, ich spreche von Eltern und Kindern. Es geht einem gut, wenn man das Glück hat, zu guten Menschen zu kommen. Es ist ja allerdings nur eine kleine, bescheidene Stellung, aber trotzdem – ich möchte nicht tauschen, selbst wenn ich eine andere bekommen könnte.«
»Sind Sie Student?«
»Student der Theologie. Leider jetzt ein alter Student.« Coldevin lächelte wieder.
Sie sprachen noch eine Zeitlang miteinander, erzählten jeder ein paar Geschichten von einem Professor an der Universität und kamen auf die politische Lage zurück. Es endete mit den Kornpreisen; die ließen sich schlecht an; man begann von Hungersnot im Zarenreiche zu reden …
Coldevin war in seiner Gesprächsweise ein ganz einfacher Mensch; offenbar wußte er ziemlich viel und sagte alles, was er sagte, bedacht und ruhig. Als er sich erhob, um zu gehen, fragte er beiläufig!
»Da fällt mir ein – Sie wissen wohl nicht, wohin Großhändler Henriksen von hier aus gegangen ist?«
»Nach dem Telegraphenbureau. Er sagte gerade, er müsse telegraphieren.«
»Dank, tausend Dank … Hoffentlich entschuldigen Sie, daß ich Sie auf solche Weise überfallen habe. Es war liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mich Ihre Bekanntschaft machen ließen.«
»Wenn Sie längere Zeit hier bleiben, so werden wir uns auch wohl noch öfter treffen,« entgegnete der Advokat zuvorkommend.
Dann ging Coldevin.
Er ging direkt nach dem Telegraphenbureau. Dort spazierte er eine Weile auf und nieder. Dann ging er hinein, stieg die Treppen hinauf und sah durch die Glastüren. Dann kehrte er um, trat wieder auf die Straße und schlug den Weg nach dem Hafen ein.
Vor Henriksens Lagerhaus begann er wieder auf und ab zu gehen und schaute dabei in das kleine Kontorfenster, ob dort jemand sichtbar sei. Er verwendete fast kein Auge von dem Fenster, als ob er Henriksen notwendig treffen müßte und nicht wüßte, ob er im Lagerhaus wäre oder nicht.
Irgens saß in seinem Zimmer, Thranes Weg Nummer fünf. Er war in guter Laune. Der flotte Mensch, den niemand im Verdacht hatte, daß er zu Hause etwas arbeite, saß ganz im geheimen mit einem Korrekturbogen vor sich und arbeitete wie ein Häusler. Wer hätte das gedacht? Er gehörte zu jener Art Menschen, die so wenig wie möglich von ihrer Arbeit sprachen; er ging ganz still dabei zu Werk, und niemand begriff, wovon er lebe. Es war jetzt über zwei Jahre her, daß sein Drama erschienen war, und seit jenem Tage hatte er nichts mehr herausgegeben. Er schrieb vielleicht in aller Stille, aber es gab niemand, der darum gewußt hätte. Er hatte viele Schulden, viele Schulden.
Irgens hatte die Tür verschlossen, um nicht gestört zu werden; so geheimnisvoll tat er. Als er mit seiner Korrektur fertig war, stand er auf und sah zum Fenster hinaus. Das Wetter war klar und leuchtend, ein schöner Tag. Um drei Uhr wollte er Fräulein Lynum in die Gemäldeausstellung begleiten; er freute sich schon darauf, es war eine wahre Freude, die frische Naivität in ihren Ausrufen zu hören. Wie eine Offenbarung war sie aufgetaucht; sie erinnerte ihn an des Frühlings ersten Vogelgesang.
Draußen war Sonne und klarer Himmel; in den Bäumen saß hier und da schon eine kleine Drossel und sang. Des Frühlings erster Vogelgesang
Es wurde an die Tür geklopft. Zuerst wollte er die Korrektur unter die Tischdecke werfen; aber er ließ es dann. Er öffnete, denn er kannte dies Klopfen, es war Frau Hankas Finger, der zweimal fest klopfte. Er kehrte der Tür den Rücken und blieb stehen.
Sie trat ein, schloß die Tür und schlich zu ihm hin. Sie lächelte, beugte sich vor und blickte ihm in die Augen.
»Ich bin's nicht,« sagte sie leise lachend. »Daß du's nur weißt.« Im übrigen zeigte sie deutliche Zeichen von Verlegenheit und errötete.
Sie trug ein grauwollenes Kleid und sah mit dem herabfallenden Spitzenkragen und dem bloßen Halse so jung aus. Die beiden Ärmel waren an der Hand offen, als wenn sie vergessen hätte, sie zuzuknöpfen.
Er sagte:
»So? Du bist's also nicht? Aber ganz gleich, wer es ist, du bist immer gleich schön … Das entzückende Wetter, in dem du kommst!«
Sie nahmen am Tische Platz. Er legte einen Korrekturbogen vor sie hin, ohne ein Wort zu sagen; sie schlug die Hände vor Freude zusammen und rief: »Da siehst du's, da siehst du's. Ich hab es ja gewußt. Nein, du bist doch großartig!« und sie wurde nicht müde, ihn zu bewundern: daß er nun schließlich doch so schnell fertig geworden wäre, jetzt schon! Wie eine Bombe würde es ein schlagen, keine Seele wüßte darum; alle miteinander glaubten, daß er nichts mehr arbeite. Lieber Gott, auf der ganzen Welt sei augenblicklich niemand so froh, wie sie … Heimlich schob sie ein Kuvert mit Inhalt in den Korrekturbogen und zog Irgens vom Tische fort; sie sprach fortwährend.
Sie setzten sich drüben aufs Sofa. Er wurde von ihrem Glück angesteckt; ihre heftige Freude riß ihn fort und machte ihn zärtlich vor Dankbarkeit. Wie sie ihn liebte, wie sie sich für ihn opferte und ihm alles Gute tat: er umarmte sie gewaltsam, küßte sie Mal auf Mal und zog sie an seine Brust. Das dauerte mehrere Minuten.
»Ich bin so froh, du!« flüsterte sie. »Ich wußte wohl, daß etwas Gutes geschehen würde; als ich hier an die Tür kam und die Treppen heraufstieg, war es, als ob ich in eine Umarmung ginge, so freute ich mich … Nein, nein, sei vorsichtig! Süßer Junge, nein … die Tür …«
Die Sonne stieg höher und höher, draußen begannen die Drosseln ganz ausgelassen zu pfeifen. Des Frühlings erster Vogelgesang, dachte er wieder; was für naive Laute diese kleinen Geschöpfe doch hervorbrachten!
»Wie hell es mir hier bei dir scheint,« sagte sie; »hier ist es viel heller als sonst irgendwo.«
»Findest du?« fragte er lächelnd. Er ging ans Fenster und begann die feinen grauen Wollfädchen von seinem Anzug zu zupfen, die ihr Kleid zurückgelassen hatte. Sie lehnte sich ins Sofa zurück, den Blick auf den Fußboden geheftet, und ordnete ihr Haar. An jeder Hand funkelte ein Ring.
Er konnte nicht so gleichgiltig am Fenster stehen bleiben; sie blickte auf, sie merkte es; außerdem war sie so außerordentlich schön, durchaus schön, während sie an ihrem Haar nestelte. Da trat er zu ihr und küßte sie, so warm er konnte.
»Küß mich nicht, Liebster,« sagte sie, »nimm dich in acht. Sieh nur her! Das ist der Frühling.«
Sie zeigte ihm einen kleinen, frischen Riß an der Unterlippe, fein wie ein Messerschnitt. Er fragte, ob es schmerze, und sie erwiederte: Nein, es täte nicht weh, deshalb sagte sie's nicht; aber sie fürchte sich, ihn anzustecken.
Auf einmal begann sie:
»Hör mal, kannst du heute abend ins Tivoli kommen? Es ist Oper dort. Können wir uns dort nicht treffen? Denn sonst wird es so langweilig.«
Er besann sich, daß er nach der Gemäldeausstellung gehen mußte; was hinterher geschehen würde, wußte er nicht; es war also am besten, nichts zu versprechen … Nein, sagte er, das könne er nicht, könne er wahrscheinlich nicht, er habe eine Verabredung mit Ole Henriksen.
Ach, doch! Ob er wirklich nicht könne? Es würde sie so stolz machen, sie wolle auch so dankbar dafür sein.
Nein, aber was sie denn im Tivoli wolle? Uf!
»Aber es ist ja Oper!« rief sie.
»Ja, und was weiter? Das bedeutet wirklich nichts für mich. Na, aber wie du willst, natürlich.«
»Nein, Irgens, nicht, wie ich will,« sagte sie betrübt. »Du sagst das so gleichgiltig. Herrgott, ich möchte so gern in die Oper, das gebe ich zu, aber … Wo gehst du denn heute abend hin? Nein, ich bin jetzt akkurat wie ein Kompaß, ich mache leise Schwingungen, ich kann auch ganz herumgehen, aber ich strebe nur nach einem Punkt zurück, zeige ewig nach einer Richtung. Du bist's, an den ich denke.«
Ihr kleines verirrtes Herz zitterte beinahe. Er sah sie an. Ja, das wüßte er wohl, ihr sei kein Vorwurf zu machen, dazu sei sie ihm allzu gut gewesen. Aber dabei müsse es bleiben; wenn er auf irgend eine Weise Zeit fände, würde er ins Tivoli nachkommen.
Frau Hanka war gegangen. Irgens war auch zum Ausgehen bereit, er steckte seinen Korrekturbogen in die Tasche und nahm seinen Hut von der Wand. So – er hatte doch wohl nichts vergessen? Die Korrektur hatte er; das war für den Augenblick das wichtigste, der Anfang zu diesem Buche, das wie eine Bombe unter die Leute fallen sollte. Nun wollte er doch sehen, ob man ihm die Anerkennung für seine stille und fleißige Arbeit versagen könnte. Auch er wollte ein Gesuch um das Legat einreichen; er wollte es bis zum letzten Tag aufschieben, um nicht zusammen mit allen den andern in den Zeitungen zu stehen, denen der Mund nach diesen Schillingen wässerte. Sein Gesuch sollte kurz und klar sein, ohne eine einzige Empfehlung von irgend jemand, nur begleitet von seinem letzten Buche. Niemand sollte davon wissen, nicht einmal Frau Hanka sollte es wissen; es sollte doch nicht heißen, daß er Himmel und Erde in Bewegung gesetzt habe, um dies bißchen Aufmunterung zu erlangen. Aber nun wollte er wirklich sehen, ob man ihn übergehen könnte; er kannte doch all seine Mitbewerber, von Öjen angefangen bis zum Maler Milde; er fürchtete keinen von ihnen; wenn er die Mittel dazu besäße, würde er zurücktreten und ihnen dieses Almosen gönnen, aber er hatte nicht die Mittel dazu, er mußte es selbst entgegennehmen …
Auf dem ganzen Wege die Straße hinunter strich er sich sorgsam über den Anzug; ein bißchen von der hellen Wolle von Hankas Kleid haftete noch darauf; es war wirklich ein herzlich widerliches Kleid mit der vielen Wolle! Er huschte mit seiner Korrektur in die Druckerei, der Faktor machte ihn drauf aufmerksam, daß ein Brief darin läge, ein Kuvert mit Inhalt, und Irgens kehrte in der Tür um. Was, ein Brief? Ach ja, es wäre nur etwas, was er herauszunehmen vergessen hätte. Er kannte dies Kuvert und öffnete es sofort; als er einen Blick hineingetan hatte, zog er vor Zufriedenheit die Augenbrauen hoch, setzte den Hut wieder auf und ging. Ohne irgend eine weitere Bewegung zu verraten, schob er das Kuvert, wie es war, in die Tasche.
Ole und Agathe waren wie gewöhnlich unten im Lager. Sie saß und nähte an einigen roten Plüschkissen für die Kajüte der »Agathe«, die reinen Puppenkissen, so klein und drollig waren sie. Irgens drückte eins davon an die Backe, schloß die Augen und sagte gute Nacht, gute Nacht.
»Nein, ihr wollt ja doch in die Gemäldeausstellung?« sagte Ole und lachte. »Meine Braut hat den ganzen Tag von nichts anderm gesprochen.«
»Kannst du nicht mitkommen?« fragte sie.
Aber Ole hatte keine Zeit, gerade jetzt hätte er allzuviel zu tun. »Geht, stört mich nicht länger. Viel Vergnügen …«
Es war um die Promenadenzeit; Irgens schlug vor, vielleicht den Weg durch den Hain zu gehen. Dann höre man zugleich ein wenig Musik. Ob sie die Musik liebe?
Agathe trug ein dunkles Kleid, schwarz und blau gestreift, und einen Überwurf mit rotem Seidenfutter. Das enge Kleid legte sich ohne ein Fältchen um ihren Körper; den Hals umgab nur der gefältelte Halsausschnitt; der Umhang schlug dann und wann zurück, und die roten Futterfalten wurden sichtbar … Leider sei sie nicht sehr musikalisch. Ja, sie höre gern Musik, aber sie habe nur wenig Verständnis dafür.
