Hans Freiherrn von Hammerstein
Ritter, Tod und Teufel
Hans Freiherrn von Hammerstein

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Der Magier

Ulrich führte seinen Oheim hinter dem Rathaus und der Frauenkirche enge, finstere Gassen hinab. Ein trüb flackerndes Laternchen, das er in der Hand trug, ließ matten Schein vor ihnen hertanzen, den vielen Unrat beleuchtend, der auf das schlechte Pflaster hingeworfen, ausgeschüttet und festgefroren war. Oben zwischen den schwarzen Steilrissen der Giebeldreiecke funkelten die klaren Sterne der Winternacht herein. Die Butzenscheiben kleiner Fenster glommen von innerem Licht, dort und da schien es weich durch farbige Vorhänge oder lugte nur eben durch herzförmige Ausschnitte und Ritzen in geschlossenen Läden. Aus einem Hause hörte man gedämpftes Saitenspiel und frommen Gesang.

Sie kamen in ein Gäßlein, das ein düsterer Häusersack war und kaum ein helles Fenster zeigte. Ulrich hob die Laterne und suchte die Haustore ab. Endlich blieb er vor einem hohen, schweren Hause stehen, das ganz schwarz, uralt und unbewohnt schien und ein mächtiges Tor in schwerer Quaderfassung hatte. 380 Er ließ einen tierähnlich geformten Klopfer dreimal auf die Platte fallen und wiederholte das Zeichen nach einer Weile, als sich drinn niemand rühren wollte.

»Wundere dich über gar nichts,« sagte Ulrich, während sie warteten. »Wir werden eine höchst seltsame Gesellschaft antreffen. Aber, so wir Glück haben, könnten Deutschlands beste Köpfe dabei sein und manch ein weiser Mann aus fremden Landen dazu. Man nennt sich nicht, ist bekannt oder nicht, und wer, wie ich, bekannt ist, bringt mit, wen er mag, der Teufel! – Wenn sie doch endlich hören wollten!«

Zum drittenmal, und jetzt besonders nachdrücklich, setzte er den Klopfer in Bewegung. Die Halle innen schien den Schlag in eine unendliche Öde weiterzugeben. Da huschte es oben hinter einem Fenster des ersten Stockwerkes wie ein Lichtschein auf. Dann hörte man schlurfenden Schritt treppab und im Torgang. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, eine kleine Pforte im Tor öffnete sich. Ein kahlköpfiger, ältlicher Mann mit dürrem Antlitz und grauem Pudelschnurrbart erschien und leuchtete ihnen mit erhobenem Windlicht in die Gesichter. Ulrich trat ohne weiteres ein und nannte, als der Mann zu zweifeln schien, kurz seinen Namen. Der Mann, der ein schwarzes, talarähnliches Gewand mit weißer Halskrause trug, senkte das Licht, schloß hinter Mangold die Pforte und ging, ohne ein Wort zu sagen, voraus.

»Sind viel Gäst oben, Wagner?« fragte Ulrich.

»Mögen bei zwanzig sein,« erwiderte der Angeredete trocken, ohne sich umzuwenden.

Der Torgang war eine tiefgewölbte und breite Halle mit unebenem Boden. Der Lichtschein fiel vorüberschweifend auf einige Handkarren, Säcke und Warenballen. Auch unter den schweren Bogen des düstern Hofes, die flüchtig erhellt wurden, schienen Ballen aufgestapelt zu sein, und inmitten standen einige Fässer. Ein Geruch von Drogen und Salzfischen machte sich unangenehm bemerkbar.

Als sie zur Wendeltreppe bogen, die in einem Winkel des Hauses offen hinanführte, hob ihnen das Licht eine gebrochene Steinplatte, in die seltsame Zeichen und fremde Schriftzüge gemeißelt waren, vor die Blicke. Sie stand achtlos in die Ecke 381 gelehnt. Mangold neigte sich ein wenig, um das Zeichen zu beschauen.

»Ein Sechsstern,« sagte Ulrich, die Laterne hinhaltend. »Hier war vordem eine Begräbnisstätte jüdischer Priester.«

Mangold schüttelte das Haupt und ging schweigend hinter den andern die scharfen Windungen der schmalen Steintreppe hinauf.

Als sie das erste Stockwerk schnitten, öffnete sich eben in einem tiefen Seitengang eine Tür, und in der Helle, die hervorbrach, war für einen Augenblick ein gebückter, langbärtiger Mann zu sehen, der, die Hand vor die Stirn haltend, forschend nach ihnen hinblickte. Mangold glaubte zu seiner Verwunderung den Chajm Wachtel zu erkennen. Aber schon hatte der nächste Treppenschwung die Erscheinung entzogen. Sonst regte sich im ganzen Hause keine Spur von Leben.

Sie stiegen bis zum dritten Stockwerk empor und gingen einen offenen Bogengang im Hofe hin. Der Sternenhimmel stand weit und glitzernd im rechteckigen Ausschnitt der Firste. Am Ende des Ganges öffnete der voranschreitende Diener, den Ulrich Wagner genannt hatte, eine Tür. Sie traten in einen Vorraum, der durch eine von der dunkeln Balkendecke an Ketten herabhängende Ölampel dämmrig erleuchtet war. Die messingenen Ketten hielt im langen Haken, der in die Decke geschraubt war, ein von diesem Metall geschnittener, aus zwei übereinandergelegten Dreiecken gebildeter Sechsstern. So kehrte dieses Zeichen, das Mangold an einigen Stellen in den Gängen bemerkt hatte, auch hier wieder. Längs der Wände standen dunkle, geschnitzte Truhen, auf denen Hüte und Überkleider lagen. Durch eine Tür, die ins Innere führte, waren Stimmen und Gelächter, jetzt auch Lautenklänge vernehmlich. Wagner bat sie, abzulegen, und öffnete dann die Tür.

Mangold, von Ulrich vorausgeschoben, fand sich überrascht in einem lichterstrahlenden, prunkvoll eingerichteten Raum einer bunt und festlich gekleideten Gesellschaft gegenüber.

Zwischen Männern in kostbarer, patrizischer Kleidung und solchen in würdigen, dunklen Gelehrtentrachten standen und saßen zumeist junge Frauen und Mädchen, einige mit schönen 382 Gesichtern dabei, alle grellfarbig nach der Mode gekleidet, die entblößten Nacken vielfach mit blitzendem Schmuck betan. Ein sehr bunter, fremdartiger Teppich war durch den ganzen Raum gebreitet, ähnliche, die bewegtes Bild- und Rankenwerk zeigten, hingen längs der Wände hinter Truhen, Bänken und Stühlen hin. Zwei siebenarmige Tempelleuchter aus gelbem Metall, die auf Tischen an den Wänden sich gegenüberstanden, und ein messingener Kronleuchter, der von der Decke über dem schweren Eichentisch in der Mitte hing, verbreiteten mit farbigen Kerzen weiches, mildes Licht, und ein schwüler Duft von Ambra oder ähnlichem Räucherwerk schien dem schmelzenden Wachs zu entströmen. Im hohen Kamin brannten große Scheite. In einem Erker, den das Gemach an der einen Mauer zwischen zwei tiefen Fensternischen trieb, saß halb auf der Lehne eines Armsessels ein junger Stutzer in grünsamtenem, silbergesticktem Wams und prall anliegenden, karmesinfarbenen Strumpfhosen, der auf einer Laute klimperte, drei junge Frauenzimmer um ihn, eine im Sessel zurückgesunken, eine vor ihm stehend und mit der Perlenschnur um ihren Hals spielend, eine träumerisch mit erhobenem, weißem Arm, die Hand hinter dem blonden Haupt, an die dunkle Vertäfelung der Wand gelehnt. In dem Nebenraum stand die Tür offen. Man sah dort hohe Bücherregale voll wuchtiger, weißer, gelber und brauner Bände und durch eine weitere Tür in ein drittes Gemach, das von fern der Offizin einer Apotheke glich.

»Ecce Ulricus poeta!« rief ein schlanker, schwarzhaariger und schwarz gewandeter Mann, der eine Brille auf einer frechen, kurzen Nase und einen unangenehmen Mund hatte.

Die Lautentöne verstummten, man wandte sich allgemein den Eingetretenen zu.

»Salve Ulrice, domitor papae atque pontificum romanorum maiorum minorumque!« sprach ein anderer, älterer Gelehrter, der gleichfalls bebrillt war und eben in einem Büchlein geblättert hatte. Nun blickte er mit hellen, schalkischen Augen über die Gläser hin und fuhr fort: »Quid faciunt epistolae virorum obscurorum? Nonne novam emissisti in gaudium amicorum de re publica doctorum poetarumque, in delicium 383 venerendi patris Jacobi Hogstrateni totiusque ordinis praedicatorum?«

Die Männer lachten laut.

»Nondum soluta est quaestio subtilis,« begann der Schwarze wieder, indem er die Hand mit zusammengebogenem Daumen und Zeigefinger erhob und die Miene eines scholastischen Lehrers nachäffte, »quaestio theologica simul physica subtilissima, utrum judaeo, si fit Christianus, praeputium renascitur an non.«

Noch lebhafteres Gelächter entstand. Unterdessen waren die Männer von allen Seiten auf Ulrich zugekommen. Er wurde mit Heiterkeit, aber auch mit sichtlicher Achtung und Auszeichnung bewillkommnet, und die Frauen blieben darin hinter den Männern nicht zurück. Ulrich, eine Hand nach der andern schüttelnd und im Kreise sich umsehend, rief: »Wo ist Eobanus, wo Mutian, Crotus? Noch seh ich keinen von meinen alten Genossen und Milchbrüdern der alma mater in Erfurt und Greifswald! Hesse versprach doch sicher, heut hier zu sein.«

»Er dürft morgen eintreffen,« sagte ein stattlicher Mann in vornehmer Tracht mit schönem, bartlosem Gesicht, klugem, durchdringendem Aug und einem festen, entschlossenen Mund. »Er wird mein Gast sein, ich will auch Botschaft tun, sobald er da ist. Wo seid Ihr zugekehrt?«

»Im ›Schwänlein‹, wie zumeist,« versetzte Ulrich.

