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Auf dem weit hinauslaufenden Seestege des großen und eleganten Ostseebades Z. war der gewohnte Korso des Spätnachmittags. Der wolkenlose Julitag hatte Scharen von Besuchern aus dem benachbarten D. herausgelockt, die mit den. zahlreichen Badegästen zu einem bunten Haufen gemischt in zwei mächtigen Strömen auf dem breiten Stege aneinander vorüberfluteten. Wie aus einem unerschöpflichen Bassin ergoß sich aus dem Gewimmel des Kurgartens die eine Strömung nachlassend bald, bald anschwellend, aber nie ganz unterbrochen, hinaus bis an die äußerste Rampe der hölzernen Landungsbrücke, wo buntbewimpelte Masten sich auf der leise klatschenden Flut schaukelten. Auf der anderen Seite zog ebenso unerschöpflich und unaufhörlich die umgekehrte Strömung wieder zurück in das gastlich wartende Becken des Kurgartens, aus dessen Tiefen die Klänge der beiden einander ablösenden Musikkapellen schmeichelnd und aufpeitschend hinaus auf den Steg und weit über den glitzernden Wasserspiegel zogen.
Ein kräftiger Ost hatte tagsüber geweht und auf den tiefblauen Wassern kleine weiße Schaumkränze gekräuselt. Jetzt, gegen Abend, war es stiller und weicher geworden, und nur die würzige Salzluft, die die Lungen atmeten, kündete von unermessenen Weiten, über die der Seewind sie hergetragen.
Auf einer Bank in einer von den eingebauten Nischen des Steges saßen der Sanitätsrat Petersen und der Oberstleutnant Breithaupt, beide aus D., und sahen dem ununterbrochenen Hin- und Herfluten der beiden Menschenströme mit Interesse zu. Schwarzäugige polnische Schönheiten, mit leicht schattierter Oberlippe, kokette Husarenoffiziere, russische Juden mit Ringellöckchen und weisheitsgebeugten Rücken, kichernde Backfische, verfolgt von Arm in Arm eingehängten Gymnasiasten, schwer auftretende Gutsbesitzer mit ihren hochgewachsenen Frauen, windige Fähnriche, zu dreien oder vieren nebeneinander, alte, längst aus der Mode gekommene Damen mit bebänderten Kapotthüten, in eifrigem Gezischel und Getuschel, junge Assessoren von militärischer Haltung, würdige Oberlehrer mit schiefgetretenen Absätzen und zerknitterten Hosen, und rechts und links, davor und dahinter, die Legion der Unauffälligen, Unerkenntlichen, Neutralen ... Ein Kommen und Gehen, Schieben, Drängen, Stoßen, ein Aufblitzen und Verschwinden.
»Alle Wetter!« meinte kopfschüttelnd der Oberstleutnant, ein mittelgroßer, eleganter Vierziger, den das militärische Handwerk schlank und sehnig erhalten hatte. »Wie sich das hier herausgemacht hat, das Badeleben, in den fast zwanzig Jahren, die man draußen war! Kaum wiederzuerkennen!«
Der Sanitätsrat strich sich nachdenklich das bartlose, fast viereckige Kinn. Er war groß, breitschultrig, mit starken Backenknochen, tiefliegenden Augen und weitausholenden, langen Armen. Das breite, glattrasierte Gesicht in der Art eines englischen Reverend trug die unbestimmte Spätsommerfärbung der Jahre um die Fünfzig herum.
»Ja, unsereiner hat das hier wachsen und werden sehen,« nickte er. »Und doch, an einem Tage wie heute, vor diesem Menschengewimmel, komme ich selbst nicht aus dem Wundern heraus, wie sich das alles so schnell, so ... so pilzartig, so amerikanisch hat entwickeln können. Die Welt ist überhaupt voller Wunder. Man muß sie nur zu sehen verstehen.«
Petersen schwieg und strich sich wieder das tief auf die Brust gesunkene Kinn. Seine Redeweise hatte etwas Schweres, Langsames, Ruckweises. Man fühlte sich an eine Lokomotive erinnert, deren Kolben sich soeben in Bewegung setzen und fast noch unsicher auszugreifen beginnen.
