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Irgens hatte sein Buch erscheinen lassen. Diese vornehme Seele, die andre so wenig in das einweihte, was sie vornahm, hatte zu aller Bewunderung einen hübschen Band Gedichte herausgegeben, gerade als der Frühling im Flor stand. War das eine Überraschung! Es war allerdings zwei Jahre her, seitdem sein Drama das Licht der Welt erblickt hatte; jetzt aber zeigte es sich, daß er nicht müßig gewesen war; er hatte ein Gedicht nach dem andern gemacht, niedergeschrieben und in die Schublade gelegt, und als das Häuflein groß genug war, übergab er es dem Druck. So gebärdete sich ein stolzer Mann, es gab keinen, der Irgens an warmer und diskreter Kraft übertraf!
Sein Buch lag bereits in den Fenstern der Buchhändler; das Publikum sprach davon, es mußte ein bedeutendes Aufsehen machen; Damen, die das Buch gelesen hatten, waren von den wildglühenden Liebesversen darin bezaubert. Aber auch manch ein mutiges Wort voll Männlichkeit und Willen war darunter, Gedichte ans Recht, an die Freiheit, an die Könige; weiß Gott, er schonte auch die Könige nicht. Daß er es wagen konnte, von einer Volksbank von eingeschmolzenen Königskronen zu reden, von Babylons Königen und Babylons Metzen; daß er wagte vom allergnädigsten Nein zu flüstern, dem im Millionenchor ein Ja widersprach: er schickte es beinahe an die richtige Adresse! Aber ebensowenig wie früher nahm Irgens jetzt Notiz davon, daß die Stadt ihn bewunderte, wenn er über die Promenade ging. Du lieber Gott, – wenn es Menschen gab, denen es Vergnügen machte, ihn anzuglotzen! Er war und blieb kalt für die Aufmerksamkeit der Leute.
»Man muß zugeben, daß du ein schlauer Bruder bist,« sagte sogar Schauspieler Norem auf der Straße zu ihm. »Du läßt dir gar nichts merken und sagst nicht ein Wort, sondern wirfst uns solch eine Fackel vor unsrer Nase hin, und läßt dir wiederum nichts merken. Es gibt nicht viele, die dir das nachmachen.«
Advokat Grande konnte es auch jetzt nicht lassen, sich wichtig zu machen, er lachte und sagte:
»Aber du hast Feinde, Irgens. Ich sprach heute mit einem Manne, der absolut nicht das Riesengroße davon einsehen konnte, daß man jetzt nach Verlauf von zwei und einem halben Jahr wieder ein kleines Buch herausgibt.«
Da war's, wo Irgens die stolze Antwort gab:
»Ich halte es für eine Ehre, wenig zu schreiben. Nicht die Menge ist's, die es macht.«
Aber nachher fragte er doch, wer dieser Feind sei. Ihn plage die allzu große Neugierde nicht, und alle wüßten ja, daß er sich furchtbar wenig aus dem Interesse der Leute mache; aber trotzdem, – ob es Paulsberg gewesen sei?
Nein, Paulsberg war es nicht.
Irgens fragte und riet noch ein paarmal, aber der wichtige Grande wollte den Namen nicht verraten; er machte ein Geheimnis daraus und quälte Irgens so sehr er konnte. »Es zeigt sich doch, daß du nicht ganz unempfänglich bist,« sagte er und lachte aus vollem Halse.
Irgens murmelte verächtlich: »Unsinn!« Er war offenbar noch mit diesem Mann beschäftigt, mit diesem Feinde, der sein Verdienst schmälern wollte. Wer konnte es denn sein, wenn es nicht Paulsberg war? Wer konnte es sein, der selbst etwas Riesengroßes in den letzten zweieinhalb Jahren verrichtet hatte? Irgens konnte sich auf keinen besinnen, von den Jungen war er absolut der einzige. Plötzlich ging ihm ein Licht auf, und er sagte gleichgültig:
»Nun, es ist, wie gesagt, von keiner Wichtigkeit für mich, den elenden Namen zu erfahren; aber wenn es dieser Coldevin vom Lande ist – mein Gott, Grande, da gehst du hin und wiederholst, was so ein Mensch sagt? Na, das ist nun deine Sache. Ein Mann, der einen schmutzigen Kamm und eine, Zigarrenspitze in derselben Westentasche trägt … Nun, ich muß weiter, adieu so lange …«
Irgens setzte seinen Weg fort. Wenn es kein schlimmerer Feind war, als dieser Wilde aus den Wäldern, so hatte es keine Gefahr … Er wurde wieder fröhlichen Sinnes, er grüßte Bekannte, die ihm begegneten, und sah so recht zufrieden aus; es hatte ihn für einen Augenblick geärgert, daß ihn jemand hinter seinem Rücken gelästert hatte, aber das war jetzt vorüber; man konnte sich doch nicht herbeilassen, auf den alten Buschmenschen ärgerlich zu sein.
Irgens wollte einen Spaziergang nach dem Hafen hinunter machen, um Ruhe zu haben; dieses mehr oder minder dumme Gerede über sein Buch war wirklich nicht auszuhalten. Fing man nun sogar schon an, von zwei und einem halben Jahre Arbeitszeit und der Quantität von Poesie zu faseln! Dann fiel sein Buch durch, es war kein umfangreicher Band; einen von Paulsberg Romanen wog es nicht auf, Gott sei Dank!
Als er hinunter an den Hafen kam, gewahrte er Coldevins Kopf in einem Winkel des Quais; er stand halb versteckt hinter einer Reihe Kisten; nur sein Kopf ragte hervor. Irgens bemerkte die Richtung seines Blicks, aber daraus konnte er nichts entnehmen; der alte, verrückte Mann stand da offenbar und dachte an etwas, an irgend eine tolle Idee, und es war drollig zu beobachten, wie er in Nachdenken versunken stand, die Nase in die Luft. Seine Augen starrten beinahe gerade aus, sie trafen Henriksens kleines Kontorfenster am Ende des Lagergebäudes, er zuckte mit keiner Wimper, er beachtete auch nicht, was um ihn her vorging; Irgens wollte anfangs zu ihm gehen und anfragen, ob er Ole Henriksen wohl treffen würde; dabei konnte er die Rede auf sein Buch bringen und ihn fragen, wie er darüber denke; das konnte vielleicht sehr drollig werden; der Mann würde gezwungen sein zu bekennen, daß er die Poesie nach Gewicht schätze. Aber im Grunde genommen, welches Interesse hatte es für ihn? Es konnte doch sehr gleichgültig sein, was dieser Mann über Poesie dachte.
Irgens ging einmal über den Quai; er sah auf, noch stand Coldevin auf demselben Fleck. Irgens schlenderte an ihm vorüber, kam auf die Straße und wollte wieder in die Stadt. In demselben Augenblick kamen Ole Henriksen und Fräulein Agathe aus der Tür des Lagerhauses und wurden ihn gewahr.
»Guten Tag, guten Tag, Irgens!« rief Ole und streckte die Hände aus. »Schön, daß wir dich treffen. Und tausend Dank für das Buch, das du uns geschickt hast! Ja, du bist unvergleichlich, setzst sogar deine allernächsten Freunde in Erstaunen, du Dichter, Meisterdichter!«
Ole sprach unaufhaltsam, froh, strahlend über die Arbeit des andern, bald bewunderte er den einen Vers, bald den andern, und dankte ihm dann noch wiederholt.
»Agathe und ich haben es beide mit klopfendem Herzen gelesen,« sagte er. »Ich glaube übrigens, Agathe hat auch ein bißchen geweint … ja, das hast du, das kannst du nicht bestreiten, Agathe. Aber das ist ja keine Schande … Was ich sagen wollte, komm mit hinauf ins Telegraphenbureau, Irgens, ich muß etwas hinbringen. Und dann gehen wir nachher ins Restaurant, wenn du magst. Ich habe übrigens auch eine kleine Überraschung für euch.«
Agathe sagte nichts.
»Könnt ihr hier nicht ein wenig auf und ab gehen, während ich telegraphiere?« fragte Ole. »Aber werdet nicht ungeduldig, wenn ich ziemlich lange ausbleibe. Es handelt sich nämlich darum, daß ich noch Verbindung mit einem Schiffe in Arendal bekomme …«
Und Ole ging die Treppe hinauf und verschwand, Irgens sah ihm nach.
»Hören Sie, darf ich Ihnen ebenfalls für das Buch danken,« sagte Agathe sofort und gab ihm die Hand; sie sprach ganz leise. »Sie glauben nicht, wie ich mich darüber gefreut habe.«
»Wirklich? Ist's wirklich wahr? Wie wohl mir's tut, das zu hören!« antwortete er von Dankbarkeit erfüllt. Daß sie damit gewartet hatte, ihm zu danken, bis Ole fort war, war ein feiner, reizender Zug; jetzt tat sie es um so viel inniger, so viel vertraulicher und echter, ihre Worte bekamen eine erhöhte Bedeutung für ihn. Sie nannte das, was sie am meisten ergriffen hatte, dies wunderbare Gedicht an das Leben, sie hatte noch nichts Schöneres gelesen, nein, nie, solange sie denken konnte … Aber als ob sie fürchte, ihren Dank zu warm ausgesprochen zu haben, so warm, daß er mißverstanden werden könne, fügte sie in gleichgültigerem Ton hinzu, daß Ole ebenso hingerissen gewesen sei wie sie selbst; das meiste habe er ihr laut vorgelesen.
Irgens schnitt eine kleine Grimasse. Liebte sie es, sich vorlesen zu lassen? Ach was, wirklich?
Agathe hatte Oles Namen absichtlich mit ins Gespräch gezogen. Heute nachmittag hatte er wieder die Frage wegen der Hochzeit aufgeworfen, und sie hatte ihm wiederum alles anheimgestellt; ja, darin waren sie einig. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie Mann und Frau sein würden, und je schneller es vorüber war, desto besser war es vielleicht; es war gar kein Grund zum Warten vorhanden. Zum Herbst, wenn Ole von seiner englischen Reise zurückkam, sollte es abgemacht werden. Ole war die Güte selbst, er wurde nicht müde, in jeder Weise Geduld an ihr zu üben und sich so drollig über sie zu freuen. Und nun sollten wir doch auch daran denken, dann und wann etwas im Hause zu tun, hatte er gesagt. Ja, sie konnte nicht dafür, daß sie rot geworden war; es war eine Schmach, daß sie noch nicht angefangen hatte, sich um das zu kümmern, was nützlich war, sondern ihm immer nur in den Kontors Gesellschaft geleistet hatte. Sie könne ja nun bei kleinem anfangen, an die Ausstattung der Zimmer denken, sagte Ole, sich eine Idee von den neuen Sachen bilden, die sie haben wolle; mit eigentlicher Arbeit im Hause solle sie sich natürlich nicht befassen, natürlich nicht … Ja, es war alles so wahr, sie hatte Haus und Heim nicht einmal einen Gedanken geschenkt, war nur im Geschäft mit ihm umhergeflattert. Dann hatte sie zu weinen angefangen und ihm erklärt, wie unsäglich untüchtig und unerfahren sie sei, eine Gans, ja, sie sei eine Gans. Aber Ole hatte sie in die Arme geschlossen und sich mit ihr aufs Sofa gesetzt und gesagt, sie sei nur so jung, jung und reizend; sie würde ja bald älter werden, die Zeit und das Leben lägen ja vor ihnen. Und er liebe sie so aufrichtig, weiß Gott; Ole selbst hatte Tränen in den Augen gehabt und sie angeblickt wie ein Kind. Ja, sie liebten sich, sie würden es gut miteinander haben. Vor allen Dingen eile es mit nichts, sie selbst solle die Zeit für alles bestimmen und sich ganz nach eignem Behagen einrichten. Sie würden sich schon einigen …
»Ich glaubte übrigens nicht, daß Sie sich noch etwas aus uns Dichtern machten,« sagte Irgens. »Ich fürchtete, wir hätten Ihr Interesse auf irgend eine Weise eingebüßt.«
Sie horchte auf und sah ihn an.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich glaubte, es so auffassen zu müssen. Sie erinnern sich des Abends in Tivoli vor kurzem, als Ihr alter Lehrer so ungnädig gegen uns Gewürm war. Sie sahen aus, als gönnten Sie uns alles, was wir da bekamen.«
»Ich sah so aus … ich habe wirklich nicht ein Wort gesagt. Nein, da irren Sie sich!«
Pause.
»Ich bin unendlich glücklich darüber, daß ich Ihnen in meinem Leben begegnet bin,« sagte Irgens so gleichgültig, wie er es vermochte, »ich werde fröhlichen Sinnes, wenn ich Sie nur sehe. Es muß herrlich sein, wenn man die Eigenschaft besitzt, andre nur dadurch, daß man sich zeigt, in einen gewissen Grad von Glück zu versetzen.«
Dies sagte er so glaubwürdig, daß sie nicht das Herz hatte, es zu mißbilligen; er meinte es ganz gewiß so, wie wenig vernünftig es auch klingen mochte, und sie antwortete daher halb lächelnd:
»Es wäre traurig für Sie, wenn Sie nicht andre als mich hätten, die Sie fröhlichen Sinnes machen.« Weiß Gott, sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihm weh zu tun; sie hatte so unschuldig geantwortet, so ganz ohne Hintergedanken; als aber Irgens das Haupt sinken ließ und murmelte: »Nein, ich begreife!« da sah sie ein, daß man ihren Worten auch eine andre Bedeutung unterlegen konnte, und fügte daher hastig hinzu: »Denn mich sehen Sie ja nicht immer. Nun gehe ich übrigens diesen Sommer wieder aufs Land und komme vor dem Herbst wohl nicht einmal in die Stadt.«
Er blieb stehen.
»Sie wollen aufs Land?«
»Ja, zusammen mit Frau Tidemand. Es ist beschlossen, daß ich bei ihr auf ihrem Landsitz wohnen werde.«
Irgens schwieg, schwieg und sann einen Augenblick.
»Ist es denn sicher, daß Tidemands aufs Land gehen?« fragte er. »Es kommt mir vor, als sei es noch nicht entschieden.«
Agathe nickte und sagte, doch, es sei entschieden.
Dann gingen sie wieder.
»Ja, das ist ein Gutes, das mir versagt bleibt,« sagte er melancholisch lächelnd, »aufs Land komme ich nicht.«
»Nicht? Weshalb nicht?«
Sie bereute ihre Frage sofort; natürlich hatte er nicht die Mittel dazu. Sie war doch beständig so unzart und ungeschickt, daß es schon ein Grauen war! In aller Eile sprach sie ein paar nichtssagende Worte, um ihm die Antwort zu ersparen.
»Nein, wenn ich aufs Land will, borge ich mir ein Fährboot und rudere auf ein paar Stunden nach der Insel hinüber,« sagte er immer noch melancholisch lächelnd. »Das schmeckt auch nach Wild.«
»Nach der Insel?« Sie wurde aufmerksam. »Das ist ja wahr, die Insel; da bin ich noch nicht gewesen. Ist es schön dort?«
»Ja, an vielen Stellen außerordentlich schön,« erwiderte er, »ich kenne jeden Punkt. Wenn ich Sie bitten dürfte, Sie einmal hinüberzurudern, so …«
Dies war nicht bloß eine gleichgültige Höflichkeit, es war eine Bitte, sie hörte das wohl; aber trotzdem antwortete sie, das könne sie noch nicht versprechen, es wäre gewiß unterhaltend, aber dennoch …«
Pause.
»Ich habe viele von meinen Gedichten dort geschrieben,« fuhr er fort; »ich könnte Ihnen die Stelle zeigen, ja, Sie würden mir eine so große Freude damit machen, Fräulein Lynum …«
Agathe schwieg.
»Tun Sie's,« sagte er plötzlich und wollte ihre Hand fassen.
In demselben Augenblick erschien Ole Henriksen auf der Treppe und trat auf die Straße. Irgens stand noch in derselben Stellung, mit ausgestreckter Hand, bittend.
»Tun Sie's!« flüsterte er.
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.
»Ja,« flüsterte sie zurück.