»Welche Taberna sich besser ›Zum Hähnlein‹ nennete,« warf der Schwarze ein, »oder auch ›Zum Hecht‹ oder ›Zum Habicht‹.«

»Sag nur gleich ›Zum Staudenhecht‹ oder ›Zum Eppelein‹,« lachte Ulrich. »Ja, so ist's, wir sind Schnapphähne und wollen's auch auf den Straßen des Geistes sein wider Rom, das Babylon der Geister. Und da,« er wies auf Mangold, »hab ich Euch gar einen Gewaltigen dieses Schlages mitgebracht. Ein Wolf im Schafspelz – er hat auch einen besseren Rock daheim im Schrein. Aber da er Nürnbergs abgesagter Feind ist, gibt er sich heut als mein Knappe und will nit um Nam und Wappen gefragt sein. Drum bezähm deine Neugier, schöneres Geschlecht,« sagte er, sich den Damen zu verneigend. 384 »Streichelt ihm nur schön das Lammsfell, so wird ein gar galanter, ritterlicher Wolf draus hervorkommen.«

»Ei,« meinte der schöne Patrizier, »gar lämmlich sieht er auch in der Verkleidung nit aus. Aber so der edle Herr, und sei er wer immer, mir morgen mit Herrn Ulrich auf ein schlicht bürgerlich Mahl die Ehre gibt, so will ich ihm ein bürgerlich Gewand leihen, daß er sich vor einen Ratsherrn geben kann, wann's ihm nötig scheint. Nur bitt ich dafür um Schonung, so wir uns einmal auf der Straßen treffen. Bin der Hans Imhof.«

»Ich dank Euch recht für Euer freundlich Erbieten,« erwiderte Mangold heiter, »aber verzeiht, wann ich's ausschlag. In einem Kampf, den man ernst meint, gibt's kein Paktieren und Ausnahm, und darf man dem Feind nichts schuldig sein. Drum nehmt Euch immer in acht vor mir, werter Herr. Auf ein Glas Wein jedoch und auf einen Imbiß komm ich gern zu Euch, denn das, so Ihr einmal mein Gefangener wärt, was mir eine Lust und Ehr und sicherlich auch recht zu Nutzen wär, könnt Ihr bei mir daheim auch haben, und ritterliche Haft mit recht behaglichem Gefängnus versprech ich Euch gern und will's halten.«

Sie schüttelten einander die Hände.

Man hatte Mangold mit sehr höflichem Verneigen allerseits begrüßt. Die Frauenzimmer beguckten ihn voll Neugier. Die in dem Erker sahen herüber und tuschelten mit dem Jüngling.

Während Hutten von seinen Freunden in Gespräche gezogen wurde, stand der Ebersteiner gewaltig und breitspurig in seinem groben Reitrock, die Rechte im Gürtel, die Linke am Dolchknauf gestützt, vor dem Kamin und musterte frei mit scharfem Blick die Umgebung.

Das Zimmer war voll wunderlicher, fremder Dinge. Insonderheit fielen Mangold Figuren auf, die auf Simsen und Schränken umherstanden, Bruchstücke griechischer Bildwerke aus vergilbtem Marmor waren darunter, dann seltsame Götzen des Morgenlandes, solche mit steifgespreizten Händen und starr lächelndem Ausdruck und wild bemalte, scheußliche Fratzen. Der Vorsprung des Kamins trug metallene Tiere 385 und Steintrümmer mit rätselhaften Schriftzeichen oder Teilen von Gesichtern.

Die Männer gefielen ihm, außer dem stattlichen Imhof, allesamt wenig. Von den Frauen war eine in die Augen springend schön. Jene blonde, die an der Täfelung lehnte. Ihr Haar spielte Gold in verschiedenem Schimmer, vom hellsten bis ins rötliche, ihre Gestalt war von geschmeidiger Rankheit, der schmale, schöngebogene Hals und die Knabenbrust zeigten eine perlmutterschimmernde Haut. Sie hatte klarspähende Grauaugen mit großen, dunklen Pupillen in langen Wimpern, ein zierliches Stumpfnäschen und etwas vorspringende Mauszähnchen, die den hübschen Mund nur reizender machten. Über einem anschmiegenden Gewand von der Farbe der Herbstzeitlose trug sie ein pelzverbrämtes, stahlblaues Überkleid, dessen Ärmel geschlitzt und, mit grün und rot spielender Seide gefüttert, lang herniederhingen.

Der Jüngling begann, zur Laute ein italienisches Liedchen zu singen, Hutten aber entriß den Oheim jetzt seinen Betrachtungen.

»Komm,« sprach er, »wir wollen unsern Gastgeber aufsuchen.«

Sie gingen miteinander durch das Bibliothekzimmer, das zwei dicke Kirchenkerzen in hohen Kandelabern belichteten. Dort saß abseits in einer der Fensternischen vor einem Tischchen, auf dem ein kleines Lesepult stand, ein Mann, der beim Schein einer vor das Lämpchen gehängten Schusterkugel ganz versunken in alten Schriftrollen las.

»Ave Spalatine!« rief ihm Hutten zu. Der Mann, die lange, spitze Nase hebend und über die Brillen zu ihnen hinblickend, sagte geistesabwesend: »Sieh da, der Junker Hutten! – Bücher hat der Faust, Bücher – es ist kaum zu glauben . . .« und fuhr allsogleich zu lesen fort.

»Lauter Glasaugen!« murmelte Mangold.

Sie betraten den dritten Raum, der zu einem älteren Teil des Hauses zu gehören schien und ehemals eine Turmstube gewesen sein mochte. Denn er war schwer gewölbt und hatte klaftertiefe Nischen vor ganz kleinen Fenstern. Den einen Winkel nahm eine große, offene Feuerstätte ein, wie man sie 386 wohl in alten Burgen oder auch in Bauernhäusern findet, darüber ein mächtiger, rußschwarzer Rauchmantel. Das Gemach war mit den wunderlichsten Gegenständen angefüllt. Große und kleine Retorten, manche davon irisierende Flüssigkeiten enthaltend, Mörser und Tiegel, Flaschen, graduierte Gläser, eine Wage, ein Globus, astronomische Instrumente, ein ganzes menschliches Skelett, die einzelnen Teile mit den Zeichen des Tierkreises bemalt, mehrere Totenschädel, ein ausgestopfter Affe, ein Uhu mit funkelnden Glasaugen, märchenhaft geformte Wurzeln, Alraunmännchen, ein vertrocknetes Wesen des Meergrundes und, an die Mauern geheftet, verschiedene Landkarten, Zeichnungen und Holzschnitte mit sonderbaren Bildern, Einteilungen und Schriften in allerlei Sprachen.

Zur linken Hand vom Eingang führten in der dicken Mauer einige Stufen zu einer kleinen, eisernen Tür empor.

Im schwachen Licht einer Kerze, die von dem seltsamen Gerät große Schatten an die getünchten Wände warf, standen drei Männer, ruhig miteinander redend und einzelne Dinge betrachtend, in der Zauberküche: ein hoher, hagerer Mann in dunklem Pelzmantel, ein Tuch turbanartig um das Haupt gewickelt, das entbartete Antlitz faltig und von düsterer Strenge, gewaltig die Stirn, die tiefliegenden Augen unter fast brauenlosen Bogen von einer eigenartigen Rundheit, die das Weiße zumeist auch über dem bleifarbenen Stern sehen ließ, und von starrem, seherischem Blick. Der zweite, eine mächtige Erscheinung in einem Gewand, das patrizische Wohlhabenheit mit gelehrter Würde verband, nahm ein durch ein starkes, ehrfurchtgebietendes Haupt mit großgewölbten, ruhevoll schauenden Augen von tiefem, warmem Braun und beredten Lippen ohne Bart. Der dritte war ein greiser Jude mit langem, dünnflockigem Weißbart und wunderbar schönen, edelgeformten Gesichtszügen von sanftem, bescheidenem Ausdruck, in denen die klugsinnenden Augen durch ihre klare Bläue und die feine Nase durch ihren Adlerschwung auffielen.

Ulrich, heiter grüßend und begrüßt, wiederholte auf Mangold weisend, ungefähr, was er den Gästen im ersten Zimmer von 387 ihm erklärt hatte, und sagte dann zu diesem: »Und hier siehst du drei ruhmvolle und bedeutsame Verkörperungen verschiedener Welten des Geistes: der finstere da ist Doktor Johannes Faust, Deutschlands und vielleicht zurzeit der gesamten Erde größter Magier, dieser hier ist Herr Willibald Pirkheimer, die weithinscheinende Leuchte humanistischer Wissenschaft, und jenem würdigen Propheten aus dem Stamm Israel magst du auch ruhig die Hand reichen, denn er ist gottesfürchtig wie David, weise wie Salomo, edel wie Jesaia, ein tiefer Schriftgelehrter, dem Mammon abgewendet, bemüht, den Fluch seines Volkes mit wohltätigen Werken der ärztlichen Kunst in Segen zu verwandeln, und bis zum Kaiserhof hinauf geehrt und bekannt als der Wunderrabbi Isaak aus Nürnberg.«

Mangold drauf: »Ein braver Mann, weß Blutes ihn Gott werden ließ, ist eines ritterlichen Handschlags wert. Und den sollt Ihr haben, Herr Prophet, wenn ich Euch dabei auch sagen muß, daß mir Euresgleichen sonst nit gar lieb ist, und ich recht froh bin, daß der Herrgott mich als einen Christen und einen Deutschen geschaffen hat. Dünk mir deshalb nicht Bessers, könnt mir aber nit vorstellen, daß mir in anderer Haut so wohl wär, wie eben in dieser da.«

Der Rabbi, indem er sich tief verneigte, sprach lächelnd: »Ein ritterlicher Feind ist allweg ein besserer Freund, als einer, der schön tut und es unehrlich meint.«

»Aber als ich Euch sah,« wandte sich Mangold an Pirkheimer, »da dacht ich: Gotts Blitz! Das ist wohl gar der Doktor Luther, und freute mich, den Mann zu treffen, der ein Deutsch schreibt, das so von Herzen kömmt, drum auch so zu Herzen geht. War ihm erst nit gar grün. Dann die mit dem Maul und der Feder Land störzen tun, die sind schlimmer, als die Gesellen von Schwert und Spieß. Der Ulrich da aber hat mir etliche von den Geschriften geben, so der Luther hat ausgehen lassen, und da ward ich ihm zugetan so warm schier, wie mein Freund der Sickingen.«

»Nun seid Ihr gar enttäuscht, Junker,« versetzte Willibald Pirkheimer lächelnd. »Seid der erste nit, der mich auf den großen Luther anred't. Allein leider hab ich nur was von seinem Gesicht, nichts von seinem Verstand dahinter.« 388

Faust, Hutten und der Rabbi widersprachen sogleich dieser Bescheidenheit, Hutten mit Leidenschaft und großen Lobsprüchen, indem er auch Luthers Freundschaft zu Pirkheimer hervorhob.