Plötzlich stand er auf und zog in seiner linearen Art den Hut. Der Oberstleutnant grüßte militärisch mit. Das etwas ungleiche Ehepaar, dem der Gruß gegolten hatte, dankte und schwamm langsam im Strom vorüber. Es war ein langer, hagerer, vornüber gebeugter, greiser Herr, dem der eisgraue, überhängende Schnauzbart etwas von einem alten Offizier gab. Im Gegensatz zu seiner mühsam gehaltenen Hinfälligkeit schien die große, schöne, üppig brünette Frau an seiner Seite noch auf der Mittsommerhöhe des Lebens. Nur das tiefschwarze, fast bläulich getönte Haar schimmerte jetzt von rückwärts, wie die Abendsonne darauf fiel, in einer diskreten silbernen Schattierung. Aber der hochhüftige, wiegende Gang und der jugendlich ebenmäßige, wenn auch volle Wuchs schienen die leise mahnenden Herbstzeichen Lügen zu strafen.
»Wer war das doch?« fragte der Oberstleutnant und runzelte die Stirn, wie jemand, der nach etwas Vergessenem ganz hinten in der Bodenkammer der Erinnerungen sucht. »Die Herrschaften müßt' ich doch ... Ja, ja, die zwanzig Jahre! Die zwanzig Jahre! Verdammt noch eins!«
»Wer das war?« wiederholte der Sanitätsrat und zog die Mundwinkel herunter, so daß man das mächtige Raubtiergebiß hervortreten sah. »Rittergutsbesitzer Major von Faber war das, mein lieber Oberstleutnant, und die nicht mehr junge, aber immer noch schöne und äußerst begehrenswerte Dame an seiner Seite war natürlich seine Frau. «
»Natürlich?« lächelte der Oberstleutnant. »Na, grade natürlich? ... Es muß doch ein hübscher Altersunterschied ...?«
Petersen legte bedächtig seine Hand auf Breithaupts Arm. »Insofern natürlich, als es eben seine zweite Frau ist. Die erste ist schon vor fast einem Menschenalter gestorben.«
»Von Faber? Von Faber?« überlegte der Oberstleutnant und schien wieder zu suchen.
Der Sanitätsrat holte mit einer weiten Armbewegung aus und rundete vorkostend die Sätze.
»So sieht man die Tragödien an sich vorüberwandeln. Es fehlen nur leider die Dichter, die sie nach dem richtigen Rezept zu schreiben verstehen. Der Fall da gehört auch zu dem Kapitel von dem Wunderbaren und Absonderlichen, von dem die Welt voll ist. Man braucht sich nur die richtige Brille aufzusetzen.«
Breithaupt hatte nur halb zugehört. Irgendwo schien ihm irgend etwas aufzublitzen.
»Faber! Faber!« rief er lebhaft. »Da hatten wir mal einen Leutnant von Faber bei den Zweiten Husaren. Es war so ungefähr meine Jahresklasse. Und ja, richtig ... das wären dann wohl der Onkel und die Tante? Gekannt hab' ich sie mal. Toll, wie man herauskommt! Geradezu toll! ... Wo ist eigentlich der junge Faber hingeraten?«
Der Oberstleutnant unterbrach sich selbst und schlug sich lachend aufs Knie.
»Jung! Jung! Der muß genau so ein alter Knasterbart sein wie unsereins. Aber natürlich, bei sich selbst zählt man mit. Die andern, die einem verschwunden sind, bleiben jung.«
»Verschwunden ist das richtige Wort,« sagte der Sanitätsrat und nickte mehrere Male bedeutsam vor sich hin. »Er ist nämlich wirklich verschwunden! ... Verschwunden in des Wortes vollster Bedeutung! Ausgetilgt und fort! Wie man ein Licht ausbläst! Spurlos fort! Über Nacht! Ein Mensch sollte eigentlich gar nicht so verschwinden können! Und doch ist es geschehen! Das Leben hat es möglich gemacht. Auch das scheinbar Unmögliche, daß Menschen plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwinden.«
»Was heißt das?« fragte der Oberstleutnant mit offenem Munde. »Verschwunden? Regulär verschwunden, der junge Leutnant von Faber?«
»Verschwunden! Wirklich und wahrhaftig und definitiv verschwunden! Denn daß jetzt nach zwanzig Jahren sich noch eine Spur von ihm vorfinden sollte, ist doch kaum mehr anzunehmen. Es bleibt also dabei, hier ist ein junger, gesunder, lebensfroher ... vielleicht zu lebensfreudiger Mensch wie durch eine unsichtbare Versenkung in einen unergründlichen Schacht oder in ein unten durchfließendes, reißendes Wasser gefallen und nie mehr wieder zum Vorschein gekommen. Ist das nicht eine Tragödie nach allen Rezepten, mein lieber Oberstleutnant?«
»Es kommt nur darauf an, für wen,« meinte dieser nachdenklich. »Ob für den Verschwundenen selbst oder auch noch für andere, dritte Personen!«
»Ja, das ist die Frage,« nickte Petersen und richtete seinen Blick über die beiden aneinander vorüberflutenden Menschenströme hinweg auf die blaue Weite der See. »Das ist die Frage! Es könnte ja eine Tragödie für ... für alle Teile gewesen sein. Aber da liegt vielleicht der Schleier, der nicht gelüftet sein will.«
Oberstleutnant Breithaupt sann einen Augenblick vor sich hin.