Ole kam auf sie zu. Er war des Schiffes in Arendal nicht gleich habhaft geworden, vor morgen früh konnte er keine Antwort bekommen. Und nun fort ins Restaurant! Er hatte wirklich eine kleine Überraschung für sie, er trug Öjens letzte Arbeit in der Tasche; jetzt sollten sie hören!
Im Restaurant saßen schon mehrere von der Clique bei ihren Gläsern und plauderten eifrig; Tidemand war auch da, strahlend und zufrieden mit allem, was er sah. Seitdem sein großes Roggengeschäft so ungeahnt glücklich abgelaufen, war er lauter Lächeln gewesen, und niemand sah ihn jemals mißmutig. Jetzt war der Roggen angekommen, in seinem Lager wurden Tag und Nacht die Tausende und abermals Tausende von Säcken aufgestaut; sie wuchsen zu Bergen an, es war kein Platz mehr, wo man sich rühren konnte, und sogar Ole Henriksen hatte einen Packraum für einen Teil des Roggens hergeben müssen. Tidemand betrachtete diese ganze Herrlichkeit und empfand Stolz darüber, auch einmal eine kleine Großtat begangen zu haben; nicht einen Augenblick bereute er, daß er seine Order so unbegrenzt gegeben hatte.
Als Ole eintrat, gab Journalist Gregersen ihm einen Finger und nickte ihm zu.
»Ole, du hast es faustdick hinter den Ohren,« sagte er.
»Ach, nichts eigentlich Haarsträubendes,« erwiderte Ole. »Ich habe einen Brief von Öjen, er schickt mir seine letzte Arbeit, wollen Sie sie hören?«
»Er schickt dir seine … Dir hat er ein Manuskript geschickt?« fragte Milde ganz verblüfft »So, was Verrücktes ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Na, na, nicht persönlich werden!« warnte der Advokat.
Ole erwiderte kein Wort.
»Ja, verzeih, Ole; aber warum hat er es dir geschickt?« fragte Milde wieder und ließ nicht nach.
Irgens warf einen Blick auf Agathe; sie schien mit halbem Ohr zu lauschen und sprach übrigens mit Frau Hanka. Irgens wandte sich zu Milde und erklärte ihm kurz und bündig, es gäbe doch gewisse Arten der Unverschämtheit, die nicht einmal Freunde zu dulden brauchten, verstanden?
Milde brach in lautes Gelächter aus. Gott steh ihm bei, etwas Komischeres habe er noch nicht erlebt; ob man beleidigt sei? Er habe gar nichts Schlimmes gemeint … hehe, nichts Schlimmes mit seiner Frage; es sei ihm nur so komisch vorgekommen, daß … Es sei also nicht komisch, na, meinetwegen …
Ole nahm das Manuskript vor.
»Es ist etwas Seltsames,« sagte er, »es heißt Alte Erinnerungen.«
»Nein, nein, laß mich es lesen,« sagte Schauspieler Norem schnell und streckte die Hand aus, »ich muß mich doch ein wenig aufs Vorlesen verstehen.«
Und Ole gab ihm das Manuskript.
»Jehova ist sehr beschäftigt …« begann Norem. »Hier hat Öjen am Rande bemerkt, daß es nicht Javeh heißen soll, damit lhr's wißt.«
Jehova ist sehr beschäftigt, Jehova hat viel zu tun. In einer Nacht, da ich im Walde gewandelt, war er bei mir, und er stieg hernieder zu mir, da ich auf meinem Angesicht lag und betete.
Ich lag da in der Nacht und betete, und der Wald war still. Und die Nacht war gleichwie eine unfaßbare Unbegreiflichkeit, und die Nacht war gleichwie eine Stummheit, in der es atmete und lautlos lebte.
Da stieg Jehova zu mir hernieder.
Als Jehova herniederstieg, wich die Luft wie Schneehügel um ihn zurück, und Vögel verwehten wie Spreu, und ich selbst hielt mich fest an der Erde und an den Bäumen und den Steinen.
»Du rufst zu mir?« sagte Jehova.
»Ich rufe aus meiner Not zu dir,« erwiderte ich.
Und Jehova sprach: Du willst wissen, was du im Leben erwählen sollst, die Schönheit oder die Liebe oder die Wahrheit? Und darauf sprach Jehova: »Du willst es wissen?«
Und da er sprach: Du willst es wissen? antwortete ich nicht, sondern schwieg, denn er wußte meine Gedanken.
Da berührte Jehova meine Augen, und ich ward sehend:
Ich sah ein hohes Weib gegen den Himmel. Sie trug keine Gewänder, und wenn sie sich bewegte, bebten ihre Glieder wie weiße Seide, und sie trug keine Gewänder; denn die Glieder zitterten mir entgegen vor Wohlgefallen.
Und sie stand gegen den Himmel wie ein Sonnenaufgang, ja, in einer Morgenröte, und die Sonne leuchtete auf sie hernieder, und ein rotes Licht stieg am Himmel empor, ja, ein Licht wie Blut umgab sie.
Und sie war hoch und weiß, und ihre Augen waren gleichwie zwei blaue Blumen, die über meine Seele strichen, wenn sie mich anblickte, und wenn sie zu mir redete, bat sie mich und bat mich hierauf zu sich, und ihre Stimme war wie süßes Meerleuchten.
Ich stieg auf von der Erde und streckte meine Arme zu ihr empor, und da ich beide Arme zu ihr emporstreckte, bat sie mich wieder, und ihre Glieder dufteten wieder vor Wohlbehagen. Und ich bewegte mich herrlich in meinem Innern dabei, und ich schwang mich empor und gab ihr meinen Mund, und meine Augen fielen zu …
Und da ich aufblickte, war das Weib alt. Und das Weib war alt an Jahren, und ihre Glieder hatten gelitten vom Alter, und sie hatte beinahe kein Leben mehr. Als ich aber aufblickte, war der Himmel dunkel gegen die Nacht; ja, wie eine dunkle Nacht, und das Weib war ohne Haare. Ich sah zu ihr auf und kannte sie nicht und kannte den Himmel nicht mehr, und da ich aufblickte, war das Weib verschwunden.
»Das war die Schönheit,« sagte Jehova. »Schönheit schwindet. Ich bin Jehova.«
Und Jehovah berührte abermals meine Augen, und ich sah:
»Ich sah eine Terrasse hoch oben an einem Schlosse. Zwei Menschen standen dort, und die zwei Menschen auf der Terrasse waren jung und voll Freude. Und die Sonne schien auf das Schloß und auf die Terrasse, und die Sonne schien auf die beiden Menschen und fiel nieder auf das Gestein tief, tief unten im Abgrund, auf den harten Fahrweg. Und der Menschen waren zween, ein Mann und ein Weib im Lenz des Lebens, und beide waren sie voll süßer Worte, und beide waren sie sanft gegeneinander vor Wollust.
Sieh diese Blume an meiner Brust, sprach er, kannst du vernehmen, was sie spricht? Und er lehnte sich zurück an das Gitter der Terrasse und sprach: Diese Blume, die du mir gegeben, sie hauchet und flüstert, und hauchet dir zu: Geliebte, Königin Alvilde, Alvilde! Hörst du es?
Und sie lächelte und sah zu Boden, und sie nahm seine Hand und legte seine Hand auf ihr Herz und antwortete: Aber hörest du, was mein Herz zu dir spricht? Mein Herz flieget zu dir, und es errötet vor Bewegung um deinetwillen. Und mein Herz lallet verwirrt vor Freude und spricht:
Geliebter, ich stehe stille für dich, und ich vergehe fast, wenn du mich anblickst, Geliebter!
Er lehnte sich an das Gitter der Terrasse, und herrlich wogte seine Brust vor lauter Liebe. Und tief, tief unten war der Abgrund und der harte Fahrweg. Und er deutete mit seiner Hand hinab in die Tiefe und sprach: »Ein Wort nur sprich, und ich stürze mich hinab! Und er sprach abermals: Wirf den Federwedel hinab, und ich folge ihm! Und da er es gesprochen hatte, hob sich seine Brust, und er legte seine Hände auf das Gitter der Terrasse und bereitete sich zum Sprung.
Da stieß ich einen Schrei aus und schloß meine Augen …
Aber da ich aufblickte, sah ich die beiden Menschen wieder; und sie waren beide älter, und beide standen in ihrer Kraft. Und die beiden Menschen sprachen nicht mehr miteinander, sondern verschwiegen das, was sie dachten. Und da ich aufblickte, war der Himmel grau, und die beiden Menschen stiegen beide die weiße Treppe des Schlosses hinan, und sie war erfüllt von Gleichgültigkeit, ja, von Haß in den kalten Augen, und da ich zum drittenmal aufsah, war auch er voll Zorn in seinem Blick, und sein Haar war grau wie der graue Himmel.
Und da sie die Treppe des Schlosses hinanstiegen, entfiel der Federwedel ihrer Hand und fiel eine Stufe hinab, und sie sprach mit zitterndem Munde: Ich verlor meinen Federwedel, er liegt nur eine Stufe tiefer, nimm ihn doch auf, du Teurer!«
Und er antwortete und ging weiter, und er rief den Diener, daß er ihn aufhebe.
»Das war die Liebe,« sagte Jehova. »Die Liebe vergeht. Ich bin Jehova.«
Und Jehova berührte meine Augen zum letztenmal, und ich sah:
Ich sah eine Stadt und einen Platz, und ich sah ein Schafott. Und da ich horchte, vernahm ich einen brausenden Laut von Stimmen, und als ich hinblickte, waren dort viele Menschen, die sprachen und fletschten die Zähne vor Freude. Und ich sah einen Mann, der gebunden war, einen Missetäter, der gebunden war mit Lederriemen, und der gebundene Missetäter war ein stolzer Herr von Angesicht, und seine Augen waren wie Sterne. Aber der Mann trug einen durchlöcherten Mantel, und seine Füße standen nackt auf dem Erdboden, ja, es war fast nichts geblieben von seinen Kleidern, und sein Mantel war zerrissen und abgenützt.
Und ich horchte und vernahm eine Stimme, und da ich sah, war es der Missetäter, der sprach, und der Missetäter sprach mit großer Heftigkeit. Und man gebot ihm Schweigen, aber er sprach, er rief zum Zeugen an, und er rief, und da man ihm gebot zu schweigen, schwieg er nicht vor Furcht. Und da dieser Missetäter sprach, eilte der Haufe herbei und verschloß ihm den Mund, und da er stumm wurde, und da er hinauf zum Himmel deutete und zur Sonne deutete, und da er auf sein Herz deutete, das noch warm war, sprang der Haufe hinzu und schlug ihn. Und da der Haufe ihn schlug, fiel der Missetäter auf die Knie, und er kniete und faltete die Hände und legte stummes Zeugnis ab, wenn man ihn schlug.
Und ich sah auf diesen Missetäter und sah auf seine Augen, die waren wie Sterne, und ich sah, daß der Haufe ihn niederlegte und ihn mit den Händen auf das Schafott drückte. Und da ich abermals hinsah, fuhr eine Axt durch die Luft, und da ich lauschte, hörte ich den Fall einer Axt auf das Gerüst und von Menschen ein Freudengeschrei. Und da ich lauschte, stieg ein einstimmiger Schrei zum Himmel, so die Menschen ausstießen in ihrer Freude.
Aber das Haupt des Missetäters rollte zu Boden, und der Haufe eilte hinzu und hielt ihn am Haar empor. Und das Haupt des Missetäters sprach noch, und es legte mit lauter Stimme Zeugnis ab und sprach mit lauter Stimme die Worte, die es sprach. Und das Haupt des Missetäters war noch nicht stumm im Tode.
Aber der Haufe sprang hinzu und nahm das Haupt des Missetäters und hielt es empor an der Zunge. Und die Zunge war besiegt und schwieg, und die Zunge sprach nichts mehr. Aber die Augen waren wieder gleichwie Sterne, ja, wie funkelnde Sterne, die jedweder sehen konnte …
Da sprach Jehova:
»Das war die Wahrheit. Und die Wahrheit zeuget noch, wenn man ihr das Haupt abgeschlagen hat, und wenn man ihr die Zunge gebunden hat, leuchten ihre Augen wie Sterne. Ich bin Jehova.«
Da Jehova gesprochen hatte, fiel ich nieder auf mein Angesicht und sprach nichts, sondern schwieg vor vielen Gedanken. Und ich dachte, die Schönheit war schön, ehe sie schwand, und die Liebe war süß, ehe sie verging, und ich dachte, die Wahrheit, sie dauerte wie ewige Sterne, und ich dachte mit Beben an die Wahrheit.
Und Jehova sprach:
»Du wolltest wissen, was du wählen sollst im Leben.« Und darauf sprach Jehova: »Hast du gewählt?«
Ich lag auf meinem Angesicht und antwortete voll von vielen Gedanken:
»Die Schönheit war schön und die Liebe gar hold, und wenn ich die Wahrheit wähle, so ist sie wie ewige Sterne.«
Und Jehova sprach abermals und sagte:
»Hast du gewählt?«
Und meiner Gedanken waren viele, und meine Gedanken kämpften einen harten Kampf in mir, und ich antwortete:
»Die Schönheit, sie war wie eine Morgenröte.« Und da ich dieses gesagt, flüsterte ich und sagte: »Die Liebe, auch sie war hold wie ein kleiner Stern in meiner Seele.«
Da aber fühlte ich Jehovas Auge auf mir, und Jehovas Auge las in meinen Gedanken. Und wieder zum drittenmal fragte Jehova und sprach:
»Hast du gewählt?«
Und da er zum drittenmal sprach: Hast du gewählt? standen meine Augen weit offen vor Grauen, ja, meine Kraft war nicht mehr in mir. Und da er zum letztenmal fragte: Hast du gewählt? dachte ich wieder an die Schönheit und an die Liebe, und dachte an beide, und ich antwortete Jehova: »Ich wähle die Wahrheit …«
... Aber ich denke noch an …
»Nun, das war's,« schloß Norem.
Alle schwiegen eine Weile; dann sagte der Journalist lachend:
»Ich schweige, denn ich weiß, daß Milde etwas sagen wird.«
Und Milde weigerte sich nicht; wahrlich, warum sollte er sich weigern! Im Gegenteil, er hatte eine Bemerkung zu machen: Ob jemand ihm sagen könne, was das Ganze bedeuten solle? Er bewundere Öjen gewiß so aufrichtig wie nur einer, aber … Und war denn ein Sinn in allem, was Jehova sagte und was Jehova demnächst sagte? Er möchte um eine Antwort bitten.
»Hören sie mal, Milde, weshalb sind Sie immer so schlimm gegen Öjen?« sagte Frau Hanka. »Also alte Erinnerungen, – haben Sie das nicht verstanden? Ich finde es zart und stimmungsvoll; ich habe das Ganze empfunden; zerstören Sie mir's jetzt nicht.« Und sie wandte sich zu Agathe und fragte: »Fanden Sie es nicht ebenfalls hübsch?«
»Liebe Frau Hanka!« rief Milde, »bin ich immer so schlimm gegen Öjen? Wünsche ich ihm etwa nicht, daß er das Stipendium mir an der Nase vorbei bekommt? Aber dies verflixte neue Streben und was dergleichen mehr ist! Alte Erinnerungen, jawohl, aber wo ist im Grunde genommen die Pointe? Jehova ist keineswegs bei ihm gewesen; bei Gott nicht, das ist Erfindung. Und außerdem, hätte er nicht ebenso gut die Liebe und die Schönheit und die Wahrheit wählen können? Das hätte ich getan! Die Pointe?«
»Nein, das ist ja gerade das Eigentümliche, es soll keine bestimmte Pointe haben,« entgegnet Ole Henriksen. »Öjen schreibt es selbst in seinem Briefe an mich. Es soll durch den Klang wirken, sagt er.«
»Ach so … Nein, der Mensch ist und bleibt derselbe, wohin er auch kommt; das ist die Sache. Nicht einmal im Gebirge wird es anders mit ihm, Ziegenmilch und Waldduft und Bauerndirnen wirken nicht die Spur auf ihn, wenn ich so sagen darf … Übrigens kann ich immer noch nicht begreifen, weshalb er dir das Manuskript geschickt hat, Ole; aber wenn es eine Beleidigung ist, danach zu fragen, so …«
»Ich weiß auch nicht, weshalb er es gerade mir geschickt hat,« sagte Ole Henriksen ebenfalls. »Er wollte, ich solle sehen, daß er arbeite, sagt er, – daß er nicht auf der Bärenhaut liege. Er will übrigens in die Stadt zurück; er kann es in Thorahus wohl nicht länger aushalten.«
Milde pfeift.