»Nun,« fuhr Mangold fort, »daß Ihr kein geringer Mann seid, hab ich wohl auch schon vernommen, ob ich gleich ein gar ungelehrter Ritter bin, und weil Ihr eben nit der Luther seid, wird's wohl nach Gottes Rat für Euch und für mich besser sein, daß ich in Euch jetzund den Pirkheimer find.«

Während sich Hutten nun mit verschiedenen halblaut gesprochenen Fragen an den Doktor Faust wendete, kam Mangold mit dem Pirkheimer alsbald in ein lebhaftes Gespräch und freute sich der Anschauungen, die der weise Mann von den Zuständen des Reiches, der Kaiserfrage und anderen, die deutsche Welt bewegenden Dingen hatte, und seiner kern- und nahrhaften Aussprüche, die auf das Denken befruchtend, wie ein Frühlingsregen auf junge Saat wirkten. Sie wurden unterbrochen durch den schwarzen Mann mit der Brille, der kam und in seiner boshaft witzelnden Weise sie aufforderte, ihre Klugheit doch nicht in der Alchemystenküche vor ausgestopften Affen und Skeletten, sondern im Saal vor den lebendigen und noch mit angenehmem Fleisch versehenen leuchten zu lassen. Während sie hinausgingen, hörte Mangold den Doktor Faust eben noch in tiefem Sinnen zu Hutten sprechen: »Da will ich das Horoskop des Tages zu den Sternen deiner Geburt stellen und sehen, was wohl zu tun sei.« Mangold hatte die übrigen voraustreten lassen, nun erwies ihm der Doktor seinerseits diese Höflichkeit, so blieben sie in der Tür hinter den andern zurück. Der Doktor sprach:

»So hätten wir dann in Franz von Sickingen einen gemeinsamen Freund. Ich kenn ihn lang und gut. Er fordert oftmals Rat von mir.«

Mangold: »Ich hörte wohl, daß Ihr auf der Ebernburg gewesen.«

Faust. »Zuletzt mit Doktor Luther gleichzeitig. Aber Franzen sah ich noch kürzlich beim Pfalzgrafen zu Heidelberg.«

Mangold fühlte Faustens forschenden Blick auf sich gerichtet. 389 Er sah ihm ins Gesicht und es fiel ihm auf, daß der Mann jetzt ein unruhiges Aug und einen Zug um die Lippen hatte, der den Ernst seiner Stirne zweifelhaft machte. Sie waren mitten in die Bibliothek gekommen, wo Spalatin noch immer lesend saß. Faust, Mangold erneut und fest ansehend, sprach leise: »Ihr führt einen Eber im Wappen.«

Mangold mit flüchtigem Stirnrunzeln, lachend: »Nein. Eine fränkische Lilie, auch Streitangel genannt, so Ihr's durchaus wissen wollt.«

Faust zog die Augenbrauen empor: »Ich bin nicht wappenkundig und will's auch in keinem Buch nachschlagen. Dennoch kenn ich Euch. So der Eber nicht in Eurem Wappen springt, stößt er in Eurem Namen an einen Stein.«

Mangold blieb stehn: »Das hat Euch der Hutten gesagt.«

Faust, das Haupt schüttelnd, bedeutsam: »Mir braucht man nichts zu sagen.«

Nun standen sie vor den Regalen unter der Tür, die in das große Gemach führte. Mangold bemühte sich, die Rückentitel einiger großer Bände zu lesen, nahm einen heraus und schlug ihn auf. Erstaunt sah er hebräische Schrift.

»Kabbala,« sagte Faust.

Mangold stellte den Band zurück und las auf dem nächsten: »Thesaurus magiae,« auf weiteren: »Dyas chimica tripartita« – »Proklus de Platonis Timaio« – »Joannis de Garlandia Tabula smaragdina« – »Nikephori Hermenilia ad Sinesium« – »Herakliti Ephesii Stocheion« – »Fr. Basilii Valentini Currus Autimonii

»Wunderliche Dinge!« sprach er sinnend.

»Unerhörte Dinge!« rief hier Spalatin, der herbeikam und Faust die Pergamentrolle wieder überreichte: »Wo Ihr das nur alles herhabt, Doktor, ich beneid Euch.«

»Ihr vergeßt,« antwortete Faust langsam, »daß hier nur das wenigste dieser Schätze mein Eigentum. In meinem eigentlichen Heim zu Wittenberg hab ich zwar auch viel höchst Seltsames an Schriften, aber dahier gibt es Dinge, die auf der Welt sonst nicht mehr zu finden sein dürften.«

Spalatin: »Und woher meint Ihr, daß sie stammen?« 390

Faust: »Sie dürften aus dem Brand der Bibliothek zu Alexandria gerettet sein.«

Spalatin: »Die Juden?«

Faust nickte.

Jetzt lief sie unter der Tür das schöne blonde Frauenzimmer an, das vorhin an der Wand gelehnt hatte.

»Meister,« rief sie, »habt Ihr mir nun endlich das Horoskop gestellt? Ich brenn vor Neugier.«

Spalatin: »Wann Neugier brennte, müßten alle Weiber längst verbrannt sein und die schönen zuvoran, wär doch schad!«

Das laute Wort vom Horoskop wirkte auf die übrige Weiblichkeit wie ein Tuck! Tuck! mit dem eine Bäuerin die Hühner lockt. Vom ganzen Zimmer kamen sie herbeigeflattert, und alljede wollte ihre Nativität wissen und beteuerte, Faust hätte es ihr zuerst und zulängst versprochen. Mit ruhevollem Lächeln, die Arme über dem breiten Pelzsaum des Rockes verschränkt hielt Faust dem schmeichelnden Andringen der Schönen stand.

»Da seht Ihr's,« raunte Pirkheimer dem Mangold ins Ohr. »Mit Speck fängt man Mäuse.«

»Ja!« meinte Hutten, der's gehört hatte, »auf die Sterndeuterei gehen die Weiber, wie die Karpfen auf eine stinkige Leber.«

Pirkheimer: »Seltsam, daß just die gegenwärtigsten Wesen es so auf die Zukunft abgesehen haben.«

Mangold: »Wie meint Ihr das?«

Pirkheimer: »Nun, ich meine, was heutig ist, wie die Blüten, sollte sich doch nicht gar so ums Morgen bekümmern.«

»Ihr sagtet, ich sei eine Jungfrau,« hörte man eine hübsche, starke Dame mit hellblonden Haarkränzen flöten.

»Doch wohl nur in den Sternen,« ließ sich die Stimme des Schwarzschopfigen vernehmen, und allgemeine Heiterkeit wurde laut.

Die Blonde lachte mit und ließ sich nicht beirren.

»Was bedeutet's, so man in diesem Zeichen geboren?« forschte sie mutig weiter.

»Nichts – nichts,« sprach Faust gedehnt und beschwichtigend.

Der Schwarze: »Ich sagt es ja!« 391

»So sprecht Ihr immer,« maulte die Zierliche mit den Mauszähnchen. »Ihr werft ein paar Brocken hin, sagt fremde Dinge, die man sich nit merken kann, macht schaurige Andeutungen und laßt einen auf der Folter.«

Hutten zu Mangold und dem Pirkheimer: »Ei, das dünkt mich wohl die Absicht. Hat man sie erst auf dieser Folter . . .«

Faust: »Die Jungfrau ist gewißlich ein schön und bedeutsam Zeichen. Uralte Völker sollen dies Sternbild auch den Adler genannt haben. Nun, da seht Ihr in Nürnbergs Wappenschild eine merkwürdige Verbindung beider symboli: den Jungfrauen-Adler.«

Hans Imhof: »So stände etwan unsere Stadt in diesem Sternbild, meint Ihr?«

Faust: »Ich hab es noch nicht erforscht. Wohl möglich. Denn Klugheit gibt die Jungfrau, die merkurius, der Stern des Verstandes, regiert, und hoch strebt der Adler in reine Höh. Solche Art erkennt Ihr leicht in dieser schönen Stadt, die Deutschlands Blüte des Geistes und der Kunst in ihren Mauern hegt und treibt, als ein herrlicher Garten.«

Hans Imhof: »Dies Lob laß ich gern gelten.«

»Der Doktor schwenkt ab,« drängte sich wieder eine Frauenstimme vor. »Er flüchtet vor uns hinter artige Reden.«

Faust lächelnd: »Und daß so viel schöne Frauen in Nürnberg zu treffen, wie in keiner andern Stadt des Reichs, ist sicherlich auch eine Wirkung dieses angenehmen Zeichens.«

Mangold zu Pirkheimer: »Was haltet Ihr von der Sach?«

Pirkheimer ernst: »Daß große Gesetze im Weltall walten, nach denen hoch und niederes Wesen, Stern wie Blume, sich bildet und wandelt, darin ist sich wohl die urälteste Weisheit mit der neuesten einig. Und wissenswert möcht es wohl für den Menschen sein, zu ergründen, welch ein Gesetz ihn führt, und welches er zu erfüllen hat.«

Faust von neuen Fragen bedrängt: »Ei, liebwerte Freundinnen, ihr wollt dann immer wissen, ob ihr heiratet und wen, ob der Liebste wohl auch getreu sei, ob ihr lang leben werdet und schön. Da geht doch zur alten Ursel am Laufertorgraben, die sagt euch das aus den Karten und aus der Hand.« 392

Eine der Frauen: »Eben mehr und Gewisseres wollen wir hören. Die Sterne müssen doch klüger als Karten und Falten in den Händen sein.«

Faust: »Sterne sind hoch und nur um hohe Dinge soll man sie befragen.«

Mangold zu Pirkheimer: »So wie Ihr sprecht, leuchtet es mir wohl ein. Jedennoch, was hülfe es, so man sein Gesetz und Schicksal wüßte? Man erfüllt es eben und entgeht ihm nit.«

Pirkheimer: »Nicht ganz so. Das Schicksal ergibt sich erst aus dem Gesetz und aus dem Willen des Menschen selbst.«

Mangold: »So meint Ihr, man beugte das Gesetz nach seinem Willen?«

Pirkheimer: »Man änderts nicht, aber es ist dem Menschen doch möglich, durch guten und starken Willen das Gesetz in höherer Art zu erfüllen.«

Mangold: »Ich versteh. Ihr meint, wenn einer erschlagen werden soll, lägs doch auch ein wenig an ihm, ob es in einer Wirtshausbalgerei oder in der Feldschlacht geschähe.«

