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Doktor Sieverings Heimfahrt

Der Schnellzug, mit dem Doktor Sievering, der Syndikus einer großen rheinischen Industriegesellschaft, nach dem Nordosten fuhr, war schwach besetzt. Zwei Damen in Trauer, eine ältere und eine junge, hatten Sievering stundenlang gegenüber gesessen und vor sich hingestarrt, nur zuweilen ganz leise miteinander geflüstert, ohne aufzusehen oder ihm einen Blick zuzuwerfen. Dann waren sie lautlos und schattenhaft verschwunden, wie sie erschienen waren. Wann und wo, wußte Sievering eigentlich selbst nicht. Er hatte geschlafen oder gedämmert, eingelullt von dem unermüdlichen Zweiklang der Räder.

Später hatte ein großer, breitschultriger Herr in Jagdjoppe und Pelzmütze sich vor ihn hingepflanzt. Er hatte den Doppelstutzen aufrecht zwischen die Knie gestemmt und wirbelte dicke, graue Rauchwolken aus seiner kurzen Jägerpfeife in die Luft. Dazwischen tiefe Schlucke aus der Feldflasche, die ihm auf den riesigen Brustkasten herunterbaumelte, und ein paar dröhnende Worte hinüber zu Sievering, über die hundemäßige Kälte der letzten Nacht. Sievering hatte mit stummem Kopfnicken den gebotenen Ball zurückgegeben, und die Rädermelodie war ungestört und einförmig weitergeflossen.

Nach einer Stunde ein kurzes Halten an einem kleinen Bahnhof, der verloren in weiter Schneeeinsamkeit dastand. Der Jagdpächter oder Gutsbesitzer hatte militärisch gegrüßt und war mit seinem Gewehr und seiner Feldflasche hinausgestampft. Der stählerne Zwiegesang der Schienen und Räder hatte wieder eingesetzt.

Verschlafen blinzelte der trübe Novembernachmittag in das einsame Coupé. Sievering sah in die bleiche Winterwelt hinaus, durch die der Schnellzug weiter und weiter nach Nordosten jagte. Ein braunes, welliges Heideland, von einer kargen, zerschlissenen Schneedecke ärmlich überzogen. Schwarze Kiefernkuppen schwangen sich drohend wie Granitfelsen gegen ein wildzerrissenes Wolkenmeer am Horizont. Hier und da tauchte inmitten windschiefer Dächer ein spitzer Kirchturm auf und verschwand im Fluge. Ein fahles Nordlandlicht war über dem allen ausgegossen.

Sievering blickte unverwandt hinaus, die Augen auf die Scheiben geheftet. Allmählich schien er sich selbst stillzustehen, indes die Bilder da draußen fiebernd schnell vorüberzogen. War das nicht wie mit einem gutangezogenen Parkettbesucher, der sich behaglich in seinen Sessel zurücklehnt und halb geschlossenen Auges auf dem weißen Bühnenrahmen gespenstische Landschaften dahinhuschen sieht? Und saß nicht der gleiche Parkettbesucher ebenso gleichmütig und unberührt wie vor den Bildern des Raumes auch vor denen der Zeit? Vor jener bunten, scheinbar zusammenhangslosen Szenenfolge, die den Einheitstitel Menschenleben führt, und deren stummer und unsichtbarer Held doch eben wieder er, der Zuschauer im Parkett, ist? Wo war denn eigentlich der Unterschied zwischen dem jungen, schmalwangigen Studenten, als der er auf demselben Schienenstrang den umgekehrten Weg ins Leben hinausgezogen war, und dem reifen, wohlbeleibten, illusionslosen Großindustriellen, als der er nach einer Abwesenheit von fast drei Jahrzehnten den Weg in die alte, halbvergessene Heimat zurück machte? Bestand überhaupt ein Unterschied zwischen den beiden Wesenheiten, dem Ich von heute und dem von damals? Nein! Im innersten Kern, und für diesen Augenblick: nein! So wenig, wie der Zuschauer, der seinen Platz im Parkett einnimmt ein anderer geworden ist, wenn er ihn nach zwei Stunden wieder verläßt. Wenn aber dreißig Jahre das Ich unberührt gelassen hatten, mußte nicht das gleiche für fünfzig, hundert, tausend Jahre gelten, und war somit nicht bewiesen, daß das Ich über aller Zeit stand? Daß es zeitlos, mit einem Wort unsterblich war?

Sievering schrak zusammen. Der Zug hatte vor einer größeren Station gebremst und fuhr langsam ein. Er lächelte über sich selbst. Philosophische Anwandlungen! Klebten diese Eierschalen immer noch an ihm? Hatte die Scheuerbürste des Geschäftslebens noch nicht ganze Arbeit gemacht?

Siebenundzwanzig Jahre war es her, seit er die Straße hier hinausgefahren war, um seines Zeichens ein Philosoph und womöglich der geistige Erlöser dieses geistverlassenen Säkulums zu werden. Siebenundzwanzig Jahre! Was für eine Ewigkeit das! Und wenn man's recht besah, doch wieder nur ein Augenblick, wie ein Atemzug! Aber der Atemzug hatte genügt, um aus einem verstiegenen Schwärmer einen praktischen Rechner zu machen, der seine Illusionen eine nach der anderen von sich ab und in die Rumpelkammer getan hatte. Da hingen sie nun fein säuberlich nebeneinander an den Wandhaken aufgereiht, wie alte, ausgefranste Hosen, und wurden langsam von den Motten zerfressen.

Sievering richtete sich auf und zog eine englische Finanzrevue aus der Brusttasche seines Pelzes. Dummheiten! War es nicht am besten so, wie es war? Hatte er nicht reichlich und überreichlich, was er brauchte und längst nicht mehr entbehren konnte? Wie stünde es wohl um ihn, wenn er damals in der kritischen Zeit auf seinem Kopf beharrt hätte und nicht seiner klugen und energischen Mutter gefolgt wäre? Ein kleinliches, engbrüstiges Stuben- und Gelehrtendasein wäre ihm beschieden gewesen. Statt dessen hatte er das Leben nach seiner Weite durchmessen, und seine Segel bauschten sich vor dem Wind. Denn noch war der Reise kein Ende! Wer weiß, an welcher Küste man noch landete! Es hatte sich gelohnt, einige Illusionen über Bord zu werfen. War er darum weniger Idealist geblieben? Nein. Nur der Kurs seines Schiffes hatte sich geändert. Der Steuermann war im Grunde immer der gleiche.