»Ah, jetzt verstehe ich; er bittet dich um Reisegeld?« fragte er.
»Er hat allerdings nicht mehr viel Geld, und das war auch nicht zu erwarten,« erwiderte Ole und schob das Manuskript in die Tasche. »Ich finde nun in der Tat, daß es eine merkwürdige Dichtung ist, was man auch sagen mag …«
»Ja, ja, ja! Lieber Freund, sprich du nur nicht von Poesie, tu mir den Gefallen,« unterbricht ihn Milde. Und da ihm selbst eine Ahnung kam, daß er in Agathens Gegenwart zu unhöflich gegen den armen Krämer gewesen sei, beeilte er sich, hinzuzufügen: »Ich meinte nur … nicht wahr, es ist recht langweilig, die ganze Zeit nur Poesie und Poesie zu hören? Sprechen wir zur Abwechselung ein bißchen von Fettheringfang, ein bißchen Eisenbahnpolitik … Du hast ja eine kolossale Menge Roggen gekauft, Tidemand.«
Tidemand blickte auf und lächelte. Ja, er habe versucht, einen Coup zu machen, das könne er nicht leugnen. Jetzt käme es nur darauf an, wie es beim Zaren ging; ob die Ernte trotzdem noch einigermaßen wurde; in diesem Falle sähe es nicht allzu brillant für seine Roggenmasse aus. Wenn in Rußland noch Regen käme, so …
»Es hat angefangen zu regnen,« sagte der Journalist, »große Strecken haben schon genügenden Regen bekommen, erzählen die englischen Zeitungen … Verkaufst du übrigens schon von deinem Roggen?«
Tidemand wolle verkaufen, wenn er seinen Preis dafür bekäme. Er habe selbstverständlich gekauft, um wieder zu verkaufen.
Milde hatte sich zu Paulsberg gesetzt, mit dem er flüsterte. Öjens Gedicht in Prosa hatte ihn trotz alledem ein wenig beunruhigt; er war nicht blind dagegen, daß diesem Menschen etwas innewohnte, diesem Mitbewerber um das Stipendium; was Paulsberg dazu meine?
»Du weißt, daß ich mich in einer solchen Sache ungern vor dem einen gegen den andern ausspreche,« entgegnete Paulsberg. »Indessen bin ich wiederholt oben im Departement gewesen und habe meine Ansicht ausgesprochen, ich hoffe, daß ein wenig Rücksicht darauf genommen werden wird.«
»Natürlich, natürlich, es war auch nicht deshalb … Ja, ja, morgen wird die Ausstellung geschlossen; wir sollten Ernst machen und dein Bild gleich fertigstellen. Kannst du mir morgen sitzen?
Paulsberg nickte. Dann stieß er mit dem Journalisten über den Tisch an und brach das Gespräch ab.
Irgens war nach und nach wieder aus seiner fröhlichen Stimmung gekommen; er war verstummt, weil durchaus nicht über sein Buch gesprochen wurde. Was lag denn für den Augenblick mehr auf der Hand als dies? Diese Glasbläserei von Öjen kannte man doch schon; Irgens zuckte die Achseln. Paulsberg hatte nicht mit einem Worte angedeutet, daß er mit seinem Buche zufrieden sei; er bilde sich wohl gar ein, daß man ihn darum fragen würde; aber dazu war Irgens zu stolz; er konnte auch ohne Paulsbergs Ansicht auskommen.
Irgens stand auf.
»Wollen Sie gehen, Irgens?« fragte Frau Hanka.
Und Irgens trat zu ihr, sagte ihr und Agathe gute Nacht, nickte im Vorbeigehen der übrigen Gesellschaft zu und verließ das Restaurant.
Er war erst einige Schritte gegangen, als er sich bei Namen rufen hörte; Frau Hanka kam hinter ihm hergelaufen; sie hatte Mantel und Hut im Café liegen lassen und war nur gekommen, um hübsch gute Nacht zu sagen. War das nicht lieb von ihr? Sie lachte und war sehr glücklich.
»Ich habe dich fast gar nicht gesehen, seitdem dein Buch erschienen ist. O, jedes Wort ist mir ein Genuß gewesen!« sagte sie und schlug die Hände zusammen, indem sie weiter ging. Dabei schob sie die Hand in seine Rocktasche, um ihm so recht nahe zu sein; er merkte, daß sie ein Kuvert in der Tasche zurückließ; das ähnelte ihr, sie war immer so liebevoll und hatte nur gute Worte für ihn. »Nein, deine Verse, deine Verse!« sagte sie wieder.
Er konnte sich nicht länger halten, diese warme Bewunderung tat ihm über alle Maßen wohl. Er wollte ihrs vergelten, zeigen, wieviel er von ihr hielt, und in einem Anfall von Mitteilsamkeit vertraute er ihr an, daß er sich um das Legat beworben habe; was sie dazu meine? Ja, er habe sich wirklich ebenfalls um das Stipendium beworben, ganz in aller Stille, ohne eine einzige Empfehlung beizulegen; er habe sein Buch eingeschickt; das würde doch wohl genügen?
Hanka schwieg einen Augenblick bestürzt.
»Es ist dir schlecht gegangen,« sagte sie, »du hast entbehrt … ich meine, du hast wohl darum ansuchen müssen …«
»Aber mein Gott,« sagte er und lachte, »wozu sind denn die Legate da? Es ist mir nicht schlecht gegangen; das war nicht der Grund, weshalb ich darum angesucht habe. Aber weshalb soll man sich nicht bewerben, wenn man sich dadurch nicht demütigt? Und ich habe mich nicht gedemütigt, darauf kannst du dich verlassen: Der Unterzeichnete bewirbt sich um das Stipendium, mein letztes Buch folgt anbei. Das war alles. Nicht viel Bücklinge und Kratzfüße. Und wenn ich meine Mitbewerber betrachte, so komme ich doch wohl nicht als letzter in der Reihe; was glaubst du?«
Sie lächelte und sagte leise:
»Nein, du kommst nicht als letzter in der Reihe!«
Und er drückte sie an sich und flüsterte:
»So, Hanka, nun darfst du nicht weiter mitgehen; laß dich jetzt von mir zurückbegleiten … Es geht an, solange du hier in der Stadt bist; aber wenn du nun reist, wird es ganz schwarz. Nein, ich halte es nicht aus!«
»Ich gehe ja nur aufs Land.«
»Jawohl,« erwiderte er, »aber das genügt, wir sind doch getrennt, denn ich kann nicht fort aus der Stadt. Wann ziehst du hinaus?«
»In einer Woche, glaube ich.«
»Ach, wenn du doch nicht fortgingest, Hanka!« sagte er und blieb stehen.
Pause. Hanka überlegte.
»Wärst du froh, wenn ich bliebe?« sagte sie. »Dann bleibe ich. Ja, dann bleibe ich. Am schlimmsten ist es für die Kinder, aber trotzdem. Ja, im Grunde genommen, bin ich auch froh, wenn nichts daraus wird.«
Sie waren wieder vor dem Restaurant angelangt.
»Gute Nacht,« sagte er ganz hingerissen: »Danke, Hanka. Wann sehe ich dich? Ich sehne mich nach dir.«
Drei Tage darauf hatte Irgens ein Billett von Frau Hanka erhalten.
Er war unten in der Stadt, traf einige Bekannte und gesellte sich zu ihnen, sprach wie gewöhnlich ziemlich wenig, war aber in seiner besten Stimmung. Er hatte Lars Paulsbergs großes Bild besehen, das jetzt in der Kunsthandlung ausgestellt war, mitten in dem großen Fenster, an dem alle Leute vorüber mußten; immer stand ein Haufen Menschen davor. Das Bild war flott und aufdringlich, Paulsbergs parfümduftende Gestalt sah vornehm aus in dem einfachen Rohrstuhl, und die Leute flüsterten und wunderten sich und fragten, ob das der Stuhl sei, in dem er seine Werke geschrieben habe. Alle Zeitungen brachten lobende Artikel über das Bild.
Irgens saß mit einem Glase Wein vor sich und hörte zerstreut auf das, was seine Kameraden sagten. Tidemand war beständig vergnügt, seine Hoffnung wuchs täglich, der Regen in Rußland hatte ihn nicht niedergeschlagen gemacht. Nein, der Roggen stieg noch nicht, aber er würde steigen. Plötzlich spitzt Irgens die Ohren, Tidemand sprach von seinem Landaufenthalt.
»Wir werden diesen Sommer nicht aufs Land gehen,« sagte er. »Hanka meinte … Ich habe meiner Frau offen gesagt, wenn sie reisen wolle, müsse sie ohne mich reisen; ich hätte jetzt so viel im Geschäft zu tun, daß ich nicht fort könne. Hanka gab das auch zu, wir haben uns verständigt. Sie reist ebenfalls nicht.«
Dann ging die Tür auf und Milde trat ein. Der dicke Kerl strahlte und rief schon von weitem, ganz überwältigt von der fröhlichen Neuigkeit, die er brachte:
»Gratuliert mir, ihr Leute, ich habe in der Lotterie gewonnen! Könnt ihrs euch denken, das Departement in seiner unerforschlichen Weisheit hat beschlossen, mir das Stipendium zu schenken.«
»Dir?«
»Ja, mir,« sagte Milde und ließ sich atemlos auf einen Stuhl nieder. »Ihr reißt alle den Mund auf? Dasselbe tat ich; ich habe sozusagen gar keine Schuld daran, es hat mich überrascht.«
»Du hast das Stipendium bekommen?« fragte Irgens langsam.
Milde nickte.
»Ja, kannst du das begreifen? Ich habe es euch allen vor der Nase weg bekommen; du, Irgens, hast ja auch darum angesucht, wie ich höre?«
Es wurde ganz still am Tische. Das hatte niemand erwartet, und alle grübelten, wie das wohl zugegangen sein könne. Etwas Ähnliches hatte man noch nicht gehört, Milde hatte das Stipendium bekommen!
»Ja, ja, ich gratuliere dir!« sagte Tidemand und streckte ihm die Hand hin.
»Unsinn!« erwiderte Milde. »Keine Umstände! Aber jetzt, Tidemand, mußt du mir einfach etwas Geld leihen, ich will euch traktieren, willst du? Du bekommst es dann aus dem Stipendium zurück.«
Irgens sah plötzlich auf die Uhr, als ob ihm etwas einfiele, und erhob sich.
»Ja, ja, ich gratuliere ebenfalls,« sagte er. »Ärgerlich, daß ich nicht länger bleiben kann, ich muß gehen … Nein, du, daß ich ansuchte, hatte einen andern Grund, als den, das Stipendium zu bekommen,« klärte er auf, um noch zu retten, was zu retten war. »Ich werde es dir ein andermal sagen.«
In der Tür stieß er auf Journalist Gregersen, der viele Worte verdrehte und auch über das Stipendium schrie. Kein Zweifel mehr, Milde hatte es bekommen.
Irgens wanderte nach Hause. Also Milde war der glückliche; da sah man nun zur Evidenz, wie Norwegen seine Talente belohnte! Jetzt hatte er diesen jämmerlichen Seelen seine reiche Lyrik gleichsam direkt ins Gesicht geschleudert; und sie sahen nicht einmal, was es war; sahen nicht, daß es Poesie sei, daß es einzig dastehende Sachen wären, Kaviar. Und du lieber Gott, wer war ihm vorgezogen worden? Milde! Sage und schreibe Ölmaler Milde, der Mädchenkorsettsammler der Stadt! Nein, das war doch, bei Gott, der höchste Grad von Gemeinheit!
Übrigens fühlte er heraus, wie dies zugegangen war. Paulsberg stand dahinter. Lars Paulsberg hatte nachgeholfen. Aber der Mann tat ja niemals etwas, ohne sich nicht dafür bezahlt zu machen; er half keinem, ohne daß er selbst Nutzen davon hatte; machte N. N. für ihn Reklame, so machte er wieder Reklame für N. N., sonst nicht. Nun entzog er Gregersen seine Gesellschaft allerdings nicht, das nicht, aber derselbe Journalist Gregersen war zum Dank dafür glücklich, Notizen über Paulsbergs kleinste Bewegungen bringen zu dürfen, bis zu seinen Ausflügen nach Hönefos. So verhielt es sich. Paulsberg hatte Mildes Bewerbung um das Stipendium unterstützt, und Milde hatte als Gegendienst Paulsbergs Porträt gemalt. Reklame, Allianz und Komplott! Ja, ja, es wurde nach Kräften gehandelt und getauscht.
Als Irgens wieder an der Kunsthandlung vorbeikam und Paulsbergs Bild im Fenster sah, spie er verächtlich auf die Straße. Nein, ihn betrog man nicht, er durchschaute die Gemeinheit. Kommt Zeit, kommt Rat; er würde sich schon geltend zu machen wissen.
Aber Milde! Wenn es noch Öjen gewesen wäre! Denn Öjen mühte sich ab, er saß über der Arbeit, er war von feiner und ungewöhnlicher Begabung, er machte niedliche Sachen, Irgens gönnte ihm alles Gute, ja, in seiner Enttäuschung über die eigne Zurücksetzung, sann er darüber nach, ob er nicht öffentlich zugunsten des ungewöhnlich begabten Öjen protestieren solle. Aber dann würden die Leute sagen, er tue es aus Neid gegen Milde, denn die Leute dachten ja so unfein. Nein, künftighin würde er den Löffel in die andre Hand nehmen, er war jetzt durch keine Rücksicht mehr gebunden; das wollte er sie fühlen lassen. Nein, man denke nur, Milde!
Aber wie in aller Welt kam Lars Paulsberg dazu, über die Stipendien zu verfügen? Er hatte sich nie gescheut, sich gut Freund bei den Zeitungen zu machen, das war allerdings wahr; er hatte hier und dort seinen bestimmten Neger, der die Leute an seine Existenz erinnern mußte; er sorgte in aller Bescheidenheit dafür, daß sein Name nicht vergessen wurde, aber sonst? Ein paar Romane nach der Methode der siebziger Jahre, eine populäre Dilettantenkritik über eine Katechismusfrage, wie die Vergebung der Sünden! Hehe, was war es im Grunde, wenn man es näher besah? Aber der Umstand, daß dieser Mann die Presse hinter sich hatte, erwies sich als geeignet, ihn zu einer beachteten Persönlichkeit zu machen; es zeigte sich nun auch, daß sein Wort Gewicht hatte. Ja, er war ein kluger Bauer, der reine Dorfschacherer; er wußte, was er tat, wenn er seine Frau sogar die bierdunstigen Aufmerksamkeiten Gregersens annehmen ließ. Pfui, so eine Erbärmlichkeit!
Na, mit solcher Art von Manövern würde Irgens sich nicht befassen; wenn er sich nicht anderweitig durchschlagen konnte, so … Aber er hoffte, sich ohne Schwindel durchschlagen zu können; ganz sicher hoffte er das. Er hatte eine Waffe, die Feder; dazu war er der Mann …
Irgens ging nach Hause und schloß die Tür hinter sich ab. Er hatte noch viel Zeit vor sich, ehe Frau Hanka kam; so wollte er versuchen, sein Gleichgewicht vorher wieder zu gewinnen. Die plötzliche Nachricht, daß das Stipendium ihm durch die Finger gegangen sei, hatte ihn derartig erregt, daß er eine Zeitlang nicht schreiben konnte, obgleich er es mehreremal versuchte. Er sprang wütend auf und lief im Zimmer auf und ab, bleich vor Zorn, förmlich aufgeblasen und hochmütig nach seiner Niederlage. Bei Gott, er würde dies Unrecht vergelten; von jetzt an sollten keine zu milden Worte aus seiner Feder fließen.