Pirkheimer: »So ungefähr. Das aber will ich Euch sagen und nach meiner Wissenschaft nicht verhalten: es hüte sich ein jeglicher vor den Dingen der anderen Welt. Der Mensch ist gleichsam als ein Kind, und Kindheit ist sein Leben hienieden, wo er der Schrift nach alles nur schaut im Gleichnis. Da sitzt er dann als vor einem bunten Bilderbuch, blättert darin, ist ihm lustig oder leid, denkt sich was dabei oder nicht und bleibt es im ganzen zufrieden. Jene Dinge aber, magia, astrologia oder wie's heißen mag, sind als eine Schrift, so er noch nicht zu lesen versteht, noch sich mühen soll, sie zu verstehn. Aber Neugier und Hoffart reizen gar manchen, daß er sagen könnt, er hätt hinter den Vorhang geguckt und wüßt nun gar was Rechtes. Solch einen erspäht der Böse und hat ihn gar schnell, stellt sich ihm dar als ein biederer Schulmeister oder gar ein Priester aller Gottesweisheit, zeigt ihm da ein Stück, da ein End und macht ihn ganz wirr im Kopf. Denn es stimmt zum Gleichnis und stimmt doch wieder nicht, weil der Zusammenhang fehlt, der viel zu hoch liegt, als daß ihn einer von hier aus schaute, und jedwedes Stücklein, das einer erwischen mag, 393 macht gierig auf mehr. Ich sag Euch, ich hab schon etwelche gesehn, die darüber Verstand oder Leben oder beides verloren und in dem Sturm, der da oben geht, wo wir einmal als Stärkere hinkommen sollen, sind zermalmt worden, als hätt sie wahrhaftig der Teufel geholt. Die Kirche ist gar weise, daß sie das Orakeln und Beschwören verbietet. Mit menschlicher Kraft mag in solchen Dingen keiner reichen. Was ihm da gezeigt werden kann, ist wie im Spiegel: Alles wahr und dennoch alles verkehrt. Und obendrein gebraucht der Satan just keinen klaren und ebenen Spiegel, so er einen narren will.«

Mangold, der, während die Frauen um Faust mit großem Geschnatter hunderterlei Schicksalsfragen durcheinanderstellten und stritten, sehr aufmerksam zugehört hatte: »Ich dank Euch, weiser Mann, solches will ich merken und merk es wohl auch leicht, weil Eure Weisheit ganz nach meinem Sinn und dunklem Gefühl von derlei Sachen spricht.«

Faust: »Wahrhaftig, ihr Schönen, heut sind meine Sterne dem Wahrsagen entgegen. Wie wär's, unser Freund Henricus de Montefirmo wollte uns doch eines seiner fürtrefflichen heiteren Gesprächlein vorlesen, das er neu verfaßt hat. Nun, Henrice, bald schon Magister der Universität zu Bologna, zeucht die Rolle als einen Dolch aus dem Busen und stoßt sie uns, wenn nicht ins Herz, so doch ins Zwerchfell. Wir wollen lachen. Oder spielt Ihr uns erst noch ein welsches Liedlein, und Frau Radegundis singt dazu?«

Die Männer stimmten dem Vorschlag lebhaft, die Frauen nur zögernd bei.

»Der junge Mann ist ein Welscher?« fragte Mangold.

»Keineswegs,« erwiderte Pirkheimer. »Ist ein gut fränkischer Junker von Vestenberg. Aber seit er zu Bologna die Jura studiert, hat er eine solche Devotion für welsche Sitt und Kunst, daß er sich gar ins Italienische übersetzt hat.«

Mangold: »Ei, daß sein Oheim Veit, des Götzen von Berlichingen guter Freund, noch lebte, um ihm die Ohren zu ziehen.«

Noch eh die Gesellschaft schlüssig geworden war, ob sie's gesungen oder gelesen haben wollte, ward die Tür aufgetan, und zwei auffallend schöne Knaben in zierlichen Trachten kamen herein, die auf silbernen Schüsseln Backwerk und heißen, 394 gesüßten Würzwein darreichten. Und während der gewelschte Kavalier de Montefirmo an den leckeren Dingen kaute, begann er auf der Laute zu klimpern, und Radegundis, die starke Blonde, die im Zeichen der Jungfrau stand, trillerte erst leise, dann lauter den italienischen Text dazu.

»Nun tut's mir leid,« sagte Hutten zu Mangold, »daß du deinen Knecht, den Pfeifer, nit da hast, auf daß er mit einem handfesten Gassenhauer dreinführe, ad exemplum, wie er gestern im Löwen zu Neustadt sang:

Und wann ich wieder heurathen tu,
so nehm ichs Laternel dazu,
da sieht man bei Licht
doch was einer kricht,
eine Wüschte, die mag ich mehr nicht.«

Er summte es, ob's wollte oder nicht, zur welschen Melodie, und Mangold zusamt dem ernsten Pirkheimer schüttelte es vor Lachen. Die blonde Radegundis, der bei einem allzuhohen Triller die Stimme umgeklappt war, bezog das auf sich und schwieg betreten.

»Ja, ja, man hat's nit leicht!« sagte der junge Mann, der nun, die karmesinfarbenen Beine überkreuzt, in einem Lehnsessel am Mitteltisch saß, mit einem spöttischen Seitenblick und nahm einen Schluck aus dem duftig rauchenden Becherlein.

»Nun leset,« sprach Faust, ihm gegenüber niedersitzend.

Der literarische Stutzer zog aus dem Wams, dessen Samt, ein kostbares Stück florentinischen Handwerks, in figürlichem Muster gewebt war, ein zierlich beschriebenes Büchlein hervor, und sagte zur Einleitung, indem er zuerst überlegenen Blickes umhersah, dann, den vorgestreckten Fuß drehend, den feinen, langgespitzten Schuh aus grünem Leder mit samtenem Umschlag betrachtete, daß die Schrift eigentlich in lateinischer Sprache abgefaßt sei; um sie jedoch auch den minder gelehrten Lesern oder Hörern zugänglich zu machen, habe er sie, so gut das in einem barbarischen Idiom möglich sei, ins Deutsche übertragen, wobei natürlich die feinsten Feinheiten verloren gehen müßten. Hutten, der zurzeit eben, nachdem er sich bis dahin auch in seinen Schriften des Lateinischen bedient hatte, 395 in deutscher Sprache zu schreiben begann, schüttelte leicht den Kopf und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Mangold nahm den Junker in die Augen, der so unter dem Deckenleuchter saß, daß der weiche Kerzenschein ruhig über sein Gesicht herniederfloß. Es war schön gebildet, zumal die Stirne von klarer Wölbung und faltenloser Weiße. Das feine Braunhaar, mitten gescheitelt, fiel sanft eingewellt bis zum Nacken herab. Die braunen Augen blickten klug und kühl, und der Mund hatte jene Neigung zum Spott, die der Ritter an den meisten der anwesenden Männer mit Ausnahme der mächtigen Köpfe des Pirkheimer und des schönen Imhof mißfällig bemerkt hatte, und von der auch Huttens Lippen nicht immer frei waren.

Das Vorgelesene war ein Gespräch, das einem italienischen Edelmann in den Mund gelegt wurde, der, vom Besuch eines Universitätsfreundes in Deutschland zurückgekehrt, seinem verehrten Lehrer die Eindrücke der überstandenen Reise schildert. Mit der Beschreibung des groben Empfanges in einem deutschen Wirtshause beginnend, und in jener der Zustände auf einem fränkischen Adelssitze gipfelnd, zog es alle deutschen Einrichtungen, die nur schicklich gestreift werden konnten, vom Kaisertum herab bis zu den plumpen Tänzen und Liedern der Bauern durch die Schwefelsäure geistreichen Spottes. Das zweifellos vortrefflich geschriebene Werkchen zeugte von außerordentlicher Fähigkeit, insonderheit jener, die Dinge zu verkehren, so daß sie, ohne unwahr zu werden und dem Autor den Vorwurf der Fälschung einzutragen, mit ihrer allzuirdischen Seite nach oben kommen. Manche Stelle wurde stürmisch belacht, der Schwarzschopfige rief ein übers andere Mal: »Excellentissime! Elegantissime!« und selbst Mangold, dessen Miene immer finsterer geworden war, konnte sich bei der Schilderung des Treibens auf einem fränkischen Burghofe eines Schmunzelns nicht erwehren. Ein Lob des wunderbaren, kunstverschönten und geisterleuchteten Landes Italien beschloß die Schrift und klang aus in einem, italienischen Formen nachgebildeten, Gedicht, das mit einer Verwünschung deutscher Barbarenart und -sprache der Sehnsucht Ausdruck gab, ein Florentiner zu werden und 396 dereinstmals auf den Höhen von Fiesole im Anblick der ewigen Frühlingsstadt begraben zu liegen.

Reicher Beifall lohnte den Schöpfer. Die Schriftgelehrten rieten ihm dringlich, das Gespräch ungesäumt dem Druck zu übergeben, und der Wunderrabbi empfahl einen geschäftstüchtigen Verleger. Nur Hutten, der vom Kamin, wo er mit Mangold und Pirkheimer gestanden hatte, an den Tisch herangetreten war, sprach jetzt kurz und scharf:

»Das Ding ist witzig, aber damit ist nichts getan. So Zeug gibt's übergnug. Ich wollt, ich selber hätt weniger davon geschrieben. Damit ist nichts geschaffen. Genug des Hohnes. Was wir Deutsche jetzt brauchen, ist Mut, ist Schätzung unseres Wertes, Bewußtsein eigener Kraft. Wir sind nicht das schlechteste, wir sind das beste Volk der Erde. Man muß nit die Nas an die Rinde stecken und sehen, daß sie rissig, verworren, voll Flechten und Unziefer ist, man muß zurücktreten und den deutschen Baum erblicken von der Wurzel bis zur Kron. Leicht ist's, witzig sehen, so man klein sieht. Schaut groß, meßt Eure Vernunft, meßt Euer Herz daran, und der billige Witz wird euch rar werden, wie Eis im Sommer. Ich kenn Welschland besser als du, kleiner Spottvogel, und ich sag's dir und euch allen hier und jetzt: ich pfeif auf die ganze welsche Kunst und Wissenschaft, auf alles, was sie da unten bauen, und was sie ausgraben, was sie reimen und klimpern, von nun ab schreib und sing ich deutsch, und bau deutsch und grab aus die versunkenen Schätze meiner eigenen Nation, und so ihr nit wißt, was deutsch ist, dann laßt's euch vom Doktor Luther, von Albrecht Dürer, Veit Stoß, Adam Krafft und Peter Vischer zeigen, und eh ihr kein Aug für Nürnberg, die deutsche Stadtblüte, habt, begafft nit Florenz, ihr versteht ja doch nichts davon.«

Er war bleich wie Leinwand geworden, seine Augen brannten groß und flackernd. Hastig leerte er ein Glas, das vor ihm stand, und schleuderte es in den Winkel, daß es klirrend zerbrach.