»Genau so geht es mir,« sagte Irgens lebhaft. »Das ist doch merkwürdig; auch Ihnen geht es so? Ehrlich gesprochen, ich verstehe polizeiwidrig wenig von Musik, aber trotzdem gehe ich täglich hier im Hain spazieren: man darf nicht ausbleiben. Es hängt viel davon ab, daß man sich überall einfindet, sich zeigt, mit dabei ist. Wenn man das nicht tut, so taucht man unter, ist fort und wird vergessen.«
»Nein, wirklich, man ist fort und wird vergessen?« fragte sie und sah ihn verwundert an. »Aber so würde es Ihnen doch nicht ergehn?«
»Ach, wahrscheinlich auch mir,« erwiderte sie. »Weshalb sollte nicht auch ich vergessen werden?«
Und schlicht, ganz schlicht sagte sie:
»Ich glaubte, dazu wären Sie zu bekannt.«
»Bekannt? Ach, das ist nicht so gefährlich, Gott bessre es. Ja, natürlich bin ich auch nicht ganz unbekannt, aber trotzdem. Sie dürfen nicht glauben, daß es eine gar zu leichte Sache wäre, sich hier in der Stadt zwischen allen den andern durchzuschlagen; der eine beneidet einen, der andre haßt einen, der dritte tut einem ganz einfach das Schlimmste an, was er kann. Nein, was das anbetrifft …«
»Es scheint, daß die Leute Sie kennen, und obendrein gut kennen,« sagte sie; »wir können nicht zwei Schritte gehen, ohne daß jemand einem andern was über Sie zuflüsterte; ich höre es fortwährend.« Sie blieb stehen. »Nein, dabei fühle ich mich nicht ganz behaglich, jetzt hab ich es schon wieder gehört,« sagte sie lachend. »Das ist so ungewohnt für mich, ich möchte lieber gleich in die Ausstellung gehen.«
Er lachte herzlich, erfreut über ihre Worte. Wie angenehm sie sich ihm mit ihrer naiven, frischen Art machen konnte! Er sagte: »So, so, wollen wir jetzt nur gehn! Daß über einen geflüstert wird, daran gewöhnt man sich; lieber Gott, wenn die Leute nun einmal Vergnügen daran finden.« Er selbst bemerke, es gar nicht mehr, das greife ihn nicht mehr an Übrigens müsse er ihr sagen, daß die Leute heute nicht nur über ihn flüsterten, sondern auch über sie: sie könne ihm glauben, jetzt gaffe man sie an. Man komme nicht fungelnagelneu in eine Stadt wie diese und sehe aus wie sie, ohne Aufsehen zu erregen – nein.
Es war nicht seine Absicht gewesen, ihr Schmeicheleien zu sagen; er meinte, was er sagte, und doch schien sie ihm nicht zu glauben.
Sie gingen direkt hinauf zur Musik, die Cherubinis Ouvertüre zum »Wasserträger« über den Platz donnerte.
»Dies scheint mir ein ganz unnötiger Lärm zu sein,« sagte er scherzend.
Sie lachte, ja, sie lachte recht oft über seine Einfälle. Dieses Lachen, dieser frische Mund, das Grübchen auf der einen Wange, ihr ganzes kindliches Wesen steigerten seine Stimmung immer mehr; selbst in ihre Nase, die im Profil ein wenig unregelmäßig war, und obendrein noch ein wenig zu groß, verliebte er sich beinahe. Griechische und römische Nasen waren nicht immer die hübschesten; durchaus nicht, es kam auf das Gesicht im übrigen an; autorisierte Nasen gab es nicht.
Er sprach über alles mögliche, und die Zeit verging; nicht umsonst war er der Dichter, der gezeigt hatte, daß er die, an die er sich wendete, für sich interessieren konnte, er, der feine Mensch, das Talent mit den gewählten Worten. Agathe hörte aufmerksam zu, er versuchte, sie recht oft zum Lachen zu bringen, und kam wieder auf die Musik, auf die Oper, die er durchaus nicht ausstehen könnte. Er wäre zum Beispiel nie in der Oper gewesen, ohne daß er seinen Platz hinter einem Damenrücken mit einer scharf hervorstehenden Korsettkante gefunden hätte. Diesen Rücken wäre er verurteilt gewesen, drei, vier ganze Zwischenakte lang anzusehen. Und dann die Oper selbst; die Blechinstrumente dicht vor den Ohren, und dann die Sänger, die aus Leibeskräften versuchten, jene zu übertäuben. Erst trete einer auf, der sich spreize und besondere Gesten mache und Gesang hervorbringe; dann käme ein zweiter, der ebenfalls nicht zurückstehen wolle und dasselbe mache; schließlich ein dritter, ein vierter, Männer und Frauen, lange Aufzüge, eine Armee, die alle miteinander ihre Fragen sängen und ihre Antworten sängen und mit den Armen um sich schlügen und die Augen rollten zum Gesang! Ja, ob das vielleicht nicht wahr sei? Man weine zur Musik, schluchze zur Musik, fletsche die Zähne, niese und werde ohnmächtig zur Musik, und der Dirigent leite das Ganze mit einem Elfenbeinhammerstiel in der Hand. He – he, ja, sie lache, aber es sei doch so. Dann schiene der Dirigent plötzlich starr vor Schrecken über den Höllenlärm zu sein, den er selbst angestiftet habe, und er schwinge den Hammerstiel zum Zeichen, daß jetzt etwas anderes kommen solle. Dann komme also ein Chor. Gut, na ja, der Chor möge noch gehen, der geberde sich doch nicht so herzzerreißend. Aber mitten im Chor trete dann eine Person auf, die wieder alles störe, der Prinz; er habe ein Solo, und wenn ein Prinz ein Solo habe, dann schweige ja anständigerweise der Chor, nicht wahr? Aber man stelle sich nun diesen mehr oder weniger dicken Mann vor, der sich hinstelle und mitten in den Chor hineinschreie und brülle! Man werde vollständig verrückt davon und möchte ihm zurufen, er solle aufhören, er störe ja die Leute, die uns auch ein wenig Vorsingen wollten, den Chor …
Irgens war mit diesen Witzen nicht unzufrieden, er erreichte, was er wollte, Agathe lachte unaufhörlich und war froh über die gute Unterhaltung, die er ihr bereitete. Wie wußte er das alles zu gestalten und ihm Farbe und Leben zu geben!
Endlich kamen sie in die Ausstellung, besahen, was zu besehen war, und sprachen im Weitergehen über die Bilder. Agathe fragte und bekam Antwort; Irgens wußte alles und erzählte sogar kleine Geschichten über die ausstellenden Maler. Auch hier oben stießen die beiden auf neugierige Menschen, die die Köpfe zusammensteckten und ihnen nachsahen, wenn sie vorübergingen; aber Irgens blickte fast gar nicht nach rechts und links, so gleichgiltig war es ihm, daß er Aufmerksamkeit erregte. Er grüßte nur ein paarmal.
Als sie sich nach einer Stunde anschickten, das Lokal zu verlassen, kam ein graubärtiger, ziemlich kahler Kopf aus einem Winkel hinter ihnen zum Vorschein und verfolgte sie mit seinen tiefen, brennenden Augen, bis sie zur Tür hinaus waren …
Unten auf der Straße sagte Irgens:
»Ich weiß nicht … Sie müssen doch wohl nicht schon nach Hause gehn?«
»O doch,« antwortete sie, »das muß ich freilich.«
Er bat sie wiederholt, noch eine Weile draußen zu bleiben, aber Agathe dankte lächelnd und blieb dabei, daß sie nach Hause müßte. Es half nichts, sie war nicht zu überreden, und er mußte sich drein finden. Aber, nicht wahr, späterhin könnten sie es einmal wiederholen? Da wären noch die Museen und Galerien, die sie nicht gesehen hätte; er würde sich glücklich schätzen, ihr Wegweiser zu sein. Und hierzu lachte sie wieder und dankte ihm.
»Ich betrachte Ihren Gang,« sagte er. »Es ist mit das Vollkommenste, was ich je gesehen habe.«
Jetzt errötete sie und sah hastig zu ihm auf.
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein,« sagte sie lächelnd. »Ich habe ja mein Leben lang in einem Walde gewohnt.«
»Ja, ob Sie es nun glauben oder nicht … Sie sind im ganzen genommen apart, Fräulein Lynum, herrlich apart, ich suche nach einem Worte, das Sie bezeichnen könnte. Wissen Sie, woran Sie mich erinnern? Ich habe diese Vorstellung den ganzen Tag mit mir herumgetragen. Sie erinnern mich an den ersten Vogelgesang, den ersten warmen Frühlingston, Sie wissen wohl, dieser Schauer, der einem durchs Herz zieht, wenn der Schnee fort ist und man die Sonne und die Zugvögel wieder sieht. Aber es ist auch nicht dies allein an Ihnen; Gott helfe mir, das Wort fehlt mir, obgleich ich doch nun einmal Dichter sein soll.«
»Nein, aber so etwas habe ich doch noch nicht gehört!« rief sie und lachte. »Und allen diesen Dingen soll ich gleichen? Na, ich möchte es gern; das ist ja sehr hübsch. Wenn es jetzt nur auch paßt!«
»Es müßte aber eine zugleich hübsche und feste Bezeichnung sein,« fuhr er fort, noch ganz damit beschäftigt. »Sie sind in die Stadt gekommen gleichsam von blauen Bergen her, Sie sind ein sonniges Lächeln, daher müßte die Bezeichnung auch ein wenig an die Wildnis erinnern, gleichsam nach Wildnis duften. Nein, ich weiß übrigens nichts.«
Sie waren angelangt. Beide blieben stehen und reichten sich die Hände.
»Tausend Dank,« sagte sie. »Wollen Sie nicht auch mit hinaufkommen? Ole ist sicher zu Hause.«
»Ach nein, … aber hören Sie, Fräulein, ich möchte gern ganz bald wiederkommen und Sie in irgend ein Museum mitschleppen; darf ich?«
»Ja,« erwiderte sie, »das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Aber erst muß ich hören … Ja, tausend Dank für die Begleitung.«
Irgens spazierte die Straße wieder hinauf. Welchen Weg sollte er jetzt eigentlich einschlagen? Allerdings konnte er hinaus ins Tivoli gehen, es war noch reichlich Zeit, ja, es war sogar noch zu früh, es galt vorher noch eine ganze Stunde totschlagen. Er befühlte seine Tasche; er hatte sein Kuvert und sein Geld; er mußte also nach dem Grand hinunterschlendern.
Aber gerade, als er in die Tür trat, wurde er vom Journalisten Gregersen angerufen, dem literarischen Redakteur der »Nachrichten«, der ihm winkte. Für diesen Mann hatte Irgens nichts übrig; er liebte es nicht, eine Freundschaft mit ihm zu unterhalten, nur um in kürzeren oder längeren Zwischenräumen eine Notiz von ihm zu bekommen. Über Paulsberg hatte er jetzt zwei Tage hintereinander Notizen bei Gelegenheit seines Ausflugs nach Hönefos gebracht; an dem einen Tage war er nach Hönefos gereist, am zweiten Tage war er von dort zurückgekommen; Gregersen hatte mit seinem gewöhnlichen Wohlwollen zwei wirklich ausgezeichnete kleine Notizen über diesen Ausflug verfaßt. Daß der Mann sich zu dieser Art Tätigkeit hergeben mochte! Es hieß, er habe noch große unverbrauchte Kräfte, die er sicherlich eines Tages zeigen würde – gut, jeder Mensch hat seine eigenen Sorgen; was kümmert das andre Leute? Irgens sah ihn durchaus nicht gern neben sich.
Ein wenig unwillig ging er an den Tisch des Journalisten. Milde saß auch dort, Milde, Advokat Grande und Coldevin, der ergrauende Hauslehrer vom Lande. Sie warteten aus Paulsberg. Sie hatten wieder über die politische Lage gesprochen; die fing jetzt an, ein wenig bedenklich zu werden, sintemal ein paar hervorragende Thingmänner Symptome des Schwankens gezeigt hatten. Ja, da könne man es nun mal wieder so recht deutlich sehen, sagte Milde, ob es hier zu Lande noch länger auszuhalten sei?
Frau Grande war nicht da.
Der Journalist erzählte, daß jetzt die Hungersnot im Zarenreiche allen Ernstes eingetreten sei; es lasse sich nicht länger verheimlichen; dem Korrespondenten der Times sei in der russischen Presse allerdings scharf widersprochen worden; aber das Gerücht erhalte sich dennoch.
»Ich habe einen Brief von Öjen,« sagte Milde. »Er kommt sicher bald ganz einfach zurück; er fühlt sich dort oben im Walde nicht wohl.«
Dies alles war Irgens außerordentlich gleichgültig. Er beschloß, zu gehen, sobald er könnte. Nur Coldevin sagte nichts, sondern blickte mit seinen dunkeln Augen von einem zum andern. Als er Irgens vorgestellt wurde, murmelte er ein paar allgemeine Redensarten, setzte sich wieder und schwieg.
»Willst du schon gehn?«
»Ja, ich muß nach Hause und mich umziehen; ich will ins Tivoli. Auf Wiedersehn.«
Irgens ging.
»Da haben Sie nun den bekannten Irgens,« sagte der Advokat zu Coldevin.
»Ach ja,« sagte dieser lächelnd, »ich sehe so viel Großartiges hier in der Stadt, daß mir der Kopf wirbelt. Heute bin ich in der Gemäldeausstellung gewesen … Es fällt mir übrigens auf, daß unsere Dichter jetzt so überfeinert werden; ich hab ein paar von ihnen gesehen, sie sind so zahm und geleckt, sie kommen eigentlich nicht mehr mit schäumendem Gebiß daher gesprengt, find ich.«
»Nein, warum sollten sie auch? Das ist jetzt aus der Mode.«
»Ach ja, das mag wohl sein.«
Coldevin schwieg wieder.