Sievering fröstelte es. Er schlug den Pelz dichter um sich und vertiefte sich in einen Aufsatz über die englische Eingeborenenpolitik in Indien.

Der letzte Teil der Fahrt war schnell verflossen. Diese kurzen Nachmittagsstunden, in die schon die frühe nordische Winterdämmerung hineingraute.

Das braune Hügelland mit seinen gesprenkelten Schneeblenken hatte aufgehört. Schwarze Ackerschollen waren unabsehbar zu beiden Seiten der Bahnlinie aufgeworfen. Sie schimmerten feucht und fett im abendlichen Licht. Ein Schlachtfeld von Negerleibern! dachte Sievering. Dampf und Schweiß gleißten um tausend gekrümmte Rücken. Hier und da schnitten grüne Flecke in das Gewühl der schwarzen Leiber. Junge Saaten standen da, zwischen der wartenden Brache. Sievering wußte, daß er nah am Ziel war. So hatte das Bild des Jugendlandes vor seiner Seele gelebt. Er sah zum Fenster hinaus, nach Osten zu, wo der Schloßturm auftauchen mußte, das ragende Wahrzeichen der alten Stadt. Aber die Dämmerung hielt den Vorhang zugezogen. Auf der anderen Fensterseite, gegen Westen hin, brannte tief am Horizont ein dunkelrotes glühendes Leuchten. Sievering erinnerte sich an alte Bilder, wo so ähnlich der Himmel flammend sich zu öffnen schien und mit brandiger Lohe die Düsternis hienieden bestrahlte.

Der Zug rollte über die große Brücke, die Sievering so gut kannte. Aber als er den Kopf an die Scheiben drückte, sah er, daß es eine neue, moderne Brücke war, die man nach seiner Zeit gebaut hatte. Er erinnerte sich auch, davon gelesen zu haben. Die alte, wuchtige Gitterbrücke, mit den hohen gotischen Pfeilern, war neben der neuen stehen geblieben. Ihre Kreuzstäbe streiften dicht an dem sausenden Zuge vorüber. Zum Greifen nah, wie jene beschwingten Tage, wo er hier sein junges, übervolles Herz entlang getragen und den Knotenstock verwegen durch das klingende Gitterwerk gezogen hatte. Zum Greifen nah wie jene beschwingten Tage ... Bei Sievering krampfte sich etwas in der Brust zusammen.

Die Vision war verschwunden. Der harte Ton vorüberfliegender Bastionen und aufprallenden Mauerwerks klatschte gegen die Fenster. Dann glitt der Zug in den Bahnhof ein.

Sievering sah sich betroffen um. Hier schien kein Stein auf dem andern geblieben. Treppen, Tunnels, Überdachungen, Bahnsteige, Hallen, Gänge ... Wo war die Einfachheit des alten Stationshauses mit seiner gradlinigen Schienenanlage, deren einer Strang nach Südwesten, der andere nach Nordosten lief? Jetzt gab es hier einen Knotenpunkt mit Dutzenden von Gleisen und schwatzende Menschenmassen in den Hallen und Gängen. Deutschland wird Industriestaat, dachte der Syndikus. Der Markt für Eisen und Kohle vergrößert sich. Unser Weizen blüht! ...

Aber es ging nicht mit dem Industriegedanken. Irgend etwas schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Er mußte stehen bleiben und die Augen schließen. Da sah er sich mit dem Köfferchen an dem einzigen Schalter des alten friedlichen Bahnhofs stehen und das Billett zu seiner ersten Studentenfahrt lösen, von der er nicht wieder zurückgekommen war bis zu diesem Abend. Teufel! War das wirklich schon siebenundzwanzig Jahre her? Ihm schwindelte, wie jemand, der sich im Boot ein wenig auf See hat hinausschaukeln lassen, die Augen zugemacht hat und, da er aufwacht, sich in dunkler Nacht mitten auf dem Ozean wiederfindet ohne Spur von Land und ohne Schimmer von Licht ...

Erst, als der Omnibus durch die lange Bahnhofsgasse zum »Kronprinzen« rappelte, daß die Scheiben klirrten und die Gepäckstücke hoch aufhopsten, kam Sievering die Haltung wieder. Na, wenigstens ist das Pflaster das alte geblieben! dachte er bei sich und freute sich darüber. Ja, kindisch genug! Der Syndikus und Direktor der Rheinischen Montan-Aktiengesellschaft freute sich wie ein Schneekönig über das vorsintflutliche Straßenpflaster, denn jetzt war er wirklich und wahrhaftig in der Stadt seiner Schülertage eingekehrt.

 

»Ja, zum Tausend! Bist du's ... Sind Sie's? Oder sind Sie's nicht?«

»Ich bin es jedenfalls! Also werden Sie's vermutlich auch sein. Und da das Du doch schon gefallen ist, können wir's ja auch wieder aufnehmen nach dem Menschenalter, das dazwischen liegt.«

Sievering streckte dem andern, der sich überrascht erhoben hatte, die Hand entgegen, und dieser legte ein paar schmale, kalte Finger hinein. Es war der Amtsgerichtsrat Gersdorf, ein mittelgroßer, schlanker, glattrasierter Herr, mit einem scharfgeschnittenen Profil und dunklem, schon grau meliertem Haar. Seine fahle Gesichtsfarbe und die fast asketisch hagere Gestalt im schwarzen Gehrock kontrastierten stark mit den blühenden Farben der gesunden Leiblichkeit Sieverings.