Faust sprang auf, legte eine Hand auf seine Schulter und machte mit der andern ein Beschwörungszeichen über seinem Haupt. »Kühl deine Glut, Ulrich!« rief er. »Wehre dem roten 397 Schein des Mars! Er ist Gift für deinen kranken Leib, und den braucht Deutschland noch lang und hat seiner dringender not als welsche Kunst.«

Auch Pirkheimer, Mangold, Spalatin, Imhof und andere waren herbeigeeilt und redeten erregt und beschwichtigend auf Hutten ein.

Der Verfasser der Schmähschrift aber war aufgesprungen, zerriß das Büchlein in Fetzen, warf sie dem zerschmissenen Glase nach und sprach ergriffen: »Eher will ich unberühmt auf einem fränkischen Kirchhof liegen, als daß Deutschlands größter und tapferster Sänger an mir Ärgernis nehme. Verzeiht mir, Ulrich von Hutten, hier meine Hand, und daß sie's wert sei, in Eurer zu liegen, nehmt mit ihr mein ritterlich Gelöbnis, daß ich von heut ab Vestenberg heißen und sein will.«

Müd lächelnd ergriff Ulrich über den Tisch hin die Hand des Junkers und schüttelte sie kräftig.

»Hab dir nichts zu verzeihen, Heinrich von Vestenberg, fränkischer Edelmann; du, Deutschlands Jugend, verzeihe mir, daß du Spott und Hohn von mir gelernt. Ich bin der Vater eurer Pamphlete. Bei Gott! Welch eine Zucht von Spottvögeln hab ich gezeugt! Aber wenn ich Deutschland geißelte, geschah's aus Liebe zu Deutschland, und weil ich jedes seiner Gebrechen wie ein Geschwür an mir selber fühlte. Das, was du lasest, war funkelnd, aber funkelnd vor Frost, wie ein Schmuckstein, wie ein Dolch. Nicht funkeln soll, was ihr schreibt und redet, leuchten, flammen soll es in die Nacht aus eigener, verzehrender Glut. Das ist der Genius, der ins Tagen führt, das andere ist der Dämon, der ins Nächtige lockt. Nicht der Dolch – das Schwert! Nicht Spottvers – Lied! Nicht welscher Schliff – deutsche Einfalt, Grobheit und Kraft! Nicht mir folge nach, deutsche Jugend, nicht aus meinem Becher trinke, er ist vergiftet. Den da nehmt euch zum Vorbild,« er zeigte auf Mangold, »den deutschen Ritter trutz Tod und Teufel!«

Stumm und tiefbewegt standen alle umher. Ulrich sank erschöpft in einen Sessel. Faust eilte durch die Bibliothek in seine Schwarzküche. 398

Die meisten der Frauen hatten verschreckt zugehört und drückten sich aneinander, wie das Hofgeflügel, wenn der Habicht, ein zitterndes Beil, oben im Blau hängt.

Nur eine stand abseits und verzehrte mit großen, vor Glut schwarz gewordenen Augen den Dichter des ritterlichen: »Ich hab's gewagt.« Die blasse, blonde Zeitlose, und ihre ranken Glieder bebten fieberschauernd in der bleichroten Seide.

Faust kehrte nach einer Weile mit einem gefüllten Becher und einem Kristallfläschchen zurück, aus dem er einige Tropfen in das Gefäß goß.

»Nimm und trink's!« befahl er Hutten mit ärztlicher Strenge. »Ich habe deine Sterne mit denen des Tages verglichen,« setzte er, die Augenbogen aufziehend, hinzu. »Dein Merkur hat heute starken Gegenschein vom Mars. Aber deine Sonne ist nicht davon beeinträchtigt, Venus sogar will dir sehr günstig sein. So hast du von der Erregung keinen Schaden zu besorgen.«

Bald war wieder ein allgemeines Gespräch in Gang. Hutten selbst sorgte mit Scherzen für Erheiterung und munterte den Junker Heinrich auf, durch Lautenspiel die verstörte Weiblichkeit zu besänftigen.

Aber die Unterhaltung hatte nun einmal ein Gewicht ins Ernsthafte, von wo sie allzuleicht ins Strittige abzugleiten pflegt. Martis roter Schein herrschte über der Gesellschaft und wollte sich mit Lautenklang nicht beschwören lassen.

Der Schwarzgeschopfte begann von der Wissenschaft zu reden, in der löblichen Absicht sogar, die unglückliche Wirkung der Spottschrift aufzuheben, und sang den Preis der deutschen Gelehrsamkeit insonderlich, daß sie die gründlichste sei, die welsche in Rom wie in Paris eine Gaukelei und Windmacherei im Vergleich zu ihr, daß man wohl nach Padua oder Bologna gehen solle, um zu lernen, wie man sich kleide, wie man Saiten rühre und angenehm vor den Frauen einhertänzle und schwänzle, wer aber ein tüchtiger Jurist, Philologus oder auch Meister der schönen Künste werden wolle, der lasse sich weit besser in Erlangen, Altdorf, Wittenberg oder Frankfurt immatrikulieren.

»Nun, Rabbi« wandte er sich an den Juden, »Euch ist aller 399 Welt Weisheit kund, Ihr habt mehr Bücher gelesen als der Faust sogar, Ihr könnt ganze Kapitel aus lateinischen, griechischen, ja persischen und hindostanischen Schriften ohne Stocken rezitieren, was sagt Ihr zum Stand der deutschen Wissenschaft?«

Der Rabbi, scharf über seine Geiernase hin ins Weite blickend, pflügte mit gekrümmten Fingern den Bart und erwiderte:

»Zuhöchst steht sie auf der heutigen Erde sonder Zweifel. Deutschland ist ein erleuchtetes Reich. Viel Dunkelheit auch da noch, aber so dichte nicht, wie in andern Ländern, wo mehr Prunk und Glanz. Und,« er zog die Schultern schief, »wo ist keine Finsternis, wo wird sie je ganz geschwunden sein? Auch daß es mein armes Volk dahier im Verhältnis am besten hat, ist Zeichen von Erleuchtung, von Freiheit des Geistes. Denn ein heller Geist ist auch milde, sieht nicht nur Finsteres am Fremden. Wir Jüden haben des Kaisers und der Fürsten Schutz, der geistlichen zumal, der Adel weiß uns zu nützen, der Bürger läßt uns billigen Verdienst. Und worin man uns überall sonst hindert und abhält, im deutschen Reich dürfen wir uns bilden, dürfen lernen, Wissenschaft uns aneignen, und das ist uns lieb, denn wir sind ein gar wissensdurstig Volk. Was sind äußere Ehren, Würden, was Privilegien auf Gewänder, Siegel und Titel? Schöne Gewänder, Macht dem Toren. Im Geist da liegt die Macht. Wer weiß, der hat sie. Und auch der Deutsche weiß gern und ist ihm inne, daß der Geist die Macht hat. Drum gehn wir gern zu dem Deutschen und mit ihm.«

»So gebt Ihr dem Deutschen das Zeugnis der reinsten Wissenschaft?« versetzte der grauhaarige Gelehrte mit den lustigen Augen. »Er lernt, er forscht, um zu wissen, nicht um zu prahlen damit wie etwan der Franzos.«

»So ist es,« nickte der Rabbi. »Wer weiß, braucht nicht zu prahlen. Ein anderer prahlt ihm vor mit Gelahrtheit, Kleid, Ehre. Soll er. Ich weiß.«

Der Schwarzgeschopfte: »Ich weiß! Welch eine Ruh und gesammelte Kraft liegt in dem Wort! Ich weiß – mir kann die Welt nicht an!« 400

Pirkheimer ruhvoll, aber mit gewaltigem Blick seiner schönen Stieraugen, trat näher an die Sprechenden heran.

»Mit Verlaub, ihr Herren,« sagte er, »liegt nicht eine wahnwitzige Hoffahrt in diesem ›ich weiß‹? Wie sprach Sokrates, der Weisen größester, weil schlichtester? Ich weiß, daß ich nichts weiß. Und das ist aller Weisheit Anbeginn. Ihr sagt, das sei die reinste Wissenschaft, daß einer lerne, forsche, um zu wissen, und das sei deutsche Wissenschaft. Dem widersprech ich. Wer reine Weisheit will, der will wissen, der studiert, um zu forschen, und so will's der Deutsche, und das macht, daß er den Ruf des reinsten Gelehrten hat in der Welt.«

Faust, der die ganzen Gespräche im Sessel zurückgelehnt mit geschlossenen Augen angehört hatte, blickte auf und sah Pirkheimer eigen an.

»Und worauf zielt solches Forschen?« fragte er langsam.