»Wir leben nicht mehr in der Feuer- und Schwertperiode, mein lieber Mann,« sagte der Journalist über den Tisch weg und gähnte gleichgiltig … »Na, wo zum Teufel bleibt denn Paulsberg?«
Als Paulsberg endlich kam, wurde ihm eilfertig Platz gemacht, der Journalist setzte sich so nah wie möglich zu ihm und wollte seine Ansicht über die Lage hören. Was solle man davon denken, und was wäre zu tun?
Paulsberg, zurückhaltend und wortkarg wie immer, äußerte eine halbe Ansicht, ein Bruchstück von einer Ansicht: Was zu tun sei? Na ja, man müsse trotzdem versuchen, zu leben, selbst wenn ein paar Storthingsgenies eingingen. Übrigens würde er jetzt bald einen Artikel veröffentlichen; dann würde man sehen, ob dieser ein wenig helfe. Er würde dem Thing einen ehrlichen kleinen Klaps versetzen.
Donnerwetter! er wolle demnächst einen Artikel veröffentlichen? Ja, das würde ausgezeichnet wirken. »Nur nicht zu mild, Paulsberg, nur ja nicht zu mild!«
»Ich denke, Paulsberg wird selbst am besten wissen, wie mild er sein darf,« wies Milde den aufdringlichen Journalisten in seine Schranken. »Überlassen Sie das nur ihm selber.«
»Natürlich,« erwiderte der Journalist, »selbstverständlichemang. Es war auch nicht grade meine Absicht, mich da hineinzumischen.«
Der Journalist war ein bißchen beleidigt, aber Paulsberg versöhnte ihn wieder, indem er sagte:
»Tausend Dank für deine Notizen, Gregersen. Ja, Gott sei Dank, du behältst uns immer im Auge, sonst wüßten die Leute nicht einmal, daß wir Skribenten überhaupt existieren.«
Der Advokat hielt die andern mit Bier frei.
»Ich warte hier auf meine Frau,« sagte Paulsberg. »Sie ist zu Ole Henriksen gegangen, um von ihm bis auf weitres hundert Kronen zu borgen. Alle Welt spricht von der Hungersnot in Rußland, dagegen … Aber nein, richtig gehungert hab ich noch nicht, das will ich nicht behaupten.«
Milde wendete sich an Coldevin, der neben ihm saß, und sagte:
»Es wäre auch gut, wenn ihr da draußen im Lande wüßtet, daß Norwegen seine großen Männer so behandelt!«
Coldevin blickte wieder von einem zum andern.
»Ja,« sagte er, »es ist traurig.« Gleich darauf fügte er hinzu: »Aber draußen im Lande geht es einem leider auch nicht allzu gut. Da muß man sich das Leben auch sauer werden lassen.«
»Ja, aber zum Teufel, ich finde, es ist doch auch noch ein Unterschied zwischen Bauern und Genies? Nicht wahr? Oder was wollen Sie denn?«
»Draußen im Lande geht man mehr von dem allgemeinen Gesetze aus, daß der unterliegt, der sich nicht zu helfen weiß,« sagte Coldevin jetzt. »Man verheiratet sich zum Beispiel nicht, wenn man nicht das nötige Geld hat. Für Leute, die es ohne Geld tun und dann andern zur Last fallen, ist das eine Schande, eine wirkliche Schande.«
Jetzt schauten alle auf den kahlköpfigen Mann, selbst Paulsberg griff nach seinem Lorgnon, das an einer Schnur auf seiner Brust hing, sah ihn einen Augenblick an und flüsterte dann:
»Was für ein Phänomen in aller Welt ist das?«
Dies erlösende Wort brachte die Freunde zum Lachen: Paulsberg hatte gefragt, was für ein Phänomen das sei, ein Phänomen, he–he! Es kam äußerst selten vor, daß Paulsberg so viel sagte. Coldevin sah aus, als ob er beinahe nichts gesagt hätte; er lachte auch nicht. Es entstand eine Pause.
Paulsberg sah zum Fenster hinaus, schüttelte sich ein bißchen und murmelte:
»Uf! ich kann augenblicklich gar nicht arbeiten; dieser Sonnenschein spielt mir den Streich, mich in meiner Arbeit brach zu legen. Ich bin gerade mitten in einer weitläufigen Schilderung eines Regenwetters, eines rauhkalten Milieus, und ich kann nicht von der Stelle kommen.« – Er knurrte ordentlich gegen das Wetter.
Jetzt war der Advokat so unvorsichtig, zu bemerken:
»Na, dann schreiben Sie doch über Sonnenschein.«
Vor nicht sehr langer Zeit hatte Paulsberg in Mildes Atelier das treffende Wort gesagt, daß der Advokat sich seit einiger Zeit ziemlich wichtig vorkomme. Er hatte recht, der Advokat wurde oft naseweis; man erwies ihm einen Dienst, wenn man seinem Dünkel einen kleinen Dämpfer aufsetzte.
»Du redest, wie du es verstehst,« sagte der Journalist ärgerlich.
Diesen Verweis steckte Grande ruhig ein und antwortete nicht darauf. Gleich nachher erhob er sich aber und knöpfte seinen Rock zu.
»Von euch geht wohl keiner denselben Weg wie ich?« fragte er, um keine Verwirrung zu verraten. Und da niemand antwortete, bezahlte er, sagte adieu und ging.
Es wurde noch Bier bestellt. Endlich kam Frau Paulsberg, und mit ihr Ole Henriksen und seine Braut. Coldevin setzte sich plötzlich so weit wie möglich zurück; er kam dadurch an einen andern Tisch.
»Wir mußten deine Frau doch begleiten,« sagte Ole gutmütig und lachend als erstes Wort, »das wäre doch zu unliebenswürdig gewesen.« Und er klopfte Paulsberg auf die Schulter.
Fräulein Agathe hatte einen kleinen Freudenschrei ausgestoßen und war sofort zu Coldevin getreten, dem sie die Hand reichte. Wo in aller Welt er hier denn stecke? Hätte sie nicht auf der Straße nach ihm ausgesehen und jeden geschlagenen Tag mit Ole von ihm gesprochen? Sie könnte durchaus nicht begreifen, weshalb man ihn so selten sähe. Jetzt habe sie wieder einen Brief von zu Hause bekommen, und der enthielte tausend Grüße an ihn von allen. Aber weshalb er denn mit einem Male so fortgeblieben sei?
Coldevin stotterte viele kurze Antworten: Es nähme gar kein Ende mit allem, was er sehen wolle, Ausstellungen, Museen, Tivoli und Storthing; die Zeitungen müsse er lesen, diese oder jene Vorlesung müsse er hören, auch eine Menge alter Bekannte müsse er aufsuchen. Und überdies wolle man ein jung verlobtes Paar auch nicht zu oft stören.
Coldevin lachte gutmütig. Sein Mund bebte ein wenig, und er sprach mit gesenktem Kopfe.
Ole kam ebenfalls und begrüßte ihn; von ihm bekam er dieselben Vorwürfe und antwortete mit denselben Entschuldigungen. Ja, er würde übrigens morgen kommen, ganz bestimmt, er habe es sich vorgenommen. Wenn er morgen nicht ungelegen komme?
Ungelegen? Er? was fiele ihm denn eigentlich ein?
Es wurde abermals frisches Bier gebracht, und alle sprachen durcheinander. Frau Paulsberg schlug die Beine übereinander und umfaßte das Glas mit der ganzen Hand, wie sie zu tun pflegte. Der Journalist nahm sie sofort in Beschlag. Ole sprach noch immer mit Coldevin.
»Sie fühlen sich hier im Café sehr wohl, nicht wahr? Interessante Leute das! Da sitzt auch Lars Paulsberg, das wissen Sie wohl?«
»O ja, das will ich meinen. Das ist nun der dritte von unsern Schriftstellern, den ich sehe. Es liegt wohl an mir, aber sie machen eigentlich keinen überwältigenden Eindruck auf mich, keiner von ihnen.«
»Nicht? Ach, Sie kennen sie nicht genau genug, das ist die Sache.«
»Nein, aber ich kenne doch, was sie geschrieben haben. Sie erheben sich nicht gerade zu den einsamen Höhen, find ich. Na, das ist aber wohl meine Schuld. Paulsberg riecht sogar nach Parfüm.«
»Wirklich? Eine Eigenheit also. Solchen Leuten muß man kleine Eigentümlichkeiten nachsehen.«
»Aber sie behandeln sich gegenseitig mit der größten Hochachtung, wie ich sehe,« fuhr Coldevin fort, ohne drauf zu achten, was ihm geantwortet wurde. »Sie sprechen über alles, sie sprechen über alles ausgezeichnet.«
»Ja, nicht wahr? O großartig, das muß man schon sagen.«
»Wie geht es sonst? Mit den Geschäften und allem?«
»Ja, so einen Tag nach dem andern. Wir haben gerade ein kleines Geschäft mit Brasilien gemacht, von dem ich hoffe, daß es was einbringen wird … Es ist ja wahr, ich besinne mich, Sie interessieren sich auch fürs Geschäft. Wenn Sie morgen zu uns hinunter kommen, sollen Sie's sehen, ich werde Sie ein bißchen bei uns herumführen. Wir drei gehen zusammen, Sie und Agathe und ich. Wir drei alten Bekannten.«
»Tausend Dank, das wird sehr nett werden.«
»Mir war, als hättet ihr meinen Namen genannt?« fragte Agathe und gesellte sich zu ihnen. »Ich hab meinen Namen ganz deutlich gehört, da kannst du mir nichts vorerzählen, Ole … Übrigens möchte ich jetzt auch gern ein bißchen mit Coldevin plaudern; du sitzt hier nun schon so lange.«
Damit nahm sie Oles Stuhl und setzte sich.
»Sie können mir glauben, zu Hause erkundigen sie sich nach Ihnen. Mama bittet mich, nachzusehen, wie es Ihnen im Hotel geht, ob Sie alles bekommen, was Sie brauchen. Aber jedesmal, wenn ich im Hotel gewesen bin, waren Sie natürlich ausgegangen. Gestern war ich zweimal dort.«
Wiederum bebte es um Coldevins Mund, und den Blick auf den Boden geheftet, sagte er:
»Nein, Liebste, was … wie können Sie sich jetzt durch solche Sachen Ihre Zeit stehlen lassen! Darum brauchen Sie sich wirklich nicht zu kümmern, mir geht es im Hotel ausgezeichnet … Und Ihnen geht es hier auch wohl sehr gut? Ja, danach brauch ich gar nicht zu fragen. Ach nein.«
»Ja; mir geht es gut; es geht mir gut, und ich amüsiere mich auch. Aber können Sie sich das denken – ich habe Augenblicke, wo ich mich trotzdem nach Hause sehne; begreifen Sie das?«
»Das ist nur in der ersten Zeit so … Ja, es wird wunderlich sein, Sie nie mehr zu Hause zu sehen, Fräulein Agathe. Ich meine, nur so ein bißchen wunderlich … also …«
»Ja, ich verstehe wohl. Na ja, ich komme aber oft nach Hause.«
»Aber Sie werden sich doch in nächster Zeit verheiraten? Nicht wahr?«
Agathe verriet ebenfalls Zeichen von Bewegung, sie lachte gezwungen und entgegnete:
»Nein wirklich, ich weiß nicht, darüber haben wir noch nicht gesprochen.« Aber auf einmal konnte sie sich nicht mehr halten und flüsterte mit bebenden Lippen:
»Hören Sie, Coldevin, Sie reden heute abend so seltsam, Sie sind immer nahe daran, mich zum Weinen zu bringen …«
»Aber, liebes Fräulein, ich …«
»Es ist grade, als ob es gleichbedeutend mit Sterben wäre, wenn ich mich jetzt verheirate. Und das ist es doch nicht.«
Coldevin ging augenblicklich in einen muntern Ton über:
»Nein, sterben? Ha, das würde ja hübsch aussehn. Ha–ha, Sie bringen mich wirklich zum Lachen. Übrigens haben Sie recht, ich mache Sie traurig mit meinem Geschwätz. Besonders an Ihre Mutter hab' ich gedacht, an Ihre Mutter. An sonst niemand … Nun, haben Sie die kleinen Kissen für den Kutter fertig?«
»Ja,« antwortete Agathe abwesend.
»Aber im Storthing sind Sie nicht gewesen? Nein, dazu haben Sie wohl noch keine Zeit gehabt. Ich bin jeden geschlagenen Tag dort gewesen, aber ich habe ja auch nichts andres zu tun, darum.«
»Hören Sie,« sagte sie auf einmal, »ich weiß ja nicht sicher, ob ich Gelegenheit dazu finde, wenn ich fortgehe, ich sage Ihnen deshalb schon jetzt gute Nacht.«
Sie reichte ihm die Hand. »Und dann vergessen Sie nicht, morgen zu kommen … Ich vergesse Sie niemals, Coldevin, niemals, hören Sie!«
Sie ließ seine Hand los und stand auf.