»Das muß geschehen sein, als ich schon im Westen stand. Sonst wäre es mir doch kaum entgangen. Vielleicht war es im Manöver, wo man keine Zeitungen liest?«
»Allerdings! An einem Manövertag, hier oben auf der Höhe! In Groß-Prangschin! So heißt das Gut des Onkels, des Majors von Faber ... Da kommt er ja gerade zurück, der alte Herr, mit seiner schönen Frau! Doch schon recht klapprig geworden, der gute Major! Und was war das mal für ein Eisenfresser vor jenen zwanzig, dreißig Jahren!«
»Ja, ich erinnere mich, erinnere mich,« murmelte der Oberstleutnant.
Petersen strich sich die faltigen Wangen, so daß die Backenknochen noch stärker als sonst hervortraten.
»Aber die Zeit wird auch mit den Eisenfressern fertig,« fuhr er fort. »Neugierig bin ich nur, wann sie mal an die Reihe kommt. Man sieht ihr ihre zweiundvierzig wahrhaftig nicht an! ... Wären Sie nicht auch noch imstande, für solch ein Weib Dummheiten zu machen, mein lieber Oberstleutnant?«
Er hatte sich seitwärts weit zurückgelehnt und warf dem neben ihm Sitzenden einen schalkhaft blinzelnden Blick aus seinen tiefen Augenhöhlen zu. Breithaupt lächelte und zuckte mit den Achseln.
»Jedenfalls scheint sie den Teufel im Leibe zu haben.«
»Und jetzt stellen Sie sich vor,« fiel der Sanitätsrat ein, »stellen Sie sich vor, was die mit zwanzig Jahren ... Halt! Halt!« unterbrach er sich selbst. »Wir haben Glück. Die Tragödie rundet sich zum Ganzen. Da! Sehen Sie hin!«
Des Oberstleutnants Augen folgten unwillkürlich der Blickrichtung seines Nachbarn in die vorübertreibende Menge, wo soeben ein untersetzter, dunkel gekleideter Herr, in mittleren Jahren, tief seinen Zylinder vor dem ihm begegnenden Faberschen Ehepaar zog. Der Major dankte höflich. Frau von Faber erwiderte mit einer kaum sichtbaren Kopfneigung. Dann hatten Strom und Gegenstrom sie getrennt.
»Das ist der Geheime Regierungsrat Stubenrauch, der die beiden da eben grüßte,« erklärte Petersen auf Breithaupts fragende Gebärde.
»Regierungsrat?« meinte dieser erstaunt. »Den hätt' ich, weiß Gott, für einen Schulmeister gehalten!«
»Nicht übel diagnostiziert,« lachte Petersen in seiner breiten Art. »Er ist nämlich wirklich früher Schulmeister gewesen, ist aber dann durch verschiedene politische und soziale Schriften zur Regierung hinübergekommen. Er hat eine glänzende Karriere hinter sich und, wie es heißt, auch vor sich. Unter uns gesagt, ein gefährlicher Streber vor dem Herrn!«
»Und was hat Herr Stubenrauch mit der Tragödie des jungen Faber zu tun?« fragte der Oberstleutnant und sah dem dunkel gekleideten Herrn nach, dessen Zylinder sich durch die Menge dahinschlängelte,
»Er war Hauslehrer im Faberschen Hause, als die Geschichte passierte. Als Leutnant von Faber in einer Septembernacht verschwand.«
»Und weiter?«
Der Sanitätsrat schwieg einen Augenblick. Dann beugte er sich vor und sagte, mit einem merkwürdigen Ausdruck von Verschlossenheit auf dem faltigen, ausgearbeiteten Gesicht:
»Nichts weiter, Herr Oberstleutnant! Ich erwähnte die Person des Herrn ... Herrn Regierungsrats Stubenrauch nur sozusagen zur Abrundung des ganzen Bildes. Zur Vervollständigung des Personenverzeichnisses besagter Tragödie. Er war eben mit dabei. Er war Augenzeuge. Weiter nichts!«
Der Oberstleutnant sah seinen Nachbar von der Seite an.