Pirkheimer: »Vor allem, der Menschheit zu dienen.«

Faust, bedeutsam wiederholend: »Zu dienen.«

Der Schwarzschopfige aufstehend, lebhaft: »Dienen ist Sache des Unwissenden. Der Wissende wird der Menschheit nützen, indem er herrscht.«

Faust, die Augen schließend: »Der Gelehrte dient und nützet. Der Wissende nützt keinem mehr. Er ist mächtig und hütet die Macht.«

Pirkheimer, mit langsam steigender Glut: »Faust, ich weiß, wie du es meinst. Und ich spreche dawider und bleibe dabei: Der Menschheit zu dienen, ist der Wissenschaft Zweck. Ihr Zweck auf Erden, denn freilich hat sie noch ein höheres Ziel.«

Faust: »Und das wäre?«

Pirkheimer: »Unbekannt.«

Faust, die Augen schließend: »Nein. Erkenntnis.«

Pirkheimer: »Ich bleibe dabei: unbekannt, unerkennbar, denn es ist Gott.«

Faust, mit kühlem Lächeln: »Dem Unerkennbaren forsch ich nicht nach.«

Pirkheimer: »Dann bist du kein Mann der wahren Wissenschaft.«

Der Rabbi: »Ich dächte, das sei Wissenschaft, die nach dem Möglichen strebt. Was darüber hinaus will, lassen wir –« 401 er hob die Schultern. Faust, die Augen weit offen, stolz: »Aber das Mögliche ist grenzenlos für den, der den Weg weiß. Und das Ziel bleibt Erkenntnis.«

Pirkheimer, entschieden: »Nein, Faust, der Weg ist unbekannt, das Ziel unerkennbar für uns. Der ist kein Forscher, der nicht strebt ins Unerforschliche, wie der kein Künstler ist, der es nicht wagt über sein Können.«

Der Schwarzschopf: »So wagt es immerdar der Stümper.«

Pirkheimer: »Der Stümper und der Große, das gute Handwerk aber steht inmitten. Und so der Gelehrte: der kleine Schulmeister stümpert zufrieden herum, der Doktor weiß, was er weiß, der Große, unwiderstehlich vom Dunkel des Geheimnisses angezogen, geht hinein ohne Weg, ohne sichtbarlich Ziel, bereit, sich ruhm- und namenlos zu opfern, daß dem Nachfolger der Weg begonnen sei: und dieser dunkle Drang ist Wachstum des Einzelnen sowohl wie der Menschheit insgesamt. Er führt uns zur Vollendung unbewußt und so lange, als er zwecklos bleibt und selbstlos. Nicht Wissen, nicht Macht, nein Streben, Tätigkeit. Nicht Werk, nicht Ruhm, nein, Schaffen und Zugrundegehen. Nicht der Aar, der hoch fliegt, der Vogel Phönix, der sich in die Flammen stürzt, ist unser symbolum. Nescio der Weisheit Beginn – ignorabimus ihr Ende auf Erden.«

Der Rabbi: »Gewißlich, nescio der Trieb, aber gnosis das Ende.«

Faust, wie in fernem Erinnern: »Vom nescio begann ich, das ignorabimus führte mich auf den Weg, magia ist Erkenntnis.«

Pirkheimer: »Und so wäret Ihr denn an Eurem Ziel. Aber ich sage Euch, die Wahrheit ist es nicht, und zu ihr den Weg habt Ihr verloren. Ihr strebt zum Unbekannten. Da trat Euch einer in den Weg, er, der sprach: ihr werdet sein wie Gott, und setzte als Ziel Euch statt Deus - ego

Faust: »Deus ist ego. Sagt nicht Plato: Erkenne dich selbst?«

Pirkheimer: »Um dich zu vernichten. Dann erst nahst du ihm, der allein die Erkenntnis ist, an der Schwelle, wo . . .«

Faust, triumphierend: »Der Hüter liegt, den ich überschreite.« 402

Pirkheimer: ». . . daß Wissen ein Ende hat.«

Mangold von Eberstein: »Und der Glaube beginnt.«

Faust und mehrere: »Der Glaube? – Des Wissens Tod! – Der Wissenschaft Vernichtung! – Des Geistes Kindheit und Greisentum – –«

Pirkheimer: »Der hat's gesagt: der Glaube. Der Glaube, die gewaltigste und die freieste Kraft der Seele. Breitet sie diese Schwingen, dann sind Vernunft und Verstand überflogen. Verstand ist des Adlers Fang, Wissenschaft seine Beute, aber der Glaube sein Flug und die brennende Sonne sein Ziel.«

Spalatin: »Disputatio finita. Wir sind nicht mehr unter Gelehrten.«

Pirkheimer lächelnd: »Incipiat disputatio. Es sind Deutsche da. Männer mit der Bereitschaft zu glauben, also mit der Fähigkeit, Berge zu versetzen, was noch keiner Wissenschaft gelang.«

Faust: »Ich glaube nicht, doch bin ich bereit, einen Berg zu versetzen. Nenne mir, welchen.«

Pirkheimer schwieg ein paar Augenblicke und sah ihm groß ins Gesicht: »Gott kann es, der Teufel spiegelt's,« sprach er dann.

Dem Doktor Faust zuckte etwas durch den Blick. Er schloß die Augen und sagte: »Schließlich stehen wir auf dem gleichen Fleck, nur mit dem Rücken gegeneinander.«

Pirkheimer: »Du hast's getroffen. Der eine schaut gen Tag, der andere gen Nacht.«

Faust, ihn scharf anblickend: »Der eine nennt's Glaube, der andere Irrtum.«

Pirkheimer: »Den einen treibt die Hoffnung, der Zweifel den andern.«

Der Rabbi: »Der Zweifel ist der Wahrheit Vater.«

Pirkheimer: »Und ihre Mutter die Demut.«

Faust: »Was ist Wahrheit? Wir sehen Bilder, die wir selbst bilde, wir sehen im Spiegel, der wir selber sind.«

Pirkheimer: »Wir sehen ein Gleichnis im Spiegel jetzt, dann von Angesicht zu Angesicht, wenn wir haben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. 403 Und die habt Ihr nicht. Drum ist Euer Wissen kalt und unfruchtbar, Eure Erkenntnis ein funkelndes Gaukelspiel in ewiger Nacht.«

Faust, sich erhebend: »Lassen wir's. Wir finden uns nimmermehr.«

Eine anmutige, dunkle Frau trat vor und sprach zu Faust: »Nun haben wir den Männern lange genug das Wort gelassen. Da sagt ihr immer, wann Weiber reden, wird Zank und Streit. Heut habt ihr nicht eine Viertelstunde Frieden halten können. Disputatio finita, wir wollen fröhlich sein. Zaubert uns was vor, großer Magier, zeigt Eure Macht!«

Diese Aufforderung wurde von den anderen mit Lebhaftigkeit unterstützt. »Ein Kunststück!« rief es und »den Spiegel, den Zauberspiegel!« heischte die sternsüchtige Sängerin.

»Ja, zeigt uns den Spiegel, laßt uns in den Spiegel sehn!« forderte die und jene. »Jetzt sind die rauhen Nächte, da muß uns der Spiegel wunderliche Dinge weisen!«

Faust, lächelnd: »Ei, wenn ihr ihn durchaus sehen wollt, so mag es sein. Aber es schelte mich keine, die nicht sieht, was ihr gefällt.«

Er ging, von allen den Frauen und einigen Männern gefolgt, in die Bibliothek, wo er ein falsches Regal mit aufgeklebten Bücherrücken öffnete. Ein mäßig großer Spiegel kam zum Vorschein, der rund und hohl und seltsam dunkel wie die Oberfläche eines moorigen Wassers war.

»Nun immer nur eine!« wehrte Faust den andrängenden Haufen ab. »Und wohlgemerkt: nichts, gar nichts denken ist die Vorbedingung. Sonst seht ihr nichts anderes, als man sonst im Spiegel sieht.«

Der Schwarze: »Da ist freilich das schöne Geschlecht gewaltig im Vorteil.«

Hutten: »Und was sieht der Nichtsdenkende?«

Faust lächelnd: »Es ist ein Spiegel der Seele. Was unter der Schwelle des Bewußtseins im Abgrund der Seele wohnt, das sieht er, oder auch, was ihm selbst vielleicht unbekannt, Macht hat über ihn.«

Faust überließ die Frauenzimmer dem Spektakel und trat 404 wieder unter die Männer im vorderen Gemach. Eine einzige der Frauen war zurückgeblieben: die Blonde im Gewand der Herbstzeitlose. Er ging auf sie zu und sprach mit ihr.

Mangold, der wieder mit Pirkheimer und Imhof zusammenstand, sagte: »Ich hab gehofft, den Meister Dürer hier zu finden.«

Pirkheimer drauf: »Der liebt nicht Gesellschaften, solche schon gar nicht.«

Mangold: »So will ich ihn morgen heimsuchen.«

Imhof: »Vormittag nach der hohen Meß werdet Ihr mich dort finden und könnt gleich das Konterfei bewundern, das er von mir gemalt hat.«

Pirkheimer: »Auch mich sollt Ihr dort treffen.«

Faust, der hervorgetreten war, zu Mangold: »Ihr habt da einen magischen Ring am Finger. Darf ich ihn besehen?«

Mangold hielt ihm die Hand hin.

Faust: »Erlaubt, daß ich ihn abziehe.«

Mangold tat es selbst und gab ihm den Ring. Faust hielt ihn gegen's Licht und kniff ein Auge zu.

»Ein uralt, selten Stück,« sagte er. »Der mag von Thule stammen. Ein weiser König oder Barde im hohen Norden mag ihn getragen haben, ein Drude vielleicht.«

Eben, als Mangold ihn wieder nehmen wollte, entstand in der Bibliothek Geschrei und Lachen. Er sah hin, und während dessen hatte Faust ihm den Ring wieder an den Finger gesteckt.

Zwei der Damen traten aus dem Nebengemach. »Nein, so was!« rief die eine davon. »Was ist das für ein abscheulich keckes Ding, Euer Spiegel da! Werter Doktor! Ich möcht ihn am liebsten zerschlagen!«

Die anderen lachend: »Und so ist sie erschrocken, daß ihr der Name des Vorgespiegelten entfuhr. Das war ein Spaß!«

Der Schwarzschopf, herauskommend: »Es hilft nichts, ich seh nichts, ich kann das Denken nit lassen.«

Spalatin: »Und ich seh nur Bücher. Das stimmte ja. Aber vermutlich sind es die hinter mir in der Bibliothek. Zu dem Wunder hab ich den Spiegel nicht nötig.«

Allmählich wurde es drinnen wieder leer. Die Weiblichkeit 405 besprach erregt das Zauberstück und verriet einander flüsternd, was erst geheim bewahrt werden sollte.

Hutten zu Mangold: »Komm, wir wollen auch das wunderliche Ding betrachten.«

Mangold: »Ach was! Ich mag nit dergleichen Gaukelei.«

Hutten: »Ist ja nur ein Spaß. Komm!« Und er zog ihn samt Faust hinein.

Hutten trat vor den Spiegel und wandte sich blitzschnell um. »Wie? . . .« sprach er verblüfft und trat zur Seite, um durch die Tür hinaus zu sehen. »Nicht möglich!« murmelte er und kehrte sich nochmals dem dämmrigen Glas zu. »Jetzt ist's fort!« lachte er gezwungen. »Da, jetzt versuch du dein Glück.« Mit diesen Worten schob er Mangold, der ein Büchlein vom Tisch genommen hatte und darin blätterte, vor den Spiegel.

Mangold sah erst noch achtlos in das Buch, dann einmal flüchtig hin, fuhr zurück, ließ das Buch fallen, und seine Rechte zuckte nach dem Dolch.

»Gaukler! Schelm!« brauste er auf und stob gegen Faust los, der zurücktrat und abwehrend die Hände hob.