Eine Weile saß er da, vernichtet, starr, kerzengerade, einen einzigen Augenblick. Er hörte, daß gefragt wurde: »Was in aller Welt haben Fräulein und Coldevin miteinander?« Er sah auch, daß Agathe im Begriff war, zu antworten, aber mit einemmal fiel er ein:
»Ach, ich gebe dem Fräulein nur die Hand darauf, daß ich morgen komme.«
Er sagte das so gleichgiltig wie möglich und lächelte sogar.
»Ja, das müssen Sie unbedingt tun,« hörte er Oles Stimme sagen … »Aber Agathe, wir müssen jetzt sehn, daß wir wieder nach Hause kommen?«
Ole faßte in die Tasche nach Geld. Der Journalist griff ebenfalls in die Tasche, Milde stieß ihn aber an und sagte ungeniert ganz laut:
»Das kannst du ja Ole Henriksen überlassen. Nicht wahr, Ole, du bezahlst wohl auch für uns?«
»Mit Vergnügen,« entgegnete Ole.
Als er an der Tür angelangt war, ging Lars Paulsberg ihm nach und sagte:
»Geh doch nicht, bevor ich dir die Hand habe geben können. Ich höre, daß du mir die paar Kronen geliehen hast.«
Ole und Agathe gingen.
Kurz darauf stand auch Coldevin auf, verneigte sich vor jedem aus der Clique einzeln und verließ das Café. Er hörte Gelächter hinter sich und mehreremal das Wort »Phänomen«. Er schoß in die erste Haustür hinein, an der er vorbeikam, nahm aus seiner Brieftasche eine winzig kleine Schleife in den norwegischen Farben, die sorgsam in Papier gewickelt war. Er küßte die Schleife, sah sie einen Augenblick an und küßte sie wieder, bebend vor stiller, tiefer Bewegung.
Jeden Morgen, wenn Ole Henriksen Kaffee getrunken hatte, pflegte er einen Spaziergang nach dem Geschäft hinunter zu machen. Er war zeitig auf den Füßen und hatte vor dem Frühstück schon viel Arbeit getan, hatte den Laden und den Keller untersucht, Briefe gelesen und beantwortet, telegraphiert und dem Personal Ordres erteilt; es mußte doch alles gemacht werden. Jetzt war Agathe gekommen und leistete ihm Gesellschaft; sie wollte immer mit ihm zusammen geweckt werden, und sie tat mit ihren kleinen Händen auch manchen Dienst. Ole Henriksen arbeitete mit größerer Lust als je. Der Vater tat jetzt nicht mehr viel andres, als daß er kleine Rechnungen ausschrieb und die Kasse zählte, sonst hielt er sich meistens in den Wohnräumen auf, wo er oft irgend einen alten Kollegen, irgend einen alten Schiffer zur Gesellschaft hatte. Aber so sicher, wie der Abend kam, zündete der alte Ole Henriksen dann eine Lampe an, tastete sich die Treppen nach dem Kontor hinunter und tat einen letzten prüfenden Blick in die Bücher. Er ließ sich ruhig Zeit dabei, und wenn er um die Mitternachtstunde wieder nach oben kam, ging er sofort schlafen.
Ole arbeitete für zwei, und es war das reine Kinderspiel für ihn, mit allen diesen Fäden zu hantieren, die er seit seiner Kindheit kannte. Agathe störte ihn auch nicht; nur unten im Lager konnte sie ihn zuweilen ein wenig aufhalten, wenn sie es gut fand. Ihr Lachen und ihre Jugend erfüllten das kleine Kontor, durchrieselten alles und erleuchteten den Raum!
Sie war voll Freude und versetzte Ole in Entzücken durch alles, was sie sagte; er verlor sich in sie, trieb Possen mit ihr, erbebte in Zärtlichkeit für dies fröhliche Mädchen, das noch nicht einmal ganz erwachsen war. Wenn andre dabei waren, tat er überlegener, als er war: jawohl, dies wäre nun seine kleine Braut, sie wäre so jung, er wäre doch um so manchen Tag älter, deshalb müßte er der Vernünftigere sein. Aber unter vier Augen, allein mit ihr, verlor er oft allen Ernst und wurde zum Kind wie sie. Verstohlen blickte er von seinen Papieren und Büchern auf und betrachtete sie heimlich, hingerissen von ihrer lichten Gestalt, bis zur Verwirrung verliebt in ihr Lächeln, wenn sie ein Wort zu ihm sagte. Wie heiß sie ihn machen konnte, wenn sie dasaß und ihn eine Weite ansah und dann plötzlich zu ihm trat und flüsterte: »Du bist also mein Junge, du, nicht wahr?« Sie hatte so viele Einfälle. In der Zwischenzeit konnte sie auch oft lange zu Boden starren, unverwandt zu Boden starren und an etwas denken, was ihre Augen taufeucht machte, alte Erinnerungen vielleicht, irgend eine alte Erinnerung …
Ole fragte sie endlich, wann sie meinte, daß sie heiraten wollten. Und als er sah, daß sie bis an den Hals errötete, ganz bis auf den Hals hinunter, bereute er es, daß er so unumwunden gefragt hatte, es könne ja noch aufgeschoben werden, sie selbst solle die Zeit bestimmen, ihre Entscheidung treffen, sie solle jetzt nicht antworten, durchaus nicht …
Aber sie antwortete trotzdem:
»Ich will, wann du willst.« Und sie erhob sich, faltete die Hände über seiner Schulter und sagte noch einmal:
»Wann du willst.«
»Ja, Agathe, aber du sollst bestimmen.«
»Nein, ich soll bestimmen? Weißt du, Ole, bestimm du's.«
»Na ja, wir werden sehen,« sagte er. »Du brauchst dich noch nicht davor zu fürchten.«
Nun brach sie in ein Lachen aus. Fürchten? Was für ein Einfall! Und sie drückte sich fest an ihn und flüsterte: »Wann du willst, hörst du?« Sie war geradezu zärtlich …
Jetzt wurde an die Tür geklopft, und Irgens trat ein; er kam, um einen Besuch im Skulpturenmuseum vorzuschlagen. Ole sagte sofort scherzend:
»Hör mal, du hast dir also gerade diese Stunde ausgetiftelt, um mich am Mitgehen zu hindern; das sehe ich schon.«
»Aber, mein Gott, wir müssen doch zu der Zeit gehen, wo die Sammlungen geöffnet sind, meine ich,« entgegnete Irgens.
Ole lachte aus vollem Halse.
»Sieh mal, er wird wild,« sagte er, »fuchswild, hahaha. Da habe ich dich fein hereingelegt, Irgens.«
Agathe zog sich an und ging mit. In der Tür rief Ole ihr nach:
»Du kommst aber doch bald wieder, Agathe? Du weißt, wir wollen mit Tidemands ins Tivoli.«
Unten auf der Straße sah Irgens nach der Uhr und sagte:
»Es ist noch ein bißchen zu früh, seh ich. Wenn Sie nichts dagegen haben, wandern wir nach dem Schloß hinauf?«
Und sie wanderten nach dem Schloß hinauf. Die Musik spielte, im Hain wogten eine Menge Menschen auf und nieder. Irgens sprach wieder interessant und unterhaltend über einen Haufen Sachen, und Agathe sprach mit, lachte, lauschte neugierig auf seine Worte; dann und wann stieß sie einen kleinen Ausruf der Bewunderung aus, wenn er einen so recht munteren Ausdruck fand. Sie konnte nicht vermeiden, sein Gesicht anzusehen, ein hübsches Gesicht, ein dicker, krauser Schnurrbart, ein etwas breiter, voller Mund. Er hatte heute einen ganz neuen Anzug an, und sie bemerkte, daß er bläulich war, wie ihr Kleid; dazu trug er ein seidnes Hemd und graue Handschuhe. Ein Hemd aus Seide …
Als sie an der Frauenkirche vorüberkamen, hatte er sie gefragt, ob sie in die Kirche zu gehen pflege, und sie hatte ja gesagt; sie gehe in die Kirche. Und er?
O nein, nicht sehr oft.
Das sei häßlich von ihm.
Er verbeugte sich lächelnd: da sie es sage! Übrigens habe er sich einmal so gröblich verletzt gefühlt; es klinge ganz unglaublich; wenn es auch nur eine Kleinigkeit gewesen sei. Während einer Hochmesse sei er gerade einmal in dieser Kirche gewesen; der Prediger sei wirklich so tüchtig, wie er nur sein könne, und mache seine Sache ausgezeichnet, er sei beredt und spreche mit persönlicher Empfindung, mit Pathos. Aber mitten in einer erregten Tirade voll Geist und Kraft hätte er eine fürchterliche Wortverdrehung gemacht! Mit lauter, warnender Stimme! »Und da stand der Pastor nun, vom hellen Tageslicht umflossen und konnte sich nicht einmal verstecken! Ich versichere Ihnen, es knackte förmlich in mir.«
Dies klang ganz echt in seinem Munde, nicht erfunden. Weshalb sollte eine wirklich feine Seele durch ein so plumpes, komisches Mißgeschick nicht erschüttert werden? Agathe konnte es sehr wohl begreifen.
Als sie ans Storthing kamen, wies Irgens mit einer Kopfbewegung nach dem grauen Steinkoloß hinauf und sagte:
»Da ist nun das Thinghaus; sind Sie dort gewesen?«
»Nein, noch nicht.«
Na, es sei dort auch nicht allzu amüsant, nur Schwanken und Verrat auf der ganzen Linie. Die gewaltigen Männer gingen umher und kauten Tabak und würden dick und fett; sie hätten ein tapferes Mundwerk und forderten Schweden mit der geballten Faust heraus, aber wenn's zur Tat käme, dann! Ach, sie könne gar nicht glauben, wie er und andre sich in ihrem tiefsten Innern über die unwürdige Feigheit grämten! Und welch eine Legion, die man gegen sich hätte! Schweden! Das große Schweden, dies unüberwindliche Weltreich voll mürber Greise! Er müsse Schweden mit einem achtzigjährigen Greise vergleichen, der ohnmächtig und gänzlich betrunken dasitze und in seinem kampflustigen Sinne prahle: ich ergebe mich nicht, nie und nimmer! Und wenn das Storthing das höre, wage es nichts zu tun. Nein, er – Irgens – sollte im Thing sitzen!
Wie stolz und männlich das gesprochen war! Sie sah ihn an und sagte:
»Wie Sie sich jetzt ereifert haben!«
»Ja, entschuldigen Sie, ich ereifre mich immer, wenn von unsrer Selbständigkeit die Rede ist,« erwiderte er. »Ich hoffe aber, daß ich Ihrer eigenen persönlichen Meinung nicht zu nahe getreten bin. Ich hätte Sie nicht verletzt, wenn … Nein, es ist gut.«
Sie kamen zum Schloß hinauf, bogen ab und gingen in den Park; sie vergaßen Zeit und Stunde, die Zeit eilte. Er hatte angefangen, eine Geschichte zu erzählen, die er in den Tagesblättern gelesen hatte, eine Gerichtsszene: Ein Mann war des Mordes angeklagt, und der Mann gesteht das Verbrechen ein. Es wurde die Frage vorgelegt, ob mildernde Umstände vorhanden seien, und man kam zu dem Resultat, daß mildernde Umstände vorhanden seien. Gut. Lebenslängliches Zuchthaus. Da schreit eine Stimme aus dem Zuschauerraum; es ist die Geliebte des Mörders, die da schreit: Ja, er hat gestanden, aber er hat falsch gegen sich selbst gezeugt, er hat nicht gemordet. Wie könnte Henri morden, sagt mir das, ihr, die ihr ihn gekannt habt? Und außerdem, es wären ja mildernde Umstände vorhanden; man könne ihn nicht verurteilen, nicht wahr? »Denn die Tat war nicht überlegt. Nein, nein, Henri hat es nicht getan; so sagt doch, einer von euch, die ihr ihn kennt, sagt, daß er es nicht getan hat; ich begreife nicht, weshalb ihr schweigt« … Dann wurde die Dame hinausgeschleppt. Das sei Liebe.
Jetzt war Agathe gerührt. Wie schön das war, schön und traurig! Und dann wurde sie hinausgeschleppt; war das das letzte? Nein, so traurig!
Es könne aber möglicherweise ein wenig Übertreibung dabei sein, sagte er. Eine Liebe von solcher Kraft wachse nicht auf den Bäumen.
Aber es gebe doch wohl solch eine Liebe?
Ja, vielleicht existiere sie irgendwo auf der Insel der Seligen … Bei diesem Wort aber erwachte der Dichter in ihm: die Insel der Seligen, und aus freier Hand fuhr er fort: Und der Fleck hieße wohl Abendhain, denn es sei dort grün und still gewesen, als die beiden gekommen wären. Ein Mann und ein Weib im gleichen Alter, sie blond, licht, leuchtend wie eine weiße Schwinge neben ihm, der dunkel gewesen sei, zwei, die einander hypnotisiert hätten, zwei Seelen, die einander lächelnd angestarrt, und sich stumm lächelnd angefleht und sich lächelnd umeinandergeschlungen hätten. Und blaue Berge hätten auf sie herabgesehen …
Plötzlich hielt er inne.