»Doch nicht etwa ... etwa ...?«
»Ein kleiner Mord! meinen Sie?« fiel dieser ein. »Nein! Nein! Ganz ausgeschlossen! In dieser Beziehung ist alles geschehen, um einen Zweifel auszuschließen. Leutnant von Faber ist auf keinen Fall ermordet worden. Er ist nur einfach verschwunden.«
»Einfach verschwunden!« wiederholte Breithaupt und lachte kurz auf. »Sehr einfach das! ... Und sagen Sie, Doktor, wie sind Sie denn zu der ganzen Geschichte gekommen?«
Der Sanitätsrat erhob sich langsam von der Bank.
»Ich war damals junger Arzt hier in der Kreisstadt, zu der Groß-Prangschin gehört. Am Tage nach dem Verschwinden des Leutnants von Faber wurde ich Hals über Kopf gerufen, weil die Dame des Hauses, Frau Major von Faber, die angeheiratete Tante, wie gesagt, des Verschwundenen, von einem plötzlichen Nervenfieber befallen war.«
»Ah so!« warf Breithaupt hin und erhob sich ebenfalls.
»Ja, der Schreck! Die Aufregung! Sehr begreiflich!« sagte Petersen und strich das Kinn.
»Sehr begreiflich!« wiederholte der Oberstleutnant.
»Und jetzt, denke ich, gondeln wir langsam zu unserm Grog,« meinte der Sanitätsrat. »Der Abend wird kühl.«
»Ja, man muß die Seeluft nach Möglichkeit konterkarieren,« bestätigte der Oberstleutnant.
Langsam ließen sich die beiden von der Woge des Menschenstroms den schluchzenden Violinen des Kurgartens entgegentreiben.
Ungefähr acht Wochen später saß Sanitätsrat Petersen dem Geheimrat Stubenrauch in dessen etwas düster eingerichtetem Arbeitszimmer gegenüber. Es war ein Septemberabend, und auf dem Arbeitstisch, der trotz der aufgeschichteten Bücher, Papiere, Broschüren, Aktenstücke eine sorgfältige Ordnung zeigte, brannte die Petroleumlampe. Stubenrauch hatte den grünen Halbschirm zu sich gedreht, so daß man die hohe Stirn mit den zurücktretenden und glatt nach hinten gekämmten Haaren, die Brillengläser vor den forschenden Augen und den buschigen Schnurrbart nur undeutlich erkannte und alles Licht auf den ihm gegenübersitzenden Sanitätsrat fiel.
»Also keine besondere Gefahr, Herr Geheimrat,« sagte Petersen und rückte mit seinem Sessel etwas aus dem Lichtschein der Lampe. »Schlaflosigkeit, nervöse Überreizung! Hier habe ich Ihnen das Pulver aufgeschrieben. Es wird seine Schuldigkeit tun!«
Er reichte Stubenrauch das Rezept über den Tisch.
»Aber bitte, genau nach Vorschrift! Mit Morphium ist nicht zu spaßen. Der Schlaf könnte sonst etwas tief und reichlich werden «
»Wäre das so zu bedauern?« klang die Stimme des Geheimrats herüber.
Petersen richtete sich mit einem Ruck in seinem Sessel auf.
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Geheimrat.«
»Sie wundern sich wohl, daß ich gerade Sie konsultiere, Herr Sanitätsrat,« klang es wieder aus dem Halbdunkel her.
»Ich pflege mich nur noch als Mensch zu wundern, aber längst nicht mehr als Arzt.«
»Es ist lange her, seit wir beide miteinander zu tun gehabt haben, Doktor Petersen,« kam wieder die Stimme. »Gesehen haben wir uns ja wohl öfters. Erst unlängst, beim Begräbnis des Majors! Wie fanden Sie die trauernde Witwe?«
Petersen erhob sich.