Endlich nach ein paar Stunden vergeblicher Anstrengung konnte er sich an den Tisch setzen und den Ausdruck für seine Stimmung finden. Er schrieb einen Vers nach dem andern, kniff die Lippen zusammen und schrieb.
Dann kam Frau Hanka.
Sie trat wie gewöhnlich ziemlich hastig ein, griff sich nach dem Herzen, das stets nach dem eiligen Treppensteigen stark klopfte, und lächelte vor Verlegenheit, als sie im Zimmer stand. So oft sie diese Stube nun auch schon betreten hatte, so war sie im ersten Augenblick doch immer noch verlegen und sagte dann wohl, um sich Mut zu machen:
»Wohnt hier Herr Irgens?«
Heute aber war Irgens nicht zum Scherzen aufgelegt, das sah sie sofort, und so fragte sie, was ihm passiert sei. Und da sie das große Unglück erfahren hatte, wurde auch sie heiß vor Zorn, vor aufrichtiger Entrüstung: Welche Ungerechtigkeit, welch ein Skandal! Milde hatte das Stipendium bekommen?
»Als Bezahlung für Paulsbergs Porträt,« sagte Irgens. »Nun, dabei ist nichts zu machen, nimm es dir nicht zu Herzen. Ich selbst verzeihe es.«
»Ja, du trägst es so schön, ich begreife nicht, wie du …«
»Auf mich hat es keine andre Wirkung, als daß es mich ziemlich bitter macht. Es beugt mich nicht.«
»Ich begreife es nicht,« sagte sie, »nein, ich begreife es nicht. Hast du der Bewerbung dein letztes Buch beigefügt?«
»Gewiß … bah, mein Buch! Es ist genau, als ob ich niemals ein Buch hätte erscheinen lassen; es wird wirklich nicht viel Aufhebens davon gemacht, bis heute ist es nicht einmal besprochen worden.« Und gereizt durch die Erinnerung daran, daß sein Buch bis jetzt in keiner einzigen Zeitung erwähnt worden war, biß er die Zähne zusammen und ging durchs Zimmer. Na, aber in Zukunft wollte er einen andern Tanz aufführen; man sollte spüren, daß seine Feder sich Luft machen konnte.
Er nahm den beschriebenen Bogen vom Tisch und sagte:
»Ich habe hier ein kleines Gedicht; ich habe es eben geschrieben; die Tinte ist noch naß …«
»Ach, lies es vor!« bat sie.
Sie setzten sich aufs Sofa, und er las das Gedicht, diese paar Zeilen, als ob es eine königliche Botschaft sei:
Er rollte geschäftig Zigarren
Am fremden, entlegenen Strand,
Die Menschheit wollt boshaft er narren
Mit diesen Waren,
Und schickt sie ins fremde Land.
Er rollte der Hundert gar viele
Vom Morgen bis spät in die Nacht
Und frönt einer seltsamen Grille:
In aller Stille
Tat Pulver ins Deckblatt er sacht.
So rollte er weiter und schmollte
Wohl mit dem Menschengeschlecht,
Tat Sprengstoff ins Umblatt und grollte,
Sengte und tollte,
Lacht höhnisch: Geschieht euch ganz recht!
»Das wird gut tun, hoffe ich,« sagte er vor sich hin.
Sie blickte ihn betrübt an.
»Werde nur nicht bitter, Irgens,« sagte sie. »Du hast ja allen Grund dazu, aber trotzdem, Liebster! Du kannst ja ohne das Stipendium leben, ein Mann, der Gedichte schreibt wie du! Du bist doch der einzige.«
»Ja, aber, liebe Hanka, was nützt es, wenn ich auch der einzige bin? Du siehst es ja selbst, diese Gedichte werden in keiner Zeitung erwähnt, und hier stehe ich!«
Zum erstenmal, ja, zum allererstenmal hatte Frau Hanka jetzt das Gefühl, daß ihr Dichter und Held sich minder überlegen zeige als sonst. Es durchzuckte ihr Herz, daß er seine Enttäuschung nicht mit mehr als gewöhnlichem Stolz trage. Sie betrachtete ihn ein wenig genauer; das Mißgeschick, das er erlitten hatte, machte seine braunen Augen bleicher, sein Mund war zusammengekniffen, und seine Nasenflügel blähten sich vor Erregung. Es war nur ein Zucken, das durch ihr Herz ging.
Dann sagte er obendrein:
»Du könntest mir übrigens den großen Dienst erweisen, Gregersen ein wenig für mein Buch zu interessieren, so daß es endlich einmal besprochen würde.« Und als er sah, daß sie immer aufmerksamer wurde, daß sie geradezu einen forschenden Blick auf sein Gesicht heftete, fügte er hinzu: »Natürlich ohne ihn direkt zu bitten, ohne dich zu zwingen, ich meine nur einen Wink, einen kleinen Wink.«
War das Irgens? Aber schnell fiel ihr wieder ein, in was für einer peinlichen Stellung er sich wirklich für den Augenblick befand; im Grunde genommen war er mutterseelenallein und focht gegen ein Komplott; das entschuldigte ihn vollkommen. Übrigens hätte sie selbst diesen Schritt Gregersen gegenüber tun und ihrem Dichter die Demütigung ersparen sollen, sie darum zu bitten. Ja, sie würde sofort mit Gregersen reden; eine Schande, daß sie nicht schon daran gedacht hatte.
Und Irgens dankte ihr von Herzen; seine Bitterkeit schwand. Sie saßen beide auf dem Sofa und schwiegen. Da sagte sie:
»Du! Nein! Das wäre mir beinahe schlimm ergangen mit der roten Krawatte! Du erinnerst dich doch der roten Krawatte, die ich einmal von dir bekommen habe? Nun ja, es ist ja noch glücklich abgelaufen, aber er hat sie gesehen.«
»Er hat sie gesehen? Daß du so unvorsichtig sein konntest! Was sagte er?«
»Nichts. Er sagt nie etwas. Ich trug sie hier auf der Brust, und da fiel sie heraus. Sprechen wir nicht mehr davon, es schadet nichts … Wann sehe ich dich nun wieder?«
Ihre Zärtlichkeit war immer gleich groß. Irgens nahm ihre Hand und streichelte sie. Wie glücklich war er doch, daß er sie hatte! Sie war die einzige, die gut gegen ihn war, er hatte nur sie auf der ganzen Welt … Wie es denn nun sei, ob sie nicht aufs Land gehe?
Nein, sie ginge nicht. Und nun erzählte sie ganz aufrichtig, daß sie ihren Mann auf andre Gedanken gebracht habe; es sei ihr gar nicht schwer geworden, er habe sofort nachgegeben. Aber gegen die Kinder sei es, wie gesagt, ein wenig unrecht.
»Ja,« entgegnete auch Irgens. Und plötzlich sagte er leise:
»Hast du die Tür abgeschlossen, als du kamst?«
Sie sah ihn an, schlug die Augen nieder und flüsterte:
Am Morgen des siebzehnten Mai sangen die Vögel über der Stadt.
Ein Kohlenträger, der Nachtarbeit gehabt hatte, wandert von den Landungsbrücken herauf, den Spaten hat er über die Schulter gelegt, er ist schwarz, müde und durstig, er will nach Hause. Und während er heimwärts geht, beginnt die Stadt zu erwachen, hier und da werden Rouleaus aufgezogen, hier und da wird eine Flagge aus dem Fenster gesteckt; es ist Festtag und siebzehnter Mai. Am 17. Mai 1814 erhielt Norwegen zu Eidsvold seine freie Verfassung.
Alle Geschäfte sind geschlossen, die Schulen haben frei, der Lärm von Werften und Fabriken schweigt. Nur die Gangspille ruhen nicht, sondern rasseln wie feurige Hurras in den klaren Morgen hinein. Schiffe, die abgehen sollen, stoßen weißen Dampf von den Seiten aus und nehmen ihre Waren ein, die Speicher sind offen, der Hafen lebt.
Und Telegraphenboten und Postboten haben schon angefangen umherzulaufen, jeder mit seinen Neuigkeiten; sie streuen ihre Nachrichten in die Türen hinein und wirbeln Seelenstürme in die Herzen der Menschen, wo sie des Weges kommen.
Ein herrenloser Hund streicht mit gesenktem Kopf durch die Straßen, er schnüffelt nach einer Spur und kümmert sich um nichts andres als gerade um diese eine Spur. Plötzlich bleibt er stehen, springt empor und winselt; er hat ein kleines Mädchen gefunden, das Zeitungen austrägt, welche voll sind von siebzehnter Mai-Freiheit und beherzter Politik. Und das kleine Mädchen wirft seinen Körper nach allen Richtungen, zuckt mit den Schultern, starrt, jagt weiter von Tür zu Tür; das kleine Mädchen ist mager und schwach, es hat den Veitstanz.
Und der Kohlenträger schreitet mit langen, schweren Schritten über das Pflaster; er hat diese Nacht tüchtig verdient; diese schweren Kohlen von England und die verschiedenen Kauffahrteischiffe von allen Enden der Welt waren doch eine prächtige Sache! Sein Spaten ist blank von der Arbeit, er legt ihn auf die andre Schulter, und jetzt blinkt er bei jedem Schritte; über dem Rücken des Mannes schreibt er durch die Straße, schreibt gegen den Himmel mit großen, seltsamen Zeichen, schneidet wie eine Waffe, glänzt wie Silber. Und während der Kohlenträger beständig seinen festen, stampfenden Gang geht, sieht er wirklich aus, wie ein einziger arbeitender Muskel unter den ausgestreckten Flaggen in den Straßen. Dann stößt er auf einen Herrn, der aus einer Haustür kommt; der Herr riecht nach Toddy und sieht ein wenig schwankend aus; sein Rock ist mit Seide gefüttert. Sobald er seine Zigarre angezündet hat, dampft er die Straße hinunter; er verliert ihn aus den Augen …
Der Herr hat ein kleines, rundes Mädchengesicht, das sehr bleich, sehr fein ist. Er ist jung und hoffnungsvoll; es ist Öjen, der Poet, der Führer, das Vorbild der Jüngsten. Er ist im Gebirge gewesen, um sich zu kräftigen, und seitdem er wieder in der Stadt ist, hat er viele lustige Nächte gehabt, die Freunde haben ihn ohn' Aufhören gefeiert.
Als er nach der Festung zu einbiegt, begegnet er einem Manne, den er zu kennen glaubt; er bleibt stehen, und der Mann bleibt ebenfalls stehen.
»Entschuldigen, Sie, haben wir uns nicht schon einmal gesehen?« fragte Öjen höflich.
Der Mann lächelt und entgegnet:
»Ja, in Thorahus, wir waren einen Abend zusammen.«
»Richtig, Sie sind Coldevin! Ja, mich däuchte doch auch, daß … Wie geht es Ihnen?«
»O danke … Aber sind Sie schon so früh auf?«
»Hm. Ich will Ihnen sagen, ich war noch gar nicht zu Bett.«
»Nun denn!«
»Nein, die Sache ist die, Gott steh mir bei, ich war beinahe noch keine Nacht im Bette, seitdem ich wieder in der Stadt bin. Ich halte förmlich Umgang bei meinen Freunden. Nun, das heißt eigentlich nur, daß ich wieder in meinem Element bin. Herr Coldevin, es ist etwas Merkwürdiges mit der Stadt, ich liebe sie, sie ist reizend, reizend; sehen Sie nur diese Häuser, diese geraden Linien. Ich fühle mich nirgends zu Hause als hier. Nein, da oben in den Bergen … Gott bewahre mich! Obgleich ich die beste Hoffnung hatte, als ich hinaufreiste.«
»Wie ist es übrigens gegangen? Sind Sie Ihre Nervosität losgeworden?«
»Ob ich meine Nervosität losgeworden bin! Nein! Aber ehrlich gesagt, meine Nervosität gehört wohl zu mir; der Doktor sagte auch, meine Nervosität gehöre zu mir, sie mache einen Teil von mir selbst aus; es sei nichts dagegen zu machen.«
»Sie sind also im Gebirge gewesen, und es ist konstatiert worden, daß Ihre Nervosität chronisch ist, wie? Armes, junges Talent, das mit einer solchen Schwäche behaftet ist!«
Öjen stutzte. Coldevin sah ihm gerade ins Gesicht; gleich darauf lächelte er wieder und fuhr fort zu reden, als ob gar nichts gewesen wäre. Er könne sich auf dem Lande also durchaus nicht wohl fühlen? Ob er denn nicht glaube, daß der Landaufenthalt seinem Talent gut getan habe? Auch nicht?
»Nein, durchaus nicht. Ich habe übrigens gar keiner Auffrischung für mein Talent bedurft, sollte ich meinen.«
»Nein, nein, das wohl nicht.«
»Ich habe dort oben ein längeres Gedicht in Prosa geschrieben; jedenfalls habe ich während dieser Wochen doch gearbeitet. Mich däucht, es ist aller Ehren wert, besonders wenn ich die Umgebung, in der ich mich befand, in Betracht ziehe. Nein, solch eine Umgebung! Ha–ha, ich habe nie so komische Menschen gesehen; ja, Sie kennen sie doch? Sie konnten zum Beispiel nicht begreifen, daß ich meine Kleidungsstücke mit Seide gefüttert trug; sie sahen meine Lackstiefel an, als wollten sie sie verspeisen; von einer solchen Ausschweifung hatten sie sich niemals träumen lassen. Nun, sie behandelten mich mit großem Respekt, aber … Ja, entschuldigen Sie nur, daß ich die Bekanntschaft so ohne weiteres erneuert habe. Jetzt muß ich nach Hause und unbedingt ein wenig schlafen. Außerordentlich angenehm, Sie wieder gesehen zu haben.«
Damit ging Öjen.
Coldevin rief ihm nach:
»Aber heute ist ja der siebzehnte Mai!«
Öjen kehrte sich um und sah erstaunt aus.
»Ja, und was weiter?« fragte er.
Da schüttelte Coldevin den Kopf und lachte kurz auf:
»Nichts, nichts! Ich wollte nur hören, ob Sie sich dessen erinnerten. Und Sie erinnerten sich sehr wohl daran.«
»Ja,« sagte Öjen, »man vergißt seine Kindergelehrsamkeit doch nicht so ganz und gar.«
Coldevin blieb stehen und sah ihm nach, dann ging auch er weiter; er wartete nur, daß die Stadt auf die Beine kommen und die Prozessionen beginnen sollten. Sein Rock fing an, allzu blank zu werden, er war abgebürstet, aber abgenutzt; im linken Aufschlag hatte er eine kleine, zierliche, seidene Schleife in den norwegischen Farben, und diese Schleife hatte er mit einer Nadel festgesteckt, um sie nicht zu verlieren.
Ihn fror, es war noch frisch und kalt; er schritt kräftiger aus, um nach dem Hafen hinunterzugelangen, von wo aus das erfrischende Geräusch der eisernen Ketten zu ihm drang. Er kam durch mehrere Straßen und sah nach den ausgesteckten Fahnen auf und nickte ihnen zu, sprach zu ihnen, verfolgte ihr Flattern gegen den Himmel. Einige bleiche, bescheidene Theaterplakate waren hier und dort an den Säulen angeklebt, er ging von der einen zur andern und las: große, berühmte Namen, Tragödien, Sittenbilder, Meisterwerke aus der vorigen Periode. Irgens' lyrisches Drama fiel ihm ein, er suchte es, fand es aber nicht. Dann lenkte er seine Schritte nach der See hinunter; das Lärmen der Ketten klang ihm fortwährend in den Ohren.
Die Schiffe flaggten, der ganze Hafen war durch diese vielen roten Lappen in der Luft eitel Bewegung. Coldevin atmete tief auf und stand still. Der Geruch von Kohlen und Teer, von Wein und Früchten, Fischen und Tran, das Lärmen der Maschinen und Menschen, das Rufen, das Klappern der Holzschuhe auf den Decks, der Gesang eines jungen Matrosen, der in Hemdärmeln stand und Schuhe putzte, dies alles versetzte ihn in eine heftige Freude, so daß ihm die Augen fast übergingen. Welche Macht war hier in Bewegung, welche Schiffe! Und der Himmel flammte. Weit hinten lag Fräulein Agathens kleiner Lustkutter, dessen vergoldete Mastspitze in die Luft ragte.