»Verzeihen Sie! Ich mache mich ja lächerlich,« sagte er. »Setzen wir uns auf diese Bank.«
Und sie setzten sich. Die Sonne sank, sank immer tiefer; eine Turmuhr schlug in der Stadt. Irgens fuhr fort, voll Stimmung zu reden, halb träumend, halb warm; er würde im Sommer vielleicht aufs Land gehen, sagte er, sich vor eine Hütte am See legen und nachts Ruderpartien unternehmen. »Stellen Sie sich vor, Ruderpartien in ganz stillen Nächten!« … Aber jetzt hatte er die Empfindung, als wenn Agathe sich der Zeit wegen beunruhige, und um sie festzuhalten, sagte er:
»Sie dürfen nicht glauben, Fräulein Lynum, daß ich immer so von blauen Bergen schwatzte. Aber es ist wirklich Ihre Schuld, daß ich es jetzt tue, ja, Ihre Schuld. Sie wirken ganz einfach auf mich, Sie reißen mich innerlich mit fort, wenn Sie in der Nähe sind. Ich weiß wohl, was ich sage. Es ist das Holde und Lichte in Ihrem Gesicht, und wenn Sie den Kopf ein wenig auf die Seite legen, so … Ich sehe Sie also ästhetisch an, wie Sie hören.«
Agathe hatte ihm einen schnellen Blick zugeworfen, und deshalb fügte er hinzu, daß er sie ästhetisch ansehe. Sie begriff es vielleicht nicht; es war ihr nicht ganz klar, weshalb er diese Bemerkung gemacht hatte, und sie war im Begriff, etwas zu sagen, als er wieder das Wort nahm und lachte:
»Ich hoffe wirklich, daß ich Sie mit meinem Geschwätze nicht allzusehr gelangweilt habe? Tat ich es, so gehe ich noch heute am Tage nach dem Hafen hinunter und ertränke mich. Ja, Sie lachen, aber … Übrigens will ich Ihnen sagen, es kleidete Sie auch, als Sie unzufrieden mit mir waren, ja, das tat es; ich sah Ihren hastigen Blick sehr gut. Und wenn es mir noch einmal gestattet ist, mich ästhetisch auszudrücken, – Sie sahen einen Augenblick aus, wie das wilde, zarte Reh, das den Kopf hebt, um zu wittern.«
»Aber jetzt will ich Ihnen etwas sagen,« erwiderte sie, während sie sich erhob: »Wie spät ist es? Ich glaube, Sie sind närrisch! Ja, machen wir nun, daß wir fortkommen! Wenn es meine Schuld ist, daß Sie zuviel geschwatzt haben, so ist es sicherlich Ihre Schuld, daß ich zugehört und darüber die Uhr gänzlich vergessen habe. Das ist doch zu arg!«
In großer Hast verließen sie den Park und eilten den Schloßhügel hinunter.
Als sie nach dem Skulpturenmuseum einbiegen wollten, sagte er, daß es für heute vielleicht zu spät zu einem Besuche dort sei; sie könnten es sich ja für einen anderen Tag aufheben? Oder was sie dazu meine?«
Sie blieb stehen und überlegte einen Augenblick. Dann fing sie zu lachen an und sagte:
»Ja, aber wir müssen doch hingehen; wir müssen doch dort gewesen sein? Nein, man versündigt sich ja geradezu!«
Und sie gingen wieder weiter.
Dies, – daß sie mit ihm zusammenblieb, um ihre Versündigung wieder ein bißchen gutzumachen, – daß sie beide dies Geheimnis miteinander hatten das glomm in ihm als heimliche Freude; er wollte wieder etwas sagen, sie unterhalten; aber sie hatte alles Interesse dafür verloren. Sie hörte ihm nicht mehr zu, sondern trieb fortwährend zur Eile, damit das Museum nicht geschlossen werde, bevor sie es erreichten. Sie lief eilig die Treppe hinauf, lief an den Menschen vorüber, die ihnen entgegenkamen, warf in größter Eile einen Blick hierhin, einen Blick dorthin, um doch die hervorragendsten Kunstwerke gesehen zu haben, rief: »Wo ist die Laokoongruppe? Schnell! Ich will sie sehen!« und lief davon, um die Laokoongruppe zu suchen. Es zeigte sich übrigens, daß sie noch gute zehn Minuten Zeit hatten, und sie betrieben es daher wieder etwas gemächlicher.
Einen Augenblick glaubte sie, aus einer Ecke her Coldevins finsteren Blick auf sich ruhen zu fühlen; als sie aber einen Schritt vortrat, um genauer hinzusehen, verschwanden die Augen plötzlich, und sie dachte nicht weiter drüber nach.
»Schade, daß wir nicht mehr Zeit haben,« sagte sie mehrere Male und blieb bald vor einer, bald vor der andern Figur stehen.
Als sie die erste Etage durchlaufen hatten, war die Zeit um, und sie mußten gehen. Auf dem Heimwege sprach sie wieder mit Irgens und schien ganz so zufrieden wie vorher; an der Tür reichte sie ihm die Hand und sagte danke, sagte zweimal danke. Er bat, sie möchte ihm verzeihen, daß sie das Skulpturenmuseum nicht ordentlich hatte ansehen können und sie lächelte ihm milde zu und fragte, wie er so reden könne, sie hätte sich doch so gut unterhalten, so gut. Aber trotzdem runzelte sie die Stirn ein wenig.
»Ja, ja, auf Wiedersehen im Tivoli!« grüßte Irgens.
»Kommen Sie auch hin?« fragte sie erstaunt.
»Man hat mich drum gebeten; einige von meinen Kameraden sind dort.«
Agathe wußte nicht, daß Frau Hanka ihm ein dringliches Billet deshalb geschrieben hatte, und daher antwortete sie nur: »Ach so,« nickte und ging ins Haus.
Sie fand Ole wartend, fiel ihm um den Hals und rief in warmer Freude aus:
»Du, das war herrlich, die Laokoongruppe, – alles. Wir hatten keine Zeit, alles zu besehen, alles genau zu besehen; aber du wirst mich einmal hinbegleiten, nicht wahr? Ja, versprichst du mir das jetzt? Ich will dich mithaben.«
Als Ole und Agathe am Abend miteinander zu Tidemands hinübergingen, um in ihrer Begleitung ins Tivoli zu gehen, sagte Agathe mit einemmal:
»Es ist doch schade, daß du nicht auch ein Dichter bist, Ole.«
Er starrte sie verblüfft an.
»Meinst du?« sagte er. »Würdest du mich dann lieber haben?«
Und mit einemmal sah sie ein, was für eine traurige Gedankenlosigkeit sie begangen hatte; sie hatte auch in Wirklichkeit nicht gemeint, was sie sagte; es war nur so ein loser Einfall, ein loser, loser Einfall, und sie bereute ihn bitter; sie hätte alles drum gegeben, es ungesagt zu machen. Sie blieb stehen; umschlang ihren Verlobten heftig mit beiden Armen, mitten auf der Straße und rief, um sich zu retten:
»Und das glaubst du? Nun habe ich dich mal gefoppt, Ole. Hahaha. Hör mal, du glaubst doch wohl nicht … Bei Gott im Himmel, ich hab's nicht so gemeint, Ole. Es war so dumm, daß ich es sagte, aber du glaubst doch wohl nicht, daß ich es auch nur einen einzigen Augenblick gemeint habe? Du sollst mir antworten, ob du es glaubst, ich will es wissen.«
»Nein, dann glaube ich es ja nicht,« sagte er und streichelte ihr die Wange, »durchaus nicht, liebes Kind. Daß du wegen einer solchen Kleinigkeit so heftig werden kannst, Agathe! Und selbst, wenn du es gemeint hättest, was dann? Komm jetzt, wir können hier doch nicht stehen bleiben und uns mitten auf der Straße umarmen, törichtes Kind, hehe.«
Sie gingen weiter. Sie war ihm innig dankbar, weil er es so ruhig genommen hatte. Ach, er war so gut und fein, sie liebte ihn, Gott, wie sie ihn liebte …
Dieser kleine Auftritt sollte indessen für ihr Verhalten während des ganzen Abends entscheidend werden.
Als die Vorstellung vorüber war, versammelten sich alle in der Restauration. Es hatten sich ziemlich viele eingestellt, die ganze Clique, sogar Paulsberg und Frau; später kam auch Advokat Grande und brachte Coldevin, den Hauslehrer, angeschleppt, der sich fortwährend wehrte und sträubte. Der Advokat hatte ihn draußen vor dem Tivoli gefunden und machte sich ein Vergnügen daraus, ihn mit hereinzubringen.
Man hatte wie gewöhnlich von allen möglichen Dingen zwischen Himmel und Erde gesprochen, von Büchern und Kunst, von Menschen und Gott, hatte die Frauenfrage gestreift, die Politik gestreift. Leider hatte es sich gezeigt, daß Paulsbergs Artikel in den »Nachrichten« keine entscheidende Wirkung auf das Storthing geübt hatte; es hatte mit fünfundsechzig gegen vierundvierzig Stimmen beschlossen, die Sache zu vertagen; fünf von den Repräsentanten waren plötzlich so heftig erkrankt, daß sie an der Abstimmung nicht teilnehmen konnten. Milde erklärte, daß er nach Australien auswandern würde.
»Aber du malst ja an Paulbergs Porträt?« wendete der Schauspieler Norem ein.
»Na, und was weiter? Das Bild kann ich ja in ein paar Tagen fertigmachen.«
Nun aber bestand das heimliche Übereinkommen daß das Bild nicht vor Schluß der Ausstellung fertig werden solle; Paulsberg hatte es ausdrücklich so gewollt. Er wollte nicht zusammen mit allerhand anderer Ware ausgestellt werden; er liebte das Alleinsein, den Respekt, ein großes Fenster für sich allein beim Kunsthändler. Daran erkannte man Paulsberg.
Als daher Milde äußerte, er könne das Bild in ein paar Tagen fertig machen, erwiderte Paulsberg kurz und bündig:
»Vorläufig kann ich dir nicht sitzen; ich arbeite.«
Dabei blieb es.
Frau Hanka hatte Agathe neben sich. Die Frau hatte ihr gleich zugerufen: »Kommen Sie hierher, Sie mit dem Grübchen, hierher zu mir!« Und zugleich hatte sie sich nach Irgens umgedreht und geflüstert: »Ist sie nicht süß? Ach!«
Frau Hanka trug wieder ihr graues Wollkleid und einen herabfallenden Spitzenkragen; ihr ganzer Hals war bloß. Der Frühling begann auf sie zu wirken; er machte, daß sie ziemlich leidend aussah; sie hatte noch aufgesprungene Lippen, die sie fortwährend mit der Zunge anfeuchtete, und wenn sie lachte, mußte sie den Mund zu einer Grimasse verziehen.
Sie sprach mit Agathe darüber, daß sie binnen kurzem ihre Landvilla beziehen werde, wo sie sie zu sehen hoffe und sie bestimmt erwarte. Sie wollten dann Johannisbeeren essen und Heu harken und im Grase liegen. Auf einmal wendet sie sich über den Tisch an ihren Mann und sagt:
»Du, eh ich's vergesse, kannst du mir hundert Kronen geben?«
»He, warum hast du es nicht lieber vergessen!« antwortete Tidemand gutmütig. Er blinzelte, scherzte vergnügt und war entzückt: »Heiratet nicht, Kameraden, das ist ein teurer Spaß. Schon wieder hundert Kronen?«
Dann gab er seiner Frau den roten Schein, und sie dankte.
»Aber wozu brauchst du sie?« fragte er scherzend.
»Das sage ich nicht,« entgegnete sie. Und dann machte sie jedem weiteren Gerede darüber ein Ende, indem sie ihr Gespräch mit Agathe wieder aufnahm.
In diesem Augenblick kam der Advokat mit Coldevin zur Tür herein.
»Natürlich müssen Sie mit,« beharrte der Advokat. »So etwas ist mir doch noch nicht vorgekommen, ich will ein Glas mit Ihnen trinken. Hört mal, ihr da drüben, helft mir den Menschen hereinbringen.«
Als aber Coldevin erst gesehen hatte, wer da war, riß er sich allen Ernstes los und verschwand durch die Tür. Er hatte Ole Henriksen übrigens an dem obenerwähnten Vormittag besucht und hatte versprochen, wiederzukommen, war seitdem aber fortgeblieben, und niemand hatte ihn bis zu diesem Augenblick gesehen. Der Advokat sagte:
»Ich fand ihn hier draußen; der Mann tat mir leid, er war so allein; aber …«
Agathe erhob sich schnell und verließ ihren Platz; auch sie eilte zur Tür hinaus und holte Coldevin auf der Treppe ein. Man hörte sie eine Weile miteinander sprechen, endlich erschienen sie beide.
»Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er. »Der Herr Advokat war so liebenswürdig, mich wieder mit heraufzunehmen, aber ich wußte nicht, daß noch mehr Leute hier sind … daß hier große Gesellschaft ist, verbesserte er sich.
Der Advokat lachte.
»Große Gesellschaft, in einem Restaurant! Setzen Sie sich, Mensch, trinken Sie und sein Sie vergnügt! Was soll ich für Sie bestellen?«
Und Coldevin beruhigte sich. Dieser Hauslehrer vom Lande, der kahlköpfig und grau und meist zurückhaltend und still war, nahm an dem Gespräch mit den andern teil. Er schien sich sehr verändert zu haben, seitdem er in der Stadt war; er konnte sogar auf einen Angriff Antwort geben, obgleich niemand erwartet hätte, daß er um sich beißen könnte. Der Journalist Gregersen lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Politik, er hatte Paulsberg noch nicht seine Meinung sagen hören. Was daraus werden solle? Wie man sich verhalten solle?