»Also, wo kommst du her? Und was führt dich zu mir ins Bureau?« fragte der Amtsgerichtsrat. »Hat der Zufall da einen von seinen Streichen gemacht, oder ist es am Ende schon bis nach dem Westen gedrungen, daß ich hier seit fünfzehn Jahren als gutkonserviertes Präparat unter Spiritus sitze?«

»Keine Ahnung!« sagte Sievering. »Die vielen Jahre da im Westen haben mich ja aus allem herausgebracht. Wäre nicht vor ein paar Wochen meine alte Mutter gestorben, so hätte ich den Weg auch jetzt noch nicht zurückgefunden.«

»Deine Mutter hat also bis jetzt gelebt? Sonderbar! Das hätte man ihr damals nicht prophezeit!«

»Nicht wahr ... Ihr kamt ja oft zu uns ins Haus, du und der blonde Paul Mierau. Was ist eigentlich aus dem geworden? Ihr hieltet ihn ja alle für ein so großes Genie. Ich stand ihm ja ferner. Ich war ja auch älter als ihr beide und kam mindestens zwei Jahre früher ins Examen.«

Gersdorf schien Sieverings Frage zu überhören.

»Also wohl Erbschaftsregulierung, was dich durch ganz Deutschland hergesprengt hat? Grundbuchgeschichten? Ich stehe demgemäß zur Verfügung.«

»Und wann reden wir bei einer Flasche Wein von den alten Zeiten?« fragte Sievering, als die Konferenz zu Ende war und beide sich die Hand reichen.

»Ich lade dich für heute abend in meine stille Ecke beim »Kardinal« unter den Lauben ein.«

»Ah! Den gibt es also noch?«

»Hier gibt es alles noch. Die Zeit ist hier festgenagelt, wie die Amtsrichter und die Gymnasiallehrer und der Bezirkskommandeur! Wer hier sitzt, bleibt auch hier sitzen! Wir sind auf dem toten Strang.«

»Aber der große Bahnhof draußen?«

»Ja, da fahren die Expreßzüge vorbei. Von uns hab' ich noch niemanden einsteigen sehen.«

»Entschuldige ... du bist Junggeselle?«

»Witwer! ... Auf Wiedersehen heute abend!«

Den Nachmittag benutzte Sievering zu einem Spaziergang durch die alten Gassen, die halb verschollen in seiner Erinnerung fortgedämmert hatten und nun beim hell über sie hereinströmenden Tageslicht verwundert und verschlafen den einsamen Spaziergänger anzugaffen schienen. Eine helle Novembersonne stand tief am grünblauen Himmel, der mit zahllosen weißen Wolkenklecksen übersät war, als hätte sie jemand mit einem Riesenpinsel aus einem ungeheuren Kalkeimer hinaufgespritzt. Sievering mußte die Hand vor die Augen halten, geblendet von den niedrigen Sonnenstrahlen.

Jungen spielten Ball, und Mädchen liefen mit Reifen quer über den Weg, fingen sich quiekend, schreiend, kreischend, jauchzend gegenseitig ab und schnellten wieder fort, ganz so, wie die Bälle und Reifen durcheinanderwirbelten, von den Hauswänden zurückprallten und in den Torgängen verschwanden.

Das scheint also noch immer Mode zu sein, dachte Sievering. Genau so wie zu deiner Zeit! War es ihm nicht, als spiele er selbst mitten unter der lärmenden Rotte und balge sich mit seinesgleichen um die Ehre des Balls? Aber gleichzeitig wandelte er aufrecht und bejahrt durch die Kinderschar, die ihm um die Füße spielte, und zwischen dem Kriegsgeschrei der jungen Generation klang sein Schritt bürgerlich und gemessen von den Pflastersteinen wider.

Als er durch das Marientor kam, sah er schon von weitem die hohen Bäume des Kirchhofs, über deren kahle Wipfel der Hahn auf dem Turm der Stadtkirche hinwegschaute. Dort, dem Holzzaun des Kirchhofs gegenüber, stand sein Elternhaus, das seine Mutter bei ihrem Wegzug verkauft hatte.

Er ging langsam und mechanisch weiter, mit einem unbewußten und doch vorsichtigen Tasten, wie sich des Nachts ein Kind halb träumend, halb wachend, mit vorgestreckten Händen zu seinem Bett zurücktastet, aus dem es sich fortgestohlen hat, um von der Marzipankiste zu naschen. Ja, es war etwas Schlafwandlerisches um ihn auf diesem Wege, den er ungezählte Male mit dem Tornister und dem Schulranzen getrabt war und wo er jeden Stein wiedererkannte. Schmeichlerisch umspielte ihn die Luft dieses milden, sonnigen Novembertags, aber es war nicht diese Luft, die er atmete, es war eine ferne und vergangene Atmosphäre, die mit ihm ging und ihn wie eine unsichtbare Wolke umgab. Es war die Atmosphäre, die uns kühl entgegenhaucht, wenn wir in den Dunstkreis alter Porträts in schweigsamen und aus der Mode gekommenen Galerien treten. Das Porträt hier, mit dem sauber gemalten Kleinstadthintergrund, das war er selbst. Er schaute es an und verglich es, und es stimmte Zug um Zug. Dort die Gasse links führte nach dem Gymnasium hinunter. Hier das Gäßchen rechts zum Ufer des Stroms hinab, auf dem sie an den hellen Juniabenden Boot gefahren waren, die Primaner und die Töchterschülerinnen, und die Primaner hatten Bier getrunken, und die Töchterschülerinnen hatten Lieder gesungen. Und eine von den ganz echten Nachtigallen, die es heutzutage nicht mehr gab (wenigstens hatte er nie wieder eine gehört), hatte aus den Weidenbüschen des silberdämmerigen Flusses dazu geschluchzt ...