Er verlor sich in das Anschauen der Schiffe und Flaggen, Menschen und Waren. Die Zeit verging. Er stieg hinüber in einen Keller, wo man die Fensterläden zurückgeschlagen hatte. Dort verlangte er ein wenig Butterbrot zum Frühstück. Als er kurz darauf wieder aus dem Keller kam, waren schon viele Menschen in den Straßen. Der Augenblick nahte, wo der Zug der kleinen Knaben sich in Bewegung setzen mußte; es galt zur Stelle zu sein. Die Züge durfte er nicht versäumen.
Und plötzlich meinte Coldevin, er habe gar keine Zeit mehr zu verlieren. Er schritt nach Kräften aus, um zu dem ersten Zug nicht zu spät zu kommen.
Gegen drei Uhr hatten einige von der Clique an der »Ecke« Posto gefaßt, um den großen Fahnenzug nach dem Schlosse hinauf marschieren zu sehen; keiner von ihnen nahm an der Prozession teil. Da flüsterte endlich einer:
»Seht, da ist Coldevin auch.«
Man sah ihn bald unter der einen, bald unter der andern Fahne marschieren, gerade als wollte er allen zugehören, er war fast zu eifrig im Takthalten. Advokat Grande kam von der »Ecke« schräg über die Straße und schloß sich dem Zuge ebenfalls an. Er holte Coldevin ein und grüßte.
Sie begannen bald miteinander zu reden.
»Und wo ist das junge Norwegen?« sagte Coldevin, »die Dichter, Künstler, gehen sie nicht mit? Sie sollten es tun, es würde ihr Talent nicht schwächen. Vielleicht würde es dadurch nicht gerade gestärkt werden, das weiß ich nicht, aber jedenfalls würde es dadurch nicht Schaden nehmen. Die Sache ist die, sie kümmern sich nicht darum, sie sind gleichgültig dagegen. Aber es ist ganz gewiß verkehrt, so gleichgültig zu werden.«
Coldevin war noch um einen Grad unwilliger geworden, obgleich er immer leise und nachdenklich sprach. Er schwieg nicht einen Augenblick, brauchte große Worte, kam auf die Frauenfrage und behauptete etwas Ähnliches, wie, daß die Frauen sich in erster Linie befleißigen sollten, im eignen Heim Nutzen zu stiften. Es sei verkehrt, sagte er, daß den Frauen immer weniger und weniger daran läge, ein Heim mit Mann und Kindern zu haben. Sie zögen eine Dachkammer vor, solo, wenn sie dadurch werden könnten, was sie »selbständig« nannten. Sie müßten sich absolut auch ein Lorgnon heran-»studieren«, und wenn nichts andres, so besuchten sie ein Handelsgymnasium. Und auf solch einem Handelsgymnasium machten sie ihre Sache dann so ausgezeichnet, daß sie ihr Examen ablegen konnten, und wenn sie hinterher Glück hätten, erlangten sie endlich einen Posten mit zwanzig Kronen monatlich. Gut! Aber sie müßten siebenundzwanzig für Kammer und Essen bezahlen. So wären sie selbständig!
»Aber es ist doch nicht die Schuld der Frauen, wenn ihre Arbeit soviel schlechter bezahlt wird als die der Männer,« wandte der Advokat ein, der liberal verheiratet war.
Ach ja, diese Einwendungen kenne man, ja, ja; sie seien alt und gut. Man hätte auch darauf geantwortet, aber trotzdem; ja, man hätte sie einige tausendmal beantwortet, jedoch … Das Schlimmste sei übrigens, daß das Heim auf diese Weise aufhöre. Und dies betonte Coldevin. Er hätte hier in der Stadt schon den Eindruck bekommen, daß das Leben vieler Leute hauptsächlich im Restaurant verlief. Oftmals hätte er die Leute nicht zu Hause gefunden; ebenso hätte er ein paar Bekannte aufgesucht, aber er hätte sie nicht getroffen, er sehe sie zuweilen in den Cafés. Von Schriftstellern und Künstlern wolle er noch nicht einmal reden, sie hätten, und würden kein andres Heim haben als das Café, und er begriffe nicht, wie es ihnen dort mit ihren Werken von der Hand ging … Nein eins hinge mit dem andern zusammen; die Frauen hätten heutzutage weder den rechten, großen Ehrgeiz, noch hätten sie warme Herzensempfindungen, es sei modern geworden, zu »bummeln«, und so strandeten sie im Café. Was hätten die Frauen früher getan? Sie hätten ihr Wohnzimmer – von denen, die einen Salon hatten, sei hier nicht die Rede. Jetzt »bummelten« sie und hätten so wenig Ehrgeiz und Herzenstakt, daß sie sich in der gemischten Gesellschaft, die sie dort vorfänden, wohlfühlten. Jetzt gehörten sie weder hierhin noch dorthin, sie ließen sich nicht mehr von einzelnen Dingen besonders anfechten. Gott, wie selten sähe man heutzutage noch Rasse …
Jetzt wurde ein Hoch im Zuge ausgebracht, und in einigen Prozessionen wurde hurra gerufen. Coldevin schrie mit aller Kraft hurra, blieb beinahe stehen und schrie hurra, obgleich er gar nicht gehört hatte, weshalb geschrien wurde. Ärgerlich sah er an den Reihen hinunter und schwenkte den Hut, um die Leute dort unten zu lauterem Schreien anzufeuern.
»Diese Leute geben sich nicht einmal die Mühe, hurra zu schreien,« sagte er, »sie flüstern, man hört es gar nicht. Helfen Sie mir, Herr Advokat, daß wir ein wenig Leben hineinbringen!«
Und den Advokaten amüsierte das; er schrie ebenfalls und verhalf dem ersterbenden Hurra zu neuem Aufflackern.
»Noch einmal!« sagte Coldevin mit feurigen Augen.
Und wieder donnerte das Hurra an den Reihen hinunter.
Dann sagte der Advokat lächelnd:
»Aber daß Sie das mögen!«
Coldevin sah ihn an. Ernst antwortete er:
»Das sollten Sie nicht sagen. Wir alle sollten es mögen! Es wäre nicht übel angebracht. Daß man hier in Prozession geht, hat natürlich wohl nicht viel Bedeutung; aber es wird vielleicht ein Hoch auf Norwegen ausgebracht, ein Hoch auf die Flagge, und da sollen wir zur Stelle sein. Vielleicht wird heute auch ein ernstes Wort zum Storthing gesprochen. Es ist Hoffnung vorhanden, daß das Storthing an ein paar Dinge erinnert wird, die es beinahe vergißt, ein wenig Kraft, ein wenig Treue, das könnte möglicherweise helfen. Ja, man sollte nicht so gleichgültig sein, gerade die Jugend sollte hervortreten. Wer weiß, wenn die Jugend sich vielleicht etwas mehr gezeigt hätte und in geschlossenen Reihen aufmarschiert wäre und ein wenig hurra geschrien hätte, sobald Gelegenheit dazu war, so hätte das Storthing über einige der letzten Sachen vielleicht anders entschieden. Und wahrlich, wenn man sich heute nur die Mühe genommen hat, nach dem Hafen hinunterzugehen, um das wogende Leben dort unten zu sehen, so fühlt man doch, daß das Land unsrer Hurrarufe wert ist …«
Der Advokat gewahrte Öjen drüben auf dem Trottoir; er nahm schnell Abschied von Coldevin und trat aus dem Zuge. Etwas später blickte er zurück, Coldevin hatte abermals den Platz gewechselt und ging jetzt unter der Fahne des Handelsstandes, aufrecht, graubärtig, fadenscheinig, die kleine Seidenschleife in den norwegischen Farben am Rock.
Öjen war zusammen mit dem Schauspieler Norem und den beiden kurzgeschorenen Poeten, die jetzt kürzlich wieder aufgetaucht waren. Beide trugen schon graue Frühlingsanzüge, die allerdings noch vom vorigen Jahre waren. Beide hatten auch außerordentlich dicke Spazierstöcke, auf die sie sich wirklich stützten, wenn sie gingen.
»Du sprachst mit Coldevin,« fragte Öjen den Advokaten, als dieser kam, »was hatte er zu erzählen?«
»O, verschiedenes. Der Mann hat viele Interessen, er ist vielleicht nicht so dumm, aber er ist ein wenig verdreht; er hat das Unterste zu oben gekehrt, er sieht die Dinge über Kopf. Übrigens ist er zuweilen unterhaltend. Du hättest ihn eines Abends in Tivoli hören sollen. Ich schleppte ihn mit hinein und nahm mich seiner ein wenig an, er hat uns alle unterhalten, wirklich. Dann aber schlug er natürlich über die Stränge und ging zu weit … Na, und jetzt hatte er wieder ausgetüftelt, daß die häuslichen Herde rund umher in Auflösung begriffen seien: die Leute seien in den Cafés, die Leute seien nicht zu Hause, die Leute brächten ihr Leben im Restaurant zu; wenn man sie treffen wolle, müsse man sie dort suchen.«
»Unsinn … Ich traf den Burschen heute früh, als ich nach Hause ging. Wir begrüßten uns, wie gehts, freut mich außerordentlich, und so weiter. Da sagt der Mann im Laufe des Gesprächs, ich sei also auf dem Lande gewesen und habe ein chronische Schwäche an mir konstatieren lassen. Ja, ha–ha, ich sah den Mann an und klärte ihn auf, daß meine chronische Schwäche doch nicht größer sei, als daß ich dort oben in den Wäldern ein längeres Gedicht in Prosa geschrieben hätte. Nein, dann müsse er allerdings einräumen … Hast du das Gedicht übrigens gehört, Grande? Ich habe es an Ole Henriksen geschickt, um mich ein wenig zu legitimieren, als ich ihn um Reisegeld bat.«
»Ja, ich habe es gehört. Großartig, ganz großartig! Das fanden wir alle!«
»Ja, nicht wahr? Es lag ein gewisser Klang drin? Ich hatte keine Ruhe, bevor ich es niedergeschrieben hatte. Es hat mich ganz außerordentliche Anstrengung gekostet.«
»Daß ihr etwas tun mögt! Daß ihr es mögt!« rief jetzt Schauspieler Norem mit träger Miene aus. »Ich habe nun schon seit fünf Monaten keine Rolle gehabt, Gott sei Dank dafür!«
»Ja, du, mit dir ist das etwas andres, du brauchst es auch nicht,« sagte Öjen. »Wir andern müssen uns schon dazu halten, wenn wir am Leben bleiben wollen.« Und dabei zog er den Mantel fester um seine schmalen Hängeschultern.
Ein kleines Kind, ein kleines Mädchen kam in dem Augenblick aus einer Tür. Sie rollte einen leeren Kinderwagen vor sich her, und gerade, als sie auf die Straße hinauskam, schlug der Wagen um. Die Kleine klatschte entzückt in die Hände und stieß einen kleinen Schrei aus. Aber Öjen mußte beinahe über den umgefallenen Wagen wegsteigen, um vorbeizukommen.
»Ich kann ja nicht anders sagen, als daß ich mich ein wenig gewundert habe, als ich das Stipendium nicht bekam,« sagte er. »Hier müht man sich nun und tut sein Bestes, und es hilft doch nichts. Es gibt gerade nicht viele, die das anerkennen.«
Der eine der kurzgeschorenen Poeten, der mit dem Kompaß an der Uhrkette, faßte nun Mut und bemerkte dazu:
»Ist das hier bei uns zu Hause vielleicht nicht die Regel? Wenn man nicht die Talente zum Mißhandeln hätte, wen hätte man sonst dazu, denn die Tiere werden ja jetzt geschützt.« Und der kurzgeschorene Poet wagte über diesen Einfall ein wenig zu lachen.
»Geht ihr ins Grand?« fragte Norem kurz und bündig. »Ich muß einen Pjolter haben.«
»Nein, was mich betrifft, so möchte ich am liebsten ein wenig allein sein,« entgegnete Öjen, noch niedergeschlagen durch den Gedanken an das Stipendium. »Ich komme vielleicht nach, wenn ihr sitzen bleibt. Adieu so lange.«
Und wieder zog Öjen den Rockkragen in die Höhe, kehrte um und ging, in Gedanken verloren, die Straße wieder hinauf. Die Leute, die ihn kannten, störten ihn nicht, er machte einen Bogen um den kleinen Kinderwagen, der noch leer und umgeworfen wie vorhin mitten im Wege lag.
Agathe hatte sich für die Ruderfahrt angekleidet, sie zog die Handschuhe an und stand bereit.
Es hatte keine Schwierigkeit gehabt, diesen kleinen Ausflug ins Werk zu setzen, Ole hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, und das einzige, was er sich ausbat, war, daß sie vorsichtig sein und sich nicht erkälten möge; es sei ja doch erst Juni.
Irgens zog ebenfalls seine Handschuhe an.
»Ja, ich wiederhole euch, seid vorsichtig,« sagte Ole noch einmal.
Dann gingen sie.
Es war stilles Wetter, warm und klar und keine Wolke am Himmel. Irgens hatte alles vorbereitet, das Boot war gemietet und zur Stelle, man brauchte nur einzusteigen. Mit Vorsatz sprach er gleichgültig über verschiedene Dinge; er trällerte sogar ein Lied; dadurch machte er sie vergessen, daß sie ihre Einwilligung, mit nach der Insel hinüberzurudern, durch ein Ja gegeben hatte, das beinahe einer eiligen Unterwerfung gleichkam, fast vor der Nase Oles, der gerade dazu gekommen war. Sie fühlte sich beruhigt, Irgens legte wirklich nicht mehr in ihr flüsterndes Ja von damals, als sie selbst hineingelegt hatte; jetzt ging er so ruhig nebenher und sagte so allgemeine Dinge über Wind und Wetter, daß sie ihn förmlich zur Eile antreiben mußte. Gerade als sie vom Lande abstoßen wollten, sah sie einen Schimmer von Coldevin, der halb unter Kisten versteckt oben auf der Landungsbrücke stand. Sie erhob sich, sprang wieder aus dem Boot und rief zweimal:
»Coldevin! Guten Tag!«
Er konnte ihr nicht mehr ausweichen; er trat vor und nahm den Hut ab.
Sie reichte ihm die Hand. Wo er jetzt wieder während der ganzen langen Zeit gewesen sei? Weshalb er sich denn nie mehr sehen lasse? Es fing wirklich an, auffällig zu werden. Ja, gewiß.
Er stotterte eine Entschuldigung, sprach von etwas Bibliotheksarbeit, einigen Übersetzungen aus einem Buche, einem notwendigen Buche. …..
Aber sie unterbrach ihn und fragte, wo er denn jetzt wohne. Sie habe ihn im Hotel gesucht, und dort war er ausgezogen, niemand wußte wohin; dann habe sie ihn am siebzehnten Mai ganz flüchtig gesehen, er ging mit in der Prozession, während sie im Grand gesessen hätte, sonst würde sie ihn gerufen haben.
Er wiederholte seine Entschuldigungen und schloß mit dem alten Scherz, daß man Brautleute nicht zu oft stören dürfe, und als er das sagte, lachte er gutmütig.
Sie betrachtete ihn genauer. Seine Kleider begannen fadenscheinig zu werden, auch sein Gesicht war nicht mehr so voll wie früher, und mit einem Male kam ihr der Gedanke, daß er vielleicht Not leide. Weshalb war er aus dem Hotel gezogen, und wo wohnte er jetzt? Sie fragte ihn noch einmal, und er begann von einem Freunde zu reden, einem Jugendkameraden – wirklich wahr –, Lehrer an einer Schule, prächtiger Mensch.
Agathe fragte ihn geradezu, wann er wieder nach Thorahus hinauf reisen werde; doch das wußte er noch nicht, konnte es nicht bestimmt sagen; solange er diese Bibliotheksarbeiten habe, so ….