»Wie man sich einer Tatsache gegenüber verhalten soll? Man soll sie hinnehmen, wie Männer solche Dinge nehmen,« erwiderte Paulsberg.
In diesem Augenblick fragte Advokat Grande Coldevin:
»Sie sind heute wohl auch im Thing gewesen?«
»Ja.«
»Sie kennen das Resultat also. Was ist nun Ihre Ansicht?«
»Das kann ich nicht so einfach sagen,« entgegnete er lächelnd.
»Er hat die Sache wohl nicht vollständig verfolgt, er ist ja erst vor kurzem hier angekommen,« bemerkte Frau Paulsberg wohlwollend.
»Verfolgt? Ob er das verfolgt hat! Da können Sie ganz ruhig sein!« rief der Advokat. »Ich habe schon öfter mit ihm darüber gesprochen.«
Es wurde weiter debattiert; Milde und der Journalist überschrien sich wegen der Demission der Regierung; andre sagten ihre Ansicht über die schwedische Oper, die sie soeben gehört hatten; es zeigte sich, daß nicht einer da war, der sich nicht auch noch auf Musik verstanden hätte. Und dann landete man wieder bei der Politik.
»Nun, Herr Coldevin, was heute passiert ist, hat Sie also weiter nicht erschüttert?« fragte Paulsberg, um ebenfalls wohlwollend zu sein. »Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich den ganzen Nachmittag geschimpft und geflucht habe.«
»So?« entgegnete Coldevin.
»Hören Sie nicht, daß Paulsberg fragt, ob es Sie nicht erschüttert hätte?« fragte der Journalist kurz und scharf über den Tisch weg.
Coldevin lächelte nur ruhig und murmelte:
»Erschüttert? Ach, man kann ja bei solchen Dingen seine Gefühle haben. Aber gerade diese Entscheidung heute ist mir nicht so unerwartet gekommen; in meinen Augen war es nur eine letzte Formalität.«
»Ah, Sie sind Pessimist?«
»Nein, nein, da irren Sie sich. Das bin ich nicht.«
Pause.
Paulsberg wartete, daß er noch mehr sagte, aber er sagte nichts. Dann wurde Bier und Butterbrot gebracht, hinterher Kaffee. Coldevin benutzte die Gelegenheit, einen Blick auf die Anwesenden zu werfen; er begegnete Agathens Auge, das mild auf ihm ruhte, und das bewegte ihn so, daß er plötzlich alles aussprach, was er dachte:
»Ist denn für Sie hier in der Stadt die Entscheidung heute so unerwartet gekommen?« Und da er hierauf eine halb bejahende Antwort erhielt, mußte er fortfahren, um sich ein wenig zu erklären: »Mich dünkt, sie steht im richtigen Zusammenhange mit den übrigen Verhältnissen bei uns. Die Leute sagen: Nun haben wir die Freiheit, das Reichsrecht hat sie uns geschaffen, jetzt wollen wir sie auch wirklich ein wenig genießen! Und dann legen sie sich hin und ruhen sich aus. Die Söhne Norwegens sind ›gute Herren und norwegische Männer‹ geworden.«
Darin stimmten alle überein. Paulsberg nickte, dies Phänomen vom Lande war vielleicht doch nicht so dumm. Jetzt aber schwieg der Mann, er schwieg hartnäckig. Endlich brachte der Advokat ihn doch wieder zum Reden; er fragte:
»Als ich Sie das erstemal im ›Grand‹ traf, behaupteten Sie, man solle nichts vergessen, niemals vergessen, niemals vergeben. Ist dies bei Ihnen Prinzip? Oder wie …?«
»Ja, Sie, Sie, die Sie die Jugend sind, sollten sich hinfort der Enttäuschung erinnern, die Sie heute erlitten haben, sie nicht vergessen. Sie haben Vertrauen zu einem Manne gehabt, und der Mann hat Ihr Vertrauen getäuscht; man sollte ihm das nicht vergessen. Nein, man soll nicht vergeben, nie; man soll sich rächen. Ich hab einmal gesehn, wie man zwei Omnibuspferde mißhandelte, es war in einem katholischen Lande, in Frankreich. Ein Kutscher sitzt hoch oben auf seinem Bock und schlägt und schlägt mit seiner riesigen Peitsche, und es hilft nichts; die Pferde gleiten auf dem Fahrweg aus, sie finden keinen Halt, obgleich sie sozusagen die Nägel ins Pflaster schlagen; sie kommen nicht von der Stelle. Der Kutscher steigt ab, er kehrt die Peitsche um und braucht den Stiel, er haut die Pferde über ihre harten Rücken, sie ziehen wieder an, fallen auf die Knie, krabbeln sich wieder in die Höhe und ziehen abermals an.
Der Kutscher ist wütend, denn es sammeln sich immer mehr und mehr Menschen, die seine Verlegenheit mit ansehen, er geht hin und schlägt die Pferde über die Augen, er geht wieder zurück und schlägt sie zwischen die Hinterbeine, oben zwischen die Hinterbeine, wo es am meisten weh tut. Und die Pferde winden sich und gleiten aus und fallen wieder auf die Kniee, es war, als wollten sie um Gnade bitten … Ich trat dreimal vor, um den Kutscher zu packen, und dreimal wurde ich von der Menschenmasse zurückgedrängt, die ihren guten Platz nicht aufgeben wollte; ich besaß keinen Revolver, ich konnte nichts andres tun, ich stand da, mit einem Federmesser in der Hand, und rief Gott und alle Teufel auf den Kutscher herunter; ich betete, wie ich nie im Leben gebetet habe, um eine Qual, eine ewige Höllenpein im Leben und im Tode für diesen Mann. Und ich betete und flehte um Erhörung. Nun steht eine Person neben mir, eine Frau; sie ist Nonne und trägt Christi Kreuz über dem Gewande; milde sagt sie: ›Ach nein, Herr, wie Sie sich versündigen! Gott ist gut, er vergibt alles!‹ Ich wende mich nach dieser unsäglich rohen Person um und sehe sie an und sage nicht ein Wort, ich sehe sie nur an und spucke ihr ins Gesicht …«
Dies erweckte Jubel in der Clique.
»Ins Gesicht, was? Aber was wurde daraus? Ei der Teufel! Konnten Sie ausreißen?«
»Nein, ich wurde arretiert … Aber was ich sagen wollte, war das: man sollte nicht vergeben, es ist so roh, es stellt alles Recht so vollständig auf den Kopf. Man soll eine Wohltat mit einer noch größern Wohltat zurückbezahlen, aber eine Bosheit, für die soll man sich rächen. Wenn man einen Streich auf die rechte Backe bekommt, und man vergibt und hält auch die linke hin, so verliert die Guttat allen Wert … Sehen Sie, das heutige Resultat im Thing ist ja nicht außer allem Zusammenhange mit dem Zustand, in den wir überhaupt geraten sind. Wir vergeben und vergessen die Treulosigkeit unserer Führer und entschuldigen ihr Schwanken und ihre Schwäche im entscheidenden Augenblick. Nun sollte die Jugend vortreten, das junge Norwegen, die Kraft und der Zorn. Aber die Jugend tritt nicht vor, nein, wir haben sie mit Psalmen und Quäkersalbaderei über ewigen Frieden aufgepäppelt, wir haben sie gelehrt, zur Milde und Nachgiebigkeit aufzublicken, die zu preisen, die den höchsten Grad guter Zahnlosigkeit erreicht haben. Nun steht die Jugend da, stramm und erwachsen, sechs Fuß hoch, und saugt aus der Flasche und wird mild und fett. Versetzt man ihr einen Streich auf die eine Backe, so bietet sie verzeihend die andere dar, die Fäuste in der Tasche geballt, Frieden …«
Coldevins Rede weckte keine geringe Aufmerksamkeit: man nahm ihn einfach in Augenschein; er saß wie gewöhnlich mit ruhiger Miene da und sagte seine Worte ohne Eifer; seine Augen glühten, ein Zittern war in seinen Händen, die er in seiner linkischen Weise gegeneinander legte, wobei er die Finger zurückbog, daß sie knackten, aber niemals erhob er die Stimme. Er sah übrigens nicht gut aus, er trug einen angeknöpften Kragen, und dieser Kragen hatte sich samt der Krawatte verschoben, so daß die ganze Geschichte auf einer Seite saß; ein blaues Baumwollhemd schaute hervor, und das alles bemerkte er nicht einmal. Sein graugesprenkelter Bart fiel ihm auf die Brust herunter.
Der Journalist nickte und sagte zu seinem Nebenmanne:
»Nicht übel! Er ist ja beinah einer von den Unsern.«
Lars Paulsberg sagte scherzend und immer noch wohlwollend:
»Ja, wie gesagt, ich habe nichts getan, als den halben Tag geflucht; ich werde also wohl das Meine zur Entrüstung der Jugend beigetragen haben.«
Advokat Grande, der sich ausgezeichnet unterhielt, war ganz stolz darauf, daß es ihm eingefallen war, Coldevin mitzuschleppen; er erzählte Milde noch einmal, wie das Ganze zugegangen sei: »Ich glaubte, es würde hier oben nicht allzu amüsant sein, und da treffe ich diesen Mann, der vor der Tivolitür stand; er stand ganz allein, und da tat er mir leid …«
Nun nahm Milde das Wort:
»Sie sprechen von dem Zustand, in den wir überhaupt geraten seien; meinen Sie damit, daß wir auf allen Ecken und Kanten von Kraftlosigkeit und Blutlosigkeit umgeben seien, dann täuschen Sie sich gröblich …«
Da lächelte Coldevin und unterbrach ihn:
»Nein, das meine ich nun nicht.«
»Ja, was meinen Sie denn? Es geht nicht, daß man von einer Jugend wie der unsern, die so blühend voll von Talenten ist, sagt, diese Jugend sei kraftlos. Zum Teufel, es hat vielleicht nie einen solchen Reichtum an Talenten in unsrer Jugend gegeben, wie jetzt.«
»Nein, ich wüßte nicht, wann das gewesen sein sollte,« sagte sogar Schauspieler Norem, der in seiner Tischecke in aller Stille einen Pjolter nach dem andern getrunken hatte.
»Talente? Ja, das ist eigentlich eine andre Frage, auf die wir damit kommen,« erwiderte Coldevin. »Aber finden Sie übrigens, daß die Talente unter unsern Jungen so außerordentlich viel versprächen?«
»He, er fragt, ob … Ach so, es ist zurzeit nicht viel los mit unsern Talenten, Herr Coldevin? Ach nein, Sie haben wohl recht, es gibt nichts Gescheites an Talenten.« Milde lachte höhnisch und wendete sich an Irgens, der kein Wort gesprochen hatte; er lachte noch lauter. »Wir haben jetzt keine besonderen Aussichten, Irgens,« sagte er, »das Phänomen verurteilt uns zum Nichts.«
Jetzt mischte sich schließlich Frau Hanka ein, sie wollte die Sache beilegen. Es sei vielleicht nur ein Mißverständnis, Herr Coldevin würde sich noch näher erklären. Könne man übrigens die Ansicht eines Mannes nicht anhören, ohne heftig zu werden? Milde solle sich schämen …
»He, he, Sie haben also nicht viel Fiduz zu uns, die wir doch ein bißchen Talent haben sollten, wie?« fragte Paulsberg noch immer nachsichtig.
Und Coldevin entgegnete:
»Fiduz? … Ich kann nicht leugnen, daß es nach meiner Ansicht abwärts geht mit uns, ja, ich gebe zu, daß ich das meine. Und hierbei denke ich besonders an die Jungen. Wir haben angefangen, langsam zurückzugehen, geradeheraus, wir legen unser Niveau tiefer, und alles geht mehr oder weniger in höherer Nullität auf. Die Jungen verlangen nicht mehr recht viel, weder von sich, noch von andern, sie beruhigen sich bei dem Kleinen und nennen das Kleine groß; es gehört nicht sehr viel dazu, um heutzutage in Betracht zu kommen. Das war es, was ich mit dem ›Zustand überhaupt‹ meinte.«
»Aber zum Donnerwetter, Mensch, was sagen Sie denn zu unsern jungen Dichtern?« schrie jetzt plötzlich Journalist Gregersen in höchster Erregung. »Ja, unsere Dichter! Haben Sie etwas von ihnen gelesen? Ist Ihnen zum Beispiel jemals der Name Paulsberg aufgestoßen, oder der Name Irgens?« – Der Journalist war sehr ärgerlich.
Agathe konnte nicht umhin, ihren ehemaligen Lehrer zu mustern; es setzte sie in Erstaunen, daß dieser Mann, der stets einzulenken pflegte, der nachgab, wenn ihm widersprochen wurde, jetzt in jedem Augenblick eine Antwort bereit hatte und durchaus nicht sehr verzagt war.