»Ich glaube, wir brechen das Gespräch ab, Herr Geheimrat.«
Auch dieser war aufgestanden und einen Schritt vorgetreten. Die beiden Männer waren einander zu beiden Seiten des Tisches aufrecht gegenüber.
»Doktor Petersen!« sagte der Geheimrat und funkelte den andern mit seinen Brillengläsern an. »Seit zwanzig Jahren werde ich den Gedanken nicht los, daß Sie etwas wissen, was niemand hier wissen dürfte, wenn noch Ehre in der Welt wäre! Bei dem Begräbnis vor vier Wochen ist mir der Gedanke zur Wahrscheinlichkeit, heute, hier, zur Gewißheit geworden.«
Der Sanitätsrat runzelte die Stirn und zog die Mundwinkel herunter.
»Keine Sorge deshalb!« erwiderte er trocken. »Ich bin ja Arzt und als solcher gewöhnt, Sachen für mich zu behalten. So schwer es auch manchmal fallen mag.«
Stubenrauch schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Lampenglocke klirrte.
»Der nichtswürdige Bursche hat also wirklich sein heiliges Ehrenwort gebrochen! Hat es offenbar noch in derselben Nacht gebrochen, wo er es mir gegeben hat! Das nennt man Offiziersparole!«
»Sie verwechseln die Rollen, wie mir scheint, Herr Stubenrauch,« entgegnete der Sanitätsrat, und sein Ton klang kalt wie Stahl. »Wenn hier einer schuldig zu sprechen ist, so ist es sicher nicht der junge, leichtsinnige Mensch, der seine Unüberlegtheit schlimmer als mit dem Tode gebüßt hat! Mit Vernichtung bei lebendigem Leibe! Der für seine Verirrung ausgestrichen worden ist aus der Menschheit! Ausgestrichen wenigstens aus der Menschheit, die für ihn die Menschheit überhaupt war! Wer das auf seinem Kerbholz hat, sollte mit dem Wort Ehre vorsichtig umgehen.«
Stubenrauch war aufgefahren. Einen Augenblick schien es, als wolle er sich mit geballten Fäusten auf den andern stürzen, der, ruhig, groß und breit aufgepflanzt, vor ihm stand. Aber dann kam die Besinnung wieder. Er ließ die geballte Faust schwer auf die Tischplatte fallen und lachte bitter auf.
»Unüberlegtheit?! Verirrung?! Sonst nichts?! Sie stehen also auch auf dem höchst modernen Standpunkt, daß man das Recht hat, das Weib des Mannes, dem man alles verdankt, einfach für sich zu nehmen, wenn einen die Lust so anwandelt? Und noch dazu im eigenen Hause seines Wohltäters! Denn das war der alte Faber für seinen Neffen! Alles hatte ihm der Junge zu danken! Seine Erziehung! Seine Stellung im Leben! Seine ganze Existenz! Alles! Alles! Und zum Lohn dafür stiehlt ihm der zügellose Lump sein Weib! Seine junge, schöne Frau, zu der andere kaum von weitem aufzublicken wagten! Stiehlt sie ihm mit kaltem Blute fort! Zieht sie in den Sumpf seiner eigenen Libertinage! Macht eine Frau, die als eine Göttin hätte dastehen können, genau so niedrig und gemein, wie der ganze Bursche selber war! Das ist es, wofür es keine Verzeihung gibt! Daß er noch ein anderes Wesen mit sich hinuntergerissen hat, daß er ein holdes, unvergleichliches Menschenbild für immer in den Schmutz getreten hat! Dafür hat er bezahlen müssen! Dafür hab' ich ihm Vernichtung zudiktiert! Und zwar mit Rech!! Vor Gott und Menschen mit Recht! Daran werde ich bis zu meinem letzten Atemzuge festhalten!«
Stubenrauch hatte die Sätze in leidenschaftlicher Erregung herausgestoßen. Es war, als sei die dichte Lavadecke, die diesen Vulkan so viele Jahre verschlossen hatte, mit einem Ruck gesprengt, und wie Feuerkugeln prasselten die Worte aus dem geöffneten Abgrund.
Der Sanitätsrat hatte mehrere Male vergebens versucht, sich in dem Sturm Gehör zu verschaffen. Jetzt legte er dem andern, der, mühsam atmend, fast keuchend, mit schweißbedeckter Stirn dastand, seine schwere Hand auf den Arm.