Jedenfalls müsse er um Gottes willen zu ihr kommen, bevor er reise; ob er das verspreche? Gut! Und plötzlich fragte sie: »Hören Sie, ich sah Sie also am siebzehnten Mai, Sie trugen dort im Knopfloch eine Schleife?« Und Agathe legte den Finger auf seinen Rockaufschlag.
Gewiß, er habe die Schleife gehabt; an solch einem Tage müsse man doch die Farben tragen! Ob sie sich denn nicht erinnere, daß sie ihm im vorigen Jahre eine Schleife geschenkt habe? Sie habe gewollt, daß er sich schmücken solle, wenn er vor den Bauern daheim die siebzehnte Mai-Rede hielt, und dann habe sie ihm jene Schleife gegeben; ob sie sich denn nicht darauf besinnen könne?
Und Agathe erinnerte sich daran; sie fragte:
»War es wirklich die?«
»Ja, Sie können wohl fragen,« sagte er. »Ich fand sie wieder; zufällig hatte ich sie mit, ganz zufällig, ich fand sie zwischen meinen Sachen.«
»Wissen Sie, ich dachte mir, daß es meine Schleife sei, und ich war seelenvergnügt darüber; ich weiß nicht, wie es kam,« sagte sie leise und senkte das Haupt.
Jetzt rief Irgens vom Boot her, ob sie nicht komme.
»Nein,« antwortete sie hastig, ohne darüber nachzudenken; sie wandte nicht einmal den Kopf um. Welch ein Kind! Und hinterher, als ihr einfiel, was sie geantwortet hatte, geriet sie außer sich und rief Irgens zu: »Entschuldigen Sie einen Augenblick, einen einzigen Augenblick!« Dann wandte sie sich wieder zu Coldevin: »Ich hätte so gern mit Ihnen gesprochen, aber ich habe keine Zeit; ich will nach der Insel, wir wollen nach der Insel. Lieber … Nein, ich verstehe es nicht!« Dann schlug sie mit einem Male um, reichte Coldevin wieder die Hand und sagte: »Ja, ja, schließlich wird alles wohl noch gut werden; glauben Sie nicht auch? Es tut mir leid, daß ich keine Zeit mehr habe; adieu solange. Sie kommen also in den nächsten Tagen zu uns?«
Sie hüpfte die Brücke wieder hinunter und stieg ins Boot; dann entschuldigte sie sich aufs neue bei Irgens, daß sie ihn habe warten lassen.
Irgens ruderte hinaus. Er hatte heute ein neues Seidenhemd an, ein ganz andres Seidenhemd, und Agathe fand das merkwürdig. Sie sprachen vom Seeleben, von großen Reisen, vom Auslande; er war nur in Gedanken im Auslande gewesen, und dabei würde es auch wohl bleiben. Er sah wehmütig aus. Sie lenkte das Gespräch auf sein letztes Buch, und er fragte verwundert, ob sie noch daran denke? Dann sei sie gewiß die einzige.
»So bitter!« sagte sie.
Ja, sie möge ihm verzeihen! Aber ob sies nicht lieber lassen wolle, ihn an sein Buch und alle die Kleinlichkeit und Mißgunst zu erinnern, mit der man ihn verfolgt habe, seitdem es erschienen sei? Sie sähe ja selbst, das Buch sei allerdings erschienen, aber nur ein paar kleine Blätter hätten es besprochen, und da läge es nun. Nein, Dank und Ehre für die Aufmerksamkeit, aber sie wollten doch lieber nicht darüber sprechen. Nun, dies sei noch nicht das Ende, er habe noch ein ungesagtes Wort, auf das man vielleicht doch auch noch hören würde!
In seinem Eifer hatte er immer stärker zugerudert, die Handschuhe an seinen Händen sprangen auf und wurden weiß in den Nähten. Sie saß und beobachtete ihn. Dann sagte er wieder ruhig:
»Es ist ja wahr, Sie werden diesen Sommer nicht aufs Land gehen, wie ich gehört habe?«
»Nein, Tidemands haben sich anders entschlossen.«
»Ja, das hörte ich. Schade, einerseits bedauere ich es um Ihretwillen.« Und indem er beinahe auf den Rudern ruhte, sagte er geradezu: »Aber um meiner selbst willen freue ich mich, das sage ich offen heraus.«
Pause.
»So, rudern Sie jetzt ein wenig kräftiger, sonst kommen wir niemals hin,« sagte sie. »Glauben Sie meiner auch fernerhin zu bedürfen, damit ich Ihre Laune zuweilen auffrische?« Sie lachte. »Wäre ich an Ihrer Stelle, so würde ich übrigens die Handschuhe ausziehen, glaube ich; sehen Sie, jetzt reißen sie überall.«
Und er tat, wie sie sagte, und erwiderte:
»Wäre ich aber an Ihrer Stelle, so würde ich gar keine Handschuhe tragen, dazu würde ich viel zu stolz auf meine Hände sein.«
»So – so – keine Schmeicheleien …. Nein, aber eine andre Sache ist die, daß es sehr unbequem mit den Handschuhen ist, wenn man einen Ring trägt.« – Und auch sie zog die Handschuhe aus; auf der weißen Hand hatten sich die Nähte abgedrückt; ihr Verlobungsring war ganz klein und neu. »Ganz schlimm muß es aber sein, wenn man Ringe mit Steinen trägt; solche habe ich aber nicht.«
»Gott bewahre mich, wie klein Ihre Hände sind!« sagte er.
Als sie anlegten, sprang Agathe mit einem Satz auf das steinerne Bollwerk. Die Bäume entzückten sie; seit einer Ewigkeit habe sie keinen Wald mehr gesehen; die dicken Bäume hier wären genau so wie daheim! Mit Behagen sog sie den fetten Tannengeruch ein, sah mit einer Empfindung des Wiedererkennens auf Steine und Bäume; Erinnerungen an die Heimat stürmten auf sie ein, und einen Augenblick war sie nahe daran, in Tränen auszubrechen.
»Aber hier sind ja Menschen?« fragte sie.
Irgens lachte.
»Es ist ja auch gerade kein Urwald; leider nicht. Haben Sie wirklich nicht erwartet, hier Menschen zu finden?«
»Nein, ich habe keine erwartet. Aber jetzt führen Sie mich ein wenig herum. Was für herrliche Bäume hier sind!«
Sie streiften eine lange Weile herum, sahen, was zu sehen war, genossen eine Erfrischung an einer Bude. Die Leute verfolgten sie wie gewöhnlich mit Aufmerksamkeit, Irgens war auch hier bekannt. Agathe bemerkte es und sagte beinahe mit einem Ausdruck von Respekt:
»Denken Sie nur, man kennt Sie auch hier, Herr Irgens!«
»Ja, vielleicht einige Leute,« sagte er. Wir sind ja auch noch nicht so weit entfernt von der Stadt. Außerdem muß das Publikum doch natürlich seine Schriftsteller kennen.«
Agathe strahlte. Bewegung und Luft hatten eine milde Röte auf ihre Wangen, ihren Mund, ihre Ohren, ja, sogar auf ihre Nase gebracht; ihre Augen funkelten lustig wie Kinderaugen. Ihr fiel ein, daß sie ganz offen eine Grimasse des Mißbehagens gemacht hatte, als sie gesehen, daß noch andre Menschen auf der Insel waren; was mußte Irgens denken?
»Ja, ich wunderte mich einen Augenblick, als ich hier so viele Menschen fand, es ist wahr,« sagte sie, »aber ich dachte an Sie. Sie haben mir erzählt, daß Sie mehrere von Ihren Gedichten hier geschrieben hätten, und ich glaubte, dergleichen könne man nicht bei Lärm und Verkehr machen.«
Wie sie sich erinnerte, – sich erinnerte! Er sah sie ganz überwältigt an und erwiderte, das könne man auch nicht; wenn man gestört würde, könne man nicht schreiben; aber er habe hier seinen stillen Fleck, wohin fast nie ein Mensch käme; drüben auf der andern Seite; ob sie hingehen wollten?
Und sie gingen.
Es war wirklich ein stiller Fleck, ein förmliches Gebüsch, einige große Steine, Wacholder, Heidekraut, von zwei Seiten eingeschlossen. Hier setzten sie sich. Weit fort sah man eine kleine Rasenfläche.
»Hier haben Sie gesessen und geschrieben!« sagte sie. »Denken Sie nur, mich däucht es so seltsam, das zu wissen. Saßen Sie genau hier?«
»Ja, so ungefähr doch wohl,« antwortete er lächelnd. »Wissen Sie, es ist einem ein Genuß, auf ein so unmittelbares Interesse zu stoßen wie das Ihre. Es ist förmlich taufeucht in seiner Frische!«
»Und wie macht mans, wenn man schreibt? Kommt es von selbst?«
»Ja, es kommt von selbst. Man verliebt sich, oder man wird hart berührt, und dann kommt es. Aber dann kommt es darauf an, daß unsre Worte lieben oder hassen, wie unser Herz liebt oder haßt. Oft stockt das Ganze, man findet nicht das trägste Wort der Sprache, um zum Beispiel die Stellung Ihrer Hand dort auszudrücken; es fehlt einem die Bezeichnung für die zarte Freude, die Ihr Lachen in einem erweckt … Ja, dies sind nur Beispiele, verstehen Sie,« fügte er hastig hinzu.
Sie blieb sitzen und dachte darüber nach. Die Hände hatte sie vor sich übereinandergelegt und sah vor sich hin.
Die Sonne sank langsam, es ging ein Zittern durch die Bäume; alles war still.
»Hören Sie!« sagte er, »wie der Lärm in der Stadt kocht!«
»Ja,« sagte sie leise.
Er bemerkte, wie der Rock ihres Kleides sich unterhalb des Knies spannte, er folgte der entzückenden Linie des Knies, sah, wie ihr Busen sich hob und senkte, beobachtete ihr Gesicht mit dem lieben Grübchen; diese ziemlich große, unregelmäßige Nase wirkte auf ihn, jagte das Blut in ihm auf. Er rückte dichter an sie heran und sagte abgebrochen, stotternd:
»Dies ist die Insel der Seligen, und dieser Fleck hier heißt Abendhain, die Sonne sinkt, wir sitzen hier, die ganze Welt ist fern, dies ist einfach mein Traum. Sagen Sie, stört es Sie, daß ich spreche? Sie sitzen so versunken … Fräulein Lynum, nun weiß ich mir nicht mehr zu helfen, ich ergebe mich Ihnen. Ich habe das Gefühl, als ob ich zu Ihren Füßen läge und dies sagte, obgleich ich hier sitze …«
Dieser plötzliche Übergang in seinem Ton, die bebenden Worte, seine Nähe verursachten ihr ein kurzes, stupides Erstaunen; sie sah ihn einen Augenblick an, bevor sie etwas zu sagen vermochte. Dann begannen ihre Wangen sich zu röten; sie wollte sich erheben und sagte zugleich:
»Hören Sie, Irgens, wollen wir nicht gehen?«
»Nein!« antwortete er. »Nein, nicht gehen!«
Er hielt sie beim Kleide fest, schlang den Arm um ihre Taille und hielt sie zurück. Sie wehrte sich, mit rotem Gesicht, verlegen auflachend, während sie sich fortwährend bemühte, seinen Arm zu entfernen.
»Ich glaube, Sie sind toll,« sagte sie unaufhörlich, »ich glaube, Irgens, Sie sind toll!«
»Hören Sie doch, lassen Sie mich Ihnen wenigstens etwas sagen,« bat er.
»Ja, und das wäre?« sagte sie; sie hörte ihn wirklich an, wendete den Kopf ab und hörte.
Da begann er zu sprechen, mit hastigen und unzusammenhängenden Worten, sein Herzklopfen bebte in seiner Stimme, er war von Zärtlichkeit erfüllt. Sie sähe ja, er wolle gar nichts andres, ihr nur erzählen, wie unsäglich lieb er sie habe, wie er überwunden sei, gänzlich überwunden, wie nie zuvor. Sie könne ihm glauben, dies habe lange in seinem Herzen gelegen und gekeimt, schon seit dem ersten Mal, wo er sie gesehen hätte; er habe einen Kampf gekämpft, um es in Schranken zu halten, aber solch ein Kampf bedeute ja nicht viel – das sei wahr, denn es sei ja allzu süß, nachzugeben, und man gäbe nach, man kämpfe mit immer schwächer werdenden Schlägen. Nun sei es zu Ende, er habe jetzt nicht mehr nachzugeben, er sei bereits entwaffnet … »Um Gottes willen, Fräulein Agathe, lassen Sie mich doch wenigstens ein paar verzeihende Worte von Ihnen hören! Glauben Sie mir, es ist nicht meine Gewohnheit, alle Welt mit Liebeserklärungen zu überfallen, in Wirklichkeit bin ich eine ziemlich starre Natur, es bleibe dahingestellt, ob das nun ein Fehler oder ein Vorzug bei mir ist. Aber da ich nun zu Ihnen gesprochen habe, wie ich getan, so müssen Sie begreifen, daß ich gewiß dazu gezwungen war, daß es eine Notwendigkeit für mich war. Sagen Sie, können Sie das nicht verstehen? Nein, ich glaube, meine Brust springt in Stücke …«
Immer noch mit abgewendetem Oberkörper hatte sie ihm das Angesicht wieder zugekehrt und blickte ihn jetzt an; ihre Hände hatten aufgehört zu arbeiten, sie waren auf den seinen liegen geblieben, die noch immer ihre Taille umschlossen; an seinem Halse konnte sie deutlich sehen, wie sein Blut klopfte. Nun setzte sie sich auf, er hielt sie noch umfangen, sie schien es nicht mehr zu fühlen, sondern nahm die Handschuhe, die neben ihr lagen, und sagte mit bebenden Lippen:
»Nein, Irgens, dies hätten Sie aber doch nicht sagen sollen. Nicht wahr? Ich hätte es lieber nicht gehört, ich weiß mir dabei nicht zu helfen, darum …«
»Nein, ich hätte es wohl nicht tun sollen, ich hätte es nicht tun sollen, aber …« Er starrte sie an, auch seine Lippen zitterten ein wenig. »Fräulein Lynum, was hätten Sie übrigens getan, wenn Ihre Liebe Sie zum Kinde machte, Ihre Vernunft förmlich ruinierte und Sie blind machte, so daß Sie nicht mehr sähen? Ich meine …«
»Ja, aber sagen Sie jetzt nichts mehr!« unterbrach sie ihn. »Ich verstehe Sie wohl, aber … Und überdies kann ich Sie auch nicht anhören.« Sie merkte, daß sein Arm sie noch umschlang, und mit einem Ruck setzte sie sich abermals von ihm fort und stand dann auf.
Sie war noch so verwirrt, daß sie gar nichts tun konnte; sie blieb stehen und sah zu Boden; sie bürstete nicht einmal das Heidekraut von ihrem Kleide. Und als er nach ihr ebenfalls aufstand, machte sie noch keine Miene, gehen zu wollen, sondern blieb immer noch stehen.
»Lieber Irgens, ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie dies keinem Menschen erzählten. Denn ich habe solche Angst,« sagte sie. »Und Sie dürfen sich auch nichts mehr aus mir machen, hören Sie? Ich konnte doch auch nicht denken, daß Ihnen etwas an mir lag; doch, ich glaubte wohl, daß Sie mich ein wenig lieb hätten; ich hatte angefangen, es zu glauben; aber nicht so sehr, glaubte ich. Wie könnte er mich wohl sehr lieb haben! habe ich gedacht … Aber wenn Sie wollen, reise ich gern auf eine Zeitlang nach Hause, nach Thorahus …«
Sie rührte ihn unmittelbar, er schluckte, bekam feuchte Augen. Ihr seltsam süßes Geplauder, diese treuherzigen Worte, ihre ganze Stellung, die so ohne Angst, ohne Ziererei war, machten mehr Eindruck auf ihn als alles andre; sein Gefühl loderte in ihm empor, schlug in hellen Flammen auf. Nein, nein, nicht nach Thorahus, nirgend hin, nur hier sein! Er würde sich schon beherrschen, sich zu beherrschen wissen, sie solle nur nicht reisen. Ach, und wenn er ganz wahnsinnig würde, wenn er zugrunde ginge; er wolle sie doch lieber hier behalten.