Sievering stand vor seinem Vaterhaus. Vor diesem Augenblick hatte er sich gefürchtet und allen Widerstand dagegen gesammelt. Vielleicht kam es daher. Es war mit einemmal ganz still in ihm geworden. Das alte, dunkle Patrizierhaus, in dem seine Kindheit begraben lag, sah ihn mit großen, ernsten, fast feierlichen Augen an. Er versenkte sich darin und vergaß die Zeit. Nichts regte sich an den verhängten Fenstern. Die Straße war tot. Endlich sah er auf und um sich. Ein Name stand auf dem Türschild zu lesen. Er trat näher und zuckte die Achseln. Fremde Menschen! Er strich sich leise mit der Handfläche über die Stirn und wandte sich ab.

An dem Kirchhof, dessen Seitenpforte offenstand, wollte er vorbei und zur Stadt zurück. Aber unwillkürlich fühlte er seine Schritte hineingezogen, und ehe er sich noch Rechenschaft darüber gegeben hatte, wandelte er zwischen den Tafeln, Kreuzen und Steinen der Vergangenheit.

Ob wohl das Grab des Professors noch lebte, der sein liebster Lehrer gewesen war, und um dessen Tod er wie um den eines älteren Freundes getrauert hatte? Die Schüler des Gymnasiums hatten auf seine Anregung dem früh und unter tragischen Umständen Verstorbenen einen Denkstein errichtet, und er, Sievering, hatte dem Toten zum Gedächtnis gesprochen. Es war kurz vor seinem Examen gewesen. Wie das alles wiederkam, was längst vergessen schien! Er erinnerte sich deutlich an den Stein und an den Platz, in einer Reihe nahe der Kirche. Als er aufsah, hielt er davor.

Ja, es lebte wirklich noch, das Grab! Wie ein Sinnbild wandelloser Liebe lag es da. Der schwarze, blankpolierte Syenit, die goldenen Buchstaben der Inschrift, das frisch erhaltene Gitter, alles wie am ersten Tag! Merkwürdig! Es hätte Sievering mehr gerührt, wenn er den Stein verwittert, die Buchstaben ausgelöscht, das Gitter vom Rost zerfressen gefunden hätte. Es lag etwas Aufdringliches in dieser Wandellosigkeit, etwas Geräuschvolles, was sich der still und geheimnisvoll nagenden Vergänglichkeit ringsumher zu überheben und zu entziehen schien. Ihr wart, ich bin! schien es den andern Gräbern zuzurufen. Aber dann fiel der Blick auf die fernen Jahreszahlen des Steins, und was sich eben noch als geschminktes Leben aufgereckt hatte, sank leise zu einem Häufchen Asche zusammen.

Sievering schlenderte langsam weiter, mit den Augen über die Namen rechts und links zu seinen Füßen hinstreifend. Ei der Tausend! Da war reichliche Ernte gehalten! Gründliche Arbeit war da getan! Eine ganze Generation hatte hier Einkehr genommen, seit dem Mainachmittag, an dem Sievering dem geschiedenen Lehrer da drüben das Lebewohl ins Grab nachgerufen hatte. Eine ganze Generation! Da fand er sie alle wieder, die Namen derer, die er in seiner Schülerzeit als reife Männer und Frauen hinter den Ladentischen hatte hantieren, vor den Haustüren hatte schwatzen und mit Gesangbüchern zur Kirche hatte wandeln sehen! Pünktlich und vollzählig bis auf wenige Nachzügler hatten sie sich hier versammelt, und aus dem ehedem so rastlosen und geschäftigen Geschlecht war eine stille, ruhige, beschauliche Gemeinde geworden, über deren Unaufmerksamkeit sich der alte, weißhaarige Prediger Feyerabend nicht mehr hätte zu beklagen brauchen. Aber der hatte seines Namens Deutung nun auch längst gefunden und hielt hier mitten unter seinen Schäfchen den ewigen Feierabend ab.

Ein leiser Wind hatte sich aufgemacht und flüsterte in den nackten Kronen der Ulmen und Trauereschen. Der Sonnenball wiegte sich feuerrot über der jenseitigen Kirchhofsmauer und glotzte pausbäckig und breitmäulig wie eine freche, strotzende Bauerndirne quer über die Gräber weg. Sievering strebte dem Ausgangspförtchen zu. Kurz, ehe er es erreicht hatte, fiel sein Blick auf eine umgitterte Ruhestätte, über deren unbehauenen Marmorblock gerade ein schräger Sonnenstrahl hinwegblitzte. »Hier ruht Marion Gersdorf, geborene de Roquebrune,« las Sievering und fuhr unwillkürlich zurück. Das war ja die hübsche Marion, der blonde Backfisch von der Bastei, der ihnen allen die Köpfe verdreht hatte! Alle Wetter! War die auch schon hier gelandet? Eine unsichere und problematische Geschichte, der Aufenthalt auf diesem Planeten! Zweiunddreißig Jahre alt geworden! rechnete sich Sievering aus. Und Gersdorf? Gersdorf? Aber wie konnte er nur einen Augenblick im Zweifel sein! Es war die Frau seines Freundes, des Amtsgerichtsrats Gersdorf, an deren Grab er stand. Die Emigrantenfamilie de Roquebrune hatte ja Pensionäre gehabt, und einer davon war Gersdorf gewesen. Ein anderer übrigens jener Paul Mierau, nach dem er sich schon heute morgen bei Gersdorf erkundigt hatte, ohne eine Auskunft zu erhalten. Oder war der am Ende auch schon tot? Sievering dämmerte irgend etwas auf, aber es ging ihm nicht zusammen. Das Menschenschicksal, das er hier von dem Marmorblock ablas, interessierte ihn mehr. Natürlich, es stimmte alles! Hatte nicht Gersdorf mit der Eifersucht eines Beduinenscheichs die etwas leichtsinnige und flatterhafte Marion auf Weg und Steg belauert? Das ganze Gymnasium hatte darüber gelacht. Und dann war es wohl die alte Geschichte geworden. Schülerliebe, Verlobung in der Studentenzeit, langes Warten, späte Anstellung und Heirat, kurzes Eheglück und zum Schluß der Marmorblock hier unter den Efeuranken.

Sievering wanderte durch die dämmergrauen Straßen, hinter deren Fenstern schon hier und da einsamer Lampenschein aufblitzte, sinnend, fabulierend, resümierend, zum »Kronprinzen« zurück.