»Wer sagt Ihnen denn, daß Frau von Faber und ihr Neffe in einem sträflichen Verhältnis standen? Sie kannten sich seit ihrer Kinderzeit. Es war eine Liebelei. Vielleicht nicht gerade so ganz unschuldiger Art, aber sicher auch nicht über die letzten Grenzen hinaus!«
»Es war keine Liebelei!« schrie Stubenrauch, und schlug von neuem auf den Tisch. »Haben Sie sich auch beschwatzen lassen? Jetzt merk' ich doch, woher Sie Ihre Weisheit bezogen haben! Ich kenne die Melodie und ich kenne auch die Begleitung! Ja, darin war sie von jeher groß, Menschenherzen zu betören! Haben Sie sich das glücklich von ihr aufschwatzen lassen?«
»Darüber bin ich Ihnen keine Auskunft schuldig, Herr Stubenrauch,« entgegnete der Sanitätsrat und zog wieder die Mundwinkel herunter. »Jedenfalls war es nach meiner Kenntnis eine Liebelei und weiter nichts.«
»Es war keine Liebelei! Es war ein glatter, aufgelegter, nichtswürdiger, fortgesetzter Ehebruch! Das war es! Der kleine, unbedeutende Hauslehrer hat gut aufzupassen verstanden! Die Herrschaften haben sich in ihrem Größenwahn nicht träumen lassen, daß der Herr Niemand, der sich da im Hause herumdrückte und hochnäsige Rangen einpaukte, daß der so vorzügliche Augen haben könnte!«
Er schwieg einen Augenblick und tupfte sich mit dem Taschentuch die glühende Stirn. Dann deutete er auf eine alte, grün verschossene Mappe, die neben den Büchern und Akten auf dem Tisch lag.
»Da! Da! Da! ... Es ist alles niedergelegt und aufgezeichnet! Alle die schwülen Stelldichein nachmittags in der Fliederlaube, mit denen es anfing, und alle die nächtlichen Ausflüge der gnädigen Frau über den Gang hinüber, mit denen es aufhörte und die das Maß voll machten! Oh, es hat mich manche Nacht gekostet, so oft der Herr Leutnant zu Besuch im Hause war! Aber dafür hat es sich auch gelohnt! Die Hälfte von dem Material da hätte genügt! ... Oder glauben Sie vielleicht, als ich dem hochnäsigen Junker in der Entscheidungsnacht gegenüber stand, so wie wir beide uns hier gegenüber stehen, ich hätte ihn mit leeren Redensarten in die Knie gezwungen? Wenn ich Gericht halten wollte über den Burschen, mußt' ich Beweise haben, wie sich's vor Gericht gehört! Und die hab' ich gehabt! Mehr als genug!«
Stubenrauch machte ein paar kurze Schritte, wie um Atem zu schöpfen. Dann trat er dicht zu Petersen, der sich mit den Handknöcheln auf die Tischplatte stützte und mit gesenktem Kopf vor sich hinsann.
»Wie haben Sie das vorher genannt?« sagte er. »Ich hab' ihn aus der Menschheit ausgestrichen! Aus seiner Welt und aus seiner Menschheit! Ja, das ist richtig! Aber meinen Sie etwa, jemand ließe sich das gutwillig gefallen, wenn ihm noch etwas anderes übrigbleibt? ... Zwei Wege standen ihm offen, denn der dritte war selbst für einen Menschen, wie er, ungangbar.«
Der Sanitätsrat hatte die Hand an die Stirne gelegt. »Welches war denn der dritte?« fragte er nach einem Augenblick fast wie zerstreut.
»Der hätte ihn am folgenden Morgen in das Wäldchen beim Schloß gegen seinen väterlichen Wohltäter geführt, die Pistole in der Hand!«
»Und Sie hätten die nötige Anzeige bei dem Major gemacht? ... Sie?! ... Nicht wahr?« warf Petersen ein und wandte sich mit einer verächtlichen Gebärde halb zur Seite.
Der Geheimrat schien seine Ruhe wieder zu haben.