Er fuhr fort zu reden, indem er ihr Kleid abbürstete. Sie müsse ihm alles vergeben, er sei ja nicht wie alle andern, er sei Dichter; wenn der Moment käme, gäbe er sich hin. Aber sie solle keinen Grund mehr haben, sich zu beklagen, wenn Sie nur nicht reise … Ob denn übrigens von ihrer Seite gar nichts dagegen spräche, daß sie reiste, nicht das Allergeringste? Ach nein, wohl nicht, er bilde sich ja auch nichts ein …
Pause.
Er wartete, daß sie doch reden, ihm ein wenig widersprechen würde, sagen, daß es ihr vielleicht doch schwer würde, nach Thorahus zu reisen. Aber sie schwieg. War er ihr denn völlig gleichgültig? Unmöglich! Aber dieser Gedanke begann ihn zu quälen, er war verletzt, beleidigt, fühlte sich beinahe zu Unrecht von ihr behandelt. Er wiederholte seine Frage: Ob denn nicht ein kleiner Funke von Wiedervergeltung für alle seine Liebe in ihr sei?
Mild, wehmütig entgegnete sie:
»Nein, Sie dürfen nicht fragen. Was glauben Sie, daß Ole sagen würde, wenn er dies hörte?«
Ole? An ihn hatte er nicht einen Augenblick gedacht! Sollte er denn wirklich die Konkurrenz mit Ole Henriksen aufnehmen? Das war zu lächerlich; er konnte auch nicht glauben, daß sie dies im Ernst meinte. Lieber Gott, Ole mochte ja an und für sich recht gut sein, er kaufte und verkaufte, er ging seinen Krämergang durchs Leben und bezahlte seine Rechnungen und legte seinem Vermögen neue Schillinge hinzu, das war alles. Hatte das viele Geld wirklich eine Bedeutung für sie? Wer weiß, vielleicht war in diesem kleinen, blonden Kopf ein verborgener Winkel, wo die Gedanken sich mit Kronen und Ören beschäftigten, wie unmöglich dies auch klingen mochte.
Irgens schwieg einen Augenblick, die Eifersucht begann in ihm zu arbeiten, Ole war imstande, sie festzuhalten, sie würde ihn vielleicht sogar vorziehen, er war blauäugig und groß, seine Augen waren seltsam.
»Ole?« sagte er. »Was er sagen würde, ist mir ja gleichgültig. Ole existiert nicht für mich, Sie liebe ich.«
Zum erstenmal durchfuhr es sie wie ein leiser Ruck; sie erbleichte, über der Nase zeigte sich eine Falte, sie begann zu gehen.
»Nein, dies ist zu schlecht!« sagte sie. »Dies hätten Sie ebenfalls nicht sagen sollen. Mich lieben Sie? Ja, aber so sagen Sie es doch nicht mehr.«
»Fräulein Agathe, nur ein Wort! bin ich Ihnen wirklich ganz gleichgültig?«
Er hatte die Hand auf ihren Arm gelegt, und sie mußte ihn ansehen. Er war so gewaltsam, er beherrschte sich durchaus nicht, wie er sagte; jetzt war er nicht schön.
»Diese Frage dürfen Sie nicht an mich richten,« antwortete sie. »Ich liebe Ole; das begreifen Sie wohl.«
Die Sonne sank tiefer und tiefer; die Menschen hatten die Insel verlassen, nur hier und da ein verspäteter Spaziergänger drüben auf dem Wege, der auf der Landseite zur Stadt führte. Irgens tat keine Fragen mehr, er schwieg oder sprach das Notwendigste; die Erregung machte seine Augen hell. Agathe versuchte vergebens, ein Gespräch in Gang zu bringen, sie selbst hatte mehr denn genug zu tun, um ihr Herz ruhig zu halten, und er sah es gar nicht, er war nur mit seinem eignen Kummer beschäftigt.
Als sie im Boote saßen, sagte er:
»Sie wären vielleicht am liebsten auch nach der Stadt zurückgefahren, allein? Möglicherweise ist noch ein Kutscher hier …?«
»Nein, Irgens, seien Sie nicht schlecht!« erwiderte sie.
Sie konnte die Augen nicht mehr trocken halten, sie zwang sich, an gleichgültige Dinge zu denken, um sich stark zu machen; starrte zurück auf die Insel, die sie verließen, verfolgte mit den Blicken einen Vogel, der über den Fjord fortflog. Und mit noch feuchten Augen fragte sie:
»Was ist das? Ist das Wasser, das Schwarze da drüben?«
»Nein,« antwortete er, »das ist Wiese, grüne Wiese; sie hat im Schatten gelegen; der Tau macht sie so schwarz.«
»Nein – und ich glaubte, es sei Wasser!« Da es nun aber unmöglich war, noch mehr über diese grüne Wiese zu sagen, die im Schatten lag, ging sie gerade auf die Sache los und sagte: »Hören Sie, Irgens! Lassen Sie uns miteinander sprechen! Nicht wahr?«
»Gern,« erwiderte er. »Sagen wir zum Beispiel unsre Ansicht über die Wolkenballen dort am Himmel. Mich dünkt, sie gleichen großen Sommersprossen, Ausschlag …«
Sie hörte heraus, daß sein Ton kalt war, eisig kalt; aber trotzdem sagte sie lächelnd:
»In meinen Augen gleichen sie doch mehr Wolkenballen.«
»Ja,« sagte er, »ich habe keine Hoffnung, gerade jetzt die treffenden Bezeichnungen zu finden; ich bin wirklich ein bißchen zu faul, Fräulein Lynum. Seien Sie billig und haben Sie dieses Mal Nachsicht mit mir; wollen Sie? Nein, Sie dürfen nicht glauben, daß ich dem Tode nahe bin, … im ganzen genommen, sterbe ich nicht leicht, aber …«
Er ruderte kräftig, sie näherten sich der Landungsbrücke. Er legte mit der Längsseite an, trat auf die Holzstufe und half ihr an Land. Sie waren beide noch ohne Handschuhe, ihre warme Hand ruhte in der seinen, sie benutzte die Gelegenheit, ihm für die Fahrt zu danken.
»Und ich bitte Sie zu vergessen, daß ich Sie mit meinen Herzensangelegenheiten überfallen habe,« sagte er. »Liebste, verzeihen Sie mir!«
Und, ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er den Hut ab, sprang wieder ins Boot und stieß von neuem ab.
Sie war oben auf der Brücke stehen geblieben, sah, daß er wieder ins Boot sprang, und wollte ihm zurufen, fragen, wohin er jetzt noch rudre, aber sie unterließ es. Er sah ihren blonden Nacken über die Landungsbrücke verschwinden.
Eigentlich hatte er gar keine Absicht dabei gehabt, als er wieder ins Boot stieg, er tat es aus Verlegenheit, in der Bewegung und Hast des Augenblicks, ohne den Gedanken, etwas Besondres unternehmen zu wollen. Er nahm die Ruder und ruderte hinaus, wieder nach der Insel zu; der Abend war ganz still. Jetzt, da er allein war, packte die Verzweiflung ihn hart; wieder eine Enttäuschung, wieder ein Fall, – der schlimmste! Und kein Stern in der ganzen Nacht! Für einen kurzen Augenblick fiel ihm Hanka ein, die ihn heute vielleicht gesucht hatte, ja, die ihn vielleicht jetzt noch hier und dort suchte. Nein, Hanka war nicht blond, Hanka war dunkel, sie strahlte nicht, aber sie bezauberte. Aber, wie war es doch, watschelte sie nicht ein bißchen, wenn sie ging? Hanka hatte nicht Agathens Gang, sie watschelte. Und wie kam es, daß es seine Brust nicht mehr durchrieselte, wenn sie lachte?
Er zog die Ruder ein und ließ das Boot treiben; es begann ein wenig zu dunkeln. Sein Kopf war voll Gedanken, ein Mann auf wildem Meer, ein geschlagener Kaiser, Lear, viele, viele Gedanken. Er setzte sich hinten ins Boot und begann zu schreiben, schrieb Vers auf Vers auf die Rückseite einiger Kuverts. Gott sei Dank, sein Talent konnte ihm niemand rauben! Und bei diesem Gedanken durchzitterte ihn wieder ein inniges Gefühl von Glück.
Er zündete sich eine Zigarre an und blies den Rauch in die Luft. Eigentlich war er doch ein seltsamer Mann, ein Dichter, nur Dichter! Da lag er nun und ließ sich in einem Boote treiben, und sein Herz litt, und der Schmerz in ihm machte sein Blut heiß; aber er dichtete trotzdem, er konnte es nicht lassen, er suchte nach Worten, erwog und wählte Worte, und sein Herz litt, und er war ganz krank vor Kummer. Das konnte man doch wohl Kraft nennen!
Und er schrieb wieder …
Es war spät in der Nacht, als er ans Land ruderte. Er sah Milde oben in einer Straße, nur mit Not konnte er verhindern, daß er selbst gesehen wurde. Milde war in Stimmung und hatte ein Mädchen unterm Arm; sein Hut schwebte auf drei Haaren; er sprach sehr laut auf der Straße. Abermals ein Korsett! dachte Irgens; ja, ja, nun kann er dieses sein üppiges Talent wieder pflegen, er hat das Stipendium bekommen, mit dem er um sich werfen kann!
Und Irgens schlich in eine Nebenstraße. Als er aber an die »Ecke« kam, mußte er zu allem Unglück noch Öjen treffen. Wie schlimm es ihm heute doch ergangen war, den ganzen Tag! Öjen riß sofort den Mantel auf und holte ein Manuskript hervor. Es sei nur ein kurzes Gedicht in Prosa; ja, ja, er müsse es vorlesen, jetzt gleich, es sei ägyptisch, spiele in einer Grabkammer, sei steif und naiv im Ton, ganz merkwürdig. Aber Irgens, der ebensosehr mit seinem eignen Gedicht beschäftigt war, wie der andre mit dem seinen, steckte ebenfalls die Hand in die Tasche. Er hatte sich darauf gefreut, recht schnell nach Hause zu kommen und sein Gedicht so recht in Ruhe durchlesen zu können; er wurde ungeduldig, vergaß seine Vornehmheit und sagte:
»Glaubst du nicht, daß ich ebenfalls Papiere herausziehen kann, wenn ich will?«
Öjen beugte sich sofort; noch niemals war er von Irgens in dieser Weise beehrt worden; dies war ungewöhnlich. Darum schlug er vor, nach dem Hain hinüberzugehen und eine Bank aufzusuchen.
»Nein,« sagte da Irgens, »es ist ja nichts, um viel Aufhebens davon zu machen, es ist nur eine Stimmung.« Aber er ging trotzdem mit nach der Bank. Und als er sich setzte, war er wieder so überlegen, daß er ziemlich gleichgültig zu sagen vermochte: »Ja, wenn du denn durchaus hören willst, was die Rückseite von ein paar alten Kuverts enthalten kann, meinetwegen …« Und er las:
Es treibt mein Nachen
Zur Abendstunde
Durch dunkle Fluten,
Rings Stille, Stille.
Es senkt die Nacht sich
Aufs Meer hernieder;
Der Nachen schaukelt
Hinaus ins Weite,
Auf leisen Wogen nach fernen Inseln!
Ist das der Laut nicht
Der andern Nachen?
Zwei Ruderschläge
In gleichem Takte?
Ach nein, die Schläge,
Sie sind das Pochen
Des eignen Herzens
Im engen Kerker,
Das dumpfe Pochen, das nimmer schweiget!
Sirene, Holde,
Die jüngst noch bei mir,
Nun bist du fort, und
Ich bin alleine.
Mit dir schwand alles,
Die Freuden starben,
Und alle Sonnen
Und Stern erloschen!
Jetzt treibt mein Nachen vor allen Winden.
Sprich, siehst du dort eine Insel draußen?
Es kreist die Möwe, die Küste hebt sich,
Und Berge blauen in sonnigen Reihen.
Mußt leise gleiten, ganz leise gleiten, mein kleiner Nachen.
Das ist der Seligen rosige Insel,
Und Lachen tönet, und Freuden klingen,
Dort schwebt ein Reigen von holden Nixen,
Sie lächeln wonnig und leuchten goldig wie wilde Sterne!
Zieh hin, mein Nachen, ganz leise, leise!
Es glühn die Wangen, der Goldwein funkelt!
Die Nixen spielen so süße Weisen,
Den Schmerz laß fahren, den Schmerz laß fahren, die Erde sich drehen!
Der Nachen treibet zur nächtigen Stunde
Dem Meer entgegen, –
Und in den Weiten nur Ruhe, Ruhe
Und tiefes Schweigen.
Da schießt ein Vogel hin durch das Dunkel,
Er zittert bange.
Hat ihn verlassen, die wild ihn lockte,
Ihn süß verwirrte?
Du findest andre auf deinem Wege,
Die nimm im Fluge …
Euch deckt die Nacht dann mit dunklem Fittich, –
Und alles schweiget.
Tidemand war noch immer mit dem Gang der Dinge zufrieden; er machte auch nach England mit seinem Eise gute Geschäfte. Auf die Gerüchte, daß der reichliche Regen in Rußland die Aussichten auf die diesjährige Ernte zum Bessern verändert habe, legte er nicht viel Gewicht. Es hatte geregnet, allerdings; aber Tatsache war doch, daß Rußland noch bis zum heutigen Tage gesperrt, absolut gesperrt war; nicht ein Sack Korn konnte aus dem Lande hinausgeschmuggelt werden, und wenn man ihn mit Gold hätte aufwägen wollen. So hielt Tidemand seine festen Preise, er verkaufte dann und wann einige Säcke Roggen aufs Land hinaus, aber sein gewaltiger Vorrat schwand dadurch fast um gar nichts; es mußte Kornmangel, Panik eintreten, bevor er von einem Absatz von Bedeutung reden konnte. Es eilte auch gar nicht, die Zeit war noch nicht gekommen! Nein, wartet nur den Winter ab!
Und Tidemand ließ die Tage hingehen. Man rannte ihm wie gewöhnlich die Türen ein, Schiffer, Schiffsrheder und Agenten aller Art; man kam mit Listen zur Unterzeichnung zu ihm, mit allerhand Vorschlägen, sein Name wurde verlangt, er mußte Aktien nehmen. Nichts konnte ohne Hilfe des Handelsstandes ins Werk gesetzt werden, und man wandte sich besonders an die Jungen innerhalb desselben, an die Unternehmenden, die über Pläne und Geld verfügten und außerdem ihre Sache gelernt hatten. Da waren nun die elektrische Trambahn, das neue Theater, die neue Holzschleiferei in Vardal, die Trankocherei in Henningsvär, das alles mußte seine Namen, seinen Stempel von den Geschäftsmännern der Stadt haben. Sowohl Tidemand wie Ole Henriksen waren sozusagen selbstverständlich ständige Aktionäre.
»Das hätte nur mein leiblicher Vater sehen sollen!« sagte Tidemand oft zum Scherz, wenn er unterschrieb. Von seinem Vater war es bekannt, daß er über alle Maßen geizig gewesen war; er war einer von den alten, biedern Krämern der frühern Zeit gewesen, einer von jenen, die in Schurzfell und Überziehärmeln umhergingen, und Grütze und Seife lotweise aufs genaueste abwogen. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, sich anständig zu kleiden, seine Schuhe waren heute noch sprichwörtlich, die Zehen hatten herausgeschaut, und wenn er ging, hatte es ausgesehen, als suchten diese Zehen auf den Fliesen des Bürgersteigs nach Kupferschillingen. Der Sohn artete nicht nach dem Vater; sein Horizont hatte weite Risse bekommen, die ihm Aussichten eröffneten, sein heller Kopf war anerkannt.