»Sie müssen mir nicht übel nehmen, was ich sage,« bat er. »Ich gebe zu, daß ich hier nicht mitsprechen sollte; das müßten andere tun, die sich besser darauf verstehen; aber wenn ich sagen soll, was ich glaube: auch unsre jungen Schriftsteller richten nicht viel in unsern Angelegenheiten aus. Man hat hier kein Maß, mit dem man messen könnte, alles kommt auf das Dafürhalten eines jeden an, und mein Dafürhalten ist nicht dasselbe wie das Ihre; darüber läßt sich nichts sagen. Also: unsere jungen Schriftsteller heben das Niveau nicht so außerordentlich; meinem geringen Verstande nach tun sie es nicht. Sie haben die Kraft nicht dazu, wie es scheint. Nein, nein; aber sie können nichts dafür? Gut, dann sollen sie aber auch nicht für mehr gelten, als sie sind. Es ist so schlimm, daß wir das Große aus den Augen verlieren und das Kleine groß machen. Werfen Sie doch mal einen Blick auf unsre Jugend, sehn Sie auch die Schriftsteller an, sie sind tüchtig genug, aber … ja, tüchtig genug sind sie, sie arbeiten und arbeiten sich dazu hinauf; aber es kommt nicht über sie. O mein Gott, wie wenig verschwenderisch sind sie im Grunde mit ihren Mitteln! Sie sind sparsam und trocken und klug. Sie schreiben einen Vers, und sie drucken diesen Vers, und andre Verse. Sie quälen dann und wann ein Buch aus sich heraus, kratzen sich jedesmal gewissenhaft bis auf den Grund aus und erzielen ein vorzügliches Resultat damit.
Sie streuen nichts aus, nein, sie werfen kein Geld auf die Straße. Und früher konnten die Dichter doch etwas zusetzen; sie hatten die Mittel dazu; ihr Reichtum floß über, und sie warfen die Dukaten mit einer herrlichen und unvernünftigen Sorglosigkeit zum Fenster hinaus. Was war dabei? Sie hatten die Taschen wieder voll Dukaten. Ach nein, unsere jungen Schriftsteller, die sind vernünftig und klug; die zeigen uns nicht wie die alten ein grandioses Verschwenden, kein Unwetter, keine erstaunlichen Triumphszenen von roher Kraft.«
Agathe wendete kein Auge von ihm; er sah sie an und begegnete ihrem Blick; mit einem flüchtigen warmen Lächeln, das über ihr Gesicht flog, gab sie ihm zu verstehen, daß sie seine Worte gehört hatte. Sie wollte Ole doch zeigen, wie wenig sie beabsichtigt hatte, es zu beklagen, daß nicht auch er ein Dichter war; sie nickte Coldevin sogar zu und gönnte den Dichtern alles, was sie zu hören bekamen. Coldevin war ihr dankbar für ihr Lächeln, sie war die einzige, die noch ebenso freundlich lächelte; es kümmerte ihn wenig, daß man ihn heftig anschrie, brüllte und grobe Fragen an ihn richtete: Was für eine Art Phänomen er denn eigentlich sei, daß er so überlegen tun könne? Welche welthistorischen Taten er selbst vollführt habe? Er solle nicht länger inkognito herumgehen; wie denn sein wahrer Name sei? Man wolle ihn begrüßen.
Irgens war noch der ruhigste; stolz drehte er seinen Schnurrbart und sah auf die Uhr, um zu zeigen, wie sehr ihn dies langweile. Und indem er Coldevin einen Blick zuwarf, flüsterte er Frau Hanka mit einem unwilligen Ausdruck zu:
»Mir scheint, der Mann ist nicht sehr reinlich. Sehn Sie nur das Vorhemd, den Kragen, oder wie man es nennt. Ich sah, wie er vorhin eine schmutzige Zigarrenspitze ohne Futteral in die Westentasche steckte; wer weiß, vielleicht trägt er in derselben Tasche einen alten Kamm. Uf!«
Aber immer mit der alten, ruhigen Miene, den Blick auf einen Punkt des Tisches geheftet und ganz gelassen, saß Coldevin da und hörte die Bemerkungen der Herren an. Der Journalist fragte ihn geradezu, ob er sich nicht schäme.
»Ach, lassen Sie ihn in Ruh,« unterbrach ihn Paulsberg, »ich begreife nicht, daß Sie ihn kränken mögen.«
»Es tut mir leid, daß ich Sie beleidigt habe,« sagte Coldevin nun. »Sie sollten es aber doch nicht übel nehmen, daß jemand eine andre Ansicht über eine Sache hat als Sie; das kann doch vorkommen.« Coldevin lächelte.
»Es sieht also furchtbar schwarz aus in Norwegen,« rief der Journalist halb lachend. »Keine Talente, keine Jugend, nichts; nur ein ›Zustand überhaupt‹. He – he, Gott mag wissen, was das noch für ein Ende nimmt! Und wir, die wir meinten, daß die Leute ihre jungen Dichter ehren und achten sollten.«
Coldevin heftete seine dunkeln Augen auf ihn.
»Aber das tun die Leute ja auch,« sagte er, »darüber kann man sich wohl nicht beklagen, wie? Man ehrt den Mann ja hoch, der ein oder zwei Bücher verfaßt hat, man bewundert ihn zum Beispiel viel mehr als den größten Geschäftsmann oder den talentvollsten Praktiker. Bei uns bedeuten die Schriftsteller wirklich sehr viel für die Leute; sie sind der Inbegriff alles Höchsten und Feinsten, was man kennt; es gibt vielleicht nicht viel Länder auf der Welt, wo das Geistesleben in solchem Grade in die Hände der Schriftsteller gelegt wäre, wie bei uns. Wie Sie mir vielleicht zugestehen werden, haben wir keine Staatsmänner, – nein, nein, aber die Schriftsteller politisieren, und sie machen ihre Sache gut. Es ist Ihnen vielleicht aufgefallen, daß es mit unsrer Wissenschaft ein wenig dürftig bestellt ist, – wohlan, mit der zunehmenden Hochachtung vor der echten Intuition bleiben die Schriftsteller gar nicht so weit hinter den Männern der Wissenschaft zurück. Es wird ihrer Aufmerksamkeit wohl nicht entgangen sein, daß wir in unserer ganzen Geschichte nicht einen einzigen Denker gehabt haben, – nun, das ist nicht so schlimm, die Schriftsteller verlegen sich jetzt auch aufs Denken, und das Publikum findet wirklich, daß sie ihre Sache gut machen. Nein, es scheint mir unbillig, über Mangel an Hochachtung und Bewunderung für die Schriftsteller bei unsern Landsleuten zu klagen.«
Paulsberg, der in seinen Werken zu wiederholten Malen bewiesen hatte, daß er Philosoph und Denker von Rang sei, saß nur und spielte und spielte mit seinem Lorgnon und lachte stumm über den Burschen. Als aber Coldevin noch einige Worte hinzufügte und schloß, indem er sagte, daß er einen glücklichen Glauben an die praktische Jugend hege, an die jungen Kaufmannstalente des Landes zum Beispiel, hörte er ein schmetterndes Lachen, und der Journalist und Paulsberg schrien durcheinander, dies sei ausgezeichnet, das sei, straf mich Gott, ausgezeichnet, unbezahlbar. Kaufmannstalente, was das denn eigentlich sei? Talente für das Schachern, was? Besten Dank!
»Ja, nach meinem Dafürhalten gibt es wirklich große Talente unter unsrer Jugend im Kaufmannsstande, und ich möchte ihnen raten, dieser Tatsache ein wenig Beachtung zu schenken, das wäre nicht übel angebracht. Man baut Schiffe, eröffnet sich Märkte, macht verwickelte Geschäfte in ganz ungeahntem Maßstabe …«
Coldevin kam nicht weiter, man lachte noch, obgleich man aus Rücksicht auf die anwesenden guten Freunde, die Großhändler waren, auf etwas andres überzugehen suchte. Ole Henriksen und Tidemand hatten schweigend zugehört; zuletzt waren sie in Verlegenheit, wie sie sich verhalten sollten; sie verbargen das jedoch, so gut es ging, und sprachen leise miteinander. Auf einmal flüsterte Tidemand:
»Ole, kann ich morgen zu dir kommen und etwas mit dir besprechen? Es ist allerdings nur etwas Geschäftliches. Könnte ich ziemlich früh kommen, so ungefähr gegen zehn Uhr, ohne dich zu stören? Schön, besten Dank!«
Unten am Tischende, wo Milde saß, hatte man angefangen, über alte, teure Weine, Johannisberger Kabinett, Musigny zu sprechen. Milde war auch ein ausgezeichneter Weinkenner und widersprach dem Advokaten auf das heftigste, obgleich Advokat Grande, aus der großen Familie des Grandes, von Kindesbeinen an alten Wein getrunken zu haben glaubte.
»Seit einiger Zeit nimmt es mit deinem Dicketun gar kein Ende,« sagte Milde.
Der Advokat warf ihm einen Blick zu und murmelte:
»So ein Knirps wie der Maler in Öl, Milde, will sich auf Wein verstehen.«
Darauf kam die Rede auf Kunststipendien. Irgens horchte auf, er verzog keine Miene, als Milde Öjen als den würdigsten Bewerber nannte. Es war übrigens ein merkwürdig hübscher Zug von Milde, daß er Öjen dieses Stipendium so von ganzem Herzen gönnte; er selbst war ebenfalls Bewerber und brauchte das Geld so notwendig wie nur einer. Es ward Irgens wirklich schwer, dies zu begreifen.
Mit einem Male war es mit dem Interesse für den unvernünftigen Hauslehrer ganz aus; niemand wendete sich mehr an ihn, und er hatte auch schon seinen Hut genommen, den er zwischen den Fingern hin und her drehte. Frau Hanka richtete aus Höflichkeit ein paar Fragen an ihn, die er beantwortete, und dann tat er den Mund nicht mehr auf. Es war doch merkwürdig, daß der Mann nicht merkte, wie es mit seinem Kragen stand; es kostete ihn doch nur einen Griff mit der einen Hand, um ihn in Ordnung zu bringen; aber er tat es nicht.
Dann verabschiedete sich Paulsberg. Bevor er das Restaurant verließ, nahm er den Journalisten in eine Ecke und sagte zu ihm:
»Du könntest mir einen Dienst erweisen, wenn du in deinem Blatte die Notiz brächtest, daß ich jetzt mit meinem neuen Buche ungefähr bis zur Hälfte gediehen bin. Es interessiert das Publikum vielleicht, das zu erfahren.«
Jetzt erhoben sich auch Milde und der Advokat; sie weckten Norem, der endlich nach den vielen stillen Pjoltern eingeschlafen war; sie brachten ihn halbwegs auf die Beine. Er fing zu sprechen an; den letzten, den allerletzten Teil der Unterhaltung habe er nicht gehört, sagte er, wie es denn mit den Dichtern geworden sei? Ah, Frau Hanka sei auch da, – er sei sehr erfreut, sie zu sehen; weshalb sie denn nicht früher gekommen sei?
Dann wurde er nach der Tür gezogen und hinausgeführt.
»Also allgemeiner Aufbruch?« fragte Irgens unzufrieden. Er hatte allerdings ein einziges Mal im Laufe des Abends versucht, sich Agathe Lynum zu nähern: aber es war ihm nicht geglückt; sie hatte ihn gemieden, hatte es vermieden, neben ihm sitzen zu bleiben. Später hatte er bemerkt, daß sie sich sehr gut bei Coldevins unsinnigem Geschwätz über die Jungen und die Dichter unterhalten hatte; was hatte das zu bedeuten? Im ganzen genommen, war es kein angenehmer Abend gewesen; Frau Hankas Lippen waren so wund gewesen, daß sie nicht einmal natürlich hatte lachen können, und mit Frau Paulsberg konnte man sich doch wirklich nicht einlassen. Es war geradezu ein verpfuschter Abend; jetzt brach man auf; die Laune ließ sich nun nachträglich auch nicht mehr durch eine kurze intime halbe Stunde wieder herstellen.
Irgens gelobte sich, der Clique die Überlegenheit zu vergelten, mit der sie ihn behandeln zu können glaubte. Seine Zeit kam vielleicht schon in der nächsten Woche …
Draußen vor dem Tivoli trennte sich die Gesellschaft. Frau Hanka und Agathe gingen zusammen die Straße hinauf.
Am nächsten Morgen um 10 Uhr fand Tidemand sich in H. Henriksens Kontor ein. Ole stand am Pult.
Tidemands Anliegen betraf, wie er gesagt hatte, einzig und allein eine Handelsangelegenheit; er sprach gedämpft, beinahe flüsternd und legte ein Telegramm höchst verblümten Inhalts vor: Wo stand »steigend eins,« bedeutete es zehn, und wo »Baisse U.S.« stand, da bedeutete es in Wirklichkeit Stockung auf dem Schwarzen Meer und auf der Donau, und Hausse in Amerika. Das Telegramm war von Tidemands Vertreter in Archangel.
Ole Henriksen war sich sofort über die Bedeutung dieser Depesche klar: auf Grund der Hungersnot beim Zaren und bei der Aussicht auf eine abermalig mißliche Ernte würde Rußland binnen kurzem jeden Export des lagernden Korns aufhören lassen. Es würden schwere Zeiten kommen, Norwegen würde sie auch fühlen müssen, das Korn würde fabelhaft im Preise steigen, und was noch mehr war, es galt sich zu jedem Preise damit zu versorgen, solange es noch zu haben war. Amerika hatte bereits Lunte gerochen, trotz des Dementis der russischen Regierung in der englischen Presse, und der amerikanische Weizen stieg täglich; während er früher auf sieben- und achtundachtzig gestanden hatte, schwankte er jetzt zwischen hundertundzehn, hundertundzwölf, hundertundfünfzehn. Niemand konnte ahnen, wie das enden würde.