Hutten fiel dem Oheim in den Arm: »Was ist dir? Bist du von Sinnen?«

»Verdammter Betrug!« schnob Mangold.

Faust stand ruhevoll und sah ihn achselzuckend kalt an.

Mangold, sich fassend und über die Augen fahrend: »Verzeiht!«

Faust klug lächelnd: »Auch Eurem Merkur scheint heute der Mars zu opponieren, Herr Ritter.«

Mangold: »Heißt das soviel, daß einer die Fassung verliert, was freilich ein Ritter nicht sollte. Hast du's gesehen?« wandte er sich an Hutten, der hinter ihm gestanden war.

Hutten: »Wie sollt ich?«

Mangold, sich in einem Sessel niederlassend, der am Tisch stand, nachdenklich: »Wahrlich, ein seltsam Ding.«

Er hatte die Odheimerin erblickt.

Faust war hinausgegangen. Hutten stand dunkel sinnend mit überkreuzten Armen an ein Büchergestell gelehnt. Sie sprachen lange kein Wort. 406

»Wetter!« fuhr Mangold plötzlich auf und betrachtete seine linke Hand.

Hutten: »Ei nun?«

Mangold: »Nichts.« Er schüttelte das Haupt und steckte den Ring um, den ihm Faust beim Antun verkehrt aufgezogen hatte.

Ulrich begann auf und ab zu schreiten. Im Nebenzimmer war es seltsam still geworden. Nun begann eine leise Musik. Er blickte durch die Tür. »Sieh! Sieh!« flüsterte er, Mangold herbeiwinkend. »Die Blonde tanzt, er hat sie bezaubert.«

Mangold trat zu ihm und sah, daß man im Saal die Armleuchter ausgelöscht hatte, so daß nur der Deckenleuchter noch geringen Schein gab. Der Mitteltisch war zur Seite geschoben. Die Gäste standen und saßen an den Wänden umher und betrachteten mit Spannung die schlanke Frau, die das Oberkleid abgeworfen hatte und auf dem Teppich wie eine Träumende umherging. Erst hatte sie die Augen geschlossen und die blassen Arme schlaff niederhängen. Nun hob sie die Arme und die Lider, ihr Blick war groß, ganz dunkel und irr. Ihr zarter Körper in dem bleichroten Gewand folgte wie vom eigenen Bewußtsein gelöst und einem fremden Willen hingegeben nachtwandlerisch dem Rhythmus der Musik. Ulrich, von ihrer Schönheit bewegt, trat leise unter die Tür und noch weiter vor, um sie besser zu sehen. Endlich stand er zuvorderst bei den Schauenden. Sie schien seine Nähe zu fühlen, denn während sie erst wie angezogen und abgestoßen sich zu Faust, der an der entgegengesetzten Seite des Raumes stand, hin und von ihm fortbewegt hatte, wurde sie jetzt plötzlich wie eine Blume, die ein Windstoß niederbeugt, gegen Hutten getrieben. Einen Schritt vor ihm aber hob sie abwehrend die Hände in schöner Bewegung und taumelte zurück. Wie fliehend zog es sie im Kreis umher, einer stellte rasch einen Sessel zurück, an den sie zu stoßen drohte, und jetzt schien es sie mit Macht abermals vor Hutten zu zwingen. Sie hob gleich einer Verzweifelten aber willenlos und in wunderbarer Weichheit die Arme, ihr Gesicht nahm den Ausdruck schmerzlicher Verzückung an, der schnell wieder einem der Furcht, ja, des Entsetzens wich. Wie zwischen Lust und Grauen qualvoll schwankend 407 irrte sie hin und her, ward niedergebogen, emporgeweht, vom Saum eines unsichtbaren Strudels gefaßt, weggestoßen und hereingezogen. Das dünne Kleid flatterte angeschmiegt um ihre Glieder, sie wurde blasse Flamme, Sturm wirbelte sie umher, um sich selbst, stieß sie nieder, riß sie empor, ließ ab. Flackernd höher, höher stieg sie in Windstille steil und schmal sich verzehrend, fiel ruckweise, sank in sich zusammen, brach in die Knie, lag ein Nichts, eine blaßrote Hülle auf dem bunten, gestaltvollen Teppich.

Tiefes Schweigen. Die Musik verklang. Faustens Stimme gedämpft: »Macht Licht.«

Mit Spänen, die man an der Kaminglut entflammte, wurden die Armleuchter wieder angezündet. Sie lag reglos auf dem Boden. Hutten mit verschränkten Armen starrte sie versunken an.

Faust: »Ulrich von Hutten, berühre ihren Arm.«

Ulrich trat vor, beugte sich nieder, berührte den linken Arm, auf dem ihr Gesicht lag, und trat zurück.

Bewegung ging durch den Kreis der Umherstehenden. Unter ihrer linken Hand, die schlaff mit gebogenen Fingern auf dem Teppich ruhte, entstand ein Zweig, wuchs, breitete sich, Blätter, Knospen, die schwollen, aufbrachen, sich entfalteten. Dunkelrote Rosen. Ihr Duft stieg und erfüllte den ganzen Raum.

Faust trat vor und hob die Arme mit einer Bewegung, als nähme er einen Schleier von der Verzauberten.

Sie erwachte, richtete sich auf, fuhr sich über die Stirn und Augen, sah fremd umher. Griff die Blumen, war verwundert, erhob sich und stand lachend mit dem Strauß in der Hand.

»Wer hat die schönen Rosen gebracht?« fragte sie erstaunt. Dann, sich dunkel erinnernd: »Hab ich geschlafen?«

Niemand gab ihr Antwort.

Ihr Blick fiel auf Hutten. Sie schauderte leicht zusammen und eilte unter die Frauen.

Man begann zu reden.

Faust schritt in die Bibliothek. Einige, darunter Hutten, folgten. 408

Ulrich, tief Atem holend, sprach: »Ich will Sterne sehen. Faust, führ uns auf deinen Turm.«

Zu seinem Mißvergnügen wurde der Wunsch vom Schwarzschopfigen lebhaft aufgegriffen und verlautbart. Sogleich geschah ein allgemeines Herbeiströmen, und in der Annahme, dem großen Magier würde etwa unter dem offenen Sternenhimmel einiges von seiner astrologischen Wissenschaft zu entlocken sein, beschlossen die meisten, ihm auf den Turm zu folgen. Man holte Mäntel und Pelzschauben aus dem Vorraum herbei, und der Doktor führte seine Gäste durch die Zauberküche und über die kleine Treppe durch das eiserne Pförtlein hinauf.

Ulrich hielt sich zurück, bis der Schwarm verlaufen war. Mangold kam mit großen Schritten nach.

»Ist Pirkheimer schon hinauf?« fragte er.

Ulrich: »Vermutlich. Es war ein Gedräng. Ich sah nicht jeden einzelnen.«

Mangold folgte eilig den andern. Aber Pirkheimer und Hans Imhof sollte er nicht mehr bei ihnen finden. Sie hatten die Verwirrung des Aufbruchs benützt, um heimlich das Haus zu verlassen.

Ulrich stand in der Bibliothek. Die großen Kerzen brannten tief und trüb in dick herabgetropften Wachszöpfen. Das falsche Gestell vor dem Spiegel war wieder geschlossen. Düster sinnend und einmal aufseufzend überschritt er die Schwelle zum Laboratorium. Dort war ein einziges Lichtlein am Herd stehengeblieben. Das Flämmchen zog rauchigflackernd in den Kamin hinein. Die Gerätschaften und präparierten Tiere warfen wunderliche Schatten ans Gewölb.

Ulrich legte eine Hand an das eiserne Geländer des Treppchens und zögerte, den Fuß auf die Stufen zu setzen. Da fühlte er, daß jemand neben ihm stand. Er sah auf. Die schlanke Frau im blaßroten Gewand blickte ihn mit großen, irren Augen an. Ihre Lippen bewegten sich wie im Traum. Die Hand langsam erhebend, reichte sie ihm die Zauberrosen, denen ein schwüler Duft entströmte. Ulrich stand zurückgebogen, sah sie erstaunt an und regte sich nicht.

»Nimm!« flüsterte sie mit flehender Gebärde. 409

Er streckte die Hand aus. Der Strauß war verschwunden. Mit leisem Aufschrei fuhr die junge Frau zurück. Ein heftiges Zittern befiel ihre zarten Glieder.

Ulrich ließ die Hand sinken.

»Laß . . .« sagte er müde und mit einem Ausdruck des Ekels. »Es ist alles Gaukelei, was in diesem Hause geschieht.«

Sie stand bleich, mit geschlossenen Augen und schlaff herabhängenden Armen. Ulrich meinte, ihre Blicke hinter den zarten Lidern flimmern zu sehen. Sie sprach leise und langsam:

»Ich gaukle nicht, Ulrich von Hutten. Ich liebe dich.«

Ulrich nahm ihre schmale, willenlose Hand: »Wer bist du?«

Sie: »Ein Weib.«

Ulrich nach einem Schweigen: »Du liebst mich?«

Ihre Augen gingen groß und dunkelstrahlend auf. Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um seine Hand.

Er lehnte sich zurück und seufzte tief. Dann, ihr mit furchtbarem Ernst ins Gesicht blickend, sprach er:

»Weißt du, daß meine Liebe der Tod ist?«

Sie nickte. Ihre Hand umzog fester die seine.

Er: »Schande, Siechtum und Tod?«

Sie fest: »Ich weiß es.«

Er: »Und du willst . . .?«

Sie: »Ja. Ich liebe dich, Ulrich von Hutten, und ich will sterben, daß du lebest.«

Seine Hand bebte. Er schwieg und sah über sie hinweg in eine Ferne.

»Wie alt bist du?« fragte er verloren.

Sie: »Zweiundzwanzig Jahre.«

Er: »Hast du geliebt?«

Sie: »Jetzt weiß ich, daß ich nie geliebt habe.«

Er: »Schönes Kind, du ahnst nicht, was du tun willst.«

Rasch löste er seine Hand, sprang die Stufen hinan, stieß die Eisenpforte auf und schlug sie hinter sich zu.

Er tappte sich im schmalen, dunklen Gang die Windungen der Treppe aufwärts, tastete an eine zweite Tür, öffnete sie und stand auf der freien Turmplatte unter dem Sternengewölb. 410

Der Turm, ein Rest der alten Stadtbefestigung, war, als man das Haus ihm angebaut hatte, offenbar um ein Stück abgetragen worden, denn die Giebel ragten an der Ostseite über die Plattform empor. Nach den übrigen Windrichtungen hatte man freien Blick über die Stadt hin.