 

Abends saßen sich die beiden alten Schulfreunde in einer verschwiegenen Ecke beim »Kardinal« gegenüber. Vergangenes und Gegenwärtiges war kühl und fremd durcheinander geplätschert. Bei der zweiten Flasche wurde es wärmer. Sievering erzählte von seinem Erinnerungsgang durch die Stadt und der nachdenklichen Visite auf dem Kirchhof.

»Nun? Was hast du gefunden?« fragte der Amtsgerichtsrat mit einem kurzen, scharfen Blick.

»Lauter bekannte Namen! Alle die Leute, die das Heft in der Hand hatten, als wir heranwuchsen. Die Generation, die vor uns am Ruder war. Die Nächsten, die herankommen, sind wir, lieber Gersdorf!«

»Soweit sie nicht schon draußen sind. Es gibt auch deren schon genug.«

»Ja, es wird fleißig gestorben,« meinte Sievering, »es wird äußerst fleißig gestorben! Das ist das Ungemütliche an der Geschichte: unversehens ist man in die vorderste Schlachtreihe gerückt. Eigentlich über Nacht! Die Kugeln pfeifen dicht um uns herum, und unser Regiment fängt an sich zu lichten.«

»Hinter uns kommen neue Regimenter! Für die muß Platz geschafft werden! Die Natur stampft uns aus dem Boden, um uns nach einer Weile wieder hinein zu stampfen! Die Natur braucht solche kleinen Gesellschaftsspiele!«

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

Sievering schenkte sich ein Glas Burgunder ein und erhob es gegen Gersdorf. »Ich trinke ein stilles Glas auf das Andenken deiner Frau.«

Gersdorfs kalkiges Gesicht schien noch um einen Ton blasser zu werden.

»Du warst an ihrem Grab?«

Sievering nickte stumm. Dann nach einem Weilchen: »Ich wußte gar nicht, daß du Marion de Roquebrune geheiratet hattest. Obwohl es nachträglich ja nicht schwer zusammenzureimen ist.«

»Ja, es war so im Rate der Götter beschlossen.«

Gersdorf preßte die schmalen Lippen aufeinander, daß der letzte Blutstropfen daraus entwich. Er schien an einem Wort, einem Satz, einem Gedanken, vielleicht an einer ganzen Gedankenkette zu arbeiten.

Plötzlich sah er auf und sagte mit einem Blick, der wie eine Nadel stach:

»Warst du vielleicht auch an Paul Mieraus Grab?«

Sievering durchzuckte es.

»Was? Der auch schon hinüber? Eine Ahnung hatte ich. Aber ich wußte nicht recht.«

»Längst! Noch auf dem Gymnasium! Ein halbes Jahr vor dem Examen! Etwa anderthalb, nachdem du fort warst!«

»Nicht möglich ...!«

»Die Leute behaupten, ich hätte ihn auf dem Gewissen. Das heißt, sie denken es für sich. Sie bilden sich's ein. Behaupten würde ihnen schlecht bekommen. Außerdem werden's ja auch immer weniger, die sich daran erinnern. Die Natur räumt ja auf, wie gesagt! Mit der Zeit kann es noch ganz lustig werden, wenn alles ringsherum wegrasiert ist! So lange wart' ich nur. Dann hoff' ich mein Leben zu genießen.«

Sievering sah sein Gegenüber mit großen Augen an. Sonderbare Reden das für einen königlich preußischen Amtsgerichtsrat! Was mochte da vorgegangen sein! Irgendetwas Schweres, Finsteres, Irreparables! Ja, ja, dieses Kleinstadtleben mit seiner idyllischen Oberfläche; aber wer tiefer stieg, fand da unten Tragödien, wie die Leichen Ertrunkener auf dem Grunde eines schwarzen, unbeweglichen Weihers, der mit Seerosen und Wasserpflanzen überwachsen ist.

»Du hältst mich natürlich für verrückt oder übergeschnappt,« klang es plötzlich in das Schweigen hinein, das die beiden Männer eingehüllt hatte wie der Dampf ihrer Zigarren. »Aber ich sage dir, ich bin nicht verrückter, als es die Menschen meistens zu sein pflegen. Ich sehe sogar mit absoluter Klarheit, und was ich getan habe, kann ich noch heute vollständig vertreten. Außer einmal im Leben, wo ich mich habe hinreißen lassen! Und das eine Mal habe ich teuer genug bezahlt!«

»War das der Fall mit Paul Mierau?«

»Oh nein, den hab' ich ganz logisch und zielbewußt durchgeführt. Bis auf den Schluß! Den konnte man nicht voraussehen. Aber vielleicht hab' ich ihn geahnt. Bereut hab' ich ihn jedenfalls nie!«

»Welches war denn der Schluß?«

»Paul Mierau erschoß sich mit dem Jagdgewehr des Hauptmanns de Roquebrune, unseres Pensionsvaters.«

»Deines nachmaligen Schwiegervaters?«

»Ja, aber er hat unsere Heirat nicht mehr erlebt.«

»Paul Mierau erschoß sich?!« Und du ...? Du ...?«

Sievering war einen Moment lang vom Sitz aufgeschnellt und starrte Gersdorf erschrocken an. Dieser sah ruhig und gemessen vor sich hin. Der Burgunder hatte sein Gesicht leicht gerötet, wie letzter Abendschein, der auf eine weiße Wand fällt. In den eidechsengrünen Augen züngelte bisweilen eine kurze schnelle Stichflamme auf, während er fortfuhr zu erzählen.

»Paul Mierau stand mir bei Marion im Wege. Du weißt, Marion de Roquebrune, die dann nachher meine Frau wurde und jetzt da draußen begraben liegt. Er stand mir im Wege. Auch sonst! Auf verschiedene Art! Einfach dadurch, daß er da war! Darum mußte er unschädlich gemacht werden!«

»Aber ihr wart doch so befreundet, ihr beiden, soweit ich mich entsinne?« fragte Sievering kopfschüttelnd.