Tidemands Anliegen an Ole war, daß er seinem Freunde und Kollegen ein Geschäft in amerikanischem Roggen vorschlagen wollte, solange es noch Zeit war. Sie würden das Geschäft zusammen machen, mit einem Schlage einen kolossalen Kaisercoup machen, Norwegen eine Roggenmasse zuführen, die dazu beitragen konnte, es ein Jahr hindurch zu erhalten. Aber es hatte Eile, Roggen stieg ebenfalls jeden Tag, in Rußland konnte er beinahe nicht mehr gekauft werden.
Ole verließ das Pult und begann auf und ab zu gehen; es arbeitete in seinem Kopf, er hatte beabsichtigt, Tidemand eine Erfrischung, eine Zigarre anzubieten, vergaß es aber ganz und gar. Das Geschäft lockte ihn, aber er hatte sich für den Augenblick zu sehr auf einer andern Seite gebunden; das letzte Geschäft auf Brasilien hatte ihn wirklich ein wenig lahm gelegt, ihn festgesetzt, und er konnte nicht erwarten, die Früchte dieses Geschäftes vor Ablauf des Sommers einzuheimsen.
»Hierbei muß sich doch Geld verdienen lassen,« sagte Tidemand.
Kein Zweifel; es war auch nicht das, was Ole schwankend machte; aber leider konnte er nicht. Er erklärte seine Verhältnisse und fügte hinzu, daß er sich vorläufig nicht auf mehr einzulassen wage. Aber die Spekulation interessierte ihn, machte seine Augen funkeln, er erkundigte sich aufgeregt nach den Details, nahm ein Stück Papier und machte einen Überschlag, studierte mit grübelnder Miene wieder das Telegramm. Zuletzt ließ er den Kopf sinken und erklärte, sich nicht an dem Handel beteiligen zu können.
»Ich kann ja natürlich auch allein operieren,« sagte Tidemand, »dann nehme ich nur um so viel weniger. Aber ich hätte dich so gern mit dabei gehabt, ich hätte mich dadurch sicherer gefühlt. Aber natürlich darfst du dich nicht weiter einlassen, als du verantworten kannst. Inzwischen will ich telegraphieren; hast du ein Blankett?«
Tidemand schrieb das Telegramm und reichte es Ole hinüber:
»So; das ist doch Wohl verständlich?«
Ole trat einen Schritt zurück.
»So viel!« sagte er. »Das ist eine große Order, Andreas.«
»Das ist es. Aber ich muß auf ein glückliches Resultat hoffen,« entgegnete Tidemand ruhig. Und außerstande, die Bewegung zurückzudrängen, die ihn plötzlich durchströmte, sah er auf die andre Wand hinüber und flüsterte vor sich hin: »Mir ist jetzt übrigens auch alles gleichgültig.«
Ole sah ihn an.
»Nein, sag das nicht, Andreas, sprich nicht so. Du darfst trotz allem den Mut nicht verlieren, hörst du, dazu ist doch kein Grund, wie?«
»Ach, das weiß ich nicht … Na ja, darüber sprechen wir nicht … Na wir werden ja sehen, wie die Sache geht.«
Tidemand steckte das Telegramm in die Tasche.
»Ja« … meinte auch Ole.
»Es hätte mich gefreut, wenn wir gemeinsam bei diesem Geschäft gewesen wären, Ole. Ich kann nicht anders sagen, als daß auch ich auf andrer Seite tief drin stecke. Jetzt habe ich also für alle Fälle mein Eis zu verschiffen. Wenn das warme Wetter kommt, wirst du sehen, daß ich schönes Geld daran verdiene; glaubst du nicht auch?«
»Unbedingt,« erwiderte Ole, »das ist kourante Ware.«
»Na ja, ich bin ja auch noch nicht ganz auf den Hund gekommen. Und unser Herrgott bewahre mich auch vor solch einem Schicksal, um meinetwillen wie um der Meinen willen!«
»Aber könntest du nicht zur Sicherheit … Wart übrigens einen Augenblick, entschuldige, daß ich dir nicht einmal eine Zigarre angeboten habe. Doch; ich weiß, daß du gern eine Zigarre rauchst, wenn du plauderst; ich vergaß es. Setz dich einen Augenblick, tu mir den Gefallen, ich komm gleich wieder.«
Tidemand begriff, daß Ole ging, um den üblichen Wein aus dem Keller zu holen, und er rief ihm nach; aber Ole hörte ihn nicht und trat gleich darauf mit der alten schimmligen Flasche wieder ein. Sie setzten sich, wie sie pflegten, aufs Sofa und stießen miteinander an.
»Was ich nämlich sagen wollte,« fuhr Ole fort, »hast du nun alles, wirklich alles überlegt, was dies Geschäft mit Amerika betrifft? Ich bilde mir ja nicht ein, dich belehren zu können, verstehst du, aber …«
»Ich glaube wohl, daß ich alles berechnet habe,« antwortete Tidemand, »darum brauche ich auch den Terminus: vor Ablauf dreier Tage und auf Lieferung. Gekauft muß sofort werden, wenn es einen Sinn haben soll. Ich habe nicht einmal vergessen, einen wahrscheinlichen Präsidentenwechsel jetzt bei den Wahlen in Betracht zu ziehen.«
»Aber könntest du nicht der Sicherheit wegen eine begrenztere Order geben? Vielleicht solltest du nicht kaufen, wenn es über zwölf steigt?«
»Ungern. Aber du siehst doch ein, wenn Rußland schließt, so ist nicht einmal fünfzehn, zwanzig zu viel; schließt Rußland aber nicht, so ist ja schon hundert, schon neunzig zu viel. Dann komme ich trotzdem auf den Hund.«
»Nein, Andreas, du sollst nicht so ohne weiteres alles riskieren; ich würde die Order an deiner Stelle herabsetzen.«
»Ach nein, jetzt mag sie bleiben, wie sie ist. Geht es schief, so mag es in Gottes Namen schief gehen; ganz aufs Trockne werde ich doch wohl nicht kommen.« Und die Bewegung übermannte Tidemand wieder, und er sagte abermals leise: »Außerdem fange ich jetzt an, so ziemlich gleichgültig zu werden.«
Er erhob sich hastig, um seine Betrübnis zu verbergen; eine kleine Weile stand er am Fenster und sah hinaus, dann wendete er sich wieder zu Ole und sagte lächelnd:
»Ich glaube, dies Geschäft hat das Glück für sich; es ist wirklich wahr, ich habe das so im Gefühl. Du weißt, was es heißt, wenn wir Handelsleute eine Sache im Gefühl haben; dann wagen wir alles, ohne uns zu fürchten.«
»Na, wollen wir ein Glas drauf trinken, daß alles nach Wunsch gehen möge.«
Und sie tranken.
»Wie steht es denn sonst eigentlich?« fragte Ole.
»Nun,« beeilte Tidemand sich zu antworten, »auch das sieht nicht so schlimm aus, keineswegs. Es ist zu Hause alles ungefähr beim alten.«
»Also eigentlich keine Veränderung?«
»Na –, nein … Ja, aber jetzt muß ich wohl gehen.«
Tidemand erhob sich. Ole begleitete ihn an die Tür und sagte:
»Du darfst nicht mißmutig werden, Andreas, darum bitte ich dich. Ich habe keine rechte Lust, noch öfter zu hören, daß dir alles gleichgültig geworden sei … Danke dir für deinen Besuch.«
Aber Tidemand ging nicht; er ließ die Hand auf der Türklinke ruhen, blieb stehen und seine Augen schweiften nervös von einem Gegenstand zum andern im Kontor.
»Es ist wohl nicht zu verwundern, wenn auch ich einmal die gute Laune verliere,« sagte er. »Ich stehe augenblicklich nicht gut, ich tue mein Bestes, um die Sachen in Ordnung zu bringen, aber das geht nicht so schnell, nicht so recht schnell. Na, wir müssen also sehen, wie es geht; ich glaube, es ist ein wenig besser geworden, Gott sei Dank.«
»Ist deine Frau jetzt mehr zu Hause? Es kommt mir so vor, als …«
»Hanka ist den Kindern wirklich seit einiger Zeit eine gute Mutter; ich bin so froh darüber, denn das hat uns einander bedeutend näher gebracht. Sie arbeitet jetzt daran, die Kinder mit Kleidungsstücken für den Landaufenthalt zu versehen; wundersame Sachen, die sie zustande bringt; ich habe niemals etwas Ähnliches gesehen, blaue und weiße und rote Kleider; sie liegen zu Hause, ich kann sie besehen, wann ich will. Es läßt sich vielleicht nicht so viel darüber sagen; sie betrachtet sich immer noch nicht als verheiratet; sie fährt fort, sich Lange zu unterzeichnen; das ist natürlich eine Laune von ihr, und sie schreibt sich auch Tidemand, das vergißt sie nicht. Du hast gestern abend in Tivoli selbst gehört, wie sie mich um hundert Kronen gebeten hat. Es freute mich, damit rechne ich nicht, und ich würde es nicht erwähnt haben, wenn du es nicht selbst gehört hättest. Das war nun übrigens der dritte Hundertkronenschein, den sie in Verlauf von zwei Tagen bekommen hat; du mißverstehst mich doch wohl nicht, Ole? Lieber Freund, tu das nicht! Aber weshalb bittet sie mich in Gegenwart aller Leute um Geld? Es ist gleichsam, als wolle sie den Eindruck hervorbringen, als sei dies die einzige Art und Weise, mich zu nehmen; als bekäme sie sonst nichts. Sie verbraucht viel Geld; ich glaube nicht, daß sie selbst es verbraucht; nein, ich bin sicher, daß sie es nicht verbraucht, Hanka verschwendet nichts; aber sie verschenkt das Geld, sie hilft andern. Zuweilen bekommt sie viel Geld von mir in der Woche; oft bekommt sie Geld, wenn sie ausgeht, und wenn sie wieder nach Hause kommt, hat sie nichts mehr, obgleich sie nichts gekauft hat. Nun ja, sei's drum; solange ich kann, ist mein Geld ja auch ebensogut ihr Geld, das ist selbstverständlich. Im Scherz fragte ich eines Tages, ob sie mich ruinieren, mich an den Bettelstab bringen wolle; sieh mal, es war nur Scherz, und ich selbst habe herzlich darüber gelacht. Aber sie faßte es nicht so auf, sie bot mir an, das Haus verlassen zu wollen, wann es mir gefiele, kurzum: Scheidung. Das hat sie mir schon viele, viele Male angeboten, aber damals nur aus Veranlassung eines Scherzes. Darauf sagte ich, ich bereue meinen Scherz, ich bat sie um Verzeihung; es sei mir nie in den Sinn gekommen, daß sie mich ruinieren wollte. ›Lieber Andreas, können wir nicht auseinandergehen?‹ fragte sie. Ich weiß nicht, was ich entgegnete; es bedeutete wohl nicht viel, vermute ich, denn gleich darauf bat sie mich um meinen Hausschlüssel, da sie den ihren verloren habe. Ich gab ihr also den Hausschlüssel.. Da lächelte sie, ich bat sie darum, und sie tat es mir zu Gefallen und sagte lächelnd, ich sei ein großes Kind … Gestern morgen sah ich sie nicht früher, als bis ich auf einen Augenblick aus dem Kontor nach Hause kam; sie arbeitete noch an den Sommerkleidern der Kinder und zeigte mir alles. Dabei zog sie ihr Taschentuch heraus, und gerade, als sie dies Taschentuch vorn aus der Taille zog, kam eine Herrenkrawatte mit, eine rote Herrenkrawatte. Ich tat, als sähe ich es nicht, aber ich sah doch, daß die Krawatte nicht mir gehörte; ich habe sie auch wiedererkannt. Ja, Ole, du mußt mich übrigens recht verstehen; ich erkannte sie nicht so genau wieder, daß ich hätte sagen können, wessen Krawatte es gewesen sei. Mag auch sein, daß es eine meiner Krawatten war, eine von meinen alten Krawatten, die ich abgelegt habe. Es ist eine förmliche Eigentümlichkeit bei mir, daß ich meine eignen Krawatten nicht kenne; ich schenke ihnen so wenig Beachtung … Na ja, es wird doch besser, wie gesagt. Und wenn jetzt mein großes Unternehmen gut einschlägt, so kommt damit vielleicht das Glück. Es wäre prächtig, wenn ich ihr zeigen könnte, daß ich kein Dummkopf bin, ha – ha.«
Die beiden Freunde sprachen noch einige Minuten zusammen; dann schlug Tidemand den Weg nach dem Telegraphenbureau ein. Er war voller Hoffnung. Sein großer Gedanke war, einer Krise zuvorzukommen, im Besitz einer kolossalen Menge Roggens zu sein, wenn kein andrer welchen hatte. Es würde schon glücken! Er war leichtfüßig wie ein Jüngling und vermied es, Bekannte zu treffen, die ihn hätten aufhalten können.
Fünf Tage später traf wirklich ein Telegramm im Ministerium des Äußern ein, daß die russische Regierung auf Grund der Hungersnot im Lande und der traurigen Ernteaussichten für das laufende Jahr sich gezwungen gesehen habe, jede Ausfuhr von Roggen, Weizen, Mais und Kleie aus allen Häfen Rußlands und Finnlands zu verbieten.
Tidemand hatte richtig gerechnet.