Ulrich trat an die Brüstung. Über ein unkenntliches Geschiebe von höheren und niederen Giebelreihen und Höfen weg sah er unten den Lauf der Pegnitz mit Spiegelungen vereinzelter Lichtlein matt schimmern. Der dunkle Block des Heiliggeist-Spitales überbrückte das Wasserband. Drüben, ein schwarzblauer Schattenriß über den Häusern im Sternenblau schwebend, die Lorenzkirche mit den zwei schlankspitzigen Türmen. Dann Häuser und Dächer hin und her, schwarze, steile Kämme, ungewiß flimmerndes Silber von Schnee und Reif, Türme blau in blau verdämmernd, und oben die Burg, eine schwere, finstere Masse, der Sinnwellturm, der Turm Altnürnberg, das hohe Dach der Kaiserstallung, der Luginsland, und darüber, glitzernder noch gegen die dunklen Umrisse der Höhe, die Gestirne der dunkel kristallenen Frostnacht. Weit um die Stadt ein halbheller Ring, flimmernd, schleierig wie mondlichtes Meer, die nächtige Schneelandschaft.

Faust, umgeben von seinen Gästen, stand an der Ostseite der Platte, wo vor dem anstoßenden Hausgiebel ein kleines Vordach errichtet war, unter dem sich Instrumente befanden. Eben rückte er einen Tubus auf seinem Gestelle vor und erklärte irgend etwas an den Gestirnen.

Eine große, dunkle Gestalt trat an Hutten heran. Mangolds Stimme: »Du, Ulrich?« Er lehnte sich neben ihn an die Mauer. Sie schwiegen.

Mehreren von der Gesellschaft wurde es kalt. Sie schritten umher, plauderten, schüttelten sich und lachten. Dann gingen einige hinunter, andere folgten. Es blieben nur wenige zurück.

Ulrich und Mangold lauschten in die Stille hinaus. Wie ein fernes Schäumen und Rinnen stieg es aus den Gassengründen der Stadt herauf. Bald schien es verworrenes Schreiten und Reden, bald nur das Fließen des Wassers. Jetzt horchte Mangold auf. Ganz fern aus der Nacht vom Land 411 her kam dumpfer Glockenton, bald klarer anschlagend, bald verhüllt und über die Winterweite hin verweht.

Und nun rief eine Frauenstimme aus der Gruppe: »Seht, seht! Was ist das? Ein aufgehender Stern – es bewegt sich . . .«

»Nein. Es ist ein Licht auf der Turmbrüstung der Lorenzkirche,« ließ sich der Schwarzschopf vernehmen.

Mangold sah hin. Dem Licht folgte ein zweites, drittes, viertes. Nach und nach zeichnete sich der ganze Kranz des nördlichen Kirchturms unter dem steilen Helme mit einer Lichterreihe gegen das stirnige Dunkelblau ab. Es waren Fackeln darunter. Zwischen den Lichtern bewegten sich Gestalten.

Die Gäste, die sich noch oben befanden, traten neben Mangold und Ulrich an die Brüstung. Faust blieb im Hintergrund.

Die Lichter über der Lorenzkirche, nachdem sie eine Weile hin und her geschwankt hatten, standen nun still. Man sah die Fackeln schwelen und zuweilen abfallende Pechtropfen, die brennend am Turm entlang hinuntersanken und verlöschten. In der Stadt unten war es reger geworden. Ab und zu gingen Türen, Stimmen, Schritte.

Posaunenklänge hoch und klar vom lichterumkränzten Turm her. Feierlich, streng, silbern melodisch zogen sie über die nächtige Stadt hin. Ein schlichter, uralter Choral. Jetzt schwollen sie stark und hell herüber, jetzt wandten sie sich ab nach Westen, Süden, verloren sich, tauchten auf und zogen wieder heran. Verklangen und begannen aufs Neue, jetzt gedämpft und nur Begleitung zu einem Lied, das von sternklaren Knabenstimmen im Chor gesungen auf ihnen einhergetragen wurde wie ein Engelboot auf himmlischen Wagen.

»Es ist ein Ros entsprungen
aus einer Wurzel zart,
als uns die Alten sungen,
aus Jesse kam die Art,
und hat ein Blümlein bracht
mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.« 412

Die Stadt hielt den Atem an. Die Sterne selbst, funkelnder, schienen zu lauschen.

»Das Röslein, das ich meine,
davon Esaias sagt,
hat uns gebracht alleine
Marie, die reine Magd:
Aus Gottes ewgem Rat
hat sie ein Kind geboren
wohl zu der halben Nacht.«

Stimmen und Klänge verschwebten. Die Sterne glitzerten im eisklaren Dunkelblau.

Jetzt schlug eine Glocke an, flog über die Stadt hin und weckte andere aus ihren hohen Nestern. Fern an den Wällen und mitten über dem Gewirr der Gassen und Giebel hoben sie ihre Stimmen, dunkle und helle, tiefe, erzschwere und leichte, silberfrohe. Sie dröhnten, klangen durcheinander, strömten zusammen in vollem Chor. Gewaltig sang die Stadt die urfröhliche Märe vom lichten Gotteswunder der Winternacht ins schneedämmernde Land, ins ungeheure, funkelnde, strahlende Sterngewölb hinaus.

Mangold neigte sich Hutten zu: »Ich geh,« flüsterte er. Und rasch war er durch die dunkle Öffnung der Türlucke hinabgetaucht. Ulrich folgte ihm.

Unten in der Zauberküche war es finster. Sie durchschritten hastig die Bibliothek. Der Rabbi saß dort bei den herabgebrannten Kerzen vereinsamt am Tisch, das greise Haupt gedankenschwer in die Hand gestützt. Er schien zu leiden.

Im Saal war Geplauder und Lachen um den Tisch, der mittlerweile gedeckt worden war und voller Speisen und dampfender Getränke stand. Abseits im Erker lehnte die schlanke, blonde Frau mit weggewendetem Antlitz. Die beiden eilten hindurch in den Vorraum.

»Wohin gehst du,« fragte Ulrich.

»Nach Sankt Sebald in die Christmette,« erwiderte Mangold, indem er Schwert, Hut und Mantel nahm. »Komm mit.«

Ulrich schüttelte den Kopf und warf auch den Mantel über.

»Und wohin dann willst du?«

»Zu Weibern.« 413

»In dieser Nacht?«

»Sie werden um so mehr Zeit für mich haben.«

»Ulrich!«

»Dies Weib will mich halten. Soll ich sie zerstören?«

Mangold nachdenklich: »Das ist's? – Bleib. – Gott ist in aller Liebe. Vielleicht ward sie gesandt, dich zu retten.«

Ulrich, ihm mit flackernden Augen ins Gesicht blickend: »Ritter Einfalt, du bist weiser als sie alle.«

Er warf den Mantel ab und ging in den Saal zurück.

Mangold wandte sich dem Gang zu. Da fiel ihm ein, daß das Haus verschlossen sein könnte. Er kehrte um und klopfte an eine Tür. Wagner öffnete und streckte verstört den Kopf heraus. Mangold bat, ihm hinabzuleuchten und aufzuschließen. Der Famulus starrte ihn entgeistert an, zog den Kopf zurück, lehnte die Tür zu und räumte drinnen umher. Dann erschien er mit Licht und Schlüsselbund und verschloß die Türe zu seiner Kammer sorgfältig. Durch den Spalt hatte Mangold gesehen, daß die enge Stube mit Büchern und allerlei gelehrtem Zeug vollgekramt war. Der Diener des Magiers schien eben experimentiert zu haben. Wie er nun mit seinem traurigen Pudelgesicht schweigsam neben ihm herschritt, tat er ihm leid.

»Wie lange wohnt der Doktor schon hier?« fragte er.

»Es mag bald ein Jahr sein,« versetzte der Diener.

»Und wird er noch lange bleiben?«

Wagner seufzend: »Weiß – wer weiß das?«

Und nach einer Weile halb murmelnd: »Wie lang mag's überhaupt noch dauern . . .«

Sie gingen die Wendeltreppe hinab, kamen an den dunklen Gängen, an dem Stein mit der Inschrift, den Warenballen und Karren vorüber.

Der Famulus öffnete das Tor. »Ihr habt kein Licht,« sagte er. Und jetzt hinaussehend: »Aber es gehn schon viel Leute auf der Straße. Da könnt Ihr Euch hinter denen halten.«

Mangold griff ins Täschchen und zog ein Geldstück hervor. Der Mann verneigte sich: »Schön Dank,« sagte er, »daran fehlt es nicht.« Und wieder seufzte er tief.

»Nun, so lebt wohl,« sprach Mangold hinaustretend.

Der Diener: »Ach, ja,« Er sah mit seinen scheuen 414 Hundeaugen sehnsüchtig zu den Sternen auf. »Ich wünsch Euch ein schönes Fest.« Er schloß die Türe.

Auf der Straße, in die das Sackgäßchen mündete, war Leben wie am Tage. Die Leute zogen mit Fackeln und Windlichtern zur Kirche.

»Fröhliche Weihnachten!« riefen sie sich zu.

Mangold schloß sich einer Familie an, deren Oberhaupt, ein Handwerksmeister von breiter Gestalt mit langem Bart, eine Fackel tragend, vorausging.

»Seht ihr wohl auch alle gut?« sprach der Mann, sich nach Weib und Kind umsehend. »Kommt nur neben mich, Junker, die Straß ist gar schlecht.«

»Woher wißt Ihr, daß ich ein Junker bin?« fragte Mangold erstaunt.

Der Mann sah ihn mit klugen Augen lustig an und lachte: »Ei, woran Ihr den Ritter seht? Da guckt nur, wie er spornstreichs geht! – Kenn doch an den Füßen, wie er sie setzt, das Gewerb, das ein jeder hat. Und solch einen Fuß hat auch kein Stalltölpel.«

Sie redeten noch mancherlei und Mangold fielen die pfiffigen und weisen Sprüche auf, die der freundliche Meister sagte.

Vor der Sebalduskirche war Gedränge. Sie mußten eine Weile still stehen. »Fröhliche Weihnachten, Meister Peter!« rief der Handwerker einem von der Seite Ankommenden zu.

Der, ein kräftiger Mann mit grauem Bart, wandte sich, erkannte den Rufer und sprach:

»Fröhliche Weihnachten, Hans Sachs!«

Der Strom der Kirchgänger faßte sie und zog sie ins Portal. 415

 


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