»Gewiß! Sehr befreundet! Ebendarum! In jeder Freundschaft steckt doch zugleich der Haß. Der Todhaß auf die Eigenschaften des andern! Besonders, wenn sie einem überlegen sind. Paul Mierau hatte vom ersten Augenblick, wo er auf die Schule kam, als Genie gegolten. Lächerlich, wie solche Fabeln in den Köpfen von zehnjährigen Jungens eigentlich entstehen! Es ist wirklich, als ob da etwas Märchenhaftes mitspielte! Der Auserwählte, der gleich mit dem Heiligenschein um den Kopf geboren wird! Oder mit dem Feenglück, das ihm in die Wiege gelegt ist! Die Jungens haben eine seine Nase für so etwas. Aber oft genug kann die Fee auch an den Unrechten geraten sein. Kennst du ›Klein Zaches‹ von meinem Amtskollegen Hoffmann? Das ist es. Ich bin überzeugt, das Genie Paul Mierau wäre nachher einfach verbummelt. Er kann mir dankbar sein, daß ich ihn vor dem Jammer bewahrt und ihm zu einer wohlfeilen Unsterblichkeit sozusagen mit beschränkter Haftung verholfen habe. Denn hier in der Stadt wird immer noch von dem großen Genie gesprochen, das da zugrunde gegangen sein soll. Allerdings immer seltener! Einmal wird ja auch das ein Ende haben.«

Gersdorf schwieg einen Augenblick und schlürfte langsam und kostend aus seinem Burgunderglase. Langgezogene Rauchwolken stiegen zur niedrigen Wölbung des Zimmers und quirlten dort oben durcheinander.

Aus winkeliger Dämmerung schien die schattenhafte Gestalt Paul Mieraus hereinzugleiten und schwebend, webend um die beiden, sich gegenübersitzenden Jungkameraden zu geistern. Sievering erkannte das lange, blonde Haar, das weich um ein kühn geformtes germanisches Gesicht fiel.

»Ein Bild von einem Jungen war er ja!« sagte Gersdorf und rückte mit seinem Stuhl, als wolle er etwas von sich schieben, oder vor etwas Platz machen. »Und ein Dichter dazu!«

»Dichter warst du doch auch?« meinte Sievering.

»Aber nur einer mit den niederen Weihen! Ich machte Spottgedichte! Ich verhöhnte meine lieben Mitmenschen: Schüler, Lehrer, was mir vor die Feder kam! Oh, meine Verse waren gefürchtet! Das ist es eben. Entweder man wird gefürchtet, oder man wird geliebt. Mierau wurde geliebt. Allenthalben schwärmten sie für ihn.«

»Ich entsinne mich,« warf Sievering ein.

»Seine Glanzzeit kam eigentlich erst, als du fort warst. In dem Jahr danach blühte er so richtig auf. Ich habe ein dickes Heft mit seinen Gedichten zu Hause, das er mir kurz vor seinem Ende dediziert hat. Manchmal nehm' ich's vor. Nicht schlecht! Auch für heutige Ansprüche nicht! Anfangs viel religiöse Stoffe! Kontroversen mit dem alten Jehovah, wobei Jehovah den kürzeren zieht! Dann soziale Revolution! Auflehnung gegen Staat und Gesellschaft! Zu guter Letzt, etwa die letzten zwanzig Seiten, Liebesgedichte!«

»Ah! Liebesgedichte!«

»Ja, die sind das Schönste darin, und die haben ihm den Kopf gekostet. Daran merkte ich zuerst, daß etwas im Gange war zwischen ihm und ihr. Natürlich, wie ich's jetzt übersehe, wohl nichts als eine unschuldige Liebelei! Sie trafen sich abends an der Brücke und gingen im Mondschein auf dem Deich spazieren. Das schloß ich aus seinen Gedichten. Verraten hat er's mir nie! So nah wir uns auch standen und so vertraut wir miteinander waren! Er wußte ja, daß ich wie wahnsinnig um Marion war.«

»Aber warum hat er dir dann die Liebesgedichte vorgelesen?« fragte Sievering kopfschüttelnd.

Gersdorf lachte kurz auf.

»Autoreneitelkeit, mein Bester! Als Liebhaber und Freund konnte er schweigen wie ein Trappist. Aber als Dichter ... Nein, da ging es nicht! Da mußte es heraus! Begreifst du das nicht?«

Sievering zuckte mit den Achseln. War es der schwere, dunkelglühende Burgunder oder war es die Erzählung des andern, die sich mit den Dampfwolken phantastisch zu ihm herüberzuringeln schien: irgend etwas lähmte ihm die klare Besinnung und Übersicht.

Gersdorf lachte von neuem sein eigentümliches Lachen. Es klang wie ein unterirdisches Kichern.

»Man sieht, daß du nie ein Dichter gewesen bist. Gratuliere dir! Dichter sind keine Menschen! Man sollte sie mit Stumpf und Stiel ausrotten! So hab' ich's mit Paul Mierau gemacht! Wenigstens ein gutes Werk, das man auf seinem Konto hat!«

Sievering fuhr sich an die Stirn.

»Unglücklicher! Warum der mörderische Haß bis über die Verwesung hinaus?!«

Gersdorf legte über den Tisch weg die Hand auf Sieverings Arm.

»Pst! Pst! Im Nebenzimmer sitzen Leute. Man hat hier lange Ohren.«

»Wer sagt dir denn,« fuhr Sievering gedämpfter mit einem Blick nach rückwärts fort, »wer sagt dir denn, daß nicht alles Phantasie war, was da in den Gedichten stand?«

»Eben darum!« zischte Gersdorf. »Eben darum, weil er sie in der Phantasie besaß, wie man ein Weib nur besitzen kann! Die Wirklichkeit hätte ich vielleicht ertragen und überwunden. In Wirklichkeit wird er ihr die Hand geküßt haben. Ich bin zweimal auf dem Deich hinterher geschlichen. Es geschah nichts Besonderes. Aber in seinen Gedichten hat er sie ausgekostet! In seiner Phantasie war er ihr Herr und König, und sie seine Magd, die sich willenlos hingab! Dafür hat er büßen müssen! Das hat ihn ans Messer geliefert!«

»Und da warst es, der ...«

»Ja, ich! Ich! Er muß fort! sagte ich mir. Er muß fort vom Gymnasium! Fort aus der Stadt! Denn die Phantasie hat die Kraft, sich in Wirklichkeit umzusetzen. Also muß er unschädlich gemacht werden, ehe es zu spät ist!«

»Und wie machtest du das um Gottes willen?« fragte Sievering mit einer Bewegung, als wolle er es dem andern von den Lippen reißen.