»Ich hätte die Anzeige gemacht,« sagte er schwer und nachdrücklich. »Wenn Sie auch noch so sehr die Nase rümpfen! Der Lüstling mußte fort! Das Haus mußte reingefegt werden von all dem Schmutz! Von all der Sünde!«
»Daß Sie dabei aber auch das Leben des Majors aufs Spiel setzten, wenn es zum Duell kam, das nahmen Sie ruhig auf Ihre Kappe?«
»Das mußte ich wohl! Aber ich vertraute auf den da droben und auf die Stimme in meiner Brust. Der Bursche konnte doch seinem Wohltäter nicht mit der Pistole entgegentreten! Nein, das hätte die Vorsehung nie und nimmer zugelassen! Und sie hat es nicht zugelassen! ... Nur zwei Wege standen dem Jungen offen. Entweder ein Ende zu machen oder zu gehen für immer. Zum ersten war er zu feige. Solche Naturen sind immer feige! Also blieb ihm nichts übrig als das zweite. Und das hab' ich vorausgewußt! Er hat sich selbst bei lebendigem Leibe aus der Menschheit ausgestrichen! Die Strafe hatt' ich mir für ihn ausgedacht! Für ihn und für sie! Und ich glaube, ich habe gerechtes Gericht gehalten!«
Sanitätsrat Petersen legte zwei Finger seiner rechten Hand zwischen die Knöpfe seiner schwarzen Weste und richtete sich in seiner ganzen Höhe und Breite auf. »Und wenn eines Tages einmal Gericht über Sie gehalten wird, Herr Geheimrat Stubenrauch? Was dann?«
Stubenrauch senkte schweigend den Kopf und kreuzte die Arme über der Brust.
»Sie haben Ihrem Opfer den Mund verschlossen,« fuhr Petersen ruhig und gemessen fort. »Sie haben ihm die Schlinge um den Hals geworfen und dabei verlangt, daß es nicht schreien soll. Sehr fein eingefädelt, mein lieber Herr Stubenrauch! Sie haben nur nicht mit der menschlichen Natur gerechnet. Sie haben nicht daran gedacht, daß auch ein Ehrenwort nur eine gesellschaftliche Konvention ist, und daß ein heißblütiger zweiundzwanzigjähriger Mensch im Augenblick, wo alle anderen Konventionen von ihm abfallen sollen, sich auch an die letzte Konvention, an sein Wort, nicht mehr kehren wird.«
»Der eidbrüchige Schuft!« stieß Stubenrauch aus.
»Nein, nein, mein lieber Herr!« sagte Petersen mit einer ruhig abwehrenden Geste. »Sie selbst haben sich über Recht und Konvention hinweggesetzt, als Sie sich in Ihrer Selbstherrlichkeit vermaßen, über einen anderen Gericht zu halten! Also wundern Sie sich auch nicht, wenn es der andere ebenso gemacht hat und sich in seiner Herzensnot noch einmal zu der Frau geschlichen hat, von der er sich für immer losreißen sollte! Seinem Wort zum Trotz hingeschlichen hat! Wundern Sie sich gefälligst nicht!«
Petersen schwieg ein paar Augenblicke und schien wie zu einem letzten zusammenfassenden Resümee auszuholen, während der andere noch immer mit gekreuzten Armen vor ihm stand, ein leises spöttisches Lächeln auf den Lippen.
»Und was hätten Sie gesagt, mein lieber Herr Stubenrauch, wenn eines Tages der Verschollene wieder aufgetaucht wäre, vielleicht jetzt noch auftauchen würde, oder wenn nun nach dem Tode des Mannes, wo es keine Rücksichten mehr für sie gibt, etwa Frau von Faber den Mund auftun würde? Könnte es nicht ein sehr merkwürdiges Licht auf den Geheimrat Stubenrauch werfen, wenn die Welt erführe, wie sich einmal der Herr Hauslehrer Stubenrauch eines glücklichen Nebenbuhlers entledigt hat?«
Stubenrauch durchzuckte es. Er machte eine heftige Bewegung mit den Armen, wie jemand, der im Schlaf einen Alp von sich zu wälzen sucht.