Jetzt gerade war Ole Henriksen zu ihm ins Kontor gekommen und hatte abermals über die neue Gerberei gesprochen, für welche oben bei Thorahus eine so ausgezeichnete Lage vorhanden war. Aus diesem Unternehmen mußte einmal etwas Großes werden, daran bestand gar kein Zweifel; die großen Wälder wurden jahraus, jahrein gefällt, die Hölzer wurden im In- und Auslande verkauft, zweizölliger, dreizölliger Abschnitt und Spitzen blieben im Walde liegen und trugen unbedeutenden Nutzen. Welche Einfältigkeit! Fichtenrinde enthielt bis zu zwanzig Prozent Gerbstoff, – wenn sie nun gesammelt und verwertet würde?
Man müsse sehen, was sich zum Frühling machen ließe …
Ole Henriksen sah ziemlich überarbeitet aus, er hatte auch allzu wenig Hilfe; wenn er jetzt nach England mußte, war er gezwungen, seinem ersten Kommis Prokura zu erteilen und ihn ein wenig in die Kontorarbeit einzuführen. Solange Agathe gekommen, war die Arbeit ihm so leicht geworden, sie war stets bei ihm gewesen und hatte ihm ein bißchen Hilfe geleistet, soweit sie es vermochte; jetzt aber war sie seit ein paar Tagen unpäßlich und hatte das Zimmer hüten müssen. Ole vermißte sie, und es fiel ihm auf, wieviel leichter alles ausgesehen hatte, als sie bei ihm gewesen war. Natürlich war sie vorgestern bei der Ruderfahrt trotz aller Ermahnungen unvorsichtig gewesen und hatte sich erkältet. Da sah mans nun. Er hätte sie so gern auf einer Segeltour mit dem kleinen Vergnügungskutter mitgehabt; jetzt mußte diese Segeltour auf den nächsten Sonntag verschoben werden. Er bat Tidemand, mit von der Partie zu sein; sie würden sieben, acht Personen sein, wollten Kaffee kochen und vielleicht auf einer Scheereninsel landen.
»Und bist du sicher, daß Fräulein Agathe bis dahin wieder gesund ist?« fragte Tidemand.
»Es ist ja keine eigentliche Krankheit,« erwiderte Ole, »nur ein Unwohlsein, ein bißchen Kopfweh. Übrigens darf sie morgen schon wieder ausgehen, hat der Doktor gesagt.«
»So, also, nicht Schlimmres. Ja, solche Inseltouren sind gefährlich so früh im Jahre … Was ich sagen wollte: Willst du nicht so liebenswürdig sein und Hanka selbst bitten? Es ist nicht sicher, daß ich sie dazu bewege … Und was die Gerberei betrifft, so müssen wir die Sache noch ein Jahr mit ansehen. Es hängt ja auch ein bißchen von den Bauholzpreisen ab.«
Als Ole Frau Hanka gefunden und auch sie zu der Segeltour eingeladen hatte, ging er nach Hause. Er grübelte ein wenig über das, was Tidemand gesagt hatte: daß solche Inselfahrten so früh im Jahre gefährlich werden könnten … Tidemand hatte es mit einer leisen Betonung gesagt, und Ole hatte ihn angesehen.
Als er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufging, traf er Coldevin vor der Entreetür. Die beiden Herren blieben stehen und sahen sich einen Augenblick an.
Endlich nahm Coldevin den Hut ab und sagte ein wenig verwirrt:
»Nein, ich bin hier ja ganz verkehrt gegangen, wie ich sehe; hier wohnt wohl kein Ellingsen. Ich suche einen alten Bekannten, einen gewissen Ellingsen. Nicht möglich, die Leute hier in der Stadt zu Hause zu treffen; sie halten sich in den Kaffees auf; ich habe oben und unten gesucht. Entschuldigen Sie übrigens, – Sie wohnen also hier, Herr Großhändler? Es ist doch sonderbar, daß gerade Sie hier wohnen … Wie geht es dem Fräulein?«
»Sind Sie nicht in der Wohnung gewesen?« sagte Ole. Er bemerkte, daß Coldevin vor kurzem in großer Erregung gewesen sein mußte, seine Augen waren gerötet, feucht.
»In der Wohnung? Nein, Gott sei Dank, ich war nicht so töricht, augenblicklich zu läuten, am Ende sind auch Kranke im Hause? Nein, ich stand gerade und las das Türschild hier, als Sie kamen … Und Ihnen geht es gut, Herr Großhändler? Und dem Fräulein?«
»Danke, Agathe ist allerdings ein wenig unwohl gewesen. Wollen Sie nicht mit hineinkommen? Ach, tun Sies doch; sie hütet das Zimmer.«
»Nein, nein, danke, nicht jetzt. Nein, ich muß versuchen, meinen Mann zu finden; es eilt nämlich.« Coldevin grüßte und ging einige Stufen hinab. Dann kehrte er wieder um und sagte: »Es ist also nicht gefährlich mit Fräulein Agathe? Mich dünkt, ich habe sie schon mehrere Tage nicht mehr gesehen; Sie sah ich kürzlich ein paarmal auf der Straße, aber das Fräulein nicht.«
»Es ist nichts Gefährliches; morgen geht sie wieder aus. Vermutlich nur eine leichte Erkältung.«
»Sie müssen entschuldigen, daß ich so unbescheiden frage und forsche,« sagte Coldevin jetzt mit seiner gewohnten Ruhe. »Ich beabsichtige nur, nach Hause zu schreiben, heute abend an den Hardesvogt zu schreiben, und dann wäre es so nett gewesen, wenn ich von ihr hätte grüßen können. Bitte vielmals um Entschuldigung.«
Coldevin lüftete abermals den Hut und ging.
Ole fand seine Braut in ihrem Zimmer, sie las. Als Ole kam, warf sie das Buch auf den Tisch und flog ihm entgegen. Sie sei gesund, ganz gesund; er solle nur den Puls fühlen, gar kein Fieber mehr! Ach, wie sie sich auf den Sonntag freute! Ole hielt ihr aufs neue vor, wie vorsichtig sie sein müsse, sie müsse sich ganz besonders warm für die Segeltour ankleiden, verstanden? Tidemand habe auch gesagt, es sei mit solchen Fahrten so früh im Jahre furchtbar gefährlich.
Und dann müsse sie die Wirtin sein! sagte er. »Denk nur, wie niedlich! Kleines Frauchen, kleines Frauchen! … Was für ein Buch es gewesen sei, in dem sie soeben gelesen habe?
»Ach, nur Irgens Gedichte,« sagte sie.
»Sag nicht ›nur‹ von Irgens Gedichten,« meinte er. »Nicht wahr, du selbst hast sie doch auch hübsch gefunden?«
»Ja, aber ich habe sie ja schon einmal gelesen; ich kenne sie, deshalb sagte ich ›nur‹ … Wirtin, sagst du. Weiß Gott, wie ich mich als Wirtin benehmen werde! Wird es sehr großartig?«
»Bist du närrisch, – großartig? Eine Segelfahrt verstehst du, Kaffee, Pjolter und Butterbrot … Ja – richtig, ich habe Coldevin draußen auf der Treppe getroffen; er suchte einen Mann und wollte durchaus nicht mit hereinkommen.«
»Hast du ihn zu der Segelfahrt aufgefordert?« rief Agathe. Und sie wurde ganz traurig, als Ole das vergessen hatte. Er mußte versprechen, alles aufzubieten, um Coldevin noch im Laufe der Woche aufzufinden.
Spät am Sonnabend läutete Tidemand bei Henriksen an und verlangte Ole zu sprechen. Nein danke, er wolle nicht eintreten, es sei so spät, er habe nur eine Kleinigkeit mit Ole zu besprechen.
Als Ole hinauskam, sah er sofort, daß es sich um etwas Ernstliches handle; er fragte, ob sie ausgehen oder hinunter ins Kontor gehen wollten; Tidemand entgegnete, das sei ihm gleichgültig. Dann gingen sie ins Kontor hinunter.
Tidemand legte ein Telegramm auf das Pult und sagte gedämpft:
»Mit meinem Roggenhandel ist es doch nicht gut gegangen, Ole. In diesem Augenblick steht Roggen normal, und Rußland hat sein Ausfuhrverbot aufgehoben.«
Rußland hatte allerdings sein Verbot zurückgenommen. Die unerwartet guten Aussichten, die man seit einiger Zeit auf die diesjährige Ernte hatte, waren nicht zuschanden geworden, und dies im Verein mit den außerordentlich großen Restbeständen lagernden Korns aus den frühern Jahren hatte die strengen Maßregeln der russischen Regierung überflüssig gemacht. Die Hungersnot war zu Ende, das Ausfuhrverbot für aufgehoben erklärt, Rußland und Finnland waren wieder offen. Das war der Inhalt des Telegramms.
Ole saß eine Weile stumm. Das war ein furchtbarer Schlag. Im ersten Augenblick flogen allerhand Gedanken durch seinen Kopf: wie, wenn das Telegramm lügenhaft wäre, ein Börsenkniff, ein gekaufter und bezahlter Verrat? Dann sah er wieder auf die Unterschrift des soliden Agenten und konnte kein Mißtrauen gegen ihn hegen. Hatte man aber je etwas Ähnliches gehört? Die Regierung eines Landes hatte sich selbst zum Narren gehalten und mit offnen Augen selbstvernichtende Manöver ausgeführt! Das war schlimmer als im Jahre 1859, wo ebenfalls mitten in der Ernte ein Verbot aufgehoben und die Märkte dadurch bis auf den Grund erschüttert worden waren. Ja, aber damals war Krieg …
Die kleine Uhr an der Wand tickte und ging, tickte und ging ruhig weiter.
»Du kannst dich wohl auf das Telegramm verlassen?« sagte Ole endlich.
»Ja, das Telegramm ist leider verläßlich genug,« erwiderte Tidemand. »Mein Agent hat gestern zweimal telegraphiert: Verkaufen! Verkaufen! Ich verkaufte auch das Wenige, was möglich war, verkaufte mit Verlust, verkaufte unter dem Tagespreis; aber was verschlug das? Du kannst mir glauben, ich habe gestern furchtbar verloren!«
»Ja, aber übereile dich jetzt nicht, laß uns die Sache überlegen. Warum bist du übrigens nicht gleich gestern zu mir gekommen? Das hätte ich doch erwartet, Andreas.«
»Ich hätte auch heute abend nicht mit einer solchen Nachricht zu dir kommen sollen, aber …«
»Nun, ein für allemal,« unterbricht ihn Ole, »ich will dir helfen, so gut ich kann. So gut ich kann, verstehst du. Und ich kann doch nicht gar so wenig.«
Pause.
»Ja, ich danke dir … und Dank für alles! Ich wußte wohl, daß ich nicht ohne Hilfe von dir fortgehen würde. Es wäre mir lieb, wenn du einige von meinen Sachen übernehmen wolltest … von denen, bei welchen kein Risiko ist, Aktien und dergleichen …«
»Nein, die kann dir jeder abnehmen. Ich übernehme einfach Roggen. Wir datieren die Papiere von vorgestern, meines Vaters wegen.«
Tidemand schüttelte den Kopf.
»Nein, nimmermehr!« sagte er. »Glaubst du, ich hätte aufgehört Kaufmann zu sein? Ich habe doch nichts davon, daß ich dich mitziehe.«
Ole sah ihn an, die Adern an seinen Schläfen arbeiteten.
»Du bist ein Dummkopf!« sagte er erbittert. »Glaubst du, ich wäre so leicht mitzuziehen?« Und feuerrot im Gesicht, fluchte Ole: »Hol mich der Teufel, ich werde dir zeigen, wie leicht man mich mitzieht!«
Aber Tidemand war unerschütterlich, nicht einmal Oles Erbitterung brachte ihn zum Nachgeben. Nein, er durchschaute Ole, sein Vermögen war vielleicht nicht so gering, aber er übertrieb gewiß, wenn er tat, als ob es ein so gewaltig hervorragendes sei; Ole prahlte einzig und allein, um ihm zu Hilfe zu kommen, – das war die Sache. Und außerdem würde der Roggen von morgen an mit reißender Schnelligkeit fallen; nicht einmal zwischen Feinden wäre es ein Handel gewesen, den Roggen zum vorgestrigen Preise zu verkaufen.
»Aber was willst du denn? Willst du die Zahlungen einstellen?« fragte Ole hitzig.
»Nein,« entgegnete Tidemand, »ich glaube nicht, daß ich das brauche. Das Eis für England ist mir wirklich eine Hilfe, ja, nicht groß, aber Kronen sind jetzt Geld für mich. Vorläufig werde ich mein Geschäft einschränken; ich will verkaufen, was ich verkaufen kann, ein wenig bares Geld aufnehmen. Ich wollte fragen, ob du vielleicht … Du könntest es jetzt ja brauchen, wenn du dich verheiratest denn wir brauchen es durchaus nicht mehr, also das wäre ganz gleichgültig …«
»Wovon sprichst du eigentlich?«
»Ich habe mir gedacht, du könntest jetzt vielleicht, da du dich verheiratest, das Landhaus kaufen.«
»Das Landhaus? Willst du es wirklich verkaufen?«
»Ich muß.«
Pause. Ole merkte, daß Tidemands Sicherheit ins Wanken kam.
»Gut,« sagte er, »ich nehme dein Landhaus. Und an dem Tage, wo du es zurückkaufen kannst, steht es zum Verkauf, Ich habe das Vorgefühl, daß es keine Ewigkeit dauert.«
»Das mag unser Herrgott wissen. Jedenfalls aber tue ich jetzt, was ich muß und kann. Ich bin so froh, daß du in den Besitz des Landhauses kommst. Es ist schön dort; es geschah nicht mit meinem Willen, daß wir in diesem Sommer nicht hinausgekommen sind … Nun ja, dies hat mir schon ein wenig Erleichterung verschafft; jetzt müssen wir sehen. Ich hoffe, daß ich nicht zu schließen brauche, es würde zu hart sein. Und am schlimmsten für die Kinder.«
Ole bot wiederum seine ganze Hilfe an.
»Danke,« sagte Tidemand, »ich nehme ja alles an, was du billigerweise für mich tun kannst. Aber Verlust bleibt immer Verlust, weißt du, und selbst wenn ich die Sache ohne Falliment im Gange erhalten kann, bin ich doch ein armer Mann. Ich weiß nicht, ob ich jetzt einen Heller besitze … Es war ein Glück von Gott, Ole, daß du dich nicht am Roggen beteiligt hast; es war wirklich ein ungeheures Glück, darüber bin ich wenigstens froh … Ja, ja, wie gesagt, wir müssen nun sehen.«
Pause.
»Weiß deine Frau davon?« fragte Ole.
»Nein, ich erzähle es ihr nach der Segelfahrt …«
»Nach der Segelfahrt? Die sage ich jetzt natürlich ab.«
»Nein,« sagte Tidemand, »ich wollte dich bitten, es doch nicht zu tun. Hanka hat so viel davon gesprochen, sie hat sich außerordentlich darauf gefreut. Nein, ich wollte dich im Gegenteil bitten, dir morgen nichts merken zu lassen, so vergnügt zu sein, wie du kannst; ich würde es dir wirklich von ganzem Herzen danken. Natürlich erwähnen wir meines Unglücks nicht mit einem Worte.«
Tidemand steckte das Telegramm in die Tasche und nahm seinen Hut.
»Verzeih mir, Ole, daß ich kam und dich störte. Komme ich jemals wieder in die Lage, so … aber das werde ich vielleicht niemals … aber dann würde ich es dir gedenken.«
»Mein Gott, sprich doch nicht so; zwischen uns beiden hielt ich es nicht für nötig … Übrigens dürftest du dir das Unglück vielleicht größer vorstellen, als es ist, das weiß ich nun nicht, aber …«
»Ja, das Eis geht ausgezeichnet, ganz unglaublich; ich bin froh, daß ich das habe. Natürlich sind das Kleinigkeiten, aber es hilft doch weiter. Und wenn das Landhaus jetzt in deine Hände kommt, so … Ja, ja, Ole, wenn ich es sehr notwendig brauche, muß ich also Geld von dir aufnehmen, Nun gute Nacht für heute.«
»Du machst nicht zu, Andreas, das sage ich dir!« rief Ole ihm zum letztenmal nach.