Gersdorf rieb die schmalen, blutlosen Finger aneinander und kicherte in sich hinein.

»Rege dich nicht auf, mein Bester! Es ging alles auf natürliche Weise zu. Einfach durch die Macht des menschlichen Willens. Durch Suggestion, wie man heute sagen würde! Davon wußte man damals noch nichts. Es war gerade zur Attentatszeit. Du erinnerst dich. Der alte Kaiser war zweimal angeschossen worden. Die patriotische Leidenschaft schlug haushohe Wellen auf dem Gymnasium. Bei Schülern wie bei Lehrern! Überhaupt in der ganzen Stadt! Der einzige, der den Revolutionär spielte ... ich sage spielte, wie er alles spielte ... war Paul Mierau. Darin bestärkte ich ihn. Das war der Weg, ihn hinauszudrängen. Denn in diesem Punkt verstand damals niemand Spaß, selbst wenn es sich um ein Genie wie Paul Mierau handelte! Der Zufall kam mir zu Hilfe. Wenn man das Zufall nennen soll, was vielleicht auch nur eine Wirkung meines Willens war!«

Gersdorfs Zigarre war ausgegangen. Er zündete sich eine neue an und lehnte sich weit in seinen Stuhl zurück, das Gesicht in die Höhe gerichtet, als stünde die Geschichte, die er erzählte, da oben an der Wölbung angeschrieben.

»Es war etwa drei Monate nach dem zweiten Attentat. Der alte Kaiser, der ja inzwischen wiederhergestellt war, sollte von den Manövern an der russischen Grenze zurückkommen, und hier am Bahnhof sollte der Hofzug einen Augenblick halten. Das ganze Gymnasium mitsamt dem Lehrerkollegium war hinausbeordert, um am Bahnhof Aufstellung zu nehmen und den Kaiser zu begrüßen.

Am Abend vorher saß ich noch lange mit Paul Mierau. Er schwelgte ordentlich in anarchistischen Phrasen. Ich widersprach ihm und reizte ihn dadurch noch mehr. Schließlich sprang er auf, fuchtelte mit den Armen herum und erklärte, er werde morgen, wenn der Kaiser einfahre, vor dem versammelten Gymnasium ganz laut ausrufen: Hoch lebe die soziale Revolution! Ich lachte und sagte, das sei Renommage, und ich würde der ganzen Klasse mitteilen, was für ein Renommist er sei! »Tu' das nur!« sagte er. »Ihr werdet schon sehen!« Damit gingen wir auseinander.

Am nächsten Morgen standen wir also am Bahnhof in Reih und Glied. Der Zug war schon gemeldet und sollte jeden Augenblick einlaufen. Ich hatte mein Wort gehalten, und die Klasse wußte, was Mierau versprochen hatte. Jetzt war es an ihm, sein Wort zu halten! Alle fieberten, ob er den Mut dazu haben würde. Hinter Mierau hatte sich einer von uns hingestellt, der ihn auf den Tod nicht leiden konnte. Vielleicht der einzige von uns allen, denn ich war ja sein Freund. Ich stand ein paar Schritte von Mierau und beobachtete ihn, wie wir alle. Er war kreideweiß. In dem Augenblick tat er mir beinahe leid. Er war das Opfer seines Überschwangs, seiner Phantasie, seiner Renommage! Er hatte als Dichter mit großen Worten um sich geworfen, und jetzt sollte er bar mit dem Leben bezahlen! Es blieb ihm nur die Wahl, sein Versprechen auszuführen und dann mit Schimpf und Schande vom Gymnasium gejagt zu werden, oder zu kneifen und damit vor uns allen, auch vor den Mädchen und vor Marion, abzudanken! Ich bin überzeugt, er hätte das letztere gewählt und sich dann immer noch eingebildet, ein großer Held der Resignation zu sein. Aber dazu sollte es nicht kommen. Der Zug brauste um die Ecke am Galgenberg heran, die meisten von uns hatten die Mützen und Hüte heruntergerissen und schrien: Hoch! Hoch! In diesem Augenblick geschah das Unerwartete, worauf niemand gefaßt war. Auch ich selbst nicht! Das, was der Kriminalist die Koinzidenz nennt. Der Hintermann von Mierau, sein alter Feind, wie gesagt, schlägt ihm, gerade wie der Zug am Galgenberg auftaucht, von hinten her den Hut vom Kopf und schreit dabei wie besessen: »Er hat den Kaiser nicht gegrüßt! Er hat den Kaiser nicht gegrüßt!« Mierau dreht sich um, und während der Zug einfährt und dicht vor uns hält, bolzen sich die beiden mit den Fäusten auf die Köpfe. Ein paar von uns werfen sich dazwischen. Ein kurzes Getümmel. Ich sehe noch das vornehme Greisengesicht des alten Kaisers, wie er sich aus dem Fenster lehnt und ganz verblüfft auf die raufenden Jungens guckt. Vielleicht hat es ihm Spaß gemacht. Das Ende hat er ja nicht erfahren. Der Zug setzte sich in Bewegung, und alles war aus.«

Gersdorf hatte so lange unbeweglich zur Decke hinaufgestarrt, während die Erzählung leise und eintönig von seinen Lippen floß. Jetzt richtete er sich auf, rückte näher an den Tisch und spielte gleichmütig mit seinem Taschenmesser.