»Das Wort lehne ich ab! Ich stehe rein da vor meinem Gott! Ich habe aus Pflichtbewußtsein gehandelt! Aus keinem anderen Grunde!«
»Nur die Frage, ob Ihnen die Welt das glauben wird, wenn einmal die Beteiligten zu sprechen anfangen! Nicht ich! Aber die, die es angeht! ... An die Möglichkeit haben Sie wohl noch nie gedacht, Herr Geheimrat Stubenrauch?«
»Sie unterschätzen meine Menschenkenntnis, Herr Doktor Petersen,« antwortete Stubenrauch und sein Gesicht bekam im Widerschein der Petroleumlampe einen merkwürdig wächsernen Ausdruck. »Ich habe im selben Augenblick gewußt, wo ich Viktor von Faber sein Ehrenwort abnahm, spurlos und schweigend zu verschwinden, ich habe gewußt, daß er sein Wort über kurz oder lang einmal brechen würde. Ich habe mit der absoluten Sicherheit gerechnet, daß von ihrer oder von seiner Seite bestimmt einmal der Gegenschlag kommen würde. Aber das hat mich nicht abgehalten, meine heilige Pflicht zu tun. Ja, das Bewußtsein hat mir mein Leben erst wirklich wertvoll und kostbar gemacht, hat mich jede Stunde, die ich dem unvermeidlichen Schicksal abgewann, als einen doppelten, dreifachen, unentreißbaren Besitz genießen lassen. Vielleicht habe ich meine ganze, nicht unbedeutende Laufbahn nur unter dem Druck dieser Voraussicht gemacht, denn ich habe gewußt, daß meine Zeit knapp sein würde, und daß ich mich mit meinem Tagewerk beeilen müßte, um vor dem da droben nicht mit leeren Händen dazustehen.«
Er atmete einmal tief auf und legte die Hände an die Brust. »Seit zwanzig Jahren sitze ich auf dem Pulverfaß und warte auf den Augenblick, wo die brennende Lunte so weit sein wird. Jedesmal, wenn es an der Türe da klopft, richte ich mich auf und erwarte, daß das Schicksal hereintreten wird. Auch vor einer Stunde wieder, als Sie kamen. Und doch wußte ich, daß Sie es waren, denn ich hatte Sie ja hergebeten. Sie sehen, ich bin auf alles gefaßt.«
Der Sanitätsrat hatte in seltsamer Bewegung zugehört. Vor seinen Blicken schien die gedrungene Gestalt des anderen zu wachsen. Jetzt faßte er ihn fest ins Auge.
»Und wenn nun wirklich einmal die Türe da sich öffnet und das Schicksal tritt herein, um abzurechnen, was dann, Herr Geheimrat Stubenrauch?«
»Dafür hab' ich ein letztes und untrügliches Rezept,« erwiderte Stubenrauch, nahm langsam das Papier mit der Verordnung, das der Arzt auf den Tisch gelegt hatte, und steckte es in die Brusttasche.
Petersen machte erregt einen Schritt auf ihn zu.
»Herr ...?! Dazuhaben Sie mich ...?! Sie sind ein ...!«
Er verschluckte den Satz und wandte sich heftig ab.
Stubenrauch stand ruhig und abwartend da. Seine Worte klangen kalt und sicher.
»Meinen Sie, ich soll mit ansehen, wie die beiden sich womöglich noch zusammenfinden, jetzt, wo der Platz frei geworden ist?! Ich soll mit ansehen, wie das Verbrechen von einst am Ende noch legalisiert und standesamtlich abgestempelt wird?! ... Nein, nein, ich habe gewußt, warum ich Sie hergebeten habe, Herr Doktor Petersen!«
Der Sanitätsrat schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und lachte kurz auf.
»Sie haben eine verdammt ironische Art, Witze zu machen, Herr Geheimrat Stubenrauch! So wie Sie dem jungen Windhund einmal das Rezept geschrieben haben, so lassen Sie es sich jetzt von mir ausstellen! ... Haben Sie die Menschen immer so als Schachfiguren hin und her geschoben?!
»Vielleicht!«
»Und wie wollen Sie das ... das Rezept vor Ihrer Vorsehung da oben verantworten?«
»Das ist meine Sache!« antwortete der Geheimrat kurz und wandte sich weg.
Petersen warf einen langen Blick auf den einsilbig gewordenen Mann, auf den die hohen Bücherregale ringsum an den Wänden ernst und schweigend heruntersahen. »Sie sind ein merkwürdiger Mensch! Schade, daß wir einander vorübergegangen sind! ... Aber glauben Sie, daß die Welt für Ihren sonderbaren Heroismus Verständnis besitzen wird?«
Stubenrauch gab keine Antwort.
Sanitätsrat Petersen verneigte sich und ging langsam durch das Zimmer. An der Tür wandte er sich noch einmal um und nahm mit einem letzten Blick den verschlossen dastehenden Mann in sich auf. Dann öffnete er die Tür und ging hinaus.