»Und das Ende?« fragte Sievering nach einem Augenblick, aus seiner Spannung aufatmend.

»Das Ende ist kurz und präzise! Es wurde sofort eine hochnotpeinliche Untersuchung eröffnet. Wir alle wurden verhört und mußten sagen, was wir wußten. Auch ich natürlich. Ich konnte mein Zeugnis ja nicht verweigern. Das Lehrerkollegium trat zusammen, und das Urteil war von vornherein so gut wie entschieden. Aber ehe es noch gesprochen wurde, am Abend vorher, erschoß sich Paul Mierau in seinem Zimmer mit dem doppelläufigen Jagdgewehr unseres Pensionsvaters, des Hauptmanns de Roquebrune.«

*

»Und glaubst du nun, daß er durch dich zu diesem Ende gekommen ist?« fragte Sievering nach einer Pause starren Schweigens.

»Unbedingt! Mein Wille war es, der die Voraussetzungen schuf und lenkte. Also hab' ich auch für die Folgen zu haften. Und ich hafte dafür!«

»Also gar keine Reue? Keine Spur von Gewissensbissen? Weder damals noch später?«

»Der Komödiant!« stieß Gersdorf zwischen den Zähnen hervor. »Er hat sich ja gar nicht treffen wollen! Wenigstens nicht tödlich! Er hat sich nur anschießen wollen! Um Mitleid zu erwecken bei den Lehrern, und vor allem natürlich bei Marion!«

»Woher weißt du das?«

»Aus seinem Tagebuch, das wir nach seinem Tode fanden. Da spielt er mit dem Gedanken des Selbstmordes und malt sich aus, was für einen tragischen Eindruck das auf Marion und auf uns alle machen würde. Aber, um das wirklich zu genießen, müßte man danebenzielen oder sich nur leicht verwunden. Solch ein Komödiant war der Bengel!«

»Aber der Komödiant hat doch richtig gezielt und gut getroffen, mein lieber Gersdorf.«

»Offenbar gegen seinen Willen! Die Wirklichkeit ist mit ihm durchgegangen! Die Wirklichkeit hat ihre Rache an dem Dichter genommen!«

»Glaubst du so fest an das Racheprinzip?« fragte Sievering mit wiedergefundener Ruhe und sah seinem Gegenüber ernst in die Augen. »Könnte es sich dann nicht auch an dir selber noch mal bewähren?«

»Das hat es längst getan!« sagte Gersdorf, und sein vordem schriller Ton wurde dunkler und tiefer. »Ich wußte, daß die Rache einmal kommen würde. Ich wußte das von dem Augenblick an, wo ich mit den andern am offenen Grabe von Paul Mierau stand und die beiden Frauen in Schwarz, die alte und die junge, hinter ihren Taschentüchern schluchzen sah.«

»Die beiden Frauen in Schwarz?« fragte Sievering und zuckte einen Moment zusammen, als habe sich eine kalte Hand auf die seine gelegt, um ihm irgend etwas zurückzurufen, er wußte nicht gleich, was.

Ah, richtig! dachte er dann, die beiden Frauen in Schwarz heute morgen im Coupé! Sonderbar!

»Ja, seine Mutter und Schwester,« erwiderte Gersdorf. »Sie waren gekommen, um ihren einzigen Sohn und Bruder zu begraben. Da wußte ich, daß der Schatten von Paul Mierau neben mir hergehen würde, bis ich ihm Leben mit Leben bezahlt hätte.«

»Und ist das geschehen?« fragte Sievering leise.

»Es ist geschehen! Und zwar an dem Tage – es war im zweiten Jahre meiner Ehe mit Marion, also viele Jahre später – als ich mich in einem furchtbaren Streit mit Marion hinreißen ließ, ihr einen heftigen Stoß vor die Brust zu geben. Sie stürzte hin. Das Kind, das sie trug, wurde tot geboren, und sie selber starb.«

Sievering schwieg. Dann nach einer langen Pause: »Und der Streit?«

»Der Streit kam, weil mir Marion zum hundertsten Male vorwarf, was mir alle Welt die Jahre hindurch vorgeworfen hatte, ich sei schuld an Paul Mieraus Untergang. Du siehst, er hat sich glänzend revanchiert! ... Und ich ... ich bin ein großer Verbrecher in deinen Augen, nicht wahr? Aber glaubst du, daß ich darum ein schlechterer Richter bin?«

*

Gersdorf schenkte sich das letzte Glas aus der Burgunderflasche und trank es auf einen Zug leer und setzte es mit einem schweren Stoß wieder auf die Tischplatte.

Sievering reichte Gersdorf die Hand über den Tisch. »Leb' wohl!« sagte er, »wir sehen uns wohl nicht wieder. Ich fahre morgen mit dem frühesten nach dem Westen zurück.«

»Leb' wohl!«

»Nur noch eins, ehe wir vielleicht für immer auseinander gehen: Wie kannst du's hier noch aushalten, wo du so Furchtbares erlebt hast? Ich bliebe nicht einen Augenblick länger!«

Gersdorf schlug mit einer wilden Gebärde auf den Tisch, daß die Gläser tanzten.

»Soll ich vielleicht auch die Erinnerung noch dran geben? Das einzige, was mir geblieben ist! Soll ich aus dem Haus, aus der Stadt, von den Gassen fort, wo alles mich an das Weib erinnert, das mich verrückt und kaput gemacht hat, und um das ich heute noch närrisch bin? Eh' das geschieht, lieber ...!«

Sievering faßte Gersdorfs beide Hände und drückte sie fest.

»Haltung, Gersdorf! Das Leben ist groß. Wir haben nichts Besseres. Man muß es ehren und sich beugen davor.«

»Sei ohne Sorge! Ich werde es dem Komödianten nicht nachmachen. Dazu ist die Wirklichkeit zu stark in mir. Ich bin kein Phantast wie Paul Mierau! Wenn die letzten Zeugen aus jener Zeit da draußen sind, hoffe ich noch auf einen geruhsamen Lebensabend! Gute Nacht